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1: „Millennium – Ein Sommer, den man nie mehr vergisst“

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Es war Sommer im neuen Jahrtausend und es sollte ein unvergleichlicher Samstagmorgen im Juni werden. Die Vorfreude auf Thomas war riesengroß. Wir hatten uns verabredet, für ein Picknick im Grünen. Er entschloss sich, mir seinen Lieblingsplatz zu zeigen, an dem er immer wieder in Ruhe Kraft tankte. Ich war gespannt. Sonniger Samstagmorgen, ausgezeichnet geschlafen, Vorfreude auf Thomas, schon gut gelaunt im Bad, erst recht nach dem ersten Kaffee am Morgen. Meine Einkaufsliste für das Liebespicknick hatte ich schon im Kopf. Auf dem Weg zu Thomas nahm ich mir vor, im nahegelegenen Markt einzukaufen: Brot, Käse, Erdbeeren. Alle Leckereien, die wir so brauchten. Logischerweise durfte der vollmundige Wein nicht fehlen. Das Kribbeln im Bauch setzte ein, je näher die Abfahrt rückte. Meine beiden Kinder spielten vergnüglich, ausgelassen im Garten, hatten gute Laune und planten, ihr Frühstück bei Oma und Opa auf der Terrasse einzunehmen. Das Essen bei Oma und Opa am Wochenende war den beiden heilig. Bei allen im Hause herrschte Wochenendstimmung. Glücklich über das sonnige Wetter, meine Kinder und der langsam in mir aufsteigenden Sehnsucht, verabschiedete ich mich von allen mit dem Zauberwort: „Freundinnentreffen“ und schlenderte in die Garage zu meinen Traumwagen, das Cabrio. Eine geraume Zeit vor dem beruflichen Wiedereintritt im vergangenen Jahr, nach der berühmten Babypause, hatte ich vom eigenen Auto geträumt. In der Zwischenzeit stand er in der Garage: Mein langersehnter Traum. Mitternachtsblau, mit schwarzem Verdeck, ausgezeichneter Ausstattung, rundum perfekt. Nachdem ich den Einkaufskorb im Wagen verstaut hatte, stieg ich ein. Die Autotür zog ich leise zu. Den Zündschlüssel ins Schloss steckend, ließ ich den Motor an. Auf Knopfdruck öffnete sich das elektrische Verdeck und der Wagen fuhr mit mir rückwärts aus der Garage. Allen winkend, die lang gezogene Einfahrt hinunterrollend bis zum großen, zweiflügeligen Holztor, das unseren Garten vor Unbefugten schützte. Ich drehte das Radio an, lauschte der Musik und fuhr Richtung Einkaufsmarkt. Alle Sachen waren rasch besorgt und verstaut. Doch bis es zu meinem Liebespicknick mit Thomas an diesem sonnig warmen Junitag kam, war einiges im Rückblick in unseren beiden Leben passiert. Wir schauen zurück.

Bei mir entfachte die Liebe zum Cabrio zwei Sommer zuvor, bei einer Ausfahrt mit dem neuen Wagen meiner damaligen Freundin Claudia. Wir fuhren an einem sonnig warmen Sonntagmorgen los und hegten die Absicht, um die Mittagszeit herum zurück zu sein. Der gute Vorsatz der frühen Rückkehr am Mittag blieb aber ein gutgemeinter Vorsatz. Es kam völlig anders. Fasziniert von der Cabrio Fahrt war dieses Erlebnis so überwältigend, dass ich mir vorkam wie Grace Kelly bei einer Ausfahrt über die grünen Hügel von Monaco. Ich erinnere mich noch genau, was ich anhatte. Ein langes, dunkelgrünes, Figur betontes Kleid. Einen weinroten Seidenschal, der galant umschmeichelnd den Kopf vor Fahrtwind schützte. Hinzu gesellten sich die betörenden Gerüche, die von den frisch gemähten Weiden, gepaart mit den Blütendüften der Blumen, den Weg in meine Nase fanden. Das war der Tag, an dem ich beschloss: So einen Wagen werde ich kaufen! Für diesen Traumwagen aber war es erforderlich, zu allererst den Wiedereinstieg in den Beruf zu erlagen, da ich mir das Leben und den Luxus bis heute immer eigenständig finanziert hatte. Das hat für mich klar den Vorteil, nie in Abhängigkeit zu geraten, grundsätzlich selbst zu entscheiden und ein Stück Unabhängigkeit zu leben. Egal, wie einvernehmlich eine Partnerschaft, eine Ehe ist. Solange aber ein neuer Job und das nötige Kleingeld nicht in Sicht waren, blieb es bei einem Zukunftstraum. Ich stehe auf dem Standpunkt: „Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum, weil Träume und Ziele sind da, um verfolgt und gelebt zu werden“. Dass mir das Hausfrauen- und Mutterdasein auf Dauer nicht genügte, war mir schon immer klar. Für mich, im Gegensatz zu meiner Mutter, kamen nur Familie, Kinder und Beruf in Frage. Der göttliche Zufall war es, dass unsere Cousine in genau diesem Sommer zur Stippvisite mit Kind und Kegel vorbeikam. Sie erzählte mir, dass sie einen Mitarbeiter in der Verwaltung für ihre Firma suchen. Sofort stand mein Entschluss fest, diesen Job hole ich mir. Die Bewerbung war erfolgreich und mir gelang der Wiedereinstieg. Zwar vorerst halbtags, aber mit eigenem Verdienst. Ziel 1 war erreicht und das zweite, mein Cabrio, glasklar anvisiert. Im Februar des laufenden Jahres, nach Karneval, trat ich den Dienst an, 11 Monate vor dem Millennium. Das erste Halbjahr verging, dank Einarbeitung und dem Erlernen der firmenspezifischen Software wie im Fluge. Die Zeit glitt förmlich durch meine Finger. Ich fühlte mich rundum glücklich und leistete wieder etwas für das frauliche Ego. Die Familie, sprich Großeltern und die Kinder, zogen ebenfalls problemlos mit. Beide Omas passten nach Schule und Kindergarten für die Zeit bis zum Nachmittag auf die Kleinen auf. Sie vermissten Ihre Mutter, so glaube ich, nicht existenziell oder wenn, dann nur äußerst selten. Mit ihren Spielkameraden aus dem benachbarten Umfeld hatten sie keine Zeit, mich zu vermissen, zu ausgefüllt war ihr Alltag. Bei jedem nach Hause kommen gab es für die arbeitende Mutter eine stürmische Begrüßung. Sie waren bester Laune und das stimmte mich glücklich. Bestätigte mir gleichzeitig, dass Muttis das Recht auf ihren eigenen beruflichen Lebensweg haben, trotz oder gerade wegen der Kinder. In sich ruhende Mütter haben ausgeglichene kleine Erdenbürgerin. Mein damaliger Mann Martin war ebenfalls mit seinem Job voll ausgelastet, so dass er morgens um 06.00 das Haus verließ, und nicht von 19:00 Uhr zurückkam, trotz Gleitzeit. Ergo genug Freiraum für den Job, den Rest der Familie und mich. Die neue Anstellung komplettierte mein Inneres ich und das Gefühl, nur ein Heimchen am Herd zu sein und gepflockt zu Hause auf jeden zu warten, kam nicht mehr auf, obwohl ich das Mutterdasein liebte und liebe. Jedwede Aktivitäten habe ich mit meinen Kindern erlebt: Schwimmkurse, Radfahren lernen, Fußball, Laternenbasteln, St. Martinszüge und vieles mehr. Habe für die wichtigste Zeit der Erziehung, bis zum Kindergarteneintritt und der Einschulung, gerne auf meinen Beruf verzichtet. Es heißt nicht umsonst: „Wer liebende Erwachsene mit Rückgrat, Selbstvertrauen, Respekt, Liebe und Menschlichkeit gegenüber anderen aus dem Elternhaus entlässt, der verzichtet für sie und bringt ihnen in den ersten, wichtigen Jahren alles das bei, was einen liebenswerten Menschen ausmacht.“ Erziehung heißt Vorbild leben. Die Regeln kommen da ganz von alleine. Genauso habe ich es in der eigenen Kindheit erfahren. Dafür bin ich meinen Eltern äußerst dankbar und habe es, so hoffe ich, beiden Kindern vermittelt. Im April des darauffolgenden Jahres, im Millennium, war es dann endlich so weit. Die Kasse stimmte, das Autohaus war gefunden, in dem mein Traumwagen stand. Mitternachtsblau mit allem, was das Frauenherz begehrte. Voller Stolz saß ich dann, zwei Monate später, in diesem meinem Cabrio und rollte nach dem Einkauf der Leckereien zum verabredeten Liebespicknick mit Thomas. Zur Autobahnauffahrt war es nicht allzu weit und ab dann hatte ich eine knappe Stunde Autofahrt vor mir, um ihn endlich sehnsüchtig in die Arme zu schließen. Genug Zeit, um auf der Anfahrt situationserklärend in die Vergangenheit zurückzublicken.

Thomas kam im Herbst des zurückliegenden Jahres zu uns in die Firma mit dem Prädikat: der „NEUE“. Wir schreiben das Kalenderjahr vor dem Millennium. Alles fing damit an, dass der Chef Entlastung brauchte. Die Umstrukturierungen innerhalb der Firma liefen auf Hochtouren. Die Stellenanzeige wurde geschaltet. Wir suchten einen dynamischen Mitarbeiter mit Führungsqualitäten und einer Menge technischem Verstand. Eine Vielzahl von Anwärtern bewarb sich, kamen zu Vorstellungsterminen und verließen das Haus wieder. Der „NEUE“, wie ihn alle nannten, sollte im selben Jahr, im November, die Stelle antreten und den Mitarbeiterstamm vergrößern. Gewiss hatten einige andere Bewerber einen bleibenden Eindruck hinterlassen, aber Thomas erhielt den Zuschlag. Es trug sich wie folgt zu. Es war ein diesiger Dienstagmorgen Anfang Oktober. Das Telefon schellte und ich hob ab. „Kramer. Guten Morgen Frau Sehberger. Ihr Chef wünscht, mich ein weiteres Mal zu sprechen, und ich würde mit Ihnen gerne einen Termin in Ihrem Hause festlegen. Sind Sie in der Lage, mir schon einen Möglichen zu nennen?“ Fragte er. „Guten Morgen Herr Kramer. Das freut mich zu hören. Gerne. Ich öffne nur rasch den Kalender und lege Sie mitsamt dem Telefonhörer kurzzeitig zur Seite“, antwortete ich und legte den ihn auf den Schreibtisch. Öffnete den Terminkalender auf dem Bildschirm und nahm den Hörer wieder in die Hand. „So, Herr Kramer. Kalender geöffnet. Mein erster Vorschlag für sie wäre der morgige Mittwoch, um 14.00 Uhr. Passt das?“ Fragte ich. „Gerne, das ist perfekt. Richten Sie Ihrem Chef bitte freundliche Grüße aus und wir sehen uns demnach am morgigen Tag um 14.00 Uhr. Bis dahin frohes Schaffen“, so seine Zusage. „Ja, dann bis morgen. Richte Ihre Grüße gerne aus. Auf Wiederhören.“ Nach Beendung des Telefonats stieg ich die Treppe hinauf, betrat das Büro des Chefs, um ihm von seinem morgigen Bewerbungstermin mit Herrn Kramer zu berichten. Alles passte perfekt. Seine Bewerbung lag schon auf seinem Schreibtisch, dem Termin stand nichts mehr im Wege. Am nächsten Tag, so gegen Mittag, kündigte Herr Kramer mit einem weiteren Anruf seine pünktliche Ankunft an. Wie immer war ich die Erste am Telefon. „Guten Tag Frau Sehberger. Kramer hier. Ich avisiere Ihnen kurz die Ankunftszeit in Ihrem Hause, die ich auf meinem Navi ablese. Wenn nichts dazwischenkommt, bin ich um 13:50 Uhr bei Ihnen, demnach in 20 Minuten,“ kam aus dem Hörer. „Vielen Dank für Ihre Info, Herr Kramer. Der Chef wird da sein. Wir freuen uns,“ erwiderte ich. „Auf Wiederhören.“ Er kam pünktlich, so wie sich das gehört. Genau 20 Minuten später bog sein Wagen auf unseren Firmenparkplatz. Punktlandung. Er stieg aus, zog am Auto sein Sakko an, holte seine Aktentasche aus dem Kofferraum, schloss die Pkw-Türe hinter sich und trat ein. „Hallo Herr Kramer. Ich hoffe, die Anreise war stressfrei. Bitte folgen Sie mir. Der Chef wartet im Konferenzraum“. „Gerne. Vielen Dank junge Frau“. Beide schritten wir aus meinem Büro die Treppe hinauf. Das Gespräch dauerte geschlagene eineinhalb Stunden, bis endlich die Türe aufging und sich beide mit einem Lächeln und per Handschlag verabschiedeten. Schnellen Schrittes kam er die Treppe hinunter und lächelte mir beim Vorübergehen zu. Dann fuhr er los und alle waren gespannt, was das Resultat des ausgiebigen Gesprächs war. Zum Leidwesen der Kollegen vergingen zwei lange Tage voller Ungewissheit und Anspannung, auf wen die Wahl des Chefs wohl gefallen war. Am dritten Morgen präsentierte man mir das Ergebnis. Ich genoss das Vertrauen der Chefetage, war die Erste, die eingeweiht wurde. Das stärkte. Ich brütete wieder über eine größere Submission, bevor die Bürotür aufging, die Frau des Firmeninhabers, hereinschneite und mir einen kleinen Klebezettel auf den Tisch legte. Mit der eindeutigen Geste – „Zeigefinger auf den Mund“ – teilte sie mir freudig mit, dass ich die Erste bin, die es erfahren wird. Möge aber bitte hierüber Stillschweigen bewahren. Mit einem riesigen Fragezeichen auf dem Kopf las ich, was auf dem Zettel stand. In großen Lettern las ich: „Kramer kommt!“ Im November war sein Amtsantritt. Dieser nette, attraktive Herr wird demnach der „NEUE“. Ich für meinen Teil fand ihn reizend. Freute mich auf eine fruchtbare Zusammenarbeit. Der Rest des Tags verlief nach der positiven Nachricht wie alle anderen. Arbeitsreich, kollegial und ausgefüllt.

Bevor der „NEUE“ seinen Job aber antrat, den Mitarbeiterstamm der Firma vergrößerte und uns kennenlernte, stand das alljährliche Firmenfest an. In regelmäßigen Abständen wurde ausgiebig gefeiert. In diesem Jahr würde es zünftig zugehen. Mitte Oktober, in einem alteingesessenen Lokal in unserer Stadt unter dem Motto „O zopft is!“ Eine Art Oktoberfest, mit Trachten, Brezeln, Weißbier, Weißwurst und zuzeln, bayrisch eben. Der „NEUE“, Herr Kramer, war schon eingeladen. Er kam mit Anhang. Ein erstes unbeschwertes Kennenlernen der zukünftigen Mitarbeiter gelingt in einer lockeren Atmosphäre wesentlich besser, so die Meinung der Chefetage. Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren. Das Herrichten des Festsaals übernahm der Gastwirt. Wir waren gespannt. Am Festtag erwarteten wir unsere Gäste ab 19:00 Uhr. Die Aufregung war groß. Ein jeder war bemüht, dass das fest gelingt. Der Wirt hatte die Räumlichkeiten des Lokals in Blauweiß geschmückt. Auf den Tischen positionierte er Brezeln, Senf und zünftige, bayrische Dekorationen. Die Saaltische waren zum Mittelgang schräg angeordnet, damit alle Gäste den einmarschierenden Bühnenstars schon beim Einzug ihre Aufmerksamkeit schenkten. Der Chef hatte drei Unterhaltungskünstler engagiert, die hinter der Bühne auf Ihren Auftritt in den Startlöchern standen. Die Uhr schlug 19.00 und die ersten Gäste trudelten ein. Eine Stunde später waren alle vollzählig erschienen und waren entsprechend dem Motto bayrisch gekleidet. Die Mitarbeiter hatten ebenfalls im Vorfeld beschlossen, sich passend zum „Oktoberfest“ zu kleiden. Wir waren vollzählig in Trachten erschienen. Die Damen trugen teilweise Dirndl, zumindest aber eine edelweißbestickte Trachtenbluse. Die Herren hatten hirschbedruckte Trachtenhemden an. Auf Lederhosen aber verzichteten die männlichen Exemplare, Gott sei Dank. Es war eine ausgezeichnete Bühnenshow mit bemerkenswerten Gästen. Unser Boss hatte einen edlen Geschmack bei der Wahl der Bühnen Interpreten bewiesen. Der Erste war ein altbekannter Bauchredner, der die Gäste permanent zum Lachen brachte. Es folgte ein bekanntes Gesangstrio aus dem Kölner Karneval, dass die Menge rockte und zum Schunkeln einlud, bis hin zu einem Sänger, der mir zwar gänzlich unbekannt war, aber mit seinen stimmungsvollen Schlagern zum Tanzen aufforderte. Nacheinander traten die Stars bis weit nach Mitternacht auf. Das Fest endete erst am kommenden Morgen. Es wurde ausgiebig gefeiert, getanzt und gelacht. Ein rundum gelungenes und geschmackvolles Oktoberfest. Der harte Kern, zu dem ich gehörte, stand lange zusammen an der Theke der Gaststätte und feierte. Wir hatten zu vorgerückter Morgenstunde im kleinen Kreis jede Menge Spaß. In der Zeit, in der ein Kollege einen Witz nach dem anderen zum Besten gab, schweifte mein Blick durch den Raum, um festzustellen, wer zu so später Stunde unter uns weilte. Er blieb an einer „älteren“ Dame hängen, die mit einem Weltuntergangsgesichtsausdruck auf einer Eckbank an einem Tisch saß. Das Kinn hing bildlich gesprochen bis zum Boden, ihr starrer Blick schaute ins Leere. Die personifizierte Langeweile diagnostizierte ich, auf irgendeine Weise unheimlich. Sie saß dort Mutterseelen allein. So eine Mimik hatte ich bis dato bei keinem anderen Menschen je gesehen. In Ihrem Gesicht spiegelte sich eine irre Traurigkeit wider, fast schon die Stimmung einer tiefen Depression, so empfand ich es. Langeweile war hier das Harmloseste, was ich hineininterpretieren vermochte. Ein wenig leidgetan hat sie mir schon, war es doch so ein lustiges Event und trotz der späten Stunde eine heitere und humorvolle Stimmung. Aber Spaßbremsen gibt es eben auf jedem Fest. Nur nicht weiter vertiefen, schoss es mir durch den Kopf. Trotzdem ließ mich die Dame gedanklich nicht los. Ich stellte mir die Aufgabe, zu ergründen, zu wem dieser Trauerkloß denn gehören würde. Und schon hörte ich eine mir bekannte Stimme genau diese Frage stellen. Es war mein Tonfall und ich hatte laut den Gedanken geäußert. Der Kollege, der mit seinem Bierglas in der Hand neben mir stand, antwortete prompt: Das ist die Frau von unserem „NEUEN“, dem Kramer. „Oh mein Gott“, sagte ich, „der Arme“. Manche Menschen sind eben vom Leben gestraft und sehen es nicht, formulierte ich in Gedanken. Im Gegensatz zu seiner Gattin war der „NEUE“ die komplette Feier über äußerst gesellig, lebensfroh, lustig und begeistert vom stimmungsvollen Bühnenprogramm. Er scherzte den ganzen Abend mit den neuen Kollegen. Ich betrachtete ihn immer wieder, sah ihn oft herzhaft lachen. Ich beobachtete auf dem Fest einen Mann, so schien es mir, der das Leben mit allem, was es zu bieten hatte, zu leben verstand. Und wieder schwirrte die Frage in meinem Kopf herum: „Wie kommt ein solch lebensbejahender Mensch an so eine Frau?“ Wie man eine Vorliebe für Spaßbremsen entwickelt, entzog sich mir vollends. Na ja, er hatte sich die Dame ja in früher Jugend selbst ausgesucht und über Geschmack lässt sich bekannterweise nicht streiten. Wo die Liebe hinfällt. Außerdem stand es mir nicht zu, einen Menschen nur nach einer Momentsituation zu beurteilen, gar zu verurteilen. Das war nie mein Stil. Ich lernte die Erdenbürger immer erst gerne kennen, um mir ein Urteil zu bilden. Denkbar, dass sie ja nur einen deprimierenden Tag hatte, was durchaus vorkommet. Angesichts der glücklichen Stimmung im Lokal, hing ich nicht länger der Dame nach, ließ Kopfkino, Kopfkino sein und wandte mich wieder den Kollegen zu. Im Trubel war die komische Vertreterin des schönen Geschlechts schnell vergessen und draußen wurde es längst hell. Eine letzte Brezel und das letzte Glas Wein, dann aber ab nach Hause. Das Bett ruft.

Der Sonntagmorgen war längst angebrochen. Die Wochenenden sind nach einer ausgiebigen Feier immer äußerst kurz. Geschlafen wurde bis zum Nachmittag. Wir krabbelten aus dem Bett. Die Kinder waren bei den Großeltern bestens versorgt, so dass wir den restlichen Sonntag in Ruhe haben ausklingen lassen. Am frühen Abend trotteten wir mit den Kindern zeitig zu Bett. Schlafdefizit nachholen. Kaum wieder Montag rasten die letzten Tage des Oktobers nur so dahin. Aufträge satt, Schreibtisch voll. Alle waren gespannt auf unseren „NEUEN“. Getuschel an jeder Ecke und einzelne Kollegen versuchten, in ihrer Neugierde irgendetwas über ihn heraus zu bekommen. Beim Oktoberfest haben wir ihn äußerst gesellig kennengelernt. Er knüpfte schnell Kontakt und schien ein echter Sonnenschein mit Humor zu sein. Aber das war der inoffizielle neue Kollege. Meistens sind die private und die berufliche Seite eines Menschen belegt von zwei unterschiedlichen Personen. Wie wird er so sein, fragten sich die Kollegen, die ihm ab November unterstellt waren, denn sie waren angehalten, mit ihm in Zukunft zu arbeiten. Gott sei Dank, zerbrach ich mir hierüber den Kopf nicht. Mein Chef war und blieb der Eigentümer. Den Kollegen wünschte ich nur ein sozialverträgliches Kerlchen. Ein Bär von Mann war er ja schon, und Bären sind ja die friedlichen und kuscheligen Vertreter in der Tierwelt. Nur bitte nicht reizen, es heißt, das sei ungesund. Alle waren wir gespannt. Der November, einer der nicht so angenehmen Monate, brach an. Niesel, Nebel, Niesen – eben ein Monat mit vielen N-Wörtern. Und was passt da perfekt hinein: Der NEUE! Es war Montag, die erste volle Arbeitswoche im November. Nicht nur ein diesiger Tag, nein, sondern einer, wo jeder es liebt, eher im Bett zu bleiben. Stattdessen setzen sich alle in irgendein Auto und fahren ins Büro. Aber wer lässt sich schon den „NEUEN“ entgehen. Pünktlich, 10 Minuten vor Arbeitsbeginn, traf er ein und der Chef stellte ihn jedem einzelnen Mitarbeiter mit Handschlag vor. Meine Bürotür öffnete sich und beide traten an den Schreibtisch. Jetzt war ich an der Reihe. „Caroline, ich darf dir Herrn Kramer vorstellen. Er wird der Manager der technischen Abteilung.“ Der Chef drehte sich zu ihm und sprach weiter: „Und für Sie, Herr Kramer. Das ist Frau Sehberger. Meine rechte Hand.“ Wir reichten die Hände zur Begrüßung und schauten uns dabei tief in die Augen. Es war kein Gefühl, sondern ein Gefühlschaos, das der Blick in der Sekunde in mir auslöste. Herzrasen, Pulschlagerhöhung und eine wärmende, aufsteigende Hitze durchströmten den gesamten Körper. Auf mystische Art sank mein Blick tief hinab in seine Männerseele. Alles war so vertraut, fast geheimnisvoll. Es war ein Wechselbad der Gefühle. „Guten Morgen, Frau Sehberger. Freue mich außerordentlich auf unsere Zusammenarbeit“, sagte er mit weicher, sanft klingender Stimme. „Guten Morgen Herr Kramer. Herzlich willkommen und ich freue mich ebenfalls auf eine angenehme Teamarbeit“, sagte ich leise, völlig irritiert und hypnotisiert. Der Klang seiner Stimmbänder war erotisierend. Ja, eine erotische Stimme hatte er. Sie zog mich auf irgendeine Art und Weise unerklärlich in ihren Bann. Chef und Kramer waren fast wieder auf dem Weg zur Türe hinaus, da holte ein Telefonklingeln mich aus meinen verwogenen Gedanken. Kunden haben eben Vorrang. Ab heute gehörte also Herr Kramer zum Mitarbeiterstamm und leider hatte der reizende Arbeitsbeginn des „NEUEN“ für mich einen unschönen Beigeschmack. Ich wurde vorab höflich aufgefordert, mein heißgeliebtes Büro auf der ersten Etage zu räumen. Alleinlage/Ruhe/Küche direkt gegenüber/Kaffee so oft mir nach dem Heißgetränk war und das auf dem kürzesten Weg. Das Büro war Luxus pur. Jetzt zog Kramer dort ein und mich platzierte man ins Erdgeschoß. Seine Augen und seine erotische Stimme trösteten über den „kleinen Verlust“ hinweg. Sie stimmten versöhnlich mit dem Umzug in die neuen Räumlichkeiten. Na ja, man kann eben nicht alles haben. Bis heute ist es nicht erklärbar, was mich bei ihm so in den Bann gezogen hatte. Es wurde nicht nur der berufliche Start eines neuen Kollegen! Es wurde der Beginn meines neuen Lebens. Etwas, dass sich lange Zeit nicht in Worte kleiden ließ. Rückblickend, heute, nach all den Jahren der gemeinsam gelebten Zeitreise, beschreibe ich es treffend mit einem Wort: Liebe. Aber dazu später. Die Zeit verging an Kramers Premierentag wie im Flug. Ebenso der Monat November. Die Auftragsbücher waren voll, der Büroalltag ausgefüllt. Schon stand der Dezember und der 1. Advent vor der Tür. Das ist immer meine Lieblingszeit, erst recht in der Firma. Die Adventszeit. Das Ende eines stressigen Jahres rückt mit der Vorweihnachtszeit in greifbare Nähe. Herr Kramer hatte in der kurzen Phase seiner Zugehörigkeit eine Neuerung eingeführt. Jeden Montagmorgen um 09.00 Uhr fand eine Besprechung, ein Jour Fix statt, bei dem alle Mitarbeiter anwesend waren und Bericht erstatteten. Firmentransparenz nannte er das. Ich kannte solche wöchentlichen Auftaktbesprechungen aus meiner beruflichen Vergangenheit. Eine sinnvolle Einführung zum Wochenauftakt, aber ich glaube, dieser Meinung waren nicht alle. Ebenso an diesem Montag nach dem 1. Advent. Die Büros waren geschmackvoll weihnachtlich geschmückt. Die Chefin hatte ein Händchen für das Dekorative und holte zu den alljährlichen Festzeiten ihre phantasievollen Dekorationen heraus und schmückte die gesamten Räumlichkeiten der Firma. Im aktuellen Jahr hatte ich den Eindruck, dass die Büros festlicher und erleuchteter schienen. Woran das lag? Ich war in Hochstimmung. Alle Räume waren mit hellen Lichterketten und dunklem Tannengrün dekoriert. Sogar ein Tannenbaum stand in der Eingangshalle. Atmosphäre schaffen nannte sie das. Für die Mitarbeiter war es das Einstimmen auf das private Weihnachtsfest. Mein Handy summte und erinnerte mich an den neu eingeführten Fixtermin. 08.45 Uhr Montagsbesprechung. Es wurde Zeit, die nötigen Unterlagen zusammenzupacken und sich im Besprechungsraum zum Jour Fix zu versammeln. Ich schaltete die Rufumleitung ein und sprintete die Treppe hinauf. Auf dem Weg zum Konferenzraum schritt ich an einer Anzahl von Büros vorbei, in denen meine Kollegen so gar keine Anstalten unternahmen, aufzubrechen. Am Sitzungszimmer angekommen war ich wie immer die Erste, die das Wort Pünktlichkeit mit der Muttermilch aufgesogen hatte und den Besprechungsraum 10 Minuten vor der Zeit betrat. Mein Blick fiel auf Herrn Kramer, der schon am oberen Kopfende des langen Konferenztisches seinen Platz eingenommen hatte. Entsetzt starrte ich hinterher auf den in der Mitte des Tisches stehenden Holzkranz, der den Adventskranz symbolisierte. Es war nicht irgendeiner, mitnichten. Eine Kollegin hatte den hölzernen Geburtstagskranz ihrer Kinder mit 4 dünnen Kerzen mitgebracht und diesen zum weihnachtlichen Dekoschmuck erklärt. Der stand in mickriger Pracht auf dem Besprechungstisch. Na ja, über Geschmack lässt sich ja nicht streiten. Hierüber aber schon. Ich verfiel beim Anblick des Kranzes sofort in lautes Gelächter. „Was ist das denn?“, sagte ich. „Wir haben Advent, nicht Kindergeburtstag. Dicke rote Kerzen, Tannengrün und Schleifen. Das ist Advent. Oder Herr Kramer?“ Kaum hatte ich meinen Unmut darüber rausgelassen, schauten wir beide uns kurz, aber intensiv an und schenkten uns dazu ein einvernehmliches Lächeln. Es durchströmte wieder der gleiche Schauer meinen Körper. Welch ein verführerisches Lachen dieser Bär von Mann hatte. Und ich ertappte mich dabei, wie meine Inspirationen versuchten, von mir Besitz zu ergreifen. Stopp, es ist Wochenbesprechung, ein kollegiales Lächeln, sagte ich gedanklich. Etwas verlegen wendete ich den Blick ab und setzte mich zur Besprechung ihm gegenüber am zweiten Kopfende des Tisches. Ein Zweiergespräch kam zwischen uns nicht so recht in Gang. Dafür tauschten wir weitere, intensive Blicke aus. Wir warteten auf die Kollegen, die langsam aus ihren Büros im Konferenzraum eintrudelten. Pünktlichkeit ist nicht jedermanns Sache. Die Besprechung dauerte eine knappe Stunde. Alle brachten ihre Anliegen vor. Das letzte Wort hatte Herr Kramer. Zum guten Schluss verteilte er seine Arbeitsanweisungen und entließ uns in den Arbeitsalltag. Wir beide liefen uns an diesem Montag noch mehrmals über den Weg und hatten kleine, zaghafte, unverfängliche Gespräche. Mit Kaffee, Keksen und ein letztes Telefonat am späten Nachmittag, läutete ich für mich den Feierabend ein. Wünschte dem Restkollegium einen stressfreien Abend und fuhr zu Mann und Kindern. Am nächsten Morgen stand zu meiner Verwunderung der Wagen von Herrn Kramer schon auf dem Parkplatz. Ich parkte direkt daneben. Eifriges Kerlchen, beurteilte ich die Lage und erzeugte in meinem Büro erst einmal eine produktive, gemütliche Atmosphäre. Ich zündete eine Kerze an und nahm mir einen Kaffee. Nach der zweiten Tasse mit Weihnachtskeks brauchte ich für einen Vorgang ältere Akten und Unterlagen aus dem Besprechungszimmer. Halbwegs wach trabte ich die Treppe hinauf, bog links um die Ecke, marschierte den Gang hinunter und betrat den Konferenzraum. Wie angewurzelt blieb ich stehen und traute meinen Augen nicht. Auf dem Tisch stand ein richtiger Adventskranz mit dicken roten Kerzen, großen Schleifen und echtem Tannengrün. Der ganze Raum duftete nach Tanne und Weihnacht. „Lieber Gott“, sagte ich laut, „wer war das denn?“ Und, während meine Wenigkeit so vor sich hindachte, stand urplötzlich und überraschend Herr Kramer neben mir. Schweigend und lächelnd. Unsere Blicke trafen sich. Da war er wieder, der Schauer. In seinen Augen, an seinem bärigen Lächeln las ich die Antwort auf meine Frage: ER hatte den Kranz am gestrigen Tag nach Feierabend gekauft und in aller Frühe heute Morgen hierhergestellt. Dann sagte er mit stolz geschwellter Brust, äußerst selbstbewusst: „ICH“. Knisternde Stille. Wir schauten uns an. Lange an. Ich kombinierte. Am gestrigen Morgen hat Herr Kramer mein Selbstgespräch mitbekommen und ist dem aufmerksam gefolgt. Aber warum besorgte er den Kranz? Nur weil Frau Sehberger das sagt? Ich löste mich von seinem Blick und gab behutsam, zögerlich lobend, etwas verlegen, zur Antwort: „Vielen Dank. Das war doch nicht nötig.“ „Es überkam mich aber eine große Lust, Ihnen diese Freude zu bereiten. Das habe furchtbar gerne für Sie gekauft“, antwortete er. Verlegenheit stieg auf. Mir wurde warm. Leicht verwirrt, aber mit unheimlicher Freude über seine geglückte Überraschung, seiner Geste, nahm ich die gesuchten Akten und sprang förmlich die Treppe hinunter, zurück ins Büro. Apropos mein Büro! Wie vorhin erwähnt, räumte ich genau wegen dieses Mannes die erstklassigen Räumlichkeiten auf der ersten Etage, um mich ab dem Tag an mit meinem „Lieblingskollegen“ in einem im Erdgeschoß liegenden Zimmer wiederzufinden und einzurichten. Die Hauptaufgabe des Kollegen war die Auftragsakquise und so war er, zu meiner großen Freude, das gebe ich gerne zu, mehr draußen unterwegs. Er rückte mir daher nicht permanent auf die Pelle und beglückte mich nur selten mit seiner körperlichen Anwesenheit. Bei dem Amtsantritt im vergangenen November unterstützte Herr Kramer an seinem ersten Tag den Umzug. Dem „Lieblingskollegen“ half er beim Schreibtische schleppen. Der Kollege setzte bei der Aktion kein allzu erfreutes Gesicht auf. Das fiel Herrn Kramer auf. Unsere Sympathie füreinander hielt sich in Grenzen. „Was schauen Sie denn so, Herr Müller. Schätzen Sie sich doch glücklich, ab heute mit einer so schönen Frau zusammen ein Büro zu teilen. Ich würde sofort mit Ihnen tauschen!“ Hörte ich Herrn Kramer reden. Indem er die Sätze sagte, schaute er mich – wie beschreibe ich es – mit dem für ihn typischen, erotisch, bärigen Lächeln und einem Blick an, der mir tief in die Seele drang. Kalt und heiß lief es mir erneut den Rücken hinunter und das im November. Dabei waren nicht einmal mal 4 Stunden nach seinem Amtsantritt vergangen. „Nein“, sagte ich in Gedanken, „das bildest du dir ein. Verbanne die Worte! Bleibe auf dem Teppich, junge Frau. Nicht alle Männerherzen liegen dir zu Füßen“. Nicht alle, aber seins? Er verwirrte mich immerzu. Solche seltsamen Augenblicke gab es ab seinem Amtsantritt viele mit uns. Die Situationen schlüssig einzuordnen gelang mir nicht. Es war mehr eine fast wortlose Kommunikation, so eine Art unsichtbares Band, eine stille Post. Wenn wir in einem Raum zusammen waren, hatte er Gedanken im Kopf, die ich dann laut aussprach oder umgekehrt. In den Jour Fixen der nächsten Wochen verstanden wir uns immer mehr, und wie gesagt, fast wortlos. Ungewöhnlich oft zog es mich, zum Kaffee holen, in die 1. Etage. Hierbei ist anzumerken, dass die kleine Küchenzeile der oberen Büroetage direkt gegenüber von seinem, sorry, meinem alten Büro, lag. Die meiste Zeit über arbeitete er mit offener Türe, so dass mir jedes Mal ein kleiner Blick auf ihn gegönnt war. „Männer sind etwas Wunderbares“, signalisierte mein Bauch-Engelchen! „Nicht doch, nein“, sagte der Kopf-Teufelchen. „Das bildest du dir ein!“ Indes der Kaffee so vor sich hin kochte, entlockte ich ihm immer, zwar nur ein kurzes, aber intensives Gespräch, den liebevollen Blick inklusive. Ich bin eine treue Seele, trotzdem zog er mich unerklärlich an. Gute Chemie unter Kollegen, diagnostizierte ich. Beste Voraussetzungen für eine effiziente Zusammenarbeit bei den gemeinsamen Projekten. Man versteht sich ausgezeichnet, mehr nicht. Wir haben dieselben Gedanken, teilen die gleichen Ideen und er sorgte endlich für den ach so berühmten „ROTEN FADEN“ in dem, was man Firmentransparenz nennt. Der Leitfaden war hier aus meiner Sicht, bis zu seinem Eintritt und der neu eingeführten Organisation, nicht vorhanden, nicht zu erkennen, geschweige denn, dass die Gesamtstruktur und deren Abläufe transparent für jeden klar nachzuvollziehen waren. Nur, dass eine solche Transparenz unbedingt erforderlich ist, um effizient und effektiv zu arbeiten, das hatte hier bis heute keinen gestört. Darüber hinaus ebenso wenig begriffen. Sein neu eingeführtes System wird von einem, meinem damaligen Lieblingskollegen, bis heute zu weitergeführt. Tja, erfolgreiche Strukturen werden eben beibehalten und übernommen, so ist das manches Mal. Die letzten Adventstage vergingen schnell und schon stand das Weihnachtsfest vor der Tür. Der verdiente Weihnachtsurlaub setzte ein. Das Fest der Liebe verlief bei uns durch meine Kindheit geprägt, traditionell. Am Heiligen Abend war unsere Mutter Gast im Hause ihres ältesten Kindes, weil unser Vater leider zu früh, am Anfang er 90-iger Jahre, verstarb. Mama blieb an Weihnachtsabenden nie alleine. Mein Geschwister ist verheiratet, hat aber keine Kinder und lebt mit Mann und Hund in einem großen Haus. Und weil der Schwiegermutter das gleiche Schicksal ereilte, waren beide Mütter grundsätzlich am Heiligen Abend dort. Bei uns war es lebhafter, weil sich zu unseren Kindern meine Schwiegereltern gesellten. Seit dem Hauskauf Mitte in den 90er Jahre, wohnten wir zusammen, aber in getrennten Wohnungen. In einem von uns umgebauten großen Zweifamilienhaus mit riesigem Garten und jeder Menge Platz für tobende Kinder. Zuhause war ich nach Feierabend in der Vorweihnachtszeit mit Dekorieren, Geschenke verpacken, Essen vorbereiten und vielem mehr beschäftigt. An Heilig Abend war es für unsere Kleinen wieder einmal ein gelungenes Fest. Christmesse besuchen, Präsente auspacken und das weihnachtliche Essen genießen. Unbeschwert ausgelassen unter dem Tannenbaum. Kinder Heilig Abend eben! Was ich von meinem Mann geschenkt bekommen habe, ist mir entfallen. An den Weihnachtsfeiertagen waren wir stets mit einer Art Rundreise beschäftigt. Am 1. Weihnachtstag zur ersten Oma zum Mittagessen bis in den Abend hinein. Der 2. Feiertag gehörte meiner Schwester mit Frühstücksbuffet am Morgen und zu guter Letzt reservierten wir den Nachmittag des 2. Tages endlich für unsere kleine Familie. Entspannung pur und jeder hatte Zeit für sich. Der weihnachtliche Feiertagsstress war geschafft. Die Woche zwischen den Tagen verging mit dem Treffen der Vorbereitungen auf das Millennium Silvester. Alles lief auf Hochtouren. Ein einmaliges Jahrtausendereignis, und wir waren dabei! Das Glück der passenden Geburtsstunde! Lange beschäftigte ich mich mit dem Gedanken, mit wem wir denn das bedeutende Ereignis feiern werden. Es bereitete Kopfzerbrechen. Mit den Omas und Opas, oder lieber mit Freunden? Die ältere Generation, die Großeltern, waren eingeladen und somit versorgt. Es fehlte eine Person für mich, die zu feiern verstand, was der Mann an meiner Seite nicht begriff. Ausgelassen die Nacht zum Tagemachen, tanzen und die Alltagssorgen für eine Weile vergessen. Folglich wurde eine meiner Freundinnen mit ihren Töchtern eingeladen, um das einmalige Silvester überschäumend feiernd zu erleben. Die Welt verabschiedet ein Jahrhundert und begrüßt zeitgleich gar ein neues Jahrtausend. Ohne zu erahnen, welch eine Wende das Leben nach diesem Fest für mich nehmen wird, plante ich ein großes Millennium Silvester. Die Planung bereitete mir Freude und was das neue Jahr alles bereithielt, war mir bis dato einerlei. Eine Jahrhundert-, gar eine Jahrtausendwende mitzuerleben war emotional gigantisch und aufregend. Vorab verrate ich eines: Das neue Jahr wird für mich das Ereignisreichste werden, das ich in den Letzten zehn erlebt habe. Zukunftsweisend in jeder Hinsicht. Eine Kommunion stand ins Haus und ich war glücklich. Der Job bereitete Freude, die Kinder entwickelten sich prächtig, gegenseitig befruchtende Freundschaften, die Mädels, die netten Kollegen und der „NEUE“, Herr Kramer, inspirierten mein Leben. Aber woran lag das eigentliche, unerklärliche Hochgefühl, das ich seit dem Herbst in mir empfand? Nur nicht zu oft darüber nachdenken. Lieber unbeschwert diese Euphorie genießen. Einige meiner Wünsche und Ziele hatte ich bis dato erreicht. Tiefe Dankbarkeit war zu spühren und ich ruhte in mir. Mitte dreißig - absolut ich und das war mehr, als ich mir erträumt hatte.

Millennium. Der Silvesterabend kam, die Kinder hielten tapfer durch. Das Haus war voll, Spaß bis 23.59 Uhr. Alle zählten den Countdown laut mit und......... Jaaaaaaa, da war es, das verheißungsvolle Jahrhundert, das neue Jahrtausend. Feuerwerk überall. Heller und bunter, nicht wie in all den Jahren zuvor. Die Sektkorken knallten laut, die Gläser wurden gefüllt und alle Feiernden erhoben sie zum Trinkspruch. Jeder wünschte sich etwas Grandioses, das noch nie dagewesene. Niemand verriet seine Träume, sonst erfüllen sie sich nicht. Mein größter Wunsch war schlicht und eindeutig: Gesundheit und Liebe für ein langes Leben. Beim Anblick des gigantischen Feuerwerks bekam ich ein wenig Gänsehaut, das gebe ich gerne zu. Wir standen mit strahlendem Lächeln an den Fenstern. Wer von uns sagt mit Bestimmtheit voraus, ob Träume und Wünsche sich erfüllen werden, oder was das neue Jahrhundert uns allen bringt. Und in erster Linie mir bringen wird. Ich war immens gespannt. In einem kurzen Augenblick, derweil ich mir das restliche Feuerwerk anschaute, stieg ein seltsam wohliges Gefühl in mir auf und ich ertappte mich dabei, den Kopf voller Gedanken an Herrn Kramer zu haben. Wie hat er das große Ereignis gefeiert? Wen hält er jetzt in seinen Armen und welchen Wunsch hat er für sich definiert? Ob er ebenfalls an mich denkt? Mit einem lauten „Mama“ fiel mir mein Sohn um den Hals, riss seine verträumte Mutter aus den törichten Gedanken. Die Kinder waren müde, angesichts der vorgerückten Stunde. Ich brachte sie in ihre Betten. Dicken Gutenachtkuss und entzückende Träume. Eine liebende Mutter kommt immer ihrer Pflicht nach und bringt die müden Kinder in die Federn. Im Anschluss daran gesellte ich mich wieder zu den feiernden Gästen. Jetzt folgte der ruhigere, angenehmere Teil der Nacht. Nette Gespräche und die letzten Gläser Wein. Bis in den frühen Morgen wurde gescherzt und gelacht. Millennium – welch ein mystischer Augenblick. Für das restliche kurze Wochenende war relaxen und Ruhe angesagt. Der kommende Montag läutete dann den neuen Arbeitsalltag ein. Die langersehnten Ferien waren vorüber. Alle Urlaubsrückkehrer fanden sich pünktlich wieder an ihrem Arbeitsplatz ein. Jeder erzählte in der ersten Stunde des Wiedersehens von seinen Erlebnissen zur Weihnacht und von einem restlos emotionalen, persönlichen Silvester. Herr Kramer kam zu vorgerückter Mittagszeit ebenso in mein Büro, reichte mir die Hand und sagte: „Hallo Frau Sehberger. Von Herzen alles Liebe für das neue Jahr, das junge Jahrhundert. Ich hoffe, dass all Ihre Wünsche sich erfüllen werden.“ „Tausend Dank. Ihnen und Ihrer Familie ebenfalls ein glückliches, neues Jahr,“ so meine Antwort. Seine Stimme nach der zweiwöchigen Urlaubszeit wieder zu hören, berührte mich zutiefst. Beim Verlassen des Büros dreht er sich an der Türe erneut um und schenkte mir ein betörendes Lächeln. Dann schloss er die Bürotür und stieg die Treppe zu seinem Büro hinauf. Ich hatte wieder dieses unvergleichliche Hochgefühl, diese Euphorie in mir. Unerklärlich, meine Gefühle, so bald er im Raum war. Welch ein gelungener Jahresanfang. In der Firma war es nicht allzu turbulent. Alle Kollegen wünschten sich ein brillantes, neues Jahr, wenn man sich über den Weg lief, und freuten sich wieder auf den Frühling. Der macht ja bekanntermaßen alles neu! Die restliche Winterarbeitszeit verging relativ rasch und arbeitsreich. Kinder und Ehemann wohlauf. Herr Kramer hatte sich schon problemlos eingelebt und eingearbeitet. Eines frühen Morgens im Frühjahr – es war ein Donnerstag – kam er in einem Outfit, was ich komisch, gar lustig fand. Er trat herein und was ich sah, entlockte mir ein kleines, verschmitztes Grinsen. Seine Art, sich zu kleiden, war für meinen Geschmack und seine Position im Job nicht passend, salopp ausgesprochen. An jenem Tag hatten Hose, Hemd und Krawatte die unterschiedlichsten Grüntöne. Ein leicht schmerzender Anblick für Menschen mit Stil. Wenn das mein Mann wäre, würde er seiner Position entsprechend perfekt gekleidet sein. Ich war aber nicht seine Frau und er weckte in mir Mitleid. So entlässt eine Ehefrau ihren Mann nicht ins tägliche Arbeitsleben. Leider ist es mein Naturell, dass ich liebgewonnene Personen auf diese komischen Missstände stets hinweise. Nicht immer vorteilhaft für mich, das gebe ich gerne zu, aber so bin ich eben. Es sah so seltsam an ihm aus, dass es aus mir heraussprudelte. Es war mir gleichgültig, welchen Kommentar ich mir einfangen werde. Allen Mut zusammengenommen, stieg ich die Treppe hinauf und stand jetzt in der Küche, welche, wie man weiß, direkt gegenüber seinem Büro lag. Der Vorwand war: Ich brauche Kaffee am Morgen. In der Küche angekommen trafen wir schon, wundersam, aufeinander. Meine Augen musterten ihn und just hörte ich eine Stimme reden, die die Ohren gut kannte: Es war die Eigene. Direkt und unverblümt teilte ich ihm auf charmante Art mit, welche Kleidung er da so spazieren trug. Es sprudelte nur so aus mir heraus. „Hallo Herr Kramer. Entschuldigen Sie bitte, aber wer zieht Sie denn morgens an? Suchen Sie sich die Sachen selbst aus oder macht das Ihre Frau?“ Sein Gesichtsausdruck verdunkelte sich. Wenig amüsiert über diese Frage, bekam ich prompt seine Antwort: „Sie sind reichlich frech, junge Frau. Das geht Sie freilich gar nichts an.“ „Verzeihen sie meine direkte Art. Ihr Outfit gehört in eine andere, längst vergangene Zeit der 80er. Dazu gleich drei verschiedene Grüntöne. Das funktioniert überhaupt nicht. In ihrer Position.“ Antworte ich und versuchte, die Situation wieder zu beschwichtigen. Er schaute mich mit seinen großen, blauen Augen an. Kein Lächeln. Nicht einmal ein kleines. Er wendete sich ab, stapfte schweigend zurück in sein Büro und schloss die Türe. Jetzt hatte ich ihn hoffentlich zum Nachdenken gebracht und war froh, diesen leisen, nett formulierten Angriff auf seine Person überlebt zu haben. War gespannt, wie der Kollege in den kommenden Tagen aussehen wird. Aus meiner Sicht gestattete das eine Verbesserung. Ich nahm mir den Kaffee, schlenderte die Treppe hinunter zurück ins Büro und zog ebenfalls meine Türe zu. Im Stuhl sitzend, grinste ich ein wenig angesichts des soeben erlebten Zusammentreffens. Stürzte mich aber sofort wieder in die vor mir liegenden Ausschreibungen. Den gesamten Tag über habe ich Herrn Kramer, kein weiteres Mal zu Gesicht bekommen. Scheinbar hatte meine Ansprache ihn mehr verärgert, als ich es beabsichtigt hatte. Der Tag verging, die Stunden verflogen. Ich hörte seine Schritte auf der Treppe, so stieg nur er die Stufen hinunter. Entgegen allen Monaten zuvor fuhr er heute schon um 15:00 Uhr Ortszeit in den Feierabend. Warum? Sein Kalender war leer. Wie jeden Tag führte ihn sein Weg an meinem Büro vorbei. Er wünschte mir durch die offenstehende Tür, mit seinem unvergleichlich bärigen Lächeln einen erholsamen Büroschluss. Ich war etwas verwundert, gar irritiert, erwiderte kurz den Wunsch und fragte erstaunt: „Na, Baustellentermin?“. „Nein“, hauchte er, lächelte verschmitzt und tänzelte förmlich hinaus zu seinem Wagen. „Na ja“, sagte ich, „es ist jetzt echt nicht nötig, alles zu erzählen.“ Nur sein Lächeln einzuordnen, fiel mir schwer. Bis zum nächsten Morgen. Er steuerte seinen Wagen auf den Parkplatz, direkt vor mein Bürofenster und stieg aus. Ich traute den müden Augen nicht. Es verschlug mir die Sprache. Er hatte das geschafft. Ich war sprachlos bei seinem Anblick. Ein vollkommen neues Geschehen bereicherte meinen Erfahrungsschatz. Das war die unglaublichste Wandlung eines männlichen Wesens, die ich je in so kurzer Zeit gesehen und erlebt hatte. Komplett neu eingekleidet stand er zur Begrüßung in meinem Büro und sein Lächeln forderte jetzt sofort ein Kompliment. Aber warum von mir? Die erste anerkennende Äußerung gebührt immer dem Partner. Er hat doch eine Frau. Ich lächelte, suchte nach Worten. „Ja hallo, guten Morgen. Sie sehen heute umwerfend aus. Perfekt. Genauso Herr Kramer. Famoses Outfit“, hörte ich mich reden. „Vielen Dank, schöne Frau. Das Kompliment aus Ihrem Mund zu hören, macht den Tag zu etwas Besonderem!“ Sagte er. „Einen traumhaften Tag wünsche ich der Dame. Bis später einmal“. So langsam stimmten mich die Vorfälle mit ihm nachdenklicher. Was zum Teufel bedeutete das? Was führte er im Schilde? War es mehr, als nur ein netter, neuer Kollege? Die Gedanken fuhren zum ersten Male Achterbahn! Die Gefühle ebenso! Ich horchte tief in mich hinein und sagte: „Nein, ich bin verheiratet, habe zwei gesunde und gescheite Sprösslinge, ein solides zu Hause, nette Schwiegereltern und, und, und. Ich fühle mich komplett. Das bildest du dir alles ein, junge Frau.“ Ich senkte den Blick auf die Schreibtischfläche und legte die Konzentration sodann wieder auf die zu erledigenden Büroaktivitäten. Der Kopf blieb aber nicht stumm. Er verstand sich ausgezeichnet auf die subtile Art des Flirtens. Genaugenommen war es von Anfang an phänomenal. Alles andere wäre gelogen. Ich genoss es jedes Mal in vollen Zügen. Komplimente irgendeiner Art zu Hause waren schon lange nicht mehr an der Tagesordnung. Kennen Sie das, dass der Partner in all den Jahren für sie nicht einen Kosenamen hat? Dass er sie meist nicht mit ihrem Vornamen anredet? An manchen Tagen seine Mutter zuerst begrüßt und keine Probleme anspricht? Das Vorlesen beim zu Bett bringen der Kinder, so lange hinauszögert, dass der Zeiger der Uhr fast immer auf 21 Uhr vorrückt, bis er den Weg auf die Couch schafft. All das ist mir vor dem beruflichen Wiedereinstieg in den Job und vor dem Firmeneintritt des neuen Kollegen, Herrn Kramer, gar nicht aufgefallen. Man war dem Alltagstrott so ausgeliefert und wurde förmlich betriebsblind. Saß mein Mann dann endlich auf der Couch, war ich meist schon so müde, dass mir ein Gespräch zu anstrengend war. Konsequenterweise könnten wir kürzertreten. Gesagt habe ich es ihm oft. Er aber kürzte das Vorlesen nicht ab, zog das Lesen bei den Kindern vor. So ist es eben jetzt. Heute, nach all den Jahren Abstand und den Rückblicken in stillen Stunden ist mir klar, dass unsere Beziehung zum damaligen Zeitpunkt schon nicht mehr mit Liebe zu definieren war. Wir lebten Zweckgemeinschaft. Ich hielt, der Kinder wegen, an dem fest, was wir Ehe nannten. Meine Eltern haben mir keine Scheidung vorgelebt. Nein, sie haben sich zwar gestritten, aber sie haben sich jedes Mal versöhnt, sich geliebt bis zum Tod des Vaters und darüber hinaus. Das glaube ich zu wissen, weil wir Frauen der Familie uns immer alles erzählt haben. Ich weiß es eben.

März. Der Frühling im neuen Jahrhundert zeigte sich mit den ersten warmen Sonnentagen. Seinen wohlduftenden Blüten, den prächtigen Blumen Farben. Die großen Fenster im Bürotrakt sorgten dafür, dass man die Winterkleidung wahrlich nicht mehr brauchte. Die frühlingshafte, leichtere Kleidung schmeichelte der Figur. Dieser Anblick blieb dem Kollegen Kramer nicht verborgen. Alles war luftiger und meine Laune auf dem Höhenflug. Das Telefon klingelte an dem Tag oft, meist externe Anrufer. Bis zum Mittag. Es ertönte der interne Klingelton auf dem Hauptapparat. „Kramer hier. Könnten Sie kurz zum Diktat kommen?“ Seine Worte. Er bat mich zu sich hinauf. In meiner unnachahmlichen, direkten Art antwortete ich sofort und unverblümt: „Sehberger hier. Leider bin ich nicht ihr Sekretariat und Sie nicht mein unmittelbarer Vorgesetzter. Aber weil Sie so nett fragen, heute so ein sonniges Wetter ist und ich kurz Zeit habe, komme ich zu Ihnen hoch und schaue, was ich für Sie erledigen kann.“ „Vielen Dank“. So Kramer. „Ja, so bin ich. Stets hilfsbereit und einsatzfreudig. Aber leider direkt! Na dann hinauf zum Diktat“, sagte ich leise und lächelte siegessicher. Gefreut darüber habe ich mich logischerweise ebenfalls. Kramer fragte ausgerechnet die Sehberger. Hat Sehnsucht der „NEUE“, mutmaßte ich. Die Treppe hinauf, den schmalen Gang hinunter bis zur Küche und schon klopfte meine Wenigkeit an seine Türe. Ein lautes herein ertönte und ich trat ein. Die Musterung seines Blickes machte mich keinen Funken verlegen. Im Gegenteil. Seine Augen waren Kompliment und Ansporn zugleich. Verunsicherung war seine Reaktion auf meine Person. Blicke sprechen ja bekannterweise Bände. „Nehmen sie bitte Platz. Hier ist ein Vorgang aus einer Akte, der bedarf einer brieflichen Erwiderung. Hier ist Papier und Stift. Ich diktiere Ihnen kurz etwas zum Sachverhalt“, sagte er mit fester Stimme. Ich setzte mich im gegenüber. Bewaffnet mit den Utensilien, die er mir aufgetragen hatte. Dann schlug er die Kundenakte auf, schilderte mir kurz den Kontext und bat mich, seine Sätze zu notieren. Er legte los mit dem Kundenvorgang: Name, Kundennummer etc. Dabei wirkte er etwas nervös, verlegen und verwirrt, weil er die 4-stellige Vorgangsnummer drei Mal wiederholte, und diese immer falsch zusammensetzte. Wieso behält ein blitzgescheiter Mann denn keine 4 Ziffern in ihrer Reihenfolge? Ihn anlächelnd hörte ich wieder eine Stimme im Raum, die sagte: „Sehr geehrter Herr Kramer. Ist es denkbar, dass ich Sie etwas irritiere?“ Und raus war die Katze! Jetzt hoffte ich nur, dass der Schuss nicht nach hinten losging. Damit er keine Gelegenheit bekam, nur einen Funken Zeit zu haben, nachzudenken und zu antworten, legte ich sofort nach und sagte: „Erzählen Sie mir doch kurz den Kontext ihres Briefes, der in ihrem Namen für die Firma versendet wird, und ich schreibe Ihnen den Geschäftsbrief. Ihre Ergänzungen und Verbesserungen setzen wir dann später ein. Zu meiner Verwunderung kam nur: „Ja, so machen wir beide das. Bis gleich.“ Er erzählte mir den Fall, den es zu formulieren galt und lächelte zufrieden. Zurück in meinem Büro legte ich umgehend los. Keine Schelte oder Ermahnung? Welch ein Glück. Der Eindruck, dass ich den Herrn mit meiner Gestalt in Verwirrung gebracht hatte, wurde durch sein Verhalten bestätigt. Ich fühlte mich geschmeichelt, da Komplimente zu Hause, egal was ich fabrizierte oder trug, wie gesagt, nicht mehr an der Tagesordnung waren. Es sprach sie zumindest keiner aus. Gewohnheit eben. Der Geschäftsbrief war schnell geschrieben. Herr Kramer äußerst zufrieden. Auftrag erfolgreich erledigt. Ja, ich war in der Firma dafür bekannt, dass alles, was ich anpackte, gelang. Hier war für mich das Parkett der Komplimente, der Anerkennung, die ich in der eigenen Ehe nicht mehr fand. Zu einem früheren Zeitpunkt hatte mir meine damalige Schwiegermutter Folgendes gesagt: „Du hättest besser bei euch Karriere gemacht und dein Mann wäre tageweise bei den Kindern geblieben.“ Jetzt verstehe ich erst diesen Satz. Die Chance, das zu beweisen, werde ich erhalten. Dazu aber später. Nach Feierabend hatte ich eine seit längerem schon ausstehende Verabredung mit der besten Schulfreundin meiner gesamten Kinder- und Jugendzeit, Marlene. Wir waren seit der ersten Klasse ein Herz und eine Seele. Uns bekam niemand so schnell auseinander. Bis zum verdienten Abitur haben wir sämtliches, na ja, fast alles miteinander geteilt. Den geliebten Freund vernünftigerweise nicht. Nach Abi und Schulzeit haben wir uns zwar nicht mehr allzu oft gesehen. Kontakt gehalten haben wir über die gesamte Zeit hinweg immer. Marlene hat, nach ihrem Studium den Betrieb ihres Vaters übernommen. War jetzt Eigentümerin und Geschäftsführerin von einigen Zweigstellen und mit ihrer zweiten Liebe, Hans-Christian, liiert und mir schien, glücklich. Ich für meinen Teil hatte mit der Heirat und der ersten Schwangerschaft das Studium nicht mehr intensiviert und mich nach den anfänglichen sechs Semestern für die Mutterrolle entschieden. Fängt man etwas an, dann aus voller Überzeugung. Mit ganzem Herzen oder gar nicht, so das Motto. Alles andere wäre halbherzig. „Man dient nur einem Herrn“, sagten stets meine Eltern. Kinder zu sozialverträglichen Menschen erziehen, ist kein Nebenjob. Kurz und gut. Wir sind zwar unterschiedliche Wege gegangen, aber das hat unserer Freundschaft nicht geschadet. Die Verabredung fand am Abend im Lieblingsrestaurant von Marlene statt. Sie hatte für uns einen Tisch bestellt und ich kam der Kinder wegen leider 10 Minuten zu spät. Die Stimmung war herzerfrischend und sie wartete brav vor dem Lokal. Wir umarmten uns zur Begrüßung und sie fand, dass ich absolut glücklich aussah. „Ja, danke der Nachfrage, mir geht es ausgezeichnet. Die Kinder sind wohlauf, Job macht Spaß und das wertet das Mutterdasein positiv auf.“ „Das hört sich prächtig an. Du wirst mir gleich davon berichten, ja“, bekam ich zur Antwort. Wir schlenderten ins Lokal. Nach Aperitif und Vorspeise war mir aufgefallen, dass ich die ganze Zeit schon ununterbrochen von unserem NEUEN sprach. Seine subtilen Flirtansätze, seine Änderung des Dresscodes nach meiner Bemerkung und viele, kleine Ereignisse mehr. Dabei schilderte ich Marlene einen Vorfall in der Adventszeit in der Küche vor seinem Büro. Damals stand ich dort mit meinen beiden Kolleginnen, eine davon war zu dem Zeitpunkt mit ihrem zweiten Kind schwanger. Wir unterhielten uns über Vornamen. Herr Kramer kam aus seinem Büro zu uns und fädelte sich subtil von der Seite in das Gespräch ein. „Wir haben Äpfel mitgebracht, wie im Paradies,“ sagte eine Kollegin lächelnd. Sie zwinkerte ihn dabei an. „Die Schlange haben wir aber nicht mitgenommen,“ erwiderte schmunzelnd die Andere. „Lieben Sie Äpfel? Dann würde Ihnen die Eva aus dem Paradies heute einen anbieten,“ hörte ich mich fragen. „Nein“, sagte er, „ich bevorzuge Mandarinen.“ Er nahm grinsend seinen Becher Kaffee, zwinkerte mir zu und verschwand wieder in seinem Büro. Einige Zeit später am Vormittag führte mein Weg mich bezüglich eines Vorgangs in sein Arbeitszimmer. Kaum war ich fertig mit der Vorgangssuche und auf dem Weg zur Tür, da öffnete er seinen Koffer, holte eine rote Apfelfrucht heraus, lächelte mich mit blitzenden Augen an und streckte mir das Äpfelchen entgegen. Dabei fragte er siegessicher: „Sie lieben doch Äpfel, nicht. Möchten sie abbeißen?“ Ich blieb wie angewurzelt stehen. Was hörten meine Ohren da. Ich hatte Glück, dass hier kein Spiegel an der Wand hing. „Oh. Nein danke. Ich hatte heute schon meine Obst Kur,“ sagte ich leicht verwirrt und verlegen, nahm die Klinke in die Hand und trat hinaus auf den Flur. „Wie schade“, kam enttäuscht zurück. Und da war sie, die Schlange. Von wegen, Eva verführt. Es war Adam. Seine Art zu flirten war elegant, subtil und so gar nicht aufdringlich. Vollkommen nach meinem Geschmack. Marlene hörte sich das alles mit einer Gelassenheit und Seelenruhe an, bis sie mir ins Wort fiel, sich dafür gleichzeitig entschuldigte und direkt anmerkte: „Junge Frau. Merkst du nicht, dass dein NEUER Kollege voll auf dich abfährt! Verzeih diese saloppe Ausdrucksweise. Aber es ist doch so eklatant, findest du nicht?“ Ich schaute Marlene mit großen Augen sprachlos an. Eine seltsam, nachdenkliche Stille erfüllte den Raum. Nur das Geklapper des Geschirrs und der Gläser der Nachbartische war in meinen Ohren zu hören. Sie verwirrte mich. Ich schaute sie mit einem Blick an, der Marlene an ein scheues Reh erinnerte. „Schau nicht so erschrocken“, kam es aus ihr heraus. „Der Mann will Dich“. „Na echt spitze,“ hörte mich reden. „So habe ich das gar nicht betrachtet. Wieso ist mir das nicht aufgefallen.“ „Nimm doch bitte einmal das Brett vor deinen Augen, dem Kopf und der Seele weg“, sagte sie. „Lehne dich zurück, geh in dich, lausche den Gefühlen und denk bitte nach. Er ist tot unglücklich zu Hause und wenn es die beiden Kinder nicht geben würde, glaube mir, er wäre längst weg und geschieden. Betrachte es einmal aus dieser Sicht. Bist du denn glücklich zu Hause?“ Fragte Marlene direkt. Ich senkte den Kopf und starte auf die rosafarbene Tischdecke. Oh Gott, welch eine bescheuert schöne Frage. Was entgegne ich denn hier und jetzt darauf. Nach einer kleinen, schweigenden Weile schaute ich wieder zu Marlene auf. „Im Ernst? Nein, denke ich. Wir haben uns zu Hause schon darüber unterhalten und beschlossen, dass wir für die Kinder erst einmal das, was wir haben, aufrechterhalten. Na, ich taufte es, WG leben. Wie er das sieht und nennt, entzieht sich meiner Kenntnis.“ Marlene bohrte weiter. „Und wie stehst du zu deinem NEUEN?“ „Na ja, wir sind eins, sagte ich. „Und wie interpretiere ich das Einssein?“ Fragte sie. Bis zum Dessert erklärte ich ihr ausführlich die Bedeutung des Satzes „wir sind eins“ und berichtete von unseren Gemeinsamkeiten. Und wie ich so erzählte, wurde mir die ganze Wahrheit, rund um den NEUEN und mir mit einmal völlig klar. Wir waren ineinander verliebt. Aber so was von, dass wir jedes Mal alles um uns herum vergessen hatten, sogar das zu Hause, wenn wir zusammen waren. Das behaupte ich von mir. Es wurde spät. Der Arbeitstag am kommenden Morgen forderte von unserem erkenntnisreichen Beisammensein, dass wir diesen anregenden Abend jetzt beenden. Nach einem letzten Glas Wein zahlten wir die Rechnungen und rollten förmlich, gesättigt vom delikaten Essen, zu den Pkws. Wir verabschiedeten uns herzlichst mit einer dicken Umarmung. „Na, dann allerlei Spaß mit dem NEUEN. Ich bitte dich um unverzügliche Berichterstattung und Erfolgsmeldung,“ sagte mir Marlene vor dem Einsteigen. Sie überließ mich mit ihren Worten und meinen Gedanken im Kopf in die kommenden Arbeitswochen. War es Schicksal oder Bestimmung? Keiner ahnt voraus, was uns die Zukunft bringt. Welch ein wirrer Beginn für ein neues Jahr, mein Jahrhundertjahr. Für heute führte der Weg erst einmal nach Hause zu Mann und Kindern. An der Haustüre angekommen, schloss ich leise auf, trat ein und stieg die Treppe hinauf in die Wohnung. Alle Lieben lagen schon im Tiefschlaf. Ich schlich behutsam zum Ehemann ins Bett. Die Gedanken rund um das Gespräch mit Marlene kreisten permanent in meinen Kopf. Hatte Sie mit allem Recht? Eine ganze Weile lag ich wach und brütete über mich und Herrn Kramer. Zu vorgerückter Stunde in dieser Nacht siegte die Müdigkeit und der wohlverdiente Schlaf setzte ein. Wohltuender Ruhe und angenehme Träume.

In den darauffolgenden Tagen des Aprils war Herr Kramer in der Firma etwas kurz angebunden. Außer einem „Guten Morgen“, einem „Schönen Feierabend“ und seinem betörenden Lächeln waren keine nennenswerten Gespräche zustande gekommen. Oft verließ er vor dem regulären Betriebsende das Gebäude und hinterließ den Eindruck, dass er nicht immer ganz bei der Sache war. Verzeihung, gedanklich nicht bei mir, wenn es gestattet ist, das so zu formulieren. Mir fehlte die liebevolle, knisternde und subtile Art des Miteinanders mit ihm. Der Monat schritt eilig voran und es war so Mitte April. Er kam in mein Büro, da sprach ich ihn direkt an. „Im Stress die letzte Zeit?“ Fragte ich. „Ja, es steht ein Familienfest an, Kommunion. Das bedeutet für mich, die Lokalität aussuchen und buchen, festliche Kleidung kaufen und alles organisieren. Das nimmt Zeit in Anspruch“, erwiderte er. „Ach so“, sagte ich, „hat man dafür nicht seine nicht arbeitende Ehefrau? Und ich hatte schon die Befürchtung, es liegt an mir. Da habe ich aber Glück. Mein Kind hat ebenfalls in Kürze Kommunion. Dann sind unsere ja im gleichen Alter. Wie schön. Wir sind erst in 6 Wochen dran. Daher kenne ich den Stress des Organisierens. Diese Aufgaben erfüllt in unserer Familie meine Wenigkeit. Das ist doch Frauensache, oder“, sagte ich. „Nein, an Ihnen liegt das nicht. Ist das Fest erst einmal vorüber, habe ich wieder mehr Zeit“, gab er etwas verlegen zur Antwort. „Klingt verlockend“, erwiderte ich. Der Kopf formulierte sofort folgende Fragen: Mehr Zeit für was und wen? Etwa für mich? Wenn er mich damit gemeint hat, dann löste das ein echtes Glücksgefühl aus. Gott sei Dank war nicht ich die Ursache für seine Missstimmung. Jetzt war die Situation endlich geklärt. Ich ließ Herrn Kramer ab dem Tag in Frieden. Bis auf unsere kleinen Gesten und seine liebevollen Blicke. Die erntete ich täglich, genauso wie er meine. Sein Festtag kam und verlief recht stressfrei. Jetzt war er wieder vollkommen der Alte. Ein aufmerksamer Kollege, den ich vermisste und schätzte. Sein bäriges, verführerisches Lächeln kehrte zurück und das unsichtbare Band zwischen uns war wieder da. Grandios. Es fühlte sich irre gut an. Der April lag in den letzten Zügen und der Wonnemonat Mai stand vor der Tür. Schmetterlinge gab es ja genug. Die Anziehungskraft, die wir beide zueinander empfanden, wurde unsererseits nicht mehr ignoriert. Die Gespräche der letzten Wochen waren der reine Schlagabtausch. Hier ein kleiner Geschmack von dem, was sich täglich so im Zwischenmenschlichen bei uns abspielte: ER sanft: „Es sind keine Kaffeetassen mehr im Schrank. Was machen wir denn da, Frau Sehberger?“ Ich mal wieder im direkten Antwortmatch: „Abwasch heißt das Zauberwort, Herr Kramer. Spülen“. Es folgte ein verliebtes Lächeln auf beiden Seiten. Eine weitere Situation. ER lächelnd: „Sie sind aber eine direkte Person, junge Frau!“ Ich: „Stört Sie das, junger Mann?“ ER: „Nein. Ich liebe direkte Frauen!“ „Ja, wenn das so ist, müssten wir das ja einmal in einem intensiven Gespräch vertiefen, finden sie nicht“, meine prompte Antwort. Mit der Reaktion seinerseits hatte ich wahrlich nicht gerechnet. Erst schwieg er leicht verlegen, schaute mich verdutzt an. Dann brachte er einen Stein ins Rollen und war über sich selbst angenehm überrascht. Jetzt lächelte er mit seinem so unvergleichlichen, betörenden Lächeln, dass mich jedes Mal tief berührte. „Ja bitte?“, fragte ich, weil sein Blick so intensiv und bohrend war. Er roch irre verführerisch. Luft holend antwortete er äußerst überzeugend: „Lassen sie uns das Thema bei einem Dinner intensivieren.“ „So so, ein Dinner?“, fragte ich. „Ja, unser Candle-Light-Dinner!“ Seine Augen glänzten. Was sage ich, sie strahlten. Total überrascht, entzückt und gleichzeitig verlegen schaute ich drein. Das kannte ich gar nicht von mir. Aber, denn er liebt ja direkte Frauen, redete meine Stimmer munter drauf los: „OK. Wann?“. „Ich sage Ihnen Bescheid“, antwortete er jetzt mit einer solchen Selbstsicherheit, dass mir Angst und bange wurde. Er drehte sich um und schlenderte hinauf in sein Büro. Ich brauchte erst einmal einen Stuhl. Was war das denn? Hatten wir uns soeben zu einem Candle-Light-Dinner verabredet? Herr Kramer rüstete auf zum Angriff. „Junge Frau, was tun Sie da?“ Fragte ich mich leise in einer Art Selbstgespräch. War das der Beginn einer ins Rollen gekommenen und nicht aufzuhaltenden Romanze? Oder gar mehr? Gedankenchaos im Kopf und Schmetterlinge im Bauch. Was habe ich da nur angefangen. Wir haben Ehepartner, Kinder, und der Grundsatz lautete immer und überall: „Keinen Kollegen, nie einen Verheirateten, alles vergessen?“ Bis jetzt ist ja nichts passiert, sagte ich mir. Und wenn wir den Verstand nicht völlig abschalten, wird es nur ein Essen zweier Menschen, die sich exorbitant verstehen. Es fühlte sich alles wohltuend und so realistisch an. Es ist nur ein Dinner, redete ich mir immer wieder ein und genoss trotz alledem in vollen Zügen meinen Feierabend. Es vergingen ein paar Tage. Bei jedem Aufeinandertreffen in der Zeit lag ein seltsames Knistern in der Luft, überkam uns ein wohliges Gefühl in der Magengegend. Die Schmetterlinge? Das Warten auf Tag X, dem Dinner, forcierte das Kribbeln. Geduld walten zu lassen, fiel mir in dem Stadium schwer. Innehalten und etwas abzuwarten ist manches mal nicht meine beste Gemütsart. Die Tage flogen nur so dahin. Mittlerweile war es fast Mitte Mai. Langsam aber sicher breitete sich eine kleine, rasch wachsende Enttäuschung aus. Er suchte das Gespräch rund um sein versprochenes Candle-Light-Dinner so gar nicht mehr. Fast hatte ich meine Frustration überwunden, stieß er eines Nachmittags die Türe des Büros mit Schwung auf. Herr Kramer trat breit grinsend, mit strahlenden Augen ein und postierte sich vor dem Schreibtisch mit seinem so unverwechselbaren Charme. „Hallo,“ hauchte er mit verführerischer Stimme, „ich habe ihnen doch etwas versprochen, nicht wahr! Ich löse heute das Versprechen ein.“ Mein Gesicht versteinerte sich und gleichzeitig wäre ich ihm am liebsten jetzt schon um den Hals gefallen. Ich hätte vor Freude schreien können. Meine Ohren hatten es tadellos verstanden und er hatte es nicht aus den Augen verloren. Diszipliniert antwortete ich: „Sie haben es nicht vergessen? Das freut mich ungeheuerlich. Schon einen Termin in die engere Wahl genommen?“ „Dafür bin ich hier“, sagte er. „Wäre alternativ ein Mittagessen ebenso angenehm?“, fragte er dann leicht verlegen. Das habe ich nicht gehört, oder doch? So ein kleiner Feigling, schoss es mir durch den Kopf und antwortete direkt: „Nein, liebster Kollege. Candle-Light ist Candle-Light! Und Versprechen sind einzuhalten! Oder bekommt Mann Stress zu Hause? Für die Begründung bei Ihrer Frau bin ich nicht zuständig. Meine Wenigkeit hat nie Probleme damit und geht selbst am Abend vor die Tür!“ Er verzog nach der knappen Ansprache keine Mine. Lächelte, jetzt etwas verlegener. Ein kurzes Schweigen folgte. Zögerlich antwortete er: „Dann bleibt es beim Abendessen. Ich bekomme das schon hin. Welchen Tag im Kalender nehmen wir denn?“ Fragte er jetzt selbstsicher. Wir einigten uns auf den zweiten Mittwoch im Mai nach Dienstschluss. 19.00 Uhr – Tisch und Lokal suchte er aus. Zufrieden grinsend schlich er zurück in sein Büro. Ich schaute ihm nach und hatte das Gefühl, dass er mich mit seinem Hin und Her testete. Etwas sagte mir, dass genau das sein Bestreben war. Er wollte sicher sein, dass ich mir sicher bin. Kompliziert, aber so ist das. Die „Kuh“ mit Namen Dinner war vom Eis. Das Datum fixiert. Eine famose Gelassenheit breitete sich in mir aus. Eine grenzenlose Vorfreude auf das, was da kommen wird. Das Gefühl in mir glich dem eines 16-jährigen Teenagers kurz vor dem ersten Kuss. Das Kribbeln im Bauch, das man nie mehr vergisst. Stunden später ist mir aufgefallen, dass der Tag das Geburtstagsdatum meiner geliebten Oma war. Das ist kein Zufall! Nein, es gibt keine Zufälle. Es gibt nach meiner Auffassung vom Leben nur das Schicksal, die Vorherbestimmung. Am gleichen Abend rief ich Marlene an und berichtete ihr vom bevorstehenden Abendessen mit Herrn Kramer. Alleine. „Würde ihn gerne einmal sehen“, sagte sie. „Braucht er nicht beizeiten eine nagelneue Scheibe fürs Auto oder so? Ich bin dann zufällig im Betrieb anwesend und schaue ihn mir einmal genau an“. Marlene war so was von begeistert und voller Neugier, was ich nur zu gut verstand. Und während sie so weitersprach, fiel mir ein, dass ein Steinschlag die Frontscheibe des Firmenwagens erwischt hatte und er ernsthaft eine neue Scheibe benötigte. „Marlene“, unterbrach ich ihren Redeschwall, „ich glaube, das lässt sich einrichten, dass du ihn kennenlernst“. Ich erzählte ihr den Vorfall. „Sag ihm morgen Bescheid, er möge mich bitte anrufen. An der Zentrale nach der Chefin fragen und mit mir einen Termin vereinbaren. Für seinen Wagentyp habe ich immer Scheiben hier. Falls er Zeit mitbringt, darf er gerne warten. Bei einer Tasse Kaffee und mir, der Beilage“, und lachte lauthals in den Hörer. „Das du ja nett zu ihm bist, ja“, sagte ich fordernd. „Abgemacht“, klang es wie aus einem Munde. Ich war aufgeregt, was sie mir über ihn berichten würde. Mit ihr hatte ich jetzt eine enge Vertraute. Wir haben uns bis heute verstanden, gegenseitig getröstet und uns grundsätzlich alle Wahrheiten anvertraut. Warum nicht auch jetzt. Am darauffolgenden Tag holte ich in die Küche Kaffee. Beiläufig erzählte ich Herrn Kramer von meiner alten Schulfreundin Marlene, ihren Betrieben rund um zerbrochene Autoscheiben und richtete ihm die Worte von ihr aus. Er war begeistert. „Dann geben sie mir doch die Telefonnummer und ich ordere heute einen Termin mit ihrer Marlene“, sagte Herr Kramer. Ich schrieb ihm die Rufnummer auf einen Zettel und klebte diesen auf seinen Schreibtisch. Zurück an meinem Arbeitsplatz rief ich sie sofort an und weihte sie umgehend ein. Nachdem er Marlene angerufen hatte, gab sie mir das Datum durch. Meinetwegen legte sie den „Mal-sehen-wer-da-kommt-Termin“ vor dem Candle-Light-Dinner. Die Neugierde war groß, wie sie ihn denn findet. Ihr Urteil war mir wichtig. Kaum drei Tage später war er bei ihr im Unternehmen. Ich glaube, er war keine 100 Meter vom Firmenparkplatz entfernt, da klingelte bei mir das Telefon. „Ich bin´s, Marlene. Er ist soeben weggefahren. Das ist ja eine Sahneschnitte. Ein attraktives Original, ein richtiger Bär, unheimlich nett. Glückwunsch und enttäusche mich nicht. Ich lechze nach positiver Berichterstattung von dir. Und wenn du ihn am Ende eures Dinners nicht nimmst, dann melde dich bei mir. Ich nehme ihn“, plauderte sie direkt drauf los und lachte laut. Marlene hatte ihren Satz zu Ende gesprochen, da fuhr er schon auf unseren Parkplatz vor mein Büro. Herr Kramer stieg aus und lächelte mir durch das Fenster zu. „Ich muss Schluss machen, er kommt rein, bis später“, sagte ich kurz angebunden und hängte rasch den Hörer ein. Verlegenheit stieg auf. Die Bürotür öffnete sich und er lächelte mir zu mit den Worten: „Das hat alles perfekt geklappt. Freue mich auf uns. Dauert ja nicht mehr lange. Bis später.“ Jetzt wurde mir so warm ums Herz, dass ich ihm am liebsten um den Hals gefallen wäre. Die unzähligen Stunden bis zum ersehnten Candle-Tag vergingen so gar nicht. Das war naturgemäß vollkommener Blödsinn. Zeit vergeht immer gleich. Meine Gefühle aber kennen keine Uhr, Tage oder Wochen. Sie fordern stets ein sofort! Deshalb ist Zeit nicht gleich Zeit! Und dennoch zog es sich hin. Tag X war endlich da. Der spezielle Mittwoch mit dem doppelsinnigen Datum. Es war ein wolkenloser, warmer Frühlingstag und der Geburtstag meiner so geliebten Oma mütterlicherseits. Einer charakterfesten Persönlichkeit, mit einem großen Herz am richtigen Fleck. Acht Kinder an der Zahl, eines davon ist unsere Mutter. Sie hat das Wesen und das große Herz voller Liebe geerbt, wie alle anderen Geschwister. Bin stolz darauf, ein Kind meiner Eltern zu sein. Die Mutter-Gene werden, wie man weiß, weitergegeben. Herzensgute Gene sind mir vererbt worden. Leider behauptet das nicht jeder Mensch von sich. Bei manchen sammelt sich ein Haufen wenig beneidenswerter Gene an, je nach Mutter, Großmutter und Schwiegermutter! Aber das ist nicht mein Thema. Zurück zum Alltag. Die Büroarbeit erledigte sich an Tag X extrem leicht. Kein Wunder, gedanklich bei Oma und dem langersehnten Candle-Light-Dinner, Herrn Kramer. Ich fieberte dem Feierabend entgegen! Duschen, Haare föhnen, und die berühmte Frage: „Oh Gott! Was ziehe ich denn an?“ Das sich immer wiederholende Frauenchaos brach herein. Kleiderschrank voll, aber nichts ist das Richtige! Ich erinnere mich wie heute: Getragen habe ich den grauen Minirock (Mini bis kurz über dem Knie!), das weinrote enge Seidenshirt, darüber eine transparente weiße, seidene ärmellose Weste mit angedeuteten, hellgrauen Rosen, und meine passenden grauen Schuhe. Ich überlegte kurz, ob es nicht zu gewagt aussah, aber der Rock hatte eine nicht verfängliche Länge und somit beschloss ich, mit diesem Outfit zum Dinner zu flanieren. Meine Kinder hatte ich ins Bett zum Vorlesen mit ihrem Vater verabschiedet und das „Geschäftsessen“ angekündigt. Kein Problem. Mein Mann und ich hatten im April des Jahrs beschlossen, dass wir ab dem Zeitpunkt eine Art WG leben werden, weil ich an einem Sonntagmittag auf die Frage: „Liebst du mich?“, nach langen Gesprächen über unsere Beziehung und Ehe, nur zur Antwort bekam: Nein! Seine Aussage gestattete mir jetzt, anders zu planen. Meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Der erste Entschluss war, alles auf uns zukommen zu lassen. Entweder entzündet sich wieder die Glut der Ehe, oder der Weg führt voneinander weg. Wie auch immer. Bei der Heirat hatten wir gemeinsame Ziele, Liebe gelebt. Alles war möglich. Ist ein Feuer einmal erloschen, wird es schwer. Wir lebten WG, die Glut war kalt. Und weil ich jetzt keine Rücksicht mehr nehmen musste, war ich frei, eigene Entscheidungen zu treffen und selbstbestimmte Pläne umzusetzen. Ich übernahm die Verantwortung für mein Restleben. Immer in den Planungen miteingeschlossen, die Kinder. Die Einladung von Herrn Kramer war angenommen, kein schlechtes Gewissen meldete sich. Es hatte absolut null Platz! Die Kids bekamen ihren „gute Nacht Kuss“ von der froh gelaunten Mutti und ab ins Auto, Dach auf, Musik von Eros angedreht, und ab zum Dinner. Candle-Light, ich komme!!! In mir war ein irres Glücksgefühl. Ein Gemisch aus Aufregung, Unbeschwertheit, Schmetterlinge, die erste Verliebtheit, aber ebenso ein wenig Unbehagen, Unsicherheit ob der Geschehnisse, die da kommen werden. Frau macht so etwas ja nicht alle Tage und das letzte Mal war fast 23 Jahre her, mit dem jetzigen Ehegatten. Was ich merkte, war, dass sich meine Seele zum ersten Mal, nach ewig langer Zeit, in Hochstimmung wälzte. Sie war glücklich und frei. Und das Beste daran: Sie war vollständig, bei jedem Gedanken an Herrn Kramer. Wir trafen uns, wie gesagt, nach Feierabend. Er hatte ein abseits liegendes, romantisches Restaurant ausgesucht, gelegen zwischen zwei kleinen Vororten unserer Stadt. Ausgemacht war, dass wir uns vorab im nahegelegenen Industriegebiet treffen und gemeinsam dort hinfahren. Meiner Ungeduld geschuldet, und weil ich ein überaus pünktlicher Mensch bis, parkte ich längst am verabredeten Ort. Wartete schon eine knappe ½ Stunde auf dem Seitenstreifen des Parkplatzes auf der Hauptstraße Orts auswärts, da erreichte mich eine SMS. Es war eine Nachricht von Herrn Kramer. Er entschuldigte sich schriftlich und teilte mit, dass der vorhergehende Termin sich leider etwas länger hingezogen hatte. Mobiltelefone sind eine tolle Erfindung. Erleichtert dachte ich nur: „Geschäft hat Vorrang!“ Weiter stand geschrieben: Er wäre aber schon im Auto auf dem Weg zum Treffpunkt. Wieder fiel mir ein Stein vom Herzen. Mein Blick in den Rückspiegel verriet mir seine Ankunft. Von Weitem erkannte ich seinen Wagen. Endlich, mit Lichthupe grüßend, kam er angefahren, hielt direkt hinter mir. Die Nervosität stieg enorm, die Knie wurden weich. Mein Gedanke und die Befürchtung, er würde kneifen, waren wie weggeblasen. Wir fuhren los. Auf der ganzen Fahrt dorthin schaute ich immerzu in den Rückspiegel. Eros sang aus dem Lautsprecher und ich stimmte laut mit ein. Wir steuerten auf den Restaurantparkplatz, parkten, stiegen aus und begrüßten uns mit Handschlag. Es war auf beiden Seiten ein feuchter Händedruck und das lag nicht am Wetter. „Guten Abend Frau Sehberger. Sie sehen umwerfend aus“, sagte er zur Begrüßung. Sein sanfter Blick zog mir tief unter die Haut. „Guten Abend Herr Kramer. Vielen Dank für das Kompliment. Schön Sie zu sehen“, erwiderte ich. Thomas sah zum Anbeißen aus. Er trug seine blaue Jeans, ein weißes Hemd und ein schwarzes Sakko, alles neu. Sein Parfüm roch äußerst verführerisch. Ich erkenne ihn selbst heute mit geschlossen Augen. Arm in Arm schlenderten wir zum Restaurant. Gentle like hielt er mir beim Betreten des Lokals die Türe auf. Ein Ober geleitete uns zum reservierten Tisch für zwei. Der Raum war blumig geschmückt. Rosen auf jedem Esstisch, Kerzenschein und gedämpftes Licht. Wir saßen alleine im großen Nebenraum und hatten eine naturbelassene Aussicht, direkt auf den gegenüberliegenden Wald. Erst später habe ich erfahren, dass er das genauso arrangiert hatte. Er hegte das Bedürfnis, mit mir alleine zu sein. Nach den ersten Gläsern Champagner zur Begrüßung legte sich ein wenig die anfängliche Aufregung. Der Alkohol löste die Zunge und wir sprachen schon rasch über viele Themata, die uns auf dem Herzen lagen. Wir suchten uns das Menü und den Wein aus und bestellten erstaunlicherweise fast das Gleiche. Aber warum wunderte mich das nicht? Wir lachten herzhaft. Klar gab es den berühmten Champagner ein weiteres Mal vorweg. Das beruhigte die restliche Nervosität auf beiden Seiten. Dieses zweite Glas des vorzüglichen Getränks nutze er, um Brüderschaft zu trinken, und bot mir, mit folgenden Worten, das DU an. „Liebste Frau Sehberger. Ich heiße Thomas,“ sagte er, „und ich nenne sie ab heute Caroline. Der Name klingt wie eine liebevolle Melodie. Du Caroline, sagen wir Du zueinander? Ich würde mich wahnsinnig freuen.“ „Sehr, sehr gerne Thomas“, sagte ich. „Lass uns darauf anstoßen.“ Wir ließen die Gläser klingen und waren ab jetzt nicht mehr Herr Kramer und Frau Sehberger, sondern Thomas und Caroline. Alles war so vertraut, nie anders. Langsam aber sicher steuerte das Gespräch in die vermutete Richtung. Er erzählte von seiner Frau, mit der er seit Ende der achtziger Jahre verheiratet war. Komisch, genau wie bei mir. Mit jedem Satz erkannte, ja lernte ich nicht nur mehr über seine „Ehe“ kennen, sondern stellte mit Schrecken fest, dass unsere damaligen Partner fast die gleichen Marotten und Charaktereigenschaften hatten. Introvertiertheit gepaart mit großem Schweigen ist eine beziehungstechnisch kontraproduktive Mischung, die uns beiden geselligen, extrovertierten und redseligen Menschen so gar nicht guttat. Aber wer erkennt diesen Umstand schon in jungen Jahren, wenn Mann und Frau auf der Pirsch sind. Alles lässt sich psychologisch begründen und begreifen. Das erfahren die Geschlechter aber erst mit der zunehmenden Lebenserfahrung und dem Alter. Das vermag ich hier nicht weiter vertiefen. Wir waren demnach mit fast denselben Menschentypen verheiratet. Ist das nicht erschreckend!? Dass es so etwas gibt. Wir sind unabhängig voneinander, an zwei unterschiedlichen Orten ansässig. Lebten das fast absolut gleichartige Leben. Haben Partner mit demselben Wesen bzw. derselben Charaktere geheiratet und das im gleichen Jahrzehnt. Wir haben Kinder bekommen. Alle fast identisch alt. Thomas Hochzeitstag fällt auf den Geburtstag meiner Mutter. Wir saßen am Ehrentag von Oma beim Candle-Light-Dinner. Die erste, leider nicht gehaltene Schwangerschaft, war zum gleichen Zeitpunkt ausgerechnet, wie eines seiner Kinder. Wir hörten im Teenageralter dieselbe Musik. Liebten alle Ballsportarten. Teilten die identischen Sehnsüchte, Träume und hatten denselben Fußball Lieblingsverein und vieles mehr. Das glaubt einem kein Mensch, diese Vielzahl der Gemeinsamkeiten. In gewisser Weise unheimlich. Selbst wir trauten unseren Gedanken, Erzählungen und Gefühlen nicht und waren seltsam berührt. Am Anfang seiner Ausführungen hatte ich den Verdacht und kurz überlegt: „Na ja, Frust in der Ehe und er braucht Abwechslung.“ Aber nach den ersten offenen, intimen und vertrauensvollen Gesprächsthemen war alles klar, so innig, authentisch und ehrlich, dass man die Situation des jeweils anderen selbst nur zu gut empfand und verstand. Das erfindet man nicht, diese Parallelen. Thomas kannte mein Leben bis dato nicht und ich nicht seins. Wie kommen diese „Zufälle“ zustande? Wenn wir hier überhaupt von Zufälligkeiten reden? Ich nannte es Schicksal! Waren wir etwa schon immer füreinander auserkoren? Esoterik Fans sagen sofort: Ihr habt das gleiche Karma und seid hundertprozentig eine Einheit! Esoterik, wer daran glaubt! Aber zurück zu unserem Dinner. Schon bei der Vorspeise, einem Krabbencocktail, aßen wir vertraut vom Löffel des anderen, ohne groß darüber nachzudenken. So wie alte Freunde eben, die sich alles erzählen, anvertrauen und sich ewig kennen. Ja, das Gefühl, uns schon lange freundschaftlich verbunden zu sein, war intensiv präsent. Wir schauten uns in die Augen, erkannten und lasen jeweils die Seele des anderen. Wahrlich, es lag nicht am Champagner oder dem leckeren Rotwein. Ich glaube, wir könnten die ganze Nacht dort sitzen und philosophieren. Die Zeit verging aber leider zu schnell. Schade! Endlich reden. Endlich jemanden haben, der zuhört, der sich in den anderen hineinfühlt und hineindenkt. Oh je, war das lange her, wenn man es überhaupt jemals in der Form erlebt hatte. Ich glaube, das ist nicht vielen Menschen im Leben gegönnt. Drei Stunden waren seit dem ersten Glas Champagner vergangen, bis das Dessert kam. Der Abschluss kündigte sich an. Wir waren zu dem Zeitpunkt schon so vertraut. Meine Seele sprach: Dieser Abend wird nie enden! Thomas Rückreise dauerte aber fast 1 Stunde mit dem Wagen. Daher läuteten wir schweren Herzens den Abschluss des Essens mit einem Aperitif ein. Ganz Gentleman, zahlte er die Rechnung. Er half mir in den Sommermantel und wir schlenderten zum Ausgang. Frische Abendluft wehte durch mein Haar. Das Parfüm verbreite seinen Duft und gelangte in Thomas Nase, der direkt spürbar hinter mir stand. Er ergriff meine Hand, hielt sie fest, schaute mir tief in die Augen und sagte: „Lass uns langsam zum Wagen schlendern, ja. Dieser Abend darf nicht enden!“ Seine Hand in meiner spazierten wir bedächtig auf den Parkplatz zu. An unseren Autos angekommen blieben wir wortlos wie angewurzelt stehen. Keiner sagte ein Wort des Abschieds. Die Atmosphäre knisterte, war voller Spannung. Mein Herz pochte unüberhörbar. Jeder von uns zögerte die Verabschiedung hinaus. „So, jetzt muss ich leider los“, sagte er und nahm mich Hals über Kopf in den Arm. Sein Körper war weich und muskulös in einem. Er sah mir tief in die Augen und küsste mich nach einigem Zögern, auf die Wange. Sein Augenpaar glänzte, sein Blick drang abgrundtief ins Herz, sein Lächeln erotisierte, verlangte absolut mehr. Er verharrte mit einem fragenden, gar fordernden, tiefen Blick. Er wartete förmlich auf eine Reaktion von mir. Es war für mich ein langes, wohliges und warmes Gefühl in seinen Armen. Mein Herz fragte direkt über die Stimme: „Nur ein Kuss auf die Wange?“ Indem ich es aussprach, bereute ich, es gesagt zu haben. Wir waren verheiratet und ich hatte meinen Vorsatz: keinen Betrug in der Ehe, niemals einen Kollegen und nie einen Ehemann. Zu spät. Das Wort Wange war beim letzten Buchstaben „e“ angekommen, da fühlte ich seine sanften Lippen auf meinen. Warm, weich und voller Emotion öffnete er seinen Mund und ließ es geschehen. Dieser Kuss war so innig, so hingebungsvoll, dass er mir bis heute in der Erinnerung ist und mir wie eine halbe Ewigkeit vorkam. Das Gefühlsgemisch aus Emotionen, Wärme, Zärtlichkeit, und Vertrautheit – ja heute nenne ich es Liebe – das ich wahrnahm, so ein Gefühl der Leidenschaft hatte ich nie. Seine warmen Lippen lagen sanft auf meinen. Unsere Zungen berührten sich und lösten ein unvorstellbares Herzbeben im ganzen Körper aus. Die Sinne schwanden. Wir verschmolzen für einen Bruchteil zu einer Symbiose – einer Einheit und vergaßen Raum und Zeit. Mein einziger Gedanke war: „Bitte lass es ewig dauern!“ Nach diesem atemberauschenden Kuss schauten wir uns für einen Augenblick nur schweigend tief in die Augen. Es war um mich, es war um uns geschehen. Mein Gott, wie konnte dieser Mann küssen. Wir verharrten immer noch eng umschlungen. Nur der warme Abendwind umspielte unsere Silhouetten. Eine gefühlte Ewigkeit später durchbrach seine erotische Stimme die Stille der Nacht und er sagte. „Ich muss los. Bis morgen meine Caroline und fahre vorsichtig. Ich werde an meine Seele denken!“ „Ich an dich“, erwiderte ich, völlig überwältigt von den Gefühlen. Das ist Liebe! Dann stiegen wir in unsere Wagen und fuhren ein kleines Stück in die gleiche Richtung. Den ganzen, kurzen gemeinsamen Weg waren meine Blicke, die Blicke in den Rückspiegel. Thomas, ein letztes Mal vor dem kommenden Morgen sehen. Sei es nur flüchtig im Spiegel. So oft, wie auf der Strecke, sah ich nie in den rückwärtigen Außenspiegel. Nach dem Herzereignis ist jetzt nichts mehr wie vorher. Ein wohliges Gefühl verteilte sich im ganzen Körper. Ein Gemisch aus Leichtigkeit, Lebendigkeit, Himmel Hoch jauchzend im Liebestaumel erfüllte mein Herz. Verliebt war ich jetzt. Voller Liebe. So schwebt man auf Wolke 7 durch das Universum. Schwerelos frei und unendlich glücklich, vollständig. Ein letzter Blick in den Rückspiegel, ein kurzes Winken aus dem Seitenfenster beim Vorüberfahren, dann nach links, die Abfahrt Richtung Heimat. Aber welche Heimat? Wirre Gedanken flogen mir durch den Kopf, oh Mann. Alle meine Vorsätze waren dahin! Ist es das, für das ich es halte? Spielt er mit mir? Meint er es so, wie ich es verspürte? Zu Hause angekommen kroch ich ins Bett und lag dennoch lange wach. Zu vorgerückter Stunde, mit der Vorfreude auf Thomas, schlief ich dann beseelt ein. Der nächste Tag war nicht mehr wie alle Vorherigen. Diese, meine Welt war eine vollkommen neue! Es passierte ohne Plan, zu einem Zeitpunkt, an dem niemand damit gerechnet oder gar gesucht hatte. Es ist völlig rätselhaft. Es gibt dir jede Menge Kraft. Die Sucht nach ihm und das Beben in meinem Körper, beim Gedanken an diesen Mann ist grenzenlos. Das ist der Moment, der Augenblick, an dem sich dein ganzes Leben dreht, ändert und nichts mehr ist, wie es war. Man versucht, davor zu fliehen. Jeder Fluchtversuch ist aber vergebens. Das Feuer der Liebe übermannt einen und es ist der schönste Augenblick, wenn man den Menschen seines Lebens in den Armen hält und ihn nie mehr loslässt. In jedem Anfang wohnt ein Zauber inne ……

Donnerstagmorgen, 07:30 Uhr. Thomas war, wie immer, pünktlich. Er steig aus und öffnete die Türe zum Büro auf. Sein Lächeln, das er mir schenkte, war erotischer, fesselnder und inniger als sonst. Anders, nicht wie an den vergangenen Tagen und Monaten. Ich hoffte nur, es würde ihm genauso ergangen sein und freute mich auf den Tag. Die Arbeit füllte unsere Stunden. Der Kopierer der Firma stand auf der ersten Etage. Für jede Vervielfältigung sauste ich im Laufschritt die Stufen hinauf. Was macht Frau nicht alles für die schlanke Linie. Mehrmals täglich Treppe rauf und wieder hinunter waren ein perfektes Ausgleichstraining für das stupide Sitzen am Schreibtisch. Die Vorgänge vom Vortag verlangten nach mir, wurden fertiggemacht und der sinnliche, gestrige Abend, der innige Kuss des zarten Anfangs rückte in den Hintergrund. Die Armbanduhr zeigte 11:00. Für die letzte Vervielfältigung der Vorgänge spurtete ich erneut die Treppe hinauf zum Kopierer. Deckel hoch und losgeht’s. Versunken in meine Tätigkeit, erledige alles mit absoluter Leidenschaft, merkte ich nicht, dass Thomas bewegungslos hinter mir verweilte. Beim Aufschauen wurde mir warm und kalt zugleich. Ich erschrak. Mit ihm hatte ich nicht gerechnet. Er lächelte bei meinem Reh artig aufgescheuchten Blick und steckte mir einen kleinen, gelbe Zettel zu. „Mittagessen?“ Stand darauf geschrieben. Das Wort zu lesen sprach mir aus der Seele und die Gefühle fuhren Achterbahn. Mein Herz klopfte so laut, dass ich dachte, die Kollegen hören es schlagen. Die Handflächen wurden feucht. Außer mir vor Freude, wie ein Kleinkind kurz vor dem Öffnen eines Überraschungseies, nickte ich bejahend, schrieb „12:00 Uhr beim Italiener“ zurück auf den Zettel und hüpfte pfeifend hinunter in mein Büro. Liebe Pause komme rasch. Dieses Kribbeln im Bauch, das man nie mehr vergisst.

13.00 Uhr. Pause. Raus aus dem Büro, hinein in den Wagen und ab zum Lokal. Beim Italiener des Vertrauens angekommen, war unsere Vertrautheit vom gestrigen Abend zu meiner Überraschung nicht verflogen. Bevor er sich setzte, bat er mich, für ihn das Essen mit zu bestellen, weil er die Toilette aufsuchte. Instinktiv wählte ich das Richtige. Wir beide hatten die gleichen Vorlieben bei der Wahl der Gerichte. Die nächste geniale Gemeinsamkeit. Was mich nicht groß wunderte. Der Kellner servierte die Pizza Calzone mit kleinem Salat und unterbrach damit unser intensives Gespräch. Es sprudelte nur so aus ihm heraus. „Der gestrige Abend war grandios, findest du nicht? Habe eine halbe Ewigkeit wach gelegen und der Schlaf stellte sich nicht so rasch ein. Caroline, deine Nähe, deine Wärme. Wie lange habe ich das vermisst. Ich bin total fasziniert von den Empfindungen, von der Person Caroline und wie sie mich berauscht. Ist es bei dir genauso, oder stehe ich alleine hier mit meinen Gefühlen?“ Wir schauten uns wieder tief in die Augen. „Ja Thomas. Es fühlt sich bei mir nicht anders an und du gehst mir nicht mehr aus dem Sinn. Dein inniger Kuss. Die Umarmung. Und jetzt kommst du, der neue Kollege, weckst in mir diese Gefühlswelt. Meinst du nicht, es ist alles zu kompliziert, wenn wir es wagen?“, erwiderte ich. „Dass mir das passiert, hätte ich im Leben nicht mehr für möglich gehalten. Problematisch und unangenehm wird es nur, wenn wir beide es nicht zulassen, das Wort Liebe zu leben. Ich fühle wie du. Meine Gedanken Kreisen nach Büroschluss immer nur um dich, um uns“, sagte Thomas. Aufrichtige Worte waren beim Essen genau das, was uns vor Pausenende und der Rückkehr ins Büro halfen, eine Entscheidung herbeizuführen. Ist es überhaupt möglich, sich gegen diese Emotionen zu wehren, sie zur Aufgabe zu zwingen? Ich für meinen Teil lehnte den Gedanken ab, die Gefühle im Kein zu ersticken. Wir hatten nur eine Frage: „Sind wir bereit für diese Liaison? „JA“, antworteten wir fast zeitgleich. Wir begehrten diese Beziehung und strebten eine gemeinsame Zukunft an. Wir gestatteten den Gefühlen, der Liebe, den Eintritt in unsere Seelen. Magie. Ich erlebte mich wie neu geboren. Die Tage waren heller. Die Nächte kürzer. Ich hatte das Hochgefühl, durch den Tag zu schweben. Nichts, aber rein gar nichts bereitete mir miese Laune. Kurz vor Pausenende zahlten wir und liefen zu unseren Wagen. Zurück im Büro hätte die Welt zusammenbrechen können, es war mir schnuppe. Ich freute mich ab jetzt auf jeden neuen Morgen, der den Namen Thomas trug. Die Sommertage waren in dem Jahr heller und sonniger, dank ihm. So oft es möglich war, trafen wir uns in der Mittagspause zum gemeinsamen Essen oder nach Feierabend auf dem heißgeliebten Parkplatz, weit draußen vor der Stadt. Viele Ausflüge wurden geplant, ebenso an Feiertagen. Es war unsere Zeit der Liebe! Genauso, wie an diesem besagten Picknicktag mitten im Juni an seinem Lieblingsplatz. Wir erlebten den Christopher Street Day in der nahegelegenen Großstadt, ohne zu wissen, dass der dort an dem Tag stattfand. Wir zwei lieben diese Stadt und ihre Lokale. Wir parkten den Wagen in der Tiefgarage, stiegen die Treppe hinauf und sahen in eine feiernde und ausgelassen tanzende Menschenmenge. Mit reichlich vielen Fragezeichen im Kopf schlenderten wir zum Markt. Auf einem großen Plakat stand: Christopher Street Day. Jetzt wurde uns einiges klar. Man war das bunt und schrill. Wir setzten uns in eine gemütlich anmutende Außengastronomie am Markt und bestellten Getränke. Der Kellner fand meinen seidenen Netzpullover über dem Trägertop so faszinierend, dass er dies mit einem Lächeln in meine Richtung äußerte. „Das ist ja ein bildhübsches Stück“, sagte er. „So fesch, wie die Frau die ihn trägt. Darf ich den einmal berühren, damit ich ertaste, aus welchem Material der ist? Fragte er. „Aus Seide“, gab ich zur Antwort, „aber bitte“. Und hielt ihm einen Teil des Pullis hin. Kaum war er weg, schaute ich in das eifersüchtige Gesicht meines Tischgenossen. Der Kellner kam kurze Zeit später mit den Getränken zurück. Thomas Blick verriet einiges. Er fragte ihn sofort, nach dem Abstellen der Gläser: „Machst du diesen Job schon länger?“. Oh, sagte mir mein Verstand, da ist ja jemand eifersüchtig. Was kommt denn jetzt. „Ja“, antwortete der junge Mann freundlich. „Dann passe bitte auf, dass du den lange ausüben darfst“, gab Thomas mürrisch und bestimmend zum Besten. „Na, du bist ja klasse drauf heute. Eifersüchtig, wie lustig,“ merkte ich an. Schmeichelhaft war sein Verhalten schon. Er liebt mich ja, kombinierte ich. Ein paar Minuten später kam ein Händler mit den Blumen vorbei. „Darf ich meiner Liebe Rosen schenken?“ Fragte er. „Nett gemeint von dir. Aber nein danke. Das ist mir jetzt peinlich. Welche Erklärung gebe ich dann zu Hause ab? Das klappt nicht.“ Antwortete ich. Nach einer kleinen Weile, dem bunten Treiben zuschauend, nahm er meine Hand, schaute mir dabei mit seinem liebenden Blick in die Augen und sagte: „Ich liebe Dich, mein Herz!“ Stille. Ich fand keine Worte. Meinte er das, was er da sagte? Ich bin ein optimistischer Mensch, aber Realistin. Und wenn seine Worte ehrlicher Natur waren, ist das die Krönung der Gefühle. Er hegte die gleichen Emotionen für mich, die ich ihm entgegenbrachte. Gleichzeitig lag aber ein Hauch von Schwermut in der Luft und auf meiner Seele, die mir sagte, das wird nicht gutgehen. Engelchen und Teufelchen kämpften gegeneinander. Was jetzt? Der Tag klang langsam aus. Ich war ihm weiterhin eine Antwort schuldig. Wir fuhren zwischenzeitlich längst offen im Cabrio, mit unserem Lied vom Band auf dem Tonträger im Autoradio, zurück aus der Stadt hinaus zu seinem bekannten Parkplatz. Bald ist es so weit, die fällige Antwort auf sein „Ich liebe Dich“. Er parkte den Wagen. Es war total warm. Das Verdeck blieb offen. Die Sterne leuchteten. Thomas dreht sich erneut zu mir und sagte es wieder: „Ich liebe Dich. Habe diese Caroline ein Leben lang vermisst. Was ist mit dir?“ Oje, jetzt gab es kein Zurück mehr. „Du hast es garantiert gemerkt. Vom ersten Augenblick an war da dieses Band zwischen uns. Magie, Zufall, Schicksal, Bestimmung oder wie wir das nennen. Ja, Thomas. Ich liebe Dich!“ Er nahm mich in den Arm und wir küssten uns. Wir haben dort lange gestanden, den Gefühlen freien Lauf gelassen. Bitte lass es ewig dauern, war unser Gedanke. Durchbrennen und allen Ballast abwerfen. Das war logischerweise völliger Blödsinn. Heute, jetzt und hier waren wir zwei Liebende am Anfang einer Beziehung. Es war spät. Ein letzter, inniger Abschiedskuss und folglich fuhren wir getrennt zurück zu unseren Familien, die zu Hause warteten. Abschiede, egal wann, schmerzen jedes Mal aufs Neue. In den kommenden Wochen verabredeten wir uns, so oft es möglich war, in der Mittagspause zum Essen bei unserem Lieblingsitaliener in der Stadt. Oder wir fuhren nach Feierabend in die Natur. Wir verstanden uns blind, fast wortlos. Er dachte es und ich sprach es aus. Es funktionierte ebenso umgekehrt. Wir schwärmten für dieselbe Musik, die gleichen Lieder, liebten Autos und hatten ein Faible für ansprechende Uhren. „Wir waren eine Einheit!“ Das wird für einige Mitmenschen seltsam klingen, aber es ist so: „Wir sind EINS.“ Genauso verspürten wir das Einssein bei unserem Picknick an dem Sommersamstag Ende Juni. Auf dem vereinbarten Parkplatz angekommen stieg er in meinen Wagen und setzte sich ans Steuer. „Bitte lass mich fahren. Ich würde dich gerne überraschen und würde dir eine eindrucksvolle Stelle zeigen, wo wir ungestört sind, mein Lieblingsplatz“, sagte er. Ich lächelte und ließ ihn gewähren. Er fuhr los. Musik erklang aus dem Kassettenteil und die Sonne schien uns auf den Pelz. Es war warm, die Luft hing voller Geigen, es knisterte mit jedem Kilometer mehr. Ich hatte keine Ahnung, wohin er fuhr, aber er war bei mir und nur das zählte, entfachte meine Glücksgefühle. In den Momenten, wo ich ihn nur nah bei mir hatte, wo alle Gedanken und Gefühle sich nur um UNS drehten, ja, da war ich glücklich. Wir erreichten eine Brücke an einem kleinen Fluss, er parkte den Wagen. Leider habe ich vergessen, wo das war. Ich hatte nur Augen für Thomas. Wir stiegen aus, spazierten einen grünen Hügel hinauf. Mit Decke und Picknickkorb bewaffnet kamen wir an einer Stelle an, an der man einen gigantischen Blick ins Tal hatte. Die Kuscheldecke wurde ausgebreitet, der Wein und das Essen ausgepackt. Eine ganze Zeit lang lagen wir ineinander gekuschelt auf der Decke. Die Sonne schien heiß und heizte unsere Körper auf. Es war die pure Zweisamkeit. Der Sonnenbrand hat nicht lange auf sich warten lassen. Man vergießt nicht nur Raum und Zeit. Man verdrängt alle alltäglichen Ereignisse des Lebens. Selbst die Sonnencreme hatte ich vergessen. Aber die Erdbeeren waren dabei und um Längen wichtiger. Mit oder ohne Creme war mir jetzt echt vollkommen egal. Ich liebte diesen Sonnenbrand! Ich liebte diese Decke! Ich liebte diese Aussicht! Ich liebte diesen Mann, Thomas! Das wurde mir mit jeder verstrichenen Minute bewusster. Ich erschrak vor mir selbst, weil ich bis dato nie einen Mann so tief in meinem Herzen hatte. Die Welt war für einen Augenblick vollkommene Glückseligkeit. Wir waren in unserem Leben angekommen. Thomas öffnete den Wein, goss ihn in die Gläser und reichte mir lächelnd das meinige. Wir schauten uns tief in die Augen. Eine Frage meinerseits unterbrach die Stille und auf meine so typisch schreckliche, direkte Art fragte ich ihn: „Auf wen oder was stoßen wir zwei denn heute an? Ich hoffe auf etwas Bedeutendes.“ „Auf uns und auf die Ewigkeit“, sagte er und stupste mein Weinglas an. „For Eternity?“ Bohrte ich nach. „Ja. Auf die Ewigkeit. Nur Du, ich und das Leben!“ Wir tranken einen Schluck und küssten uns innig. Dieser Gedanke und die Vorstellung daran, mein ganzes, restliches Leben mit dem Mann zu teilen, sprachen mir aus tiefstem Herzen. Ja, wir liebten uns. Er sagte es am Picknick Tag im Sommer. Und nicht nur an diesem Tag. Thomas schwor es mir am Christopher Street Day, und an vielen anderen Orten, die wir zusammen aufsuchten. Immer und immer wieder. Es war erst eine kurze, aufflammende Liebe, doch für Seele und Herz dauerte sie schon eine gefühlte Ewigkeit. Wochenende. Es kam der Geburtstag meiner Mutter. Ihr 74-zigster, mit Beigeschmack. Es war Thomas Hochzeitstag. Zum ersten Mal im Leben hasste ich Gemeinsamkeit. Fragend schaute ich aus dem Bürofenster. Wie verbringt er den heutigen Jahrestag zu Hause? Mit Hochzeitsgeschenk für eine Frau, die er nicht mehr liebt? Heute noch werde ich es erfahren. Den Nachmittag hatte ich mir freigenommen, um mit der Familie den Ehrentag meiner Mutter gebührend zu feiern. Das lenkte mich ein wenig von seinem Hochzeitstag ab. Irgendetwas sagte mir dennoch: Zieh dich elegant an. Das bleibt nicht beim Geburtstagskaffee. Mein Handy, seit Mai der ständige Begleiter, piepste leise. Eine SMS von Thomas. Ich schaute auf das Display. „Sehen wir uns nach Feierabend, schöne Frau“? Ich saß längst bei meiner Mutter an der Kaffeetafel und schrieb knackig kurz zurück: „Du hast doch Hochzeitstag! Trotzdem begehrst du mich, zu sehen?“ Seine Antwort war ebenfalls rasch und klar: „Den Tag gibt es für nicht mehr. Treffen bitte!“ Wow, das war eindeutig. Befehlstonmäßig seine SMS. Ich simste zurück. „OK, aber nicht vor sechs. Werde auf den Vater meiner Kinder warten. Erst dann komme ich.“ Befehlston zurück. „Einverstanden freue mich“. Mehr sendete er nicht zurück. Na, der hatte ja eine Laune und so überhaupt keine Lust, den Tag mit seinem alten Herzblatt zu verbringen. Ich verstand ihn nur zu gut. Er meinte es demnach ernst mit mir und der Liebe, philosophierte ich. Nach dem Eintreffen meines Ehemannes verabschiedete mich von der Geburtstagsgesellschaft, dem Ehrengast Mutter, von unseren Kindern und fuhr in freudigem Optimismus los. Was wird mich heute mit ihm erwarten? Die SMS klang bestimmend, aber hilfesuchend. „Mal schauen,“ sagte ich. Wie immer, trafen wir uns auf dem bekannten Parkplatz. Es wurde einer dieser Abende, an dem er seiner Seele wieder Luft verschaffte. Ich habe ihm nur zugehört. Vollkommen weg geblendet hatte er diesen Tag nicht, denn er redete nur. Das ist so seine Art, wenn ihm etwas auf der Seele brennt. Dann war ich stets Therapeutin und Seelsorgerin in einer Person, liebend und verständnisvoll. Von seiner Frau zu Hause kannte er das nicht. Das Herz und mein Bauch signalisierten mir aber, dass er lange nicht so weit war, wie er immer vorgab, zu sein. Er erschreckte sich vor sich selbst, seinen Gefühlen und der tiefen Sehnsucht nach der Frau, die er erst kurze Zeit kannte. Er merkte mit jedem, neuen Tag, dass es die wahre Liebe gibt, und das es das ist, was uns verband. Bis zu unserem Zusammentreffen im vergangenen Jahr hatte er vermutlich die Ehe, die er lebte, für Liebe gehalten. Es ist nicht auszuschließen, dass er in einem inneren Konflikt steckte. Kein Mensch streift seine gewohnte Haut ab. Niemand verlässt Hals über Kopf seine Familie, oder doch? Den Ehepartner, den man nicht mehr liebt ja. Aber was ist mit seinen Kindern? Er vergötterte alle. Es sind seine kleinen „Götter“. Er sprach an dem Abend über sämtliche Themen, die ihn seit seiner Kindheit innerlich aufwühlten. Er genoss es, wenn ich ihm meine vollkommene Aufmerksamkeit schenkte. Ich war gerne für ihn bereit, den Zuhörer zu spielen. Im Gegensatz zu seinen Familienmitgliedern. Seine „Lieben“ waren eine verschmolzene Einheit und ich hatte schon damals das Gefühl, hörte es aus all seinen Erzählungen heraus, dass er nur der Versorger, und nicht der Ehemann oder gar Vater in ihren Augen war. Er hatte eine Aufgabe, eine personifizierte Funktion zu erfüllen, die hieß Geld zu erwirtschaften. Er selbst, der Mensch, Mann und Vater Thomas, die menschliche Komponente, war, wie drückt man es aus, wenig wert. Aber dazu später. Trotz alledem war es ein halbwegs gelungener Abend. Zwar so gänzlich ohne die heißersehnten Umarmungen, Küsse und Streicheleinheiten, aber aufschlussreich in Sachen Thomas Vergangenheit. Beim Abschied legte er seine rechte Hand auf das Autodach, setzte sein vertrautes, bäriges Lächeln auf und wartete auf meine Reaktion. Nachdenklich, nach all den erzählten Einzelheiten, ließ ich den Blick schweifen und stellte fest, dass er seinen Ehering abgestreift hatte. Ich stutzte, schaute ihn an und fragte erstaunt: „Du hast ja keinen Ring mehr an“. „Den habe ich abgelegt. Die Ehe ist vorbei. No Future. Du bist meine Zukunft!" Antwortete er überzeugend. Ich war außerordentlich überrascht. Das klang alles vollkommen entschlossen. Gestern unentschlossen und heute das. Bedeutete es Erleichterung? War das schon seine Entscheidung für ein neues Leben? Eine Zukunft mit mir? Ich wünschte es so sehr. Seltsame Vorstellungen schwirrten mir durch den Kopf: Wir hätten mehr Kinder, ein großes Haus, von Thomas gebaut und täglich buntes Treiben. Das wäre das Größte. „Stop. Nicht durchdrehen. Es ist kompliziert genug. Nur nicht zu früh freuen,“ hörte ich mein Teufelchen reden. Thomas legte ein Tempo vor, das mir zugleich ein wenig Angst bereitete. Was zu vorschnell entschieden wird, erst recht einseitig, ist oft nicht gutgegangen. Die Frage war: Strebte ich ebenfalls eine schnelle Entscheidung an? Eine gemeinsame Zukunft für uns? Beim Abschied hielt er mich lange in seinen Armen. Ein seltsames Gemisch aus Emotionen stieg in mir auf. Ein Gefühlsgemisch, das sich so formulierte: Halte Caroline fest und fühle, ob das das Gleiche ist wie zu Hause. Oder ist es gar intensiver, besser, das Beste!? Das war es, was ich in seinen Armen empfand. Anziehend und doch unnahbar! Und trotz alledem wirkte er mit seinen Zeichen, die er setzte, so wahnsinnig entschlussfreudig. Seine Umarmung löste sich und der langersehnte Kuss, der mir jedes Mal die Sinne raubte, folgte. Lang, unheimlich intensiv. Nach dem Abschiedskuss fuhr ich äußerst nachdenklich zurück zu meinen Kindern, die garantiert schon in ihren Betten träumten. Es war ein Hin- und hergerissen sein zwischen Himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Am Abend siegte das Engelchen auf meiner Schulter, dass mir zuflüsterte: „In diesem Kuss lagen jede Menge Emotionen, seine ganze Liebe und die unerfüllten Sehnsüchte. Er liebt dich!“ Alles das, war ich gewillt, ernst zu nehmen. Er war so entschlossen wie an keinem anderen Tag zuvor. Somit entschied ich mich für himmelhochjauchzend.

In der gleichen Arbeitswoche verabredeten wir uns im Büro für eine allabendliche Spritztour ins Grüne. Bei der Tour erzählte er mir, er habe sich einen Geldbetrag auf ein separates Konto transferiert, falls seine Holde ihn vor die Tür setzt. „Er ist auf dem Weg,“ sagte mir mein Engelchen. Er legt Geld für einen Neuanfang weg? Eines verstand ich nicht. Wieso spekulierte er darauf, dass ihn seine Frau vor die Tür setzt? Sie hatte doch keine Ahnung von mir, von uns, der Liebe, der Beziehung? War es nicht ebenfalls sein Haus, indem er wohnte? Dann wäre ein Rausschmiss doch gar nicht möglich, oder? Ich schaute ihn fragend an. Er erzählte mir weiter, dass er sich schon nach geeigneten Schulen für die Kinder umschaute, und schmiedete eifrig Pläne. Das gab mir einerseits unheimliche Zuversicht und ließ bei mir keinen Zweifel offen, dass wir eine gemeinsame Zukunft angehen werden. Nach seinem Monolog gab es Momente auf der Fahrt, in denen er äußerst nachdenklich am Steuer saß. Das waren die Situationen, die mich verunsicherten, und mir mein Kopf-Teufelchen ins Ohr flüsterte: „Er wird seine Frau nicht verlassen. Er sucht nur einen emotionalen Ausgleich für das lieblose Zuhause!“ Warum schaltet mein Kopf nicht ab? Wir erreichten einen idyllisch gelegenen Waldparkplatz. Im Auto sitzend erzählte er mir, dass er nach Rückkehr am Hochzeitstag zu Hause den Satz fallen ließ: „Jetzt liebe ich zwei Frauen“. Dabei hatte er sein Kind auf dem Schoß. Ja wenn das kein Wink mit dem Zaunpfahl war. Wie unbekümmert ist denn ein MANN? Er hält seine Gattin, zugespitzt formuliert, für unsensibel und naiv, so meine Interpretation des Satzes. Oder war es reine Provokation an die Person, die mit ihm verheiratet ist? Sieht er es als seine Aufgabe an, seine Gattin mit mir auf die richtige Spur der Ehe zurückzubringen? Beides war möglich. Der Wunsch und die Sehnsucht, mit diesem Mann mein Leben zu teilen, in guten wie in schlechten Zeiten, gegen alle Widerstände der Welt, war groß. So riesig, dass ich die zweifelhaften Gedankengänge im Kopf nicht zu Ende durchspielte und dem Bauchgefühl und dem Herzen folgte. ER war der Mann an Carolines Seite für den Rest des Lebens, kein anderer! Meine Liebe!

Der Juli hatte für uns eine Vielzahl von umwerfenden Ereignissen und Tage gebracht. Eines davon war ein Konzert von Lionel Richie in einer Großstadt auf einer uns bekannten Freiluftbühne. Ich hatte Karten gekauft und die Übernachtungsmöglichkeit gebucht. Ein kleines Hotel unweit des Konzertplatzes. Parkplatz direkt am Haus. Zimmer 2. Gott war ich aufgeregt, aber irre glücklich. Ich werde die Nacht mit ihm verbringen und in seinen Armen den Morgen begrüßen. Glück pur. Viele Momente und Stunden zu zweit haben wir nicht geplant in der Zeit, dem Sommer der Liebe. Es gab ja die Familien. Wir schafften uns nur mühevoll kleinere Freiräume und von langer Hand vorausgeplant. Eine damalige Freundin war das Alibi für den Konzertabend und die gemeinsame Übernachtung. Mädels Abend hieß das Zauberwort. Inwieweit mein Gatte dem Glauben schenkte, war mir damals gleichgültig. WG-Leben eben. Thomas hatte offiziell ein Klassentreffen und einen lieben Freund zum Alibi erklärt, den ich zu einem späteren Zeitpunkt kennenlernte. Alles war bis ins Kleinste von langer Hand geplant. Nicht, dass wir darin Übung hätten. Mitnichten! Dass uns so etwas jemals im Leben passieren würde, das hatten wir uns im Traum nicht vorgestellt. Aber wir waren ein wenig stolz, dass so geschickt eingefädelt zu haben. Bis wir auf der Freilichtbühne das Konzert erlebten und die Liebeslieder von Lionel mitsangen, passierte etwas, das einen üblen Beigeschmack hatte. Wir saßen beim Abendessen und einem ersten Glas Rotwein zusammen im Hotel, da empfing sein Handy eine SMS von seiner Frau. Seine Gesichtsfarbe änderte sich schlagartig beim Lesen der Nachricht. Warum erzählte er mir sofort auf meine Frage, was los sei? Er hatte vergessen, an seinem Aktenkoffer die Zahlenkombination zu verstellen. Dieser war offen stehen geblieben und seine nette, von Neugier geplagte, nicht naive Gattin hatte sämtliches von mir darin gefunden. Die Liebesbriefe und -karten, die kleinen Geschenke, alles. Wieso versteckt ein „Mann“ denn all die für ihn kostbaren Sachen in seinem Aktenkoffer und lässt diesen dann unverschlossen herumstehen? Das nachzuvollziehen war für meinen Kopf unmöglich! War es Absicht oder Ungeschick? Er war enttarnt, das stand fest. Ich kapierte es nicht, wurde sauer! Seine Blicke trafen mich mitten ins Herz. Wir hatten uns so auf das Konzert, den Abend, diese Nacht gefreut. Und jetzt der fade Beigeschmack des enttarnt worden seins. „Was hast du nun vor?“ Fragte ich. „Ich fahre kurz nach Hause, nehme den Koffer mit und bin gleich wieder da!“ Sagte er mit fester Stimme. Es galt Schadensbegrenzung zu betreiben. Er setzte sich kurzerhand in seinen Wagen, brauste nach Hause und packte seinen Aktenkoffer, leider zu spät, in den Kofferraum und kam wieder. Mit leichter Verspätung, einem mulmigen Gefühl in der Magengegend und etwas Hetzerei fuhren wir im Anschluss zum Konzertplatz. Die gesamte Bahnfahrt über schwieg Thomas. Er hielt nur meine Hand. Äußerst fest. Ich war mit den Gedanken komplett bei dem supertollen, saublöden Ereignis. Sein Satz: „Jetzt liebe ich zwei Frauen“ war der Auslöser für die Kombinationsgabe seiner Gattin. Wie arglos uns sorglos ist dieser Kerl? Er torpedierte unsere Zukunft, die sozialverträglicher Lösung für alle! Oder provoziert er eine Konfrontation? War es seine Absicht, sein Wunsch nach der Eifersucht seiner Frau, damit sie ihn wieder begehrt? Und war ich nur die Sandwichfrau, das Mittel zum Zweck? Unter diesen Vorzeichen ein Konzert genießen würde nicht leicht werden. Nachdenklichkeit breitete sich aus. Sie schwebte, wie ein dunkler Schleier, den kompletten Abend über uns. Weiterhin saßen wir händchenhaltend in der Bahn, die uns direkt bis in die Straße der Freilichtbühne fuhr. Unweit des Konzertplatzes stiegen wir aus. Endlich angekommen, spielte der Lionel schon. Trotz der anfänglichen Missstimmung schafften es, seine Musik und seine Lieder, uns wieder zu besänftigen. Wir verdrängten für die Zeit des Konzertes das unschöne Ereignis. Hatten den Vorfall fast vergessen. Wir tanzten, sangen, zwar laut und nicht immer trafen wir den korrekten Ton. Aber wir hatten uns wiedergefunden. Engumschlungen lauschten wir der Musik, tranken Wein. Es stimmte die Band meine Lieblingsballade an, die ich aus voller Kehle mitgesungen habe. Wir tanzten dazu, mir wurde warm ums Herz und ich drehte mich zu Thomas. Es kullerten Tränen über sein Gesicht! Er weinte und sprach laut: „Truly!“. Da die Musik nicht so leise war, fragte ich nach: Truly? Und er sagte unter Tränen: „Surly!“ Alle, die den Song nicht kennen, hier der komplette Satz des Refrains: I`m Truly, Truly in Love with you Girl. Das war kein Gefühl – das war der Himmel auf Erden! „Ja, ich liebe Dich“, sagte er leise, nachdem das Lied verklungen war. Wir schwebten auf Wolke sieben mit direktem Anschluss in den Liebeshimmel. Der blöde Koffer war vergessen. Alles Schöne hat aber, wie jedem geläufig, immer ein Ende. Die letzten Liedklänge des Konzertes verhallten. Wir schlenderten engumschlungen, uns gegenseitig festhaltend, äußerst glücklich und verliebt, mit der herausströmenden Menschtraube Richtung Bahn. Lionel war wieder einmal nicht zu toppen. Unser erstes gemeinsames Konzert. Nie werde ich es vergessen. Zurück im Hotel stiegen wir umgehend die Treppe hinauf zum Zimmer mit der Nr. 2. Wir kuschelten uns aneinander. Aber entgegen unseres, oder besser meines Gefühls, war in Zimmer 2 eine eigenartige Atmosphäre. Es kam alles nicht so recht in Gang. Die Herzen sagten: Ich begehre dich! Die Stimmung, der neblige, graue Schleier schrie: Nicht jetzt. Lass es! Das Kofferereignis hatte uns im Unterbewusstsein mehr mitgenommen und beschäftigt, als wir es uns eingestanden hatten. Wortlos schliefen wir, uns in den Armen liegend, ein. Der nächste Morgen war sonnig und das Eigenartige in der Atmosphäre war verflogen. Wir haben uns den Gefühlen hingegeben und …...es war der Himmel auf Erden. Wir duschten und das Frühstück war schon bereit. Mir hing der gestrige Abend und diese total blöde Situation nach. Ich frühstückte nichts, außer Kaffee, wie in all den vergangenen Wochen zuvor. Das liegt bei mir daran, dass, sobald ich in negative Gefühle oder Stimmungen gerate, die nicht so recht zu erklären sind, gar nichts esse. Na ja, die Figur dankte es mir! Aber auf Dauer? Wir saßen im Frühstücksraum, Kaffee trinkend und zu meiner Verwunderung fing Thomas mit seinem Frühstück an. Er kaute lächelnd ein Brötchen. Er liebt direkte Frauen, demnach sprach ich ihn unverrichteter Dinge an: „Du lächelst so süffisant. Teilst du mir just etwas mit? War das unser Abschiedskonzert? Oder welche Gedanken beherrschen deinen Kopf?“. Er erklärte mir, dass beim nochmaligen Zurückfahren seine Kinder ihm solange nach gewunken hätten, dass er hin und her gerissen ist zwischen den Welten, eben alles. Ein wüstes Durcheinander der Gefühle bei Thomas. Das Gespräch vertieften wir bis zum Abschied am Mittag und ich fuhr mit ausreichend negativen Resonanzen in der Herzgegend vom Parkplatz. Der Abschiedskuss fiel knapp aus. Seine Rückreise war kürzer und er hatte der „Familie“ versprochen, am Mittag wieder zu Hause zu sein. Vollkommen in Gedanken versunken, unseren Song „sang to me“ hörend, fand ich die Autobahnauffahrt Richtung Heimatstadt und rollte für normale Verkehrsverhältnisse, wider meine Natur, langsam über Deutschlands Autobahnen. Eine nachdenkliche Stimmung ergriff mich. Welche Heimat wird es werden? Ich hatte Kinder und trage nicht nur Verantwortung für mein Leben. Thomas war der Mann, den ich von Herzen liebte. Es war wie verhext. Ein bekannter Klingelton drang mir ins Ohr, störte das Gedankenchaos. Die Augen auf Fahrbahn und Verkehr gerichtet nahm ich das Handy in die Hand und meldete mich, wie immer, mit Sehberger. Es war Thomas. Uns verbindet ein unsichtbares Band. Er kannte die Gefühle und Gedanken in mir, und ich in ihm. Wir schauten in unseren Seelen. Er meldete sich nicht mit Kramer. Sein erster Satz war: „Nicht, dass Du glaubst, dass es mit uns vorbei ist!“ Ich: „So? Was denkst du denn, dass die Caroline im Kopf hat? Dass ein gestandener Mann, wie du, nicht weißt, was du begehrst für ein erfülltes Leben in Liebe, das ist mein Resultat. Liegt es dir am Herzen, dass du wegen dem Menschen Thomas geliebt wirst oder weil du ein perfekter Versorger bist? Mir ist egal wer und was du bist. Mir liegt der Mann am Herzen. Geld verdiene ich alleine. Immer schon. Und alles Weitere erreichen wir gemeinsam! Du hast in deiner Familie vermutlich eine Wertstellung, die du falsch interpretierst. Ich hoffe, dass diese Erfahrungen nicht zu drastisch für dich werden wird. Die grausame Erkenntnis, wann immer sie stattfinden wird.“ Traurig antwortete er: „Das mit dem Koffer war total blöd und mein Fehler. Ich bin tief in deiner schuld! Die Sippe ist gar nicht da. Warum bin ich nicht bei dir geblieben. Jetzt sitze ich hier und habe Sehnsucht. Garantiert ist sie zu ihren Eltern gefahren und hat den Vorfall von gestern schon erzählt. Lass unser Glück nicht zu Ende sein, bitte, ich liebe dich, nur dich. Erzähle dir morgen alles ganz genau. Melde mich telefonisch am Sonntag, ok?“ Ich zögerte, sagte aber: „OK, wir telefonieren morgen.“ Wir redeten im Anschluss kurz über die vergangenen Stunden und verabschiedeten uns bis zum vereinbarten Gespräch. Wie angekündigt rief er einen Tag später kurz an und erklärte mir, dass seine Frau alles ihrem netten Herrn Papa erzählt hatte. Er war gespannt, welche Reaktion folgen würde und ob überhaupt irgendeine Aktion seiner Familie folgte. Wollte er denn eine? Er hatte sich mit seinem blöden Koffer in eine explodierende Situation hineinmanövriert, die Atombombe gezündet. Es wurde auf beiden Seiten ein nachdenklicher restlicher Sonntagnachmittag, nachdem wir unser Gespräch beendet hatten. Mir schossen die vergangenen drei Monate durch den Kopf. Ich setzte mich in den Garten und schaute meinen Kindern beim Spielen zu. Verstanden habe ich all das nicht und begriffen erst recht nicht. Das unsichtbare Band zwischen uns habe ich mir nicht eingebildet, falls sie verstehen, was ich damit meine. Wir kommunizieren völlig ohne Worte. Wir erfühlen, wenn der eine, dem anderen intensive Schwingungen sendet. Wir wünschen eine SMS oder einen Anruf herbei. Nur mit den festen Gedanken des Herzens. Ob in den Besprechungen und anderswo. Unsere Blicke treffen sich und wir erkennen die Gedanken des Anderen. Reine Intuition. Es ist schwer zu beschreiben für Außenstehende. Beispiele hierfür sind: Wir bestellten beim Italiener das gleiche Essen, ohne uns vorher besprochen zu haben. Ich wünsche mir einen Anruf herbei und Sekunden später klingelt das Telefon. Nicht gelogen. Und jetzt das? Wohin steuert uns das Schiff der Liebe? Sitzen wir nach dem Vorfall immer noch im selben Boot und schauen in die gleiche Richtung? Eine Freundin, der ich die Geschichte damals so erzählte, staunte nicht schlecht und meinte, dass ich mir das alles nur einbilden würde, weil das Zuhause nicht mehr meine Heimat ist. Mir fällt hierzu spontan eine Situation ein, die ich bis heute für das treffendste Ereignis halte, was das unsichtbare Band, absolut untermauert: Es war kurz nach unserem Anfang in eine ungewisse Beziehung, da erkrankte er an einer Grippe und fehlte logischerweise. Er wurde eine Woche krankgeschrieben und ich hatte tierische Sehnsucht. Mein Dienst hörte um 17.00 Uhr auf, die Anderen waren schon in den Feierabend gefahren. Ich hatte intensivste Gedanken an Thomas und hoffte auf schnelle Genesung. Das Telefon summte. Im Display leuchtete eine „0“. Viele unserer Kunden unterdrückten ihre Rufnummer mit einer „0“ im Telefondisplay. Mir wurde bei dem Anblick äußerst warm ums Herz und zu meiner Verwunderung meldete ich mich nicht mit Firma und Nachnamen, sondern ich sagte nach dem Abheben des Hörers schlicht und einfach nur: „Hallo Thomas, toll dass Du Dich meldest! Es klappt. Das unsichtbare Band. Habe gerade an dich gedacht!“ Darauf antwortete er gelassen und mit einer rauen Erkältungsstimme: „Das habe ich tief in mir gespürt. Ich habe Sehnsucht!“ Solche Vorfälle gab es genug. WIR SIND EINS! Einer von 80 Millionen und genau dieser EINE ist der NEUE in unsere Firma! Warum heiratet man, bekommt seine Wunschkinder und begegnet dann erst der Liebe seines Lebens? Das ist doch nicht fair. Was ist hierfür der tiefere Sinn? Bitte erklärt mir das jemand?! Der Montag nach dem „Lionel-Konzert“ war angebrochen und ich fuhr wie jeden Tag ins Büro. Aber dieses Mal mit einem komisch aufgewühlten Gefühl. Was war am vergangenen Wochenende bei ihm passiert? Spätestens am Mittag, in unserer Pause, würde ich es erfahren. Sein Wagen hielt auf dem Parkplatz vor meinem Bürofenster. Thomas stieg aus und sah wie immer zum Anbeißen aus. Unsere Blicke trafen sich, er lächelte und kam kurz zu mir herein. Er wünschte mir, mit einem entgegengehauchten Handkuss, einen liebreizenden Morgen und erweckte nicht den Eindruck, dass sein Wochenende furchtbar verlaufen war. Doch weit gefehlt. In der Mittagspause erzählte er mir die Einzelheiten. Nach langem Hin und Her und mit seinem Erstgeborenen auf dem Schoß hatte er dann den entscheidenden Satz erneut fallen lassen: „Im Augenblick liebe ich zwei Frauen.“ Was war das denn bitte jetzt wieder? Offene Konfrontation? Wird er ihr alles erklären und die Dame verlassen? Oder war ich schlicht und ergreifend nur Mittel zum Zweck, um die Liebste zu Hause wieder auf Vordermann zu bekommen? Mein tiefstes Inneres, das Teufelchen, sagte: „Es ist Aus!“ Das Engelchen in mir fragte vorsichtig: „Oder doch nicht? Er fängt an, es ihr zu sagen!“ Ich war nervlich fast am Ende. Mir fehlte der Durchblick, kein klarer Gedanke. Erst zog er seinen Ehering sowas von schnell aus, transferierte Geld auf andere Konten, suchte schon Schulen für die Kinder und war voll auf Trennung programmiert und dann das unmögliche, „absichtliche“ Missgeschick mit dem Koffer? Tausend Fragen, keine einzige konkrete Antwort aus seinem Mund. Mein Teufelchen sagte erneut: „Er wird sie nicht verlassen.“ Der Bauch und das Engelchen in mir hatten nur einen Wunsch: „Zukunft mit der Liebe meines Lebens.“ Doch war das ebenfalls der Lebenswunsch von Thomas? Die kommende Zeit würde es hoffentlich zeigen. Wir verabredeten uns an dem Montag, direkt nach Feierabend, zum Ausflug in die Umgebung. Er nannte es Spazierfahrt und reden. Und wie wir so durch die nahe gelegene Waldlandschaft kurvten, redete er und ich hörte ihm aufmerksam zu. „Du hast doch bald Geburtstag, Caroline. Was hält mein Herz von dem entzückenden Gedanken, mit unserem Lieblingsmenschen ein Wochenende in der Stadt der Liebe zu verbringen?“ Fragte er vorsichtig. „Meinst du das ehrlich?“ Antwortete ich. „Klar. Dein Geschenk für meine Dummheit des Lebens. Die Entschädigung für den Kofferfehler. Du buchst alles und ich bringe dir dann den Anteil mit,“ so seine Worte. „OK, ich nehme dich wörtlich. Das klingt herrlich, mit dir nach Paris. Werde mir morgen alles raussuchen und dir durchgeben. Und wenn es ebenfalls deinen Vorstellungen entsprechen, wird gebucht. Und keinen Rückzieher, junger Mann,“ sagte ich mit Nachdruck. „Exzellent. Du schaffst das schon,“ antwortete er jetzt gelassener. Das Herz und das Engelchen in mir, bekamen erneut Oberwasser im Kampf zwischen Kopf-Teufelchen und Herzengelchen. Im Augenblick war die Welt wieder in bester Ordnung. Alles war rosarot. Die Aussicht auf eine unvergessliche Liebesreise mit Thomas hob meine Stimmung und die Bedenken der letzten Tage und Stunden waren verflogen. Am darauffolgenden Tag setzte ich das Versprechen um und suchte Hotel und Bahnfahrt heraus. Thomas war mit der Wahl einverstanden. Er hatte ebenfalls nichts dagegen, dass uns meine damalige Freundin Helga, die er schon kennengelernt hatte, begleitete. Nicht, dass ich die französische Sprache nicht beherrschte. Aber Helga redete fließend Französisch. Das würde uns beiden deutlich hilfreicher sein. Am Abend verabredete ich mich mit ihr, um alles zu buchen. Wir drei warfen die Reiseanteile zusammen in eine Kasse und Helga bezahlte die komplette Tour recht zeitnah. Jetzt fieberte ich dem Geburtstag entgegen. Doch bevor ich mit meiner Liebe Paris eroberte, standen die großen Ferien und unsere Urlaube mit den aktuellen Familien an. Arbeitsreich und anstrengend nahm der Juni ein Ende. Die Sommerferien im Juli waren mittlerweile 2 Wochen alt. Meine Urlaubszeit war gekommen. Wir blieben in dem Jahr zu Hause. Allein der Gedanke, mit dem Mann in Urlaub zu fahren, der sich Ehemann nannte, war mir nicht geheuer. Die Kinder hatten einen großen Garten und jede Menge Spielkameraden in der Nachbarschaft. Pool und Spielplatz nannten sie ihr Eigen. Und so blieben wir zum ersten Mal in den Ferien zu Hause. Im Garten bei den Kindern hatte ich wenigstens meine Ruhe und Abwechslung. Keine Streitereien. In Anbetracht des riesigen Grundstückes, der zu dem Haus gehörte, dem großen, aufgestellten Schwimmbecken, fehlte den Kindern nicht physisch irgendetwas. Ihre Spielkameraden kamen täglich. Die tobenden Schreihälse genossen sichtbar ihre Ferien. Jedes Mal, wenn die Sehnsucht aber zu groß wurde, rief ich Thomas an und wir verabredeten uns in der Mittagspause oder nach Feierabend. Die beiden Urlaubswochen vergingen schnell und weil wir den Urlaub nahtlos im Wechsel aneinandergereiht hatten, trafen wir uns an meinem letzten Urlaubstag auf dem bekannten Parkplatz. Am Ende seiner Mittagspause unternahm er so gar keine Anstalten wieder ins Büro zu fahren. Er sagte nur: „Warum fährst du nicht mit? Dann kümmert die sich um ihre Kinder und wir haben einen liebestollen Urlaub. Könntest du doch nur mitfahren. Habe total keine Lust. Wir fahren auf einen Bauernhof an die Küste. Hoffentlich vergehen die 14 Tage schnell!“ „Mann“ bekommt eben nicht alles im Leben: Kinder, Ehefrau und Freundin. Niemand nimmt dir die Lebensentscheidung ab. Die triffst du alleine, in absehbarer Zeit. Ich habe mich entschieden. Meine Zukunft heißt Thomas. Die Antwort hörst du garantiert heute gerne, oder? Aber, wenn du so keine Lust auf 14 Tage Urlaub mit der Frau hast, die du angeblich nicht mehr liebst, warum fährst du dann?“„Ich fahre wegen der Kinder,“ sagte er. Das war mir zu hoch. Eine Frau ist in der Hinsicht wahrlich ein wenig konsequenter. Ich bin nie der Kinder wegen mit dem Ehemann in den Urlaub gefahren. Unsere Blicke verharrten für Minuten und wir starrten beide geradeaus. Das Herzengelchen sprach: „Er ist Mann. Und Männer reagieren und agieren anders. Glaube ihm seine Worte.“ Ich vertraute auf mein Herzgefühl. Schmiegte mich an seine breite Schulter. Kuschelnd im Wagen sitzend, den Abschied für die kommenden zwei Wochen in weite Ferne rückend, sah er mich verliebt an und schenkte mir zum Schluss eine von ihm selbst aufgenommene Kassette mit unseren Liebesliedern. Trotzdem war mir bei dem Gedanken an seinen bevorstehenden Urlaub etwas unbehaglich. Mir graute vor dem Wochenende. Ein inniger Kuss von Thomas unterbrach das Szenario in meinem Kopf. Jeder seiner Küsse sind das Eintauchen in seine Seele und sein Herz. Wir verschmolzen immer ineinander. Ich liebte seine Lippen, seinen Geruch, seine schützenden Umarmungen, seine Haut bei jeder liebenden Vereinigung. Alles. Kurz vor dem Ende der Mittagspause sagte Thomas: „Nimm es nicht schwer. Wir haben doch das Telefon und die zwei Wochen ändern nichts an unserer tiefen Liebe. Ich liebe Dich abgöttisch und das wird bei mir immer so bleiben!“ Seine Worte streichelten die Seele, berührten mich zutiefst im Inneren des Herzens. Die Sehnsucht nach ihm stellte sich jetzt schon ein. Er stieg aus und warf mir eine Kusshand zu. Dann fuhr er zurück ins Büro. Ein letztes Mal Schreibtisch aufräumen und ab in den Urlaub. Hier stand ich jetzt alleine mit mir und den unerfüllten Sehnsüchten nach Thomas. Selbstzweifel kamen auf. Das Kopf-Teufelchen war wieder da und sagte: „Wenn das nicht das Ende bedeutet!“

Samstagmittag, Thomas war weg. Urlaub auf dem Bauernhof. Wie reizvoll! Aber besser Kühe hüten und Stall ausmisten für alle, anstatt Sommer, Sonne, Sand und Meer, und das alte Feuer entflammt neu, oder das, was MANN meint, das da wäre. Mit solchen Gedanken verbrachte ich das gesamte Wochenende. Klar kam eine liebevolle SMS, logisch hat er geschrieben. Und die Kinder lenkten mich mit ihrer Fröhlichkeit ab. Aber all das war ein dürftiger Trost: THOMAS IST NICHT DA! Und: ER IST MIT IHR WEG! Das änderte sich nicht. Im Grunde hatte ich ja alles. Man fährt nicht der Kinder wegen mit demjenigen in Urlaub, den man nicht mehr liebt. Ich dachte immer, dass der Andere so reagiert und handelt, wie man selbst. Das ist Folter für die Seele. Er streift seinen Ehering ab. Schläft nicht im Ehebett und liebt seine Frau nicht mehr. Warum macht er das? Was ist der Grund? Ich verstehe es bis heute nicht. Der nächste Tag, ein Sonntag, war ein Ticken bedrückender. Warum? Na, weil dieser Wochentag so ein gewisser „Familientag“ ist, an dem die Sonne scheint und jeder glücklich gelaunt ist. Alle, aber nicht ich! Thomas ist weg! Gefahren mit einer anderen. Wie bekomme ich diese Stimmung in den Griff? Zusammenreißen für die Kinder, die bei strahlendem Sonnenschein in Ihrem Schwimmbecken planschten, war der letzte Gedanke. Ich brachte das Wochenende, so gut, wie es in meiner Macht stand, herum. Immer mit dem Blick auf das Handy, wartend auf die nächste SMS von Thomas. Die kam dann am Nachmittag. Das Piepsen des Handys weckten die Schmetterlinge in meinem Herzen. Die Sehnsucht wurde belohnt. Aufgeregt griff ich nach dem Handy und drückte die SMS-Taste. Meine Augen lasen Thomas Text: „Bett kaputt. Stimmung unterirdisch. Habe umgebucht. Inselurlaub. Wir fliegen morgen Mittag. Bis bald, dein Bär.“ Ein seltsames Gefühl beschlich mich. „Na prächtig!“, sagte ich. Da ist es: Sommer, Sonne, Sand und Meer. Jetzt bekommt die Glut erneutes Feuer! Der optimale Nährboden für das alte Schätzchen, sich ihren Mann wieder zurechtzubiegen. Ihn zurückzuerobern, indem sie für zwei Wochen eine perfekte Rolle spielt. Was im Alltag so grauenhaft ist, wird in der Inselatmosphäre, mit den drolligen Kleinen schon klappen. Mann oh Mann, was mir alles an Gedanken durch den Kopf floss. Ich versuchte, Herr der Situation und nicht wahnsinnig zu werden, unterdrückte meine Fantasiebilder. Nein, ich ertappte mich sogar dabei, mir vorzustellen, was Sommer, Sonne, Sand und Meer so alles anstellen werden. Ich wünschte, dass er jetzt genauso charakterfest blieb, wie ich in den Wochen zuvor. Ganz nach dem Motto: Mit der Sache, dem Menschen bist du durch, das ist nicht deine Zukunft. Urlaub hin oder her. Bei mir war und ist das so. Ausgelebt ist ausgelebt. Die Seele zieht weiter, erst recht, wenn das Einssein, wie bei uns, sich so anfühlt. Das Anfühlen heißt Liebe. Mein Entschluss war längst besiegelt, ohne Thomas je davon erzählt zu haben. Jeder entscheidet für sich, damit der andere nicht unter Druck gerät. Das Einzige, was in einer solchen zwischenmenschlichen Lage Berücksichtigung findet, sind eben die Kinder. Und die waren auf beiden Seiten vorhanden. Die Gedanken schweiften hin und her, wägten die Situationen ab, aber eine Lösung war nicht in Sicht. Zwei endloslange Wochen. Sommer, Sonne, Sand und Meer. Kein Gästezimmer mit getrennten Betten. Mir war immerzu nur hundeelend. Der Sonntag neigte sich dem Ende – Gott sei gedankt. Der Montag nahte mit riesigen Schritten und die Arbeit lenkte mich ab. Der Büroalltag beanspruchte meinen Denkapparat. Keine Zeit für quälende Fantasien. Die Abende waren kurz. Es zog mich meistens früh ins Bett. Etwas ungewohnt. Lag oft lange wach. Gedankenkreisel. Ich packte mir so viele Freundinnentermine in diese 14 Tage, wie nur möglich. Jetzt bloß nicht mit den negativen Gedanken, der bedrückten traurigen Seele, alleine sein. Jede Stunde zogen mich die Sorge um unsere Liebe mehr und mehr in die Tiefe. Erst recht abends auf der Couch mit dem Ehemann. Es hatte seit den Urlaubswochen zu Hause eh bei ihm den Anschein, dass er einen Riecher für die Situation hatte. Es gab eine Szene in den Ferien, die genau das Gefühl in mir weckte. Er kochte ausnahmsweise an einem der Ferientage für unsere beiden. Na, was „Mann“ halt so brutzelt für Kinder. Es gab Nudeln mit Fischstäbchen. Dabei stand er am Herd, ich saß auf einem Küchenstuhl und las die Tageszeitung. Wir hatten dazu ein belangloses Gespräch, die Sonne schien, die Kinder tobten im Garten, und egal wie, kamen wir auf den Neuen, Herrn Kramer, zu sprechen. Zufall oder Absicht seinerseits? Vollkommen falsches Thema jetzt, kam mir in den Sinn. Trotzdem erzählte ich von ihm, dass er so logische Strukturen in der Firma schafft, dass man endlich den roten Faden erkennt, er ein Herzerfrischender ist mit ausgeprägtem Humor, über den wir ausgiebig miteinander lachen und, dass wir perfekt zusammenarbeiten. Ich glaube, bei den Ausführungen bin ich stufenlos vom Erzählen ins Schwärmen geraten. Die Unterdrückung der Gefühle für Thomas blieben nicht verborgen. Am Blick und den Gesten erkannte mein Mann die Schwärmerei. Es verleitete ihn letztlich zu der Aussage: „Du brauchst so einen wie deinen Herrn Kramer“. „Ja“, sagte ich direkt. So bin ich halt, direkt! WG leben und leugnen, funktioniert nicht. Ist nicht ehrlich. Das bin nicht ich. Ich glaube, er wusste längst, dass Thomas schon tief in meinem Herzen war. Wer weiß, was nach dem Gespräch in seinem Kopf vorging. Es bleibt mir bis heute verborgen. Gut, dass es jetzt im Büroalltag arbeitsreich zuging. Da, das Handy schellt. Jemand ruft an. Das ist Thomas, schoss es mir freudig in den Kopf. Aufgeregt öffnete ich den Schrank an meinem Arbeitsplatz, holte das summende Handy aus der Tasche und hoffte auf den Teilnehmer Thomas. Stattdessen aber sah ich die Büronummer der Kollegin, die auf der ersten Etage im Zimmer über mir saß. Warum hat Sie mein Handy gewählt? Sie sitzt doch im Büro? Enttäuschung stand mir ins Gesicht geschrieben. Kein Thomas. Dann der Geistesblitz. Er hatte permanent mit mir mit dem Firmenhandy telefoniert, meine Handynummer logischerweise mehrfach in der Woche gewählt. Das fällt auf. „Einzelverbindungsnachweise“ heißt das Zauberwort. Die Telefonlisten der letzten Monate gaben Ausschlag über alle angewählten Rufnummern. Och nee. Mensch Thomas. So genial der Mann ist, da war er zu naiv. Warum hört grundsätzlich kein männliches Wesen auf eine Frau? Was ist nur mit den Herren der Schöpfung los. Ich sagte ihm zu Anfang: „Kauf dir ein Privathandy, das fällt über kurz oder lang irgendwann einmal auf!“ Aber nein, stur wie er ist, hielt er es nicht für nötig. Das merkt so schnell keiner,“ sagte er damals. Just in diesem Moment hatten wir den Salat. Der Mann ist nicht nur bei dem Thema beratungsresistent. Und wie gehe ich jetzt mit der neuen Situation um? Ich stellte das Handy auf lautlos. So hörte ich das Klingeln nicht mehr und lief nicht Gefahr, das Gespräch anzunehmen. Meine Handynummer kannte im Betrieb niemand. Zusätzlich ein unschuldiges Gesicht aufsetzen und alles wird funktionieren. Kein Verdacht fällt auf mich. Ich setzte mein Vorhaben in die Tat um. Jetzt nur nicht nervös werden und weitermachen wie bisher. Na ja, der Tag endete mit leichter Aufregung vor Feierabend und die Zeit schlich voran. Die erste Woche ohne Thomas war fast zu Ende. Das kommende Wochenende nahte und ich hatte es mir vollgepackt mit Freunden, Grillen, Wein und eine ganze Menge Ablenkung. Nur nicht über Urlaube am Mee brüten, oder an gebräunte Körper denken, die bei Nacht in entspannter Atmosphäre zueinanderfinden. Zuviel Denksport macht traurig. Leider ließ der Kopf mir keine Ruhe und ich grübelte in jeder freien Minute, und davon gab es viele. Er hatte in der ersten Urlaubswoche eine SMS geschickt, in der stand: „Meer warm. Wetter sonnig. Bis bald, dein Bär.“ Das klang beruhigend, denn solange da zum Schluss „Dein Bär“ auftauchte, hatte sich nichts geändert. Trotzdem gelang es mir an keinem Tag, die Vorahnungen, das Kopf- Teufelchen, aus meinen Gedanken zu verbannen. Ich war froh, dass die Mädels mir ihre Zeit opferten und wir am Sonntagnachmittag endlich Gelegenheit fanden, uns auszutauschen. Freizügig und wissend, dass dies unter dem Mantel der Verschwiegenheit bei ihnen bestens aufgehoben war, erzählte ich von allem, was mich beschäftigte. Ich berichtete von den fürchterlichen Gedanken, von den Tagen und Monaten der Liebe, den Stimmungen und Zweifeln, seinen Handlungen, die auf einen Neuanfang mit mir hindeuteten, so eindeutig. All das hatten sie sich in einer Seelenruhe angehört und meldeten ihre Bedenken an. So kamen wir alle einstimmig zu dem Entschluss, nicht vorschnell zu urteilen, es ist ja nur ein Urlaub. Zwar hatte ich mir sämtliches von der Seele geredet, aber weiter mit meiner Erkenntnis war ich nicht gekommen. Helga, eine der Mädels, hatte Thomas Wochen zuvor bei einem Feiertagsausflug im Juni kurz beim Frühstück kennengelernt. Er erzählte Ihr damals offenherzig und freizügig von seinen ehelichen Problemen und der Liebe zu mir. Er geriet förmlich ins Schwärmen. Nach dem offenen Gespräch stellte Helga schnell fest und war der Überzeugung, dass sein altes, jetziges Leben keinen Fortbestand mehr hatte. Der Nährboden war verbraucht. Ich hoffte an dem Tag inständig, dass sie Recht behielt. Ihr Urteil war mir wichtig, da sie den Beruf einer Seelsorgerin ausübte und Paare betreute. Sie hatte genug Erfahrung auf dem Gebiet und beurteilte seine Situation nicht emotional, sondern mit Ratio. Thomas hatte mit seinen Erzählungen bei Adam und Eva angefangen, so dass Ihr Urteil genug Entscheidungsfundament hatte. Bei mir war das schon damals klar: Trennung ist für mich der korrekte Weg! Vollkommen egal, wie dieses Spiel der Liebe ausgehen wird. Meine Ehe weiterführen, würde Seele und Herz nicht ertragen. Mein Herz begehrte nur Thomas. Kein Lebenszeichen in seiner letzten Urlaubswoche, nicht einmal eine SMS. Dafür aber erneut die blöden Kontrollanrufe der Kollegin, die null Ahnung hatte, zu wem die Nummer gehörte. Am Schreibtisch sitzend sehnte ich mich nach dem Ende des Tages, dem Ende der grausamen Woche und wurde mit jedem Tag aufgeregter. Das Lionel Richie Konzert im Ohr und seine Worte unter Tränen: “Truby in Love with you girl“, brachten mich auf eine geniale Idee. Ein Willkommensgeschenk in Form einer gebrannten CD mit den Lovesongs von Lionel. Die Aufschrift auf dem Rohling war: „For Eternity“. Seine Worte bei unserem sommerlichen Picknick. Alles wurde liebevoll verpackt. Dann suchte ich nach Feierabend in der Stadt eine Karte aus. Menschen mit dem Gemüt und der Seele ähnlich der meinen lieben es, dem geliebten Partner stets aus dem Herzen Worte zu schenken. Und so fand ich eine Karte für Thomas: „Erich Fried – Es ist, was es ist, sagt die Liebe.“ Zum Schluss schrieb ich zusätzlich einen eigenen, kleinen, liebevollen Text auf die Rückseite, packte alles zusammen in einen Umschlag, klebte ihn zu und wartete sehnsüchtig auf den Montag. Leider lag das Wochenende dazwischen, was die Spannung deutlich erhöhte. Der Freitag Feierabend war angebrochen. Die arbeitsreiche Woche zu Ende. Ab zu meinen Mädels, Zeit totschlagen. Eine einzige Nacht nur und Thomas ist wieder da! Morgen, Samstag, wird er mit dem Flieger am Mittag landen. Die unendlich langen zwei Wochen waren vorüber. Die Angst wich allmählich einer immer stärker werdenden Sehnsucht. Der Bauch füllte sich wieder mit den liebend umherflatternden Schmetterlingen. Es kribbelte im ganzen Körper bei dem Gedanken an Thomas. Nur einmal schlafen, dann halte ich meine Liebe wieder in den Armen. Die Nacht war kurz, weil ich vor lauter Angst und Aufregung kaum ein Auge zu bekam. Samstagmorgen. Freundin Claudia, logischerweise eingeweiht, kam mit ihrem Sprössling zum Zeitvertreib vorbei und wir saßen am Morgen, Kaffee trinkend, vor der Gartenhütte. Die Kinder planschten quietschvergnügt im großen Schwimmbecken. Ja, die Ablenkung war genau das Richtige. Das Wetter war perfekt und der Mittag wurde mit eifrigem Klappern von Geschirr und Besteck vorbereitet. Grillnachmittag. Sein letzter Urlaubstag, heute Mittag landete er. Am Vortag hatte Thomas aus Zypern per SMS mitgeteilt, dass der Flieger um ca. 13.00 Uhr wieder in Deutschland den Boden erreichen wird. Er lebte und hatte mich nicht vergessen. Aber wen liebte er nach diesem Urlaub? Die Aufregung war irre groß. Ich trank an dem Morgen mehr Kaffee. Das war so gar nicht ich. Die Gedanken kreisten nur um Thomas. Die Sehnsucht wurde von Minute zu Minute immer stärker. Da, das Handy piepste, 13:02 Uhr MEZ. Ja, das wird nur er sein. Mein Herz klopfte so laut, so schnell, dass man es an den Schläfen bei Berührung ertastete. Er ist wieder da. Zitternd nahm ich mein Handy in die Hand, hastete alleine in die Grillhütte, um ungestört zu sein, drückte den Button SMS und las seine Nachricht. „Zypern, super Urlaub, wunderbar. Bis Montag.“ Mir stockte der Atem. Mein Herz hörte mit einem Schlag auf zu pochen. Die Angst der letzten beiden Wochen erreichte den Magen, drückte tonnenschwer auf meine liebende Seele. Ich schaute mir die geschriebenen Worte ein zweites Mal an. Laut las ich es mir erneut vor: „Zypern, super Urlaub, wunderbar, bis Montag.“ Bis Montag? Das war alles? Kein: „Dein Bär“? Was war passiert? Ich hatte es die ganzen gottverdammten 14 Tage befürchtet und gefühlt. Weit bevor diese SMS das Handy erreichte. Ich stand wie versteinert in der Hütte. Eine gefühlte Viertelstunde verging bis zur nächsten Regung. Mein Atem stockte immer wieder. Ich hatte förmlich das Gefühl zu ersticken. Das ist sterben, sagte ich. Claudia kam herein und sah meinen Gesichtsausdruck. Der erklärte alles. Sie kannte mich zu lange schon, um den Ausdruck komplett anders zu interpretieren. Wir schauten uns stumm an und nach einer kleinen, großen Weile hauchte ich nur leise: „Da fehlt DEIN BÄR – das war’s.“ Seine SMS war so endgültig. Das Ende einer Liebe. Das Bauchgefühl betrügt mich nicht! Absolut nie! Den gesamten restlichen Tag verbrachte ich mit Reden, soweit es eben möglich war. Claudia wurde der Seelentröster, der seelischer Mülleimer. Keine klaren Gedanken flossen durch meinen Kopf. Und. Oh Gott! Morgen ist erst Sonntag. Das überlebe ich nicht. Sonntag, was für ein blöder Tag. Ich hasse Sonntage, immer! Aber der morgige wird seine eigene Bedeutung haben! Er wird lang sein, unglaublich lang und voller sterbender Gefühle. Mit Gedankenchaos im Kopf, Kinderlärm, Sonne, zu heiß. Eben grausam!

Sonntag! An dem Tag hatte ich mit Claudia so oft über SMS geredet wie nie. Meine Ablenkung und weil ich mich dem Weltschmerz in mir hingab, beschloss ich, alleine Cabrio zu fahren. Ich fuhr unsere bekannten Strecken ab mit der Kassette von ihm. Liebeslieder à la Thomas. Meine Lieder! Ich parkte an irgendeiner Stelle im nirgendwo. Stand dort fast den halben Nachmittag, vollkommen durch mit Kopf, Herz und Seele. Jeder kennt das Gefühl, von Abschied nehmen bei einem geliebten Menschen. Opas, Omas und bei einigen sogar schon die eigenen Eltern. Mein Herz, mein Körper bekamen keine Luft mehr. Ich weinte unaufhörlich. Das ist Exitus. Das ist der schlimmste Abschied, den jemand zu verarbeiten hat. Es fühlte sich genauso an, wenn der Lieblingsmensch einen verlässt, der dein ganzes Herz in seinen Händen hält. Das kostbarste, was er einem anderen schenkt, der ihn liebt. Die Sonne schien hell. Die Luft war honigsüß und streichelte meine schlimmsten Schmerzen weg. „Zusammenreißen, Mädchen,“ sagte ich unter Tränen leise. Es hörte mir ja niemand zu. „Du hast Kinder. Lasse dir ihnen gegenüber bitte nichts anmerken. Fahr nach Hause. Sie brauchen dich!“ Schweren Herzens fuhr ich zurück und nahm die beiden in die Arme. Der Abend war gar nicht erquickend. Rotwein mein bester Freund. Die Nacht war grauenhaft. Voller Trauer und totale Leere im Kopf. Herzschmerz dominierte die Dunkelheit. Die Seele wurde schwer. Das kleine, große Sterben in mir setzte ein………

Der Wecker. 07:00 Uhr, das Büro ruft. Ich schleppte mich zum Auto, packte das jetzt „überflüssige Geschenk“ für ihn in das Handschuhfach und fuhr los. „Wozu denn das Präsent,“ sagte ich. „Er beendet unsere Liebe auf jeden Fall!“ Ich parkte, wie immer, vor meinem Bürofenster, stieg aus und bemühte mich, zu lächeln. Schlich ins Büro. Die Uhr zeigte 07:30 Uhr. Nichts passierte. Kein Thomas in Sicht. Gott war mir elend. Die nette Kollegin schneite mit einem singenden „Schööönen, guten Moorgen“ herein. Mein Kopf dröhnte. Zuviel Wein am Vorabend. „Was ist bitte schön an diesem Morgen schön, geschweige denn gut?“ Blitzte der Gedanke in meinem Kopf auf. Die Sehnsucht auf Thomas wurde nicht gestillt und gekommen ist er heute ebenfalls nicht. Wo bleibt er denn? Ist ihm am Wochenende etwas passiert? Tausend Fragen rauschten mir erneut durch den Rotweinschädel. Die Kollegin verdiente keinen Vorwurf. Sie kannte das Gefühlschaos in meiner Seele nicht, zum Glück. Ich quälte ihr ein lächelndes „Guten Morgen“ entgegen und betonte intensiv, dass die Migräne des monatlichen Frauenleidens meine Stimmung heute trüben würde. Sie möge bitte Rücksicht nehmen. Das fand sie plausibel und verließ das Büro. Es wurde 09:00 Uhr und Thomas kam immer noch nicht. Auf die Nachfrage eines Kollegen am Vormittag nach der Einschulung meiner Großen auf dem Gymnasium fiel mir dann endlich ein, warum er nicht kam. Thomas hatte den Montag frei genommen. Wir beide hatten Schulwechsel unserer Kinder auf der weiterführenden Schule am morgigen Dienstag. Wie sich die Lebenssituationen doch wieder gleichen. Erlösende Erkenntnis. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Entsprechend verlief der Tag etwas entspannter, arbeitsreich, und die Vorbereitungen am Abend des Tages auf den Schulwechsel lenkten ab. Kleidchen bügeln, Schulranzen packen, Aufregung bei der Großen weg streicheln und in den Schlaf begleiten. Nur Mutter sein und geben, was Kinder am meisten brauchen: Liebe! Die Einschulung am darauffolgenden Tag war aufregend für uns. Meine Mutter und die Schwiegereltern vergnügten sich beim Anblick der ausgelassenen Kinderschar in unserem Garten. Die Spielkameraden waren ebenfalls da und alle hatten ihren Spaß. Wie gesagt, die Kinder und der Rest der Familie. Ich nicht! Mein Motto an dem Tag war nur: Freundliche Miene zum fürchterlichen Spiel. Das trifft es zwar nicht so eindeutig, aber für mich war es ein fürchterliches Spiel. Wieso hatte er mir das nicht unverblümt geschrieben, dass er seine „perfekte Ehe“ weiterleben wird? So per SMS, wie ein berühmter Tennisspieler. Soll ja heutzutage salonfähig sein! Wäre unkomplizierter und das Leiden kürzer. Das Engelchen in mir sagte immer wieder: „Aber Caroline, es war im Urlaub alles vollkommen anders. Dein Bauchgefühl spricht Optimismus. Bitte junge Frau, optimistisch bleiben.“ Und doch hatte ich vor dem morgigen Tag eine irre Angst. Wird es ein Abschied? Schluss, aus und vorbei? Oder überdauerte unsere Liebe diesen Urlaub? Was sprach dagegen? Morgen, nach Feierabend, werde ich es wissen. Mittwochmorgen. Und wieder war es ein Mittwoch. Ein weiterer Sommertag mitten im August. Thomas kam, parkte und lächelte wie immer. Mein Herz öffnete sich. Die Schmetterlinge tanzten, trotz Angst. Wir hatten kaum Gelegenheit, uns im Betrieb zu unterhalten. Urlaubsrückkehrer haben eben erst einmal den Schreibtisch voll. Zu meiner Überraschung bekam ich wieder diese Liebeszettel. „Heute nach Feierabend!“ Stand dort zu lesen. Oder war es dieses Mal ein Abschiedszettel? Die Antwort kannte zum jetzigen Zeitpunkt ausschließlich Thomas. Mein Herz klopfte bei dem Gedanken an den Büroschluss wieder, wie bei der letzten SMS. Die Aufregung stieg, bis zum Treffen auf dem Parkplatz, ins Unerträgliche. 16.30 Uhr Ende des Arbeitstages. Ich schnappte mir rasch meine Tasche, rannte zum Wagen, öffnete das Verdeck, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und fuhr los. Feierabend auf dem Parkplatz am Wald. Mit Thomas. Endlich! Klarheit nahte. Auf der kurzen Fahrt dorthin sprach der Bauch ein eindeutiges NEIN aus. Er wird zu seiner Frau zurückkehren. Und wie gesagt, mein Bauch irrt sich nie. Ich zwang mich, einen klaren Kopf zu bewahren und die Hoffnung nicht aufzugeben. Die stirbt ja bekanntermaßen zuletzt. So versuchte ich, mich mental auf das Treffen vorzubereiten und mich ein wenig verhalten auf ihn zu freuen. Zweckoptimismus taufte ich das. Wir fuhren nie gleichzeitig los, damit die Kollegen bloß keinen Verdacht schöpften. Ich parkte schon längst auf dem Waldplatz, da fuhr Thomas auf den freien Platz neben mir. Er stieg aus, öffnete die Beifahrertür meines Wagens und setzte sich auf den Sitz. Es gab den berühmten Begrüßungskuss, kurz aber heftig. Das Herz pochte wie wild, nachdem seine Lippen meine verlassen hatten, und ich war einen kleinen Augenblick dem Glauben verfallen, er hört ihn. Wir schauten uns an. Niemand sagte ein Wort. Keiner von uns fand einen Anfang. Absolut Frau, ergriff ich die Initiative. Öffnete das Handschuhfach und übergab sein Willkommensgeschenk mitsamt der sorgsam ausgesuchten Karte. „Bevor du deine Rede hältst, bitte erst auspacken“, sagte ich mit fester Stimme. „OK,“ erwiderte er und packte aus. Hingerissen, aber äußerst verlegen, so kenne ich ihn, bedankte er sich und antwortete: „Jetzt habe ich immer unsere Musik bei mir.“ Mein Herz meldete sich: „Ich heule gleich!“ Der Kopf entgegnete: „Nein, du weinst nicht! Du bist bärenstark!“ Die Tränen unterdrückte ich. „Jetzt Du,“ hörte ich mich weiterreden. Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Ich forderte jetzt sofort eine Antwort. So recht kamen ihm die Worte nicht über seine Lippen, aber zögerlich fing er an zu sprechen. „Der Urlaub war äußerst abenteuerlich. Erst krachte das Doppelbett auf dem Bauernhof zusammen.“ Mein Kopf-Teufelchen sprach: „Ausrede oder!“ „Im Anschluss daran war die Stimmung unheimlich erdrückend. Immer wieder Streitereien. Alles war so eng und beklemmend und du kennst mich ja, dann ergreift der Kerl die Flucht. Ich habe kurzerhand umgebucht. Flieger und ab auf eine Insel. Großes Hotel, ausreichend Platz, und garantiert perfektes Wetter.“ „Komme bitte auf den Punkt! Ich brauche keinen Roman!“ Unterbrach ich ihn. „Und rede nicht um den heißen Brei herum. Ich merke das doch.“ „Ja, wir, meine Frau und ich, haben lange geredet.“ Fuhr er fort. „Oh, sie redet,“ warf ich ein, „welch ein Wunder. Seit wann das denn? Schafft sie das nur unter Druck? Aber wenn einem droht, das Einkommen davon zu laufen, besteigt man auf einmal einen Achttausender im Rollstuhl. Was kommt denn jetzt?“ Fragte ich mit Nachdruck. Er erzählte weiter: „Und da waren die Kinder.“ Mein Kopf meldete: „Und zum Schluss folgte das Allerbeste!“ „Ich kann dir nicht die gleiche Liebe entgegenbringen, wie meiner Frau!“ Das sagte er mit dem berühmten, bärigen Lächeln und seinem schämenden Blick, an dem ich bis zum gegenwärtigen Tag erkenne, dass er flunkert, um nicht zu sagen, er lügt. Er hatte Glück, dass ich nüchtern war und nichts gegessen hatte. Ansonsten würde ich mich jetzt übergeben, so speiübel wurde mir bei diesem Satz. Mit jeder Antwort lerne ich zu leben! Mit jeder anderen gottverdammten Lüge lerne ich zu leben! Aber dieser Satz, diese Aussage, war der größte Selbstbetrug an unserer Liebe! Die abscheulichste Lüge, die mir jemals ein Mensch erzählt hat, der von sich behauptet, dass er mich abgöttisch liebt. Das kauft er ihr doch bitte nicht ab! Das Spiel, das sie da mit ihm spielt. Wie blind ist ein Mann? Der erste Schock fuhr mir nach ein paar Sekunden aus den Gliedern, da setzte er einmal mehr zu einer Steigerung an. Jetzt kam die Kür: „Sie wird sich ändern, hat sie mir im Urlaub versprochen, und sie hat schon damit angefangen es umzusetzen.“ Wie passend, dass ich nüchtern war, mein Magen vollzog eine irre Kehrtwende. Jetzt sprudelte es nur so aus mir und der tief verletzten Seele heraus: „Wie dämlich ist ein „MANN“ überhaupt. Du hast das gleiche Exemplar geheiratet wie ich. Diese Menschen halten ihre Veränderung nicht lange durch. Ich prophezeie dir heute schon, das schafft sie maximal ein halbes Jahr. Dann ist sie das alte Schätzchen.“ Ich redete besonnen, analysierend weiter: „So wie sich deine Geschichte anhört, hoffentlich warst du ehrlich zu mir, verliert sie, wenn du ausziehst, den Versorger, das Geld, der Lebensunterhalt. Mehr ist das nicht. Ein halbes Jahr und ihr beiden seid erneut am gleichen Punkt angekommen. Findet euch exakt im alten Trott wieder. Brauchst du diese Enttäuschung? Und wenn ja, wie oft in deinem Leben, damit du das endlich kapierst? Sie verstehst. Mach die Augen auf und schau genau hin. Stehst du auf Masochismus?“ Fuhr ich in friedlichem Ton fort und war froh, dass die Stimme gehalten hatte. Wir schauten uns an und die letzten Worte, die meinen Mund verlassen haben, waren: „Ich gebe dir eine gewisse Zeit des Nachdenkens. Lässt du diese Zeitspanne verstreichen, lösche ich dich von dem Zeitpunkt an aus meinem Herzen! Ich werde Thomas vergessen!“ „Über welche Zeit reden wir denn hier?“ Fragte er zögernd. „Das verrate ich dir nicht,“ meine Antwort. Zuhören ist und war nicht seine Stärke! Ich gebe ihm genau ein halbes Jahr! Wieder schauten wir uns lange wortlos an, bis seine Stimme die Stille durchbrach: „So, das zuhause wartet. Thomas wird losfahren. Bekomme ich einen letzten Kuss?“ Die Frage empfand ich in der Situation äußerst deplatziert und unverschämt. „Garantiert nicht, mein Lieber. Diese „betörenden Küsse“ holst du dir ab heute zu Hause ab! Und jetzt geh!“ In der wutentbrannten Stimmung brachte ich nichts anderes heraus. Er sah mich traurig an, stieg aus und seinen deprimierenden Blick werde ich mein ganzes Leben nie mehr vergessen. Die Wagentüre fiel ins Schloss. Ich schaute ihm nach. Er stieg in seinen Wagen, ließ den Motor an und steuerte langsam an mir vorbei. Trauer, Wut, Betrug, Einsamkeit, Enttäuschung und Lüge blieben in mir zurück. Ein Gefühlschaos in Herz und Seele tobte unaufhaltsam. Das Blut sackte aus dem gesamten Körper. Leere in mir. Einen Satz aber bekomme ich bis heute zu nicht aus dem Kopf: „Ich kann dir nicht die gleiche Liebe entgegenbringen wie meiner Frau!“ Es verschwindet nicht aus den Gedanken, nicht aus der Seele und nicht aus dem Herzen. Alles gelogen! Alles Betrug! Nur Kinder verkriechen sich in ihre Fantasiewelt und malen sich die Welt so zurecht, wie sie sie gerade eben brauchen. Sie verschließen sich vor der Realität. Spielen heile Welt. Er ist aber kein Kleinkind mehr! Er ist ein erwachsener Mann. Die Phase der Realitätsverluste ist aufgrund seines Alters lange vorbei. Er wird sich früher oder später den Tatsachen stellen. Er wird seine Frau und das, was er Familie nennt, nicht die Bohne ändern. Charakter hat einer oder man hat ihn nicht. Der wird angelegt, sobald ein Mensch mit durchschnittlich 50 cm und 3000 g auf dem Arm der Hebamme liegt und schreit. Die Gene lügen nicht. Was mich da so sicher macht, dass es nicht halten wird? Das ist simpel zu erklären: Unsere Blicke trafen sich ein allerletztes Mal beim langsamen Vorbeifahren seines Wagens. Wir schauten uns dabei tief in die Augen. Die traurige Tatsache, dass er weinend am Steuer saß. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Mein Blick klebte lange am Heck seines Wagens, bis die Rücklichter hinter der nächsten Kurve am Horizont verschwanden. Der Mann, der soeben hier selbstsicher vor mir saß und etwas sagte, dass ich nicht ernst nahm, fuhr unter Tränen, weinend vom Parkplatz. Er betrog sich und seine Seele, sein Herz mit einer großen Lüge. Es war der Wahnsinn, es war Selbstbetrug. Aber was nutzte es jetzt? Wir gestanden uns die Liebe an einem Mittwoch ein, und er beendete sie an einem Mittwoch. Regungslos, fassungslos und dem Sterben nahe, stand ich einsam und verlassen von der Liebe meines Lebens, auf dem Waldplatz, der unser Platz war. Ich weinte verhalten, recht leise. Der gesamte Körper war ein einziger Schmerz. Keine Art von Gliederschmerz, wie man ihn von einer ausgeprägten Grippe kennt. Nein, es war ein tiefer Schmerz, der alles in mir zum Zerreißen brachte: Herz, Kopf, Seele und Gefühle. Ich fand mich im freien Fall wieder, steil abwärts, doch das Auffangnetz fehlte. Ich schloss unter Tränen die Augen, wartete auf den schmerzhaften Aufprall. Der blieb zum Glück, Gott sei gedankt oder zu meinem Leidwesen aus. Nur eines blieb: Der unsagbare Schmerz. Er wich nicht aus dem Körper, egal wie lange ich weinte. Die Zeit, in der ich dort auf den ersehnten Aufprall wartete, von dem ich erhoffte, dass er alles von mir nahm, war nicht zu definieren. „Reiße dich zusammen, Mädchen“, sagte ich laut. „Das war ein Abschied für immer. Du wirst Thomas nie wiedersehen! Den liebenden Blick, das erotische, bärige Lächeln, den betörenden Geruch von Parfüm auf seiner Haut. Nie mehr diese umwerfenden Küsse, die mir jedes Mal die Sinne raubten. Nie wieder diese wahnsinnige Zärtlichkeit auf meiner Haut und in seinen Händen! Und erneut hörte ich mich reden: „Hast du echt gemutmaßt, dass ein Mann wegen dir eine Familie verlässt. Du fährst jetzt sofort nach Hause zu den Kindern, du törichtes Geschöpf.“ Welches zu Hause, bitte? Die seelische Heimat, Thomas, war weg. Für immer. Gott war mir elend. Es half alles nichts. Ich schaute in den Frauenspiegel der Sonnenblende, kaschierte das verheulte Gesicht und rollte langsam los. Unterwegs schlug der immense Herzschmerz in geballte Wut um: „Verlogenes Miststück“, schrie ich laut. Das Gefühl missbraucht und benutzt worden zu sein stieg auf. Und unendlich belogen hatte er mich die ganzen Monate. Caroline war all die Zeit der Motor für seine Frau, sie wieder auf die vermeintliche Ehe Spur zu bringen. Ich würde das seelische Erpressung nennen. Wie ekelhaft war denn der Gedanke, der durchaus Tragweite hatte. Wieder schrie ich laut hinaus: „Arschloch! Scheißkerl!“ Es half nichts. Nur für den Augenblick des Schreiens. So tief verletzt hatte mich bis jetzt absolut niemand! Es saß auch vorher noch kein Mann so tief in meinem Herzen. Dieser Schmerz war unerträglich. Ein paar Minuten später stand ich in der Garage. Gefestigt und gequält lächelnd betrat ich das Haus. Die Realität hatte mich zurück. Lächeln junge Frau, immer nur lächeln. Ich zog mir die Jacke des Sommers aus. Sie roch nach Thomas. Mit einem dicken Kloß im Hals legte ich mich auf mein Bett. Die Gedanken fuhren Achterbahn. Ich stand am Abgrund. Mit geschlossenen Augen sah ich Thomas erneut an mir vorbeifahren und registrierte, dass es einen Hauch von Endgültigkeit hatte. Wünschte mir nur inständig, dass er eines Tages genug von seinem derzeitigen Leben und seiner schauspielenden Frau haben wird. Tränen liefen über meine Wangen. Es war der pure Wahnsinn, die absolute Glückseligkeit, die Frau an seiner Seite zu sein. Ich vertraute mir und dem aufkommenden Baugefühl, horchte tief in mich hinein. Die Seele sprach: Mein Herz wird immer ihm gehören und ich hoffte, dass er eines Tages den Weg zu diesem Herzen wiederfindet. Ich werde da sein!

Die Zeit, die jetzt folgte, wünsche ich niemandem auf dieser Welt. Außer seiner Frau und, was sich Jahre später herausstellen wird, seinen Kindern. Es war eine seelische Tortur vom feinsten, eine Art Folter. Tagein, tagaus gute Miene zum hässlichen Spiel. Innere Stärke zeigen. Seit der Zeit verging kein Freitag, an dem ich mich nicht zu meiner damals besten Freundin, Helga, abseilte. Heute ist mir im Rückblick erstmalig bewusst, wie es ist, wenn einer permanent nach einer Antwort sucht, aber keine bekommt. Das ist einer unheimlichen, inneren Leere gleichzusetzen. Nichts hilft, weil nur derjenige die Auflösung der Frage kennt, der weinend weggefahren ist. Thomas! Es war ein seelischer Rundlauf, wie der Hund, der vergeblich versucht, seinen Schwanz zu erwischen. Alles drehte sich im Kreis. Ich drehte mich im Kreis. Meine Fragen- Antwortspiele drehten sich im Kreis. Die Leere und der Schmerz blieben aber in mir gefangen. Egal, was ich versuchte. Weinen, schreien, schweigen, reden. Ich nahm für mich folgenden Vorsatz in Anspruch: „Ich werde und erlaube es mir nicht, ihn zu vergessen. Er allein kannte diese gottverdammte Antwort nach dem Warum! Thomas war mein Herz und meine Seele. Ich war sein Herz und seine Seele. Es ist grausam. Ein Trost hatte die jetzige Situation: Er war Angestellter in unserer Firma. Er fuhr jeden Morgen auf den Parkplatz und wir arbeiteten gemeinsam. Die Gefühlswallungen aus Trauer, Wut, Enttäuschung, Schmerz und Leere beherrschten aber weiterhin meine Seele und das kam praktisch jeden Tag anders zum Ausdruck. Mal hatte ich depressive Stimmung, am nächsten Tag war ich übermotiviert. Die antrainierte „Scheiß-Egal-Einstellung“ funktionierte leider nicht täglich. Leichte Fortschritte waren mit jeder neuen Woche zu erkennen. Thomas war acht Stunden am Tag in meiner Nähe, das heilte die erste tiefe Trauer. Manchmal.

Mein Geburtstag stand bevor und den hatten wir mitsamt Helga vor, in Paris, der Stadt der Liebe zu verbringen. Gebucht hatten wir im Juni, weit vor seinem ach so liebevollen Inselurlaub mit Gattin und dem großen, verlogenen Abschied. Was war das jetzt für eine Geburtstagsreise? Paris, Stadt der Liebe. Wie passend! Abhilfe schaffte die meine Freundin, Seelsorgerin und Therapeutin Helga. Sie war in der „Depressionszeit“ die mentale, seelische Unterstützung. Ohne Sie war es mir nicht möglich, unbeschadet aus der Lage heraus zu kommen. Helga stornierte kurzerhand seinen Part, denn Thomas hatte, wie wir, den Obolus für diesen Wochenendtrip schon geleistet. Das war zum jetzigen Zeitpunkt für uns möglich. Helga bekam seinen kompletten Anteil zurückerstattet. „Taschengeld gesichert“, sagte sie an einem Mädels-Abend und legte mir die Summe auf den Tisch. „Das ist nicht fair ihm gegenüber! Sorry, bitte nicht!“ Erwiderte ich. „Das ist sein Geld. Das gehört mir nicht. Das ist nicht meine Art. Egal, was zwischen uns war, oder ist.“ „Schau dich bitte einmal an. Und ob ich das kann“, gab Helga zur Antwort. Ich traute meinen Ohren nicht. Was hatte sie denn für Gedanken? Ich redete mit Engelszungen auf sie ein und versuchte, sie zu überzeugen. Vergebens. Helga steckte das Geld ein und gab ihm einen Namen: „Schmerzens-Taschengeld Paris!“ „Er ist es selbst schuld, der junge Mann“, sagte sie, „wenn er das mit einer Lebenslüge verstößt, was er bedingungslos liebt. Das ist Masochismus. Ich entziehe meiner Seele die Nahrung, die sie am Leben hält! Das ist Irrsinn, nur der Kinder wegen! Ihretwegen ist das nicht, dafür hatte er uns zu viel Intimes erzählt!“ Helga hatte genug Ahnung, worüber sie redete, da sie mit ihren Sprösslingen ebenfalls vor geraumer Zeit ihren Mann verlassen hatte, der sie betrog. Ihre Kinder sind anständig erzogen und sie bringt diese Kinderschar alleine durch. Von ihr habe ich die Weisheit, dass es psychologisch für Kinder besser ist, wenn Eltern sich einvernehmlich trennen, solange sie klein sind. Hut ab vor solchen Frauen! Mir fehlten die Argumente. Ups, ich hatte ein schreckliches Gewissen. Wieso? Meine Seele war malträtiert. Unter Umständen werde ich nie mehr einem männlichen Exemplar vertrauen, gar einen Mann von Herzen lieben. Lieben heißt Vertrauen schenken! Ob mir das eines Tages möglich sein wird, zweifelte ich derzeit an. Mir war nicht geheuer bei dem Entschluss, den Helga mit dem Taschengeld getroffen hatte. Andererseits sprach er im Betrieb nicht über seine Paris-Kostennote. Er verlangte sie nicht von mir zurück. Das Geld hatte er garantiert nicht vergessen. Ist er zu feige, mich zu fragen? Helga unterbreitete aber einen plausiblen, leicht versöhnlichen Kompromissvorschlag, um mein nicht so rosiges Gewissen zu beruhigen: „Fragt er dich nicht bis zum Abfahrtstag, dann ist das Taschengeld“. Ich hatte kein angenehmes Gefühl bei der Sache, gab aber letzten Endes nach und willigte ein. Geschlagene acht Stunden am Tag war es mir nicht so elend, wie ich befürchtete. In der Zeit von montags bis freitags war es zufriedenstellend mit mir und meinem Seelenkostüm, falls man hierfür Noten zu vergeben hätte. Solange Thomas im Hause, seine Stimme am Telefon war und ich ihn mir von der Küche aus, dank seines Parfüms, erschnüffelte, war meine kleine Welt in bester Ordnung. Nur die Abende zogen mich in ein tiefes Liebesloch. In den Stunden war ich mit der aufgewühlten Gefühlswelt einsam auf der Couch. Den bevorstehenden Geburtstag an einem der kommenden Montage, habe ich nicht groß gefeiert. Der Grund fehlte, Thomas. Hatte nur Kuchen und Konfekt für alle in der Firma spendiert. Am Nachmittag des Festtages, man höre und staune, kam Thomas und gratulierte. Die Büroglastüre öffnete sich, mit dem für Glastüren typisch knarrendem Geräusch. Er kam mit seinem berühmten Lächeln auf mich zu. „Heute ist ja ein Geburtstagskind im Hause. Gratuliere dir von Herzen“, sagte er und reichte mir die Hand. „Danke dir. Wäre echt nicht nötig gewesen“, erwiderte ich. Meine Stimmung ihm gegenüber blieb nicht verborgen. Der Kuchen steht in der Küche. Kaffee weißt du ja, wo du findest. Werde dann mal wieder was arbeiten.“ Im Anschluss an meine knappe Ansprache drehte ich mich um und arbeitete weiter. Thomas verließ wortlos das Büro. Dieser Tag war mit oder ohne seine Gratulation schon traurig genug. Am Freitagabend in der Woche hatte ich meine Mädels eingeladen. Geburtstage ohne sie, waren verlorene Jahrestage. Mädels Abend, mit Sekt, Süßem und Salat. Ein absolutes Must have. Es wurde gebührend gefeiert. Ich ertränkte die Trauer, den Verlust der Liebe, in Alkohol. Diese Nacht wurde äußerst lang. Mehr getrunken, anstatt Nahrung für eine solide Grundlage aufzunehmen. Angeheitert heulte ich mich in den Schlaf. Der Kopf rächte sich am nächsten Tag. Dementsprechendes Aussehen entdeckte ich beim Blick in den Spiegel. Shit Happens. Gott sei Dank, dass es ein Samstag war. Kaffee trinkend schleppte ich mich auf das Sofa und war glücklich, dass alle ausgeflogen waren. Ruhe im ganzen Haus. Mit Gedanken bei Thomas wurde mir urplötzlich bewusst, dass der kommende Freitag der Geburtstagstrip nach Paris sein würde. Das war sein eigentliches Geschenk vor dem freien Fall, seiner großen Lebenslüge. Mit der Liebe seines Lebens in Paris. Aus. Vorbei. Traurig, aber wahr. Einige Jahre später habe ich dann von Thomas selbst erfahren, dass er im gleichen Jahr, schon im Frühjahr, mit seiner „Holden“ einen Trip in die Stadt der Liebe unternommen hatte. Klasse nicht? Im selben Jahr mit unterschiedlichen Frauen nach Paris. Welchen Sinn ergab das denn? Testete er aus, welches Gefühl in Paris bei welcher Frau stärker sein würde? Wie irre abgefahren war der Gedanke? Gott sei Dank, dass ich das erst später erfahren habe. Grundsätzlich lehnte ich Orte ab, die er mit seiner Holden schon im Urlaub besucht hatte. Wenigstens vorerst. Ab dem darauffolgenden Montag zählte ich die Stunden, die dahin krochen. Thomas hatte ab heute noch exakt vier Arbeitstage Zeit, seine Kostennote zurückzufordern. Ich stand in der Küche auf der oberen Etage, eine Tasse Kaffee ziehend. Thomas kam auf mich zu. „Bald geht´s los, nicht,“ sagte er. „Was meinst du?“ „Na, die Reise nach Paris. Wen nimmst du denn mit?“ Fragte er weiter, während er hastig in seinem Kaffee rührend, neben mir stand. Thomas roch so verführerisch. Ich schloss für einen kleinen Moment meine Augen und war wieder, angeregt durch den betörenden Geruch von Parfüm auf seiner Haut, mit ihm im Liebesspiel des Sommers. Der Kloß im Hals bei den Erinnerungen im Kopf wurde größer. Ich öffnete die Augen wieder und antwortete nach tiefem Luftholen: „Wen nimmst du mit? Was ist das denn für eine Frage? Gar keinen. Wir fahren zu zweit, alleine. Du hättest garantiert schon Ersatz für mich, stimmt´s?“ Dann nahm ich die Kaffeetasse, drehte mich um und ließ ihn prompt stehen. Was bildet dieser Blödmann sich eigentlich ein? Für die Liebe des Lebens gibt es keinen Ersatz. Gerechnet habe ich damit, dass er im Anschluss in mein Büro kommt und um Stornierung seiner Reise bittet. Aber nichts dergleichen passierte. Überlegte er es sich doch oder war er generell zu feige, zu fragen? Ich tippe auf Letzteres. Bei dem holden Weib zu Hause und seinem lieben Bärengemüt war das die einzig logische Erklärung. Madame hatte ihn für mein Dafürhalten voll im Griff. Er traute sich absolut nicht wieder zu fragen und das war angenehm. Die letzten vier Tage bis zur Reise vergingen im gleichen Trott. Aufstehen, Büroalltag, die Liebe ignorieren, Feierabend zu Hause und der malträtierten Seele eine Leiter in die Grube stellen. Thomas fragte nicht mehr. Hurra, Freitag. Endlich weg. Die Reisetasche war von mir zu Wochenbeginn schon gepackt worden. Der Zug fuhr vom Hauptbahnhof um 09:00 Uhr ab. Drei Stunden Zugfahrt und der Eiffelturm würde mich anlächeln. Am Morgen hatte ich kurz überlegt, was man denn so in Paris, der Stadt der Mode, trägt. Die Gedanken, beim Anblick des vollen Kleiderschranks, waren bei Thomas. Wie von Geisterhand griff meine Hand nach den Sachen, die er an mir immer so liebte: Die engen Bluejeans, das bordeaux farbene Seidenshirt und die transparente, mit Rosen bestickte, ärmellose Weste. Genau das Outfit unseres Candle-Light-Dinners. Bis auf die engen Jeans. „Na,“ sagte ich, „dann nehme ich den lieben Thomas eben auf meine eigene Art und Weise mit nach Paris.“ Das hilft ein bisschen. Wie automatisch sog ich den Duft der Sachen auf, in die ich später hineinschlüpfte. „Thomas“, sagte ich laut, „du kommst ja doch mit.“ Das Beste aber war, das Helga, die Seelenklempnerin, mit auf diesen Trip fuhr und dank ihr, hatte ich Ablenkung pur. Sie hatte mich im Zug dermaßen beschäftigt, dass ich bis Paris am Gard du Nord, kaum den Mann vermisste, der an der Reise schuld war. In Schale geworfen und mit nagelneuen Schuhen an den Füßen, was ich am Abend des ersten Tages bereute, stiegen wir aus dem Thalys und standen mitten in Paris. Ich war hin und weg. Die Stadt der Liebe, und das mit einer Frau! Wie romantisch. Nur nicht meckern. Ich war hier und das zählte. Die Reise war ihr Geld wert. Die Taschen auf unsere Schultern geworfen, trabten wir, mit Stadtplan bewaffnet, in Richtung der gebuchten Unterkunft. Die lag in einer engen Gasse, unweit des Gard du Nord. So viele kleine Hotels und schmale Seitenstraßen hatte ich bis dato in keiner anderen Stadt gesehen und ich war so glücklich, Helga nebst ihren Französischkenntnissen an meiner Seite zu wissen. Nicht, dass ich der französischen Sprache nicht mächtig war, aber so fließend eben nicht mehr, denn die Anwendung war bei mir eine ganze Weile her. Dank ihr fanden wir das Hotel ziemlich zügig. Nur kurz erfrischen und auf zur Erkundung der schönsten Stadt der Welt. Zu Fuß sei dies in aller Eindringlichkeit gesagt. Ich bekräftige: In nagelneuen Schuhen! Ich sage nur: Wer es braucht! Meine Wenigkeit nie wieder. Pfeift auf das Aussehen ihr lieben Frauen. Auf einem solchen Trip ist die Hauptsache, dass Schuhe bequem sind. Die Rache meiner Füße folgte am späten Abend, nach Rückkehr ins Hotel. Unser Fußmarsch, ab der Mittagszeit, führte über viele romantische Seitenstraßen, vorbei am Place de la Concorde, wo ein Riesenrad den Nebenplatz zierte. Wir kauften uns ein Ticket und verschafften uns mit der Riesenradfahrt einen ersten Rundumeindruck bei strahlendem Sonnenschein, bevor uns die Wanderung zur Champs Elysee weiterführte. Ein älteres, französisches Ehepaar saß uns in der Gondel genau gegenüber und erklärte aus freien Stücken, was alles in der Umgebung zu bestaunen war. Offenkundig sah man uns an, dass wir Touristen waren. Aus der Höhe erblickten wir sogar die Kioske, die überall gesäumt am Straßenrand der tollsten Prachtstraße, der Champs Élysée, in Paris standen. Kleine Buden mit leckerem Stangenbrot, französischem Käse und gekühlten, erfrischenden Getränken. Wieder am Boden verabschiedeten wir uns von dem ausgesprochen netten Ehepaar und bedankten uns für das ausführliche Gespräch inklusive dem kostenlosen Reiseführerbeitrag. Wir wurden leicht hungrig, nach dem ersten längeren Fußmarsch, setzten uns eine Weile essend und trinkend auf einer Parkbank am Fuße der Prachtallee, und schauten dabei hinauf zum nächsten Ziel: dem Triumphbogen. Käse und Brot schmeckten köstlich. Das kühle Getränk wirkte Wunder. Gestärkt und mit neuem Schwung trabten wir die berühmteste aller Straßen von Paris hinauf. Oh Mann war die lang. Die Vielzahl der Geschäfte, die sich aneinanderreihten, die Menschenmenge Einheimischer und der Touristen, sowie unzählige Restaurants übersteigen so manche Vorstellungskraft. Welch ein reges Treiben herrschte in der Stadt. Was für faszinierende Eindrücke uns Kleinstädter in Erinnerung bleiben werden. Wir sogen alles in uns auf und inhalierten absolut jede Kleinigkeit. Wir vergaßen, vor lauter Freude und Aufregung, zu fotografieren, uns diese Faszination in Bildern festzuhalten. Das ist uns leider zu später aufgefallen. Ein riesiger, über zwei Etagen sich erstreckender Douglas Parfümerie Shop, auf halber Strecke zum Triumphbogen gelegen, hatte geöffnet. Passanten strömten hinein. Bei jedem Öffnen der Eingangstüre schwebte eine Parfümwolke hinaus auf die Champs Élysée, direkt in unsere Nasen. Wir blieben stehen und versuchten, aus der Wolke zu erschnüffeln, welches Parfüm sich mit anderen gepaart hatte. Gucci mit Boss, oder Dior mit Armani? Es war ein leicht herber Duft, mit einer pudrig blumigen Note. Verführerisch. Wir schlenderten weiter, aber der am Ende der Straße monströs wirkende L`Arc de Triumph kam und kam nicht näher. Ich und meine Füße hielten tapfer durch. Aber die neuen Schuhe hatten partout kein Erbarmen. Sie brachten sich ab und an immer wieder in Erinnerung. Meine gequälten Füße! Aber wer schön sein will, muss eben leiden! Endlich, wir waren angekommen und standen neben dem berühmten Triumph-Bogen, auf dem Place Etoile. Im Hinterkopf hatte ich eine Bemerkung meiner Schwester präsent, die mir einmal beiläufig erzählte, dass es in dem Monument einen Aufzug gibt. Diese erfreuliche Nachricht gab ich sofort an Helga weiter. Sie fragte den Kontrolleur beim Einlass, denn ohne Ticket keine Aussicht. Der gab ihr aber zu verstehen: „Leider gibt es hier nur Treppen“. Vielen Dank, liebe Schwester! In meiner Erinnerung waren es satte 296 Stück, ohne sie exakt gezählt zu haben. 296 Stufentritte hinauf und das nach dem ersten Marathonfußmarsch in neuen Schuhen. Dann mal los. Beim Aufstieg der schmalen Stufen hinauf bis zur Plattform meldeten sich die Füße öfter und der erste Gedanke bei jedem Tritt war: „Wieso trage ich nicht meine bequemen Turnschuhe? Ach ja. Frauen sehen glänzend aus in der Stadt der Mode. Du bist aber keine Dame aus Paris. Du wirst garantiert nicht entdeckt. Alternde Models braucht hier niemand. Wen würdest du gerne beeindrucken? Thomas ist nicht hier. Na ja, die Eitelkeit lässt eben grüßen. Die Füße bestrafen sofort.“ Durchtrainiert war der Aufstieg erstaunlich schnell geschafft, bis auf die letzten Tritte. Endlich oben. Kurze Verschnaufpause. Zuerst einmal hinsetzen und dann an den Rand zum Ausblick vom Plateau. Die Aussicht bei strahlendem Sonnenschein war gigantisch und der Place Etoile hat nicht umsonst seinen Namen. Alle mehrspurigen Straßen rund um den Triumphbogen laufen sternförmig zueinander oder je nach Betrachtung, voneinander weg. Irre anzuschauen, faszinierend. Es herrschte in meinen Augen ein Verkehrschaos, da eine Verkehrsregelung, so wie wir sie in Deutschland kennen, nicht sichtbar war. Die Champs Élysée lag uns mit ihren Menschenmassen förmlich in ihrer gesamten Länge zu Füßen. Rechts von ihr entdeckten wir das obere Drittel des Eiffelturms. Er stand fast in greifbarer Nähe. Soweit entfernt war das gar nicht, so mein Eindruck. Den Weg schaffen wir locker. Unser spontaner Entschluss war daher: Den Eifelturm sehen wir uns heute an. Es war nicht spät, der Tag halbwegs jung und der Eisengigant direkt um die Ecke. Leider täuschten uns die Sinne und wir wurden eines Besseren belehrt. Mit raschen Schritten stiegen wir die 296 Stufen wieder hinunter auf die Straße und zogen los, gen Eiffelturm. Luftlinie ist aber nicht gleich Bodenlinie. Die Erkenntnis holte uns auf dem Weg dorthin. Ähnlich eines Gummibandes zog sich der ganze Weg bis zum Weltkulturerbe aus dem Jahr 1889, was meinen Füßen erneut nicht entgegenkam. Neue Schuhe, wie erwähnt! Das von Gustave Eiffel unter der Rubrik Utopie aus damals hundert Projekten ausgewählte, in ca. 2 ¼ Jahren erbaute, 312 m hohe Prachtexemplar stand erhebend vor uns auf einem langgezogenen, parkähnlichen Rasenstück. Insgesamt wurden 10.100 Tonnen Eisen und 2,5 Millionen Nieten verbaut. Er war für eine Standzeit von 20 Jahren geplant. Bis heute sind es 130 Jahre Lebenszeit. Faszinierend, wie lange eine solche Menge an Eisen und Nieten schon Wind und Wetter trotzte. Jetzt strahlte er uns in seiner kompletten Schönheit an, und schlagartig war sie da, die Sehnsucht nach Thomas, der Liebe meines Lebens. Die Erinnerungen ergriffen das Gemüt, die Seele und das Herz. Der Kloß im Hals wuchs und ich weinte kurz, völlig in Gedanken versunken an ihn. Nach einer Weile hörte ich, dass jemand mit mir sprach. Es war Helga, die mich aus meiner Lethargie holte. Ich wischte mir die Tränen fort und war wieder bei ihr im Hier und Jetzt. „Los, lass uns wie die Liebenden den Blick von der obersten Plattform über Paris genießen“, sagte Helga und zog mich gen Eingang. Dort angekommen, wurde aus der kleinen Schlange der Ferne eine riesige Menschenmenge, die sich hier drängelte, nur um den heißbegehrten Ausblick auf Paris zu erhaschen. Der Aufzug fuhr zwar 2 m pro Sekunde, andererseits war uns die lange Wartezeit hier zu kostbar. „Eines schönen Tages werde ich diesen Blick über Paris mit einem mich liebenden Mann erleben! Den hebe ich mir auf und wer weiß, wer der Glückliche sein wird.“ Sagte ich zu Helga. Das Herz sprach in diesem Moment von Thomas! Bevor ich in meine tiefsten Wünsche eintauchte, stupste sie mich an und sagte: „Lass uns los. Der Hunger ruft Nahrungsaufnahme.“ Sie grinste dabei und wir schlenderten weg vom Eingang, über die nach frisch gemähtem Gras duftende Rasenfläche hinaus auf die Straße. Wir begaben uns stattdessen auf den Heimweg ins Hotel. Helga redete fast ununterbrochen. Das lenkte mich enorm ab. Der Rückmarsch an dem Abend zur Unterkunft war nicht wesentlich kürzer, trotz einer Fahrt mit der U-Bahn. Meine Füße schmerzten nicht mehr, im Gegenteil, ich merkte sie kaum. Das war garantiert das Zeichen unmittelbar vor dem Absterben. Wenn mir das jemand erzählt hätte, ich hätte es für bare Münze genommen. In Sichtweite entdeckten wir unser kleines Hotel. Ein Speiselokal, das gemütlich aussah, preislich in das Budget passte, lag ein paar Meter vor dem Absteigequartier. Es lachte uns an und so kehrten wir ein – der HUNGER! Spaghetti in Paris schmecken doppelt so gut, wenn man ausgehungert ist. Der Wein fehlte ebenfalls nicht zum typisch italienischen Essen. Der war im Gegensatz zur Speisenwahl, ein fruchtiger französischer Rotwein. Mittlerweile merkte ich die Füße gar nicht mehr. Ich schob es auf den Alkohol. Sattgegessen und getrunken rollten wir die letzten Schritte in die winzige Eingangshalle des Hotels, fragten nach dem Zimmerschlüssel und hielten kurz inne, schauten uns an und hatten beide das Gleiche entdeckt. Was sahen unsere lieblichen Augen? Champagner Flaschen. Veuve Clicquot, ein Must-have, oder? „Das gönnen wir uns heute vom „Schmerzensgeld-Taschengeld. Unsere Belohnung die erste. So ein blöder Kerl,“ sagte Helga. Bewusst wahrgenommen hatte ich diese Sätze, in Anbetracht der sich wieder in Erinnerung bringenden, schmerzenden, absterbenden Füße, nicht. Helga orderte eine erste Flasche und mit ihr zusammen fuhren wir mit dem Lift auf die 3. Etage. Hinein ins Zimmer und den einzigen Wunsch, den ich hatte, war: Schuhe aus! Nie wieder mit neuer Fußbekleidung, hörte ich meine Füße schreien. Champagner war Nebensache. Helga öffnete die Flasche. Holte zwei Gläser aus dem Schrank über dem Bett und füllte das Getränk perlend hinein. Der erste Schluck des gekühlten Schampus fühlte sich an wie Schmetterlinge im Bauch. Gott war das lecker! „Uns geht es bestens“, hörte ich Helga reden. Wir setzten uns auf das Doppelbett, weil außer einem winzigen Tischchen, kein Platz in dem Zimmer war. Das dazugehörige Bad war ebenfalls so klein, dass es mit einer Person der Überfüllung nahe war. So endete unser erster Tag in Paris quietschvergnügt mit Champagne und ohne, dass es für mich ein Alptraumtag war! Mein Dank an Helga und dem Universum. Beschwipst schliefen wir spät ein. Am kommenden, zweiten Tag hatten wir uns den Jardin de Tuileries, den Notre Dame und die Sacre Coeur Kirche vorgenommen. Im Tuleriengarten gab es einen kleinen Laden, der Lichterfahrten am Abend auf der Seine anbot. Paris bei Nacht – ein genialer Gedanke! Wir waren so begeistert, dass Helga umgehend loszog und sofort zwei Karten orderte. Das Schiff legte um 20:00 Uhr vom Steg an der Seine ab. Das war zwar spät, aber Nachtfahrten bei Tageslicht ergeben logischerweise keinen Sinn. Es schien den ganzen Tag die Sonne. Der Himmel war stahlblau, ohne eine einzige Wolke. Das Wetter war recht sommerlich, genaugenommen Spätsommerwetter. „Wenn Engel reisen“, sagte ich nur. Schweißperlen treibend kamen wir am Notre Dame an. Dem Zuhause vom Glöckner, Quasimodo. Man glaubt gar nicht, wie viele Menschen es in diese Kirche hineintreibt. Die Schlangen waren, wie schon beim Eiffelturm, enorm riesig. Lange anstehen bei dem superben Wetter, war uns zu mühselig und kostbare Zeitverschwendung. Am morgigen Tag hieß es ja Abschied nehmen von Paris. Ergo blieben uns nur zwei ganze Tage, um genügend Eindrücke bis zur Abreise aufzunehmen. Folglich zogen wir weiter zur für mich schönsten aller Kirchen, die ich bis dato besichtigte, geschweige denn, in natura gesehen hatte. Sacré Coeur. Ein Traum aus Chateau-Landon-Steinen. Ein frostresistenter Travertin aus dem gleichnamigen Ort im heutigen Département Seine-et-Marne, der durch die Witterung Calcit abgibt. Hierdurch nimmt er mit der Zeit ein kreideartiges Weiß an. Das Bauwerk thront auf einem Hügel, hoch oberhalb der Stadt, im Kulturviertel Montmartré. Sacré Coeur heißt bei uns übersetzt: Herz Jesu. Der Ausblick über Paris von den davorliegenden Stufen der Kirche ist umwerfend malerisch. Riesige Weiten. Alles, was das Auge bis zum Horizont erfasst, heißt: Paris. Gott hatte verstanden, warum er diese Kirche hier bauen ließ. Ich stand heute auf der höchsten Stufe und genoss den Anblick der Stadt, war sprachlos und hatte für einen Moment wieder ein Glücksgefühl in mir. Empfand die Nähe von Thomas. Ich genoss diese Leichtigkeit, das pulsierende Herz der Pariser Lebensart am beliebten Treffpunkt von Jung und Alt. Ein amerikanischer, rosafarbener Cadillac schwenkte auf den Vorplatz der Kirche ein und stellte sich direkt vor den Eingang auf das untere Plateau. Es war ein Cabrio. Darin saßen der Chauffeur und ein junges Brautpaar. Ein Anblick bei strahlend blauem Himmel, wie aus einem Hollywoodfilm. Eine Trauung an unserem Tag, in der für mich schönsten Kirche der Welt, göttlich. Tief in mir beneidete ich das Paar. Die Gedanken beim Anblick der Verliebten schweiften ab zu Thomas. Er sagte vor nicht allzu langer Zeit: „For Eternty:“ Hochzeit, Kinder und ein Leben mit ihm. Das war seit dem Versprechen unser Traum. Leider blieb es ein Traum. Musik riss mich aus den Gedanken. Auf der Treppe hatte sich eine Männergruppe versammelt, die auf ihren hölzernen Panflöten eine romantische Melodie spielten. Wie herzergreifend. Die stimmungsvolle Vertonung entführte mich in den vergangenen Liebessommer mit Thomas. Eine unendliche Traurigkeit legte sich auf meine Stimmung. Gleichzeitig überkam mich eine zurückhaltende Freude. Ein eigenartiges Gefühlsgemisch. Er war erneut in meinem Kopf, im Herzen und der Seele. Es schmerzte unaufhaltsam. Der ganze Traum, unser Zukunftstraum, lief wieder wie ein Film ab, nur mit dem jungen Brautpaar. Wir, das Paar des Jahrhunderts, mit Kindern, einem Haus von Thomas gebaut, einem Hund. Leben pur. Genau den Lebenstraum gab es vor kurzer Zeit. Dann brachte er mit einer Lebenslüge dieses Glück wie eine Seifenblase zum Platzen. Schmerz, Trauer, Wut und eine große Leere hatte er in mir hinterlassen. Was für eine Ironie! Den bezaubernden Anblick, ohne ihn selbst zu erleben, fiel mir schwer. Helga klopfte auf meine Schulter, riss mich wie immer aus den düsteren Gedanken, holte eine trauernde Frau zurück in das pulsierende Paris. Sie hatte immerzu ein sensibles Gespür dafür, wann sie mich aus der Lethargie herausholte. Das Brautpaar zog in die Kirche ein. Wir folgten. Die Besichtigung der Innenräume war nur eingeschränkt möglich, da dort Umbauarbeiten im Gange waren. Daher war die Besichtigungsrunde relativ schnell zu Ende. Im Anschluss schlenderten wir durch eines der schönsten Viertel in Paris zum Künstlerviertel, dem Place du Tretre. Cafés luden zum Verweilen ein, was wir dann umsetzten. Unsere Füße erholten sich langsam vom gestrigen Marathonmarsch. Café au Lait mit Eau Minerale Perrier, dazu Stangenbrot und den typischen, französischen Weichkäse. Ein Leben wie Gott in Frankreich war das. Lecker. Die Sonne sorgte mit der nötigen Wärme für unser Wohlgefühl. Es herrschte ein reges Treiben um uns herum. Gestärkt zogen wir weiter. Den restlichen Nachmittag verbrachten wir in Ruhe im Tuilerienpark. Genug Zeit für Sonne und einen kleinen Snack. Pünktlich stiegen wir an Bord des Sightseeingschiffes auf der Seine. Die gewünschte Dunkelheit stellte sich langsam ein und losging`s. Wir erhielten kleine Kopfhörer und stöpselten diese dann beim Ablegen in die hierfür vorgesehenen Stecker an den Sitzplätzen. Die eigene Landessprache wurde von den Fahrgästen gewählt, da nicht jedermann an Bord Französisch verstand. Paris bei Nacht – Stadt der tausend Lichter. Die La Fracasse legte ab. Unsere Fahrt führte vorbei am Cartier Latin, dem Studentenviertel. Eine Menge junger Menschen und unzählige verliebte Pärchen säumten den Uferrand und winkten den vorbeifahrenden Ausflugsschiffen zu. Untermalt wurden die Erzählungen des Herrn aus dem Kopfhörer mit romantischer, klassischer Musik. Ich meinte mich an Chopin zu erinnern. Diese Klaviermusik weckten erneut die Erinnerungen und Gedanken an Thomas. Sie fragten nicht, sie nahmen mich geradewegs in Besitz. Ich hörte gar nicht mehr, was die nette, männliche Stimme im Kopfhörer alles so über die Pariser Stadt und ihre Geschichte erzählte. Ich war in Gedanken weit weg, bei ihm, Thomas. Ich sah sein betörendes, bäriges Lächeln vor meinem geistigen Auge, welches mich immer so inspirierte. Sah seinen typischen Gang, wenn er durch die Firma schlenderte. Hatte seinen Geruch in der Nase, das Gemisch aus seiner weichen Haut und seinem Parfüm. Seinen erotisierenden Duft, wenn wir ineinander verschlungen uns der Liebe hingegeben haben. Ich schloss die Augen, konzentrierte mich im Hochgefühl zur Musik auf Thomas und den Bildern, die meine Sinne glaubten, im Kopf zu produzieren. Es war so intensiv. Ich hörte von weitem den Klang seiner Stimme. Mir rannen Tränen übers Gesicht. Um uns herum überall Pärchen, die sich verliebt in den Armen lagen. Und ich saß wieder alleine und fuhr auf der Seine durch die Stadt der Liebe. Ich erinnere mich nicht, wie lange ich so dagesessen bin. Ein leichter Ruck unterbrach die Gedankenflut. Es war das Ruckeln des Schiffes am Anleger. Wir waren wieder zurück. Der Bootsmann zurrte die Taue fest. Das Licht wurde angeknipst. Die Passagiere erhoben sich von ihren Plätzen. Mir die Tränen trocknend stand ich auf und reihte mich in die Warteschlange ein. Schweigend schritten alle hinaus. Festland unter den Füßen. Die Trauer hielt meinen Geist gefangen. Die versuchten Aufheiterungen von Helga, indem Sie z. B. über ihn schimpfte, halfen mir ein wenig, den seelischen Schmerz zu verdrängen. Sie beschimpfte ihn solange, bis wir in unserem gestrigen Restaurant unweit des Hotels angekommen waren. Der Magen knurrte und das Essen war Erlösung und Seelennahrung zugleich. An der Rezeption lächelte uns erneut nicht nur der nette Portier an, sondern das Pariser Lieblingsgetränk und schwupp, da waren wieder zwei Flaschen auf unserem Zimmer: Champagner Veuve Clicquot brut. „Das Schmerzensgeld-Taschengeld!“ Lecker! Ob die beiden Flaschen heute Abend reichen werden? Getrunken und gequasselt wurde bis spät in die Nacht. Wir waren so müde zu vorgerückter Stunde, dass wir beim Reden eingeschlafen sind. Der nächste Morgen kam schnell, die Nacht war kurz und es hieß wieder packen und mit Reisetasche auf der Schulter den letzten Tag bis zur Abfahrt durch Paris traben. Ehrlich gesagt, habe ich vergessen, wie wir den Tag herumgebracht haben. Recht unspektakulär, glaube ich. Ein Weg führte uns zum Kaufhaus La Fayette. Es war riesengroß mit einer Sintflut von überflüssigen Produkten bestückt. Ach ja, essen und trinken stand ebenso auf dem Stundenplan. Ein magenfüllender Zeitvertreib, der Laune bereitete. Lokale und Restaurants gibt es in dieser Stadt genug. Vornehmlich in den Kleinen ließ es sich prächtig ausruhen. Wir erreichten Gard du Nord. Rechtzeitig vor Abfahrtszeit, suchten wir den korrekten Bahnsteig und setzten uns an die Gleise. Der Thalys rollte ein, einsteigen, fertig, los. 3 Stunden später und der Alltag, das altes Dasein hatte mich wieder. Aber nach welcher Art von Leben dürstete meine Seele? Job, ja klar, der bleibt. Die Kinder, auf jeden Fall. Den Ehemann glaube ich nicht – oder doch? Welche Alternative hatte Frau denn? Schwarze Wolken zogen auf und legten sich finster und düster auf die Gedanken. Wider mein Naturell, ließ ich es zu. Wer nimmt eine alleinerziehende Frau mit zwei schulpflichtigen Sprösslingen? Welcher Mann ist bärenstark genug und wird diese Kinder akzeptieren, so, wie sie sind. Womöglich sogar eines Tages ein wenig lieben, selbst wenn es nicht seine Leiblichen sind? Gott was flogen mir Fragen durch den Kopf. Eine Stimme hörte ich neben mir sagen: „Nicht so doll grübeln. Macht traurig. Hier, unser Zeitvertreib bis Heimatort. Trocken und lecker, dein Wein“, weckte mich Helga erneut aus trübsinnigen Gedanken. „Danke“, sagte ich kurz und lächelte. Die Rückfahrt war etwas schneller vorüber. Man kannte die Strecke ja schon. Hauptbahnhof Heimat. Pünktlich 19:15 Uhr. Aussteigen, das Auto mit dem Fahrer suchen und ab nach Hause. Der Chauffeur war mein damaliger Ehemann. Bei der Verabschiedung von Helga und ich bedankte mich bei ihr für die abwechslungsreichen, unterhaltsamen Tage, die ausgezeichnete Ablenkung und die klärenden Gespräche. Mit dem Kompliment „beste Seelsorgerin ever“ entließ ich sie in den Abend. Wir fuhren nach Hause. In der ersten, bedrückendsten Zeit sowie den darauffolgenden Jahren war Helga mit zwei weiteren Mädels, Petra und Anette, der seelische Beistand. Ohne Sie alle hätte ich diese Zeit nicht so erbaulich überstanden. Meinen Dank hier an dieser Stelle an Euch, Mädels. Die Begrüßung zu Hause war wie immer, äußerst nüchtern und schweigsam. Und weil die Kinder schon in der Koje lagen, bin ich ebenfalls recht bald in meiner gelandet. Ein letztes Glas Rotwein, trocken, so wie WIR, Thomas und ich, ihn geliebt haben, ein paar nette, belanglose Worte zum Ehemann auf seine Nachfrage, wie denn der Trip war, und das Bett hatte mich wieder. Beim Erwachen am kommenden Morgen war der erste der Gedanken: Thomas. Wen wunderte das. Meine Laune stieg mit jeder Minute. Heute würde ich ihn wiedersehen. Die Anfahrt zur Firma war kurz, dem Wohnort geschuldet. Pünktlich zum Start saß ich im Büro. 07:30 Uhr zeigte mir die Handyuhr, mein Thomas nicht in Sicht. Das liegt am Autobahnstau, begründete ich sein Zu-spät-Kommen. Kurze Zeit nach dem Arbeitsbeginn öffnete eine Kollegin die Türe meines Büros und trat ein. „Hallo“, sagte ich spontan zu ihr, „du bist garantiert voller Neugier, wie es in Paris war“. Ich holte Luft, um mit den Reiseerzählungen loszulegen. Da unterbrach sie den Versuch des Erzählens. Sie fing unverzüglich an zu reden: „Hallo zurück. Herr Kramer ist am vergangenen Freitag freigestellt worden. Er wird die Firma verlassen. Am Mittwoch holt er nur seine Privatsachen ab und das war dann das Kapitel Kramer.“ Recht fassungslos und erstarrt hielt ich die Luft an. Ich registrierte dasselbe Gefühl in mir, wie damals, nach dem Lesen seiner SMS aus dem Urlaub. Der Atem stockte und ich drohte zu ersticken. Denken unmöglich. Die Kollegin merkte, Gott sei es gedankt, nichts von dem Schock. Meine Antwort kam, trotz meines Zustandes, gefestigt: „Hallo, zum Zweiten. Es war eine Wucht in Paris. Besten Dank der Nachfrage. Für die Info zum alten Kollegen ebenfalls mein Dankeschön. Jetzt würde ich mich gerne ein wenig sortieren, mir einen Überblick verschaffen und, wir werden später über Paris sprechen, sofern es die Zeit erlaubt“. Die Kollegin verließ das Büro. Ich setzte mich auf den Stuhl, weil meine Beine es vorzogen, den Körper nicht länger zu tragen. Ihre Worte zogen mir den Boden unter den Füßen weg. Zum wiederholten Male verspürte ich den Sinkflug im freien Fall. Ich versuchte, mir tagsüber in keiner Art und Weise etwas anmerken zu lassen. Ich fragte niemanden aus dem Kollegenkreis nach dem Grund für seine Freistellung, um keinen Verdacht zu wecken. An ihrem Blick und an ihrer Stimme, wie sie mir die Nachricht mitteilte, befürchtete ich, dass sie etwas gemerkt hatten, oder besser, schon im Bilde waren. Dann schoss mir in den Kopf, dass ich vor Paris zufällig gedankenversunken an mein Handy gegangen war, weil es klingelte und derjenige am anderen Ende sofort auflegte. Erst vermutete ich damals, dass Thomas es war. Heute, nach der ausgezeichneten Nachricht zur Freistellung von Herrn Kramer war mir klar, dass das die Kollegin mit den Telefonlisten war. Sie hatten den Durchblick. So schnell wird man enttarnt. Aber gleich wegen mir direkt jemanden zu kündigen, das überstieg mein Verständnis. Wir liebten uns doch nur, und diese Liebe ist privat. Das berührte das Dienstverhältnis rein gar nicht. Was sprach also dagegen? Nichts. Glückliche Menschen sind an sich produktiver. Und die nächste Frage war: „Warum wartete man den Urlaub ab, um meinen Kerl, ja korrekt gehört, meinen Kerl, mir nichts, dir nichts zu entlassen?“ Mir wurde speiübel. Der einzige Gedanke, der jetzt permanent im Kopf war, lautete: „Ab heute wirst du Thomas definitiv nie mehr wiedersehen! Nie wieder! Nie wieder!“ Ich wiederholte diesen Satz sehr oft. Keine klaren Gedanken waren in meinem Schädel, der brummte. Jeder kennt das Gefühl, wenn man einen lieben Menschen durch Tod verliert. Ihn beerdigt und weiß, dass es kein Zurück mehr gibt. Ihn loslässt. Es ist eine Trauer, die irre schmerzt, aber in der Gewissheit, dass derjenige sein Leiden überstanden hat, werden mit der Zeit Schmerz und Kummer erträglicher. Ja sie kehrt sich zeitweise sogar ins Positive, wenn man sich in den Leidenden, den Sterbenden, hineinversetzt. Wie befreiend ist es abzutreten, endlich von Schmerzen befreit zu sein, die Seele frei zu lassen. Ruhe zu finden. Das Gegenteil war soeben mit mir passiert. „Nie wieder Thomas“, hauchte ich leise. Ich, die Alleingelassene, Liebende, Leidende, Sterbende blieb zurück. Für die Kollegin, die das Büro nach ihrer Mitteilung verlassen hatte, war Thomas nur ein Kollege. Sie hörte den Satz nicht, den ich hauchte. Die Bürotür fiel ins Schloss und ich ins Dunkel, in die Tiefe! Mein Inneres war völlig leer. Ihre Worte lagen wie Blei auf der Seele. Ich atmete schwer, grübelte und sprach nicht mehr. Ich sterbe nicht mehr. Ich war schon Tod. Alles ertrage ich, dass er seine Frau nicht verlässt. Dass der Grund nicht seine Gattin, sondern die Kinder sind. Dass er eines Tages der enge Vertraute wird, den er mir zum Abschied vorgegaukelt hatte. „Lass uns gute Freunde bleiben,“ sagte er damals beim letzten goodbye. „Und wenn du mich brauchst, komme ich sofort.“ Ob er seine Worte je selbst für bare Münze nahm, wagte ich, mit Recht, jetzt anzuzweifeln! Freunde sein nach dieser tiefen Liebe, dem Abschied mit der großen Lebenslüge? Nein, nicht bei mir und für meine Person ein absolutes No-Go. Arbeiten war nicht möglich. Ebenso nicht am darauffolgenden Dienstag. Eine Tatsache ertrug ich seitdem gar nicht mehr: Thomas nie wieder sehen und riechen! Das zerriss mir das Herz! Das war mein Sterben! Ja, ich sterbe.

Der Mittwoch fing an, wie der gestrige Dienstag aufgehört hatte, mit sterben. Kein klarer Gedanke möglich. Telefonierte nur widerwillig. Gesellschaft nervte und war mir zuwider. Ich zwang mich, die Unterlagen auf dem Schreibtisch in die Hand zu nehmen. Heute kam Thomas ein letztes Mal, um seine Sachen abzuholen. Gegen zehn war es dann so weit. Sein Wagen fuhr auf den Parkplatz, er stieg aus und kam herein. Öffnete die Tür einen Spalt und sagte: „Hallo“ mit einem bedrückenden Lächeln. Dann schleppte er den ersten Karton mit seinen Sachen raus und stellte ihn in den Kofferraum. Nachdem er das vierte Mal an mir vorbei rauschte, sprach ich ihn an: „Benötigst du Hilfe?“ „Nein, danke. Alles ok soweit,“ sagte er mit weinerlicher Stimme und lächelte gequält. Er stellte die letzte Pflanze ins Auto und begab sich auf seine Abschiedsrunde in die einzelnen Büros. Oh Gott, lass es nicht passieren. Ich flüsterte. „Lasse mich bitte resistent sein und nicht bei seinem Anblick weinen. Das hebe dir für später auf, wenn er weg ist.“ Die Tür öffnete sich und Thomas trat ein. Mein Herz pochte, mir wurde heiß. Er suchte nach passenden Worten. Wir schauten uns in die Augen, standen eine kleine Weile stumm im Raum. Mir war hundeelend, nach sterben. Thomas streckte mir seine Hand entgegen, ein letztes Mal. Unsere Hände schmiegten sich zum endgültigen Abschied ineinander. Seine Haut war, wie immer weich und warm. Sie löste eine wohlbekannte Explosion der Gefühle in mir aus. Unsere Hände klebten förmlich aneinander. Sein Duft von Haut und Parfüm roch betörend. Mit den Tränen und dem mächtigen Kloß im Hals kämpfend, löste ich meine Hand sanft aus seiner und er hauchte leise mit tränenerstickter Stimme: „Alles Liebe und unter Umständen sieht man sich ja wieder.“ „Surly, for eternity“. Sagte ich. Mehr brachte ich nicht heraus. For eternity waren seine Worte auf dem Berg an unserm Picknicktag im Hochsommer auf die Frage, worauf wir beide denn mit Rotwein anstoßen. Auf die Ewigkeit! Verdammt! Und heute? Jetzt ist es das, was soeben passiert war: „Es ist aus und vorbei. No Future, no Eternity.“ Achterbahn der Gefühle. Ich sah ihm nach. Er stieg in seinen Wagen, ließ den Motor an und fuhr äußerst langsam an meinem Fenster vorbei. Unsere Blicke trafen sich. Ich sehe es wie heute. Seine Seele, sein Herz und seine Augen kommunizierten eine andere Sprache. Er hasste den Abschied, genau wie ich. Aber er hatte keine Wahl. Das Ende einer phänomenalen Liebe war eine große Lüge! Wir-Uns-Nie mehr sehen - Aus und vorbei! Herz und Seele sprachen nur eines: „Dich nicht mehr lieben, aus tiefstem Herzen, ist jeden Tag, jede Stunde und jede Sekunde wie ein kleines Sterben!“ Und ich verlangte in diesem Moment nur eins: zu sterben! heute? Jetzt ist es das, was soeben passiert war: „Es ist aus und vorbei. No Future, no Eternity.“ Achterbahn der Gefühle. Ich sah ihm nach. Er stieg in seinen Wagen, ließ den Motor an und fuhr äußerst langsam an meinem Fenster vorbei. Unsere Blicke trafen sich. Ich sehe es wie heute. Seine Seele, sein Herz und seine Augen kommunizierten eine andere Sprache. Er hasste den Abschied, genau wie ich. Aber er hatte keine Wahl. Das Ende einer phänomenalen Liebe war eine große Lüge! Wir-Uns-Nie mehr sehen - Aus und vorbei! Mein Herz und meine Seele sprachen nur eines: „Dich nicht mehr lieben, aus tiefstem Herzen, ist jeden Tag, jede Stunde und jede Sekunde wie ein kleines Sterben!“ Und ich verlangte in diesem Moment nur eins: zu sterben!

LEBENSAUTOBAHN

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