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Drachen-Express

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Nach Verlassen der Wohnung erspähe ich durch das Treppenhausfenster Herrn Bartsch im Hinterhof. Er ist der Nachbar von unten, der gemeinsam mit seiner Frau eine der zwei Parterre-Wohnungen bewohnt. Er steht mit dem Rücken zu mir während ich passiere.

„Nach weißer Weihnacht sieht das nicht aus, was?“, begrüße ich ihn.

Erschrocken fährt er herum. Seine Statur ist die eines pensionierten Beamten. Bauch, Hohlkreuz, stelzige Beine, die Arme hängen schlaff zur Seite herunter, spärliches Haar. Herr Bartsch erinnert mich in vielerlei Hinsicht an den Taubengucker aus meiner Kindheit. Der Taubengucker bog jeden Tag auf seinem Uralt-Drahtesel um die Ecke, guckte Löcher in den Himmel und fuhr dabei so langsam, dass er jeden Moment drohte zur Seite zu kippen. Wenn ich ihn auf Hochdeutsch mit der Tageszeit begrüßte, guckte er nur, dann guckte er wieder Löcher in den Himmel. Das ist jetzt fünfundzwanzig Jahre her und noch immer habe ich diese Wirkung auf Fremde, die der Höflichkeit mit Argwohn begegnen. Auch Herr Bartsch ist kein Mann vieler Worte und es hat drei Jahre gedauert bis wir mehr Worte als nur die Tageszeit wechselten. Er trägt im Haus den Ehren-Titel des Hausmeisters. In den kalten Wintern der letzten Jahre bahnte er, einer menschgewordenen Schneeraupe gleich, beständig und ausdauernd den Weg durch die Schneemassen. Ich wünschte, es gäbe auch dieses Jahr Schnee für Herrn Bartsch.

„Weihnachten fällt dieses Jahr aus“, verrät er und macht dabei traurig große Augen.

Seine Gesichtsfarbe ist kreideweiß. Die Stirn liegt in Falten. Sein Mund steht ihm

offen.

„Doch so ernst?“, flachse ich.

„Was sich da zusammenbraut, das haben wir noch nicht erlebt. Glauben Sie das? Die wollen doch tatsächlich vorzeitig den Bundestag auflösen. Und die Rede ist von einer neuen Form der Demokratie“, unterrichtet er mich.

Ich will gerade positiv von bahnbrechendem Neuanfang sprechen, da fliegt in dem Moment etwas tief und mit luftzerfetzendem Getöse über unsere Köpfe hinweg. Ich richte meinen Blick nach oben. Kann aber nichts sehen. Es klingt wie Rotoren. Von überall her erfüllt das Wummern den trichterförmigen Hof. Von oben drückt komprimierte Luft, mein Körper vibriert, ohrenbetäubender Lärm lähmt.

Herr Bartsch steht da, den Kopf im Nacken, der Mund geht auf und zu, ein bizarrer Glanz huscht ihm übers Gesicht. Und ich erwarte, dass er gleich von einem fremden Licht weggetragen wird.

Dann nehme ich die Umrisse, teilweise, wie in Zeitraffer, Rotorkreis, Unterboden, Heckrotor, von ein, zwei, drei Hubschraubern wahr. Sie fliegen Richtung Süd-Westen, nach Mitte. Die akustische Gewalt lässt nach. Das Wummern verhallt bis zu seiner sich entfernenden Ahnung. Einen Moment braucht das Echo im Hof noch, dann ist es abgeklungen.

„Was zur Hölle war das?“, rufe ich geradewegs heraus.

Herr Bartsch deutet dahin, wo die Kolonne sich hin verflogen hat, schaut zu mir, stochert deutend mit Zeigefinger in die Luft, schaut wieder zu mir, bekommt nicht gleich einen Ton raus, aber platzt schier vor Freude. „Das…das ist unsere Rettung! Das ist, wie sie es gesagt haben.“

„Wer? Ich? Was?“

„Im Staatsfernsehen, die Regierung, die geben nicht bei, halten fest, jetzt mobilisieren sie sich, rüsten sich zum letzten Gefecht. Das sind die Experten.

Von Tegel auf dem Weg zum Kanzleramt.“

„Aber Tegel ist doch geschlossen.“

„Ha! Nicht für unsere Eingreif-Elite. Jetzt schlagen sie zurück. Alles wird gut. Ach, bin ich froh! Das muss ich meiner Frau erzählen.“ Er rennt mit erhobenen Armen, die er immer wieder in die Luft stemmt, die Hände zu Fäusten geballt, davon und quiekt dabei vergnügt.

Ein glücklicher Junge, der stolz die frohe Kunde nach Hause trägt. Ich schau ihm amüsiert nach.

Wir waren auch glücklich, Katharina und ich, als wir vor fünf Jahren den Schritt zum radikalen Neuanfang wagten, die bürgerliche Idylle der Quadrate-Stadt Mannheim abstreiften, ausgezogen in der pulsierenden Metropole Berlin das Leben zu lernen. In Mannheim studierte Katharina an der Musikhochschule Tanz. Im Jahr 2004 lernten wir uns kennen. Sie absolvierte ihr Abschlussjahr zur klassischen Balletttänzerin. Ich war angehender Jurist und stand wenige Wochen vor meinem Examen. Und es war Zufall, ein glücklicher Moment, ein gewagter Schritt, dass wir aus so völlig verschiedenen fachlichen Welten überhaupt zusammenkamen, nachdem sie mir innerhalb kürzester Zeit das zweite Mal über den Weg gefahren war, sie auf ihrem pinken Damenrad, ich ihr daraufhin zunächst bis zum Bahnhof gefolgt war und, nachdem sie mit einem ICE Richtung Stuttgart davongefahren war, ich zwei ganze Din-A4-Rückseiten aufgelesener Werbeblätter der Bahn volltexte, darüber schrieb, wie ich heiße, wer ich bin, was ich mache und dass sie mir aufgefallen war und jetzt schon wieder und ihre Bewegung, ihr Gang, ihr Wesen von Grazie, Eleganz und Sinnlichkeit herrühren, dass, wenn sie kein Deutsch kann, ich auch Englisch spreche, hatte meine Handynummer, E-Mail und Anschrift hinterlassen und die Seiten gefaltet und in ihren Fahrradkorb gelegt.

Zwei Tage später, ich saß gerade im juristischen Repetitorium, bekam ich ihre SMS. Ich rief sie in der nächsten Pause an. Wir flirteten und verabredeten uns für abends im CafeO. Für Katharina war es Schicksal.

Für mich war es, was ich richtig gemacht habe im Leben. Es ist doch so: für Smileys, für die Versetzung, für das Abitur, für das Examen, für gute Noten, für sehr gute Noten, für summa cum laude, für das Auslandssemester, für den Doktortitel, für den MBA, für verhandlungssicheres Englisch und Russisch und Chinesisch, für Pluspunkte, für politisches Engagement, für soziales Engagement, für So-tun-als-ob, für einen Bürojob, für den Top-Job, für Einer-von-vielen, für die Karriereleiter, für Reputation, für Geld – für all das wissen wir frühzeitig zu lernen, uns zu messen, uns anzustrengen. Über die Liebe ist weithin nichts bekannt. Mit der Pubertät ist Liebe Porno. Später ist Liebe der Einfachheit wegen jemand von der Schule, der Uni, der Arbeit. Liebe ist Casual Sex. Liebe ist Bindungsangst. Liebe ist Angst vorm Alleinsein. Aber, wenn es darum geht, den einen richtigen Menschen zu treffen, den einen richtigen Moment abzupassen, sein eines Leben richtig zu leben – Fehlanzeige: „Sorry, aber das mussten wir in der Schule nicht auswendig lernen“.

Herr Bartschs spontaner Ausdruck von Freude hebt meine Stimmung. Das ist was wir brauchen, mehr frohe Momente. Frohe Weihnachten mal ganz anders

– wahrhaftig. Ich lasse es zu und halte es selbst für möglich, dass alles wieder so werden kann wie vor fünf Jahren. Beschwingt mache ich mich auf den Weg zur U-Bahn.

Was mir sofort um die nächste Ecke auffällt: Es ist was los auf der Reinickendorfer Straße. Verkehr wie üblich. Auf dem Gehweg begegne ich Passanten. Drei türkische Jugendliche, die sich am Fenster eines Ladens für Krimskrams ihre Nasen platt drücken. Zwei türkische Mütter, mit Kopftuch, Kinderwagen vor sich herschiebend, jeweils weitere Kinder, jeweils Junge und Mädchen, jeweils rechts und links. Ich gehe ganz außen. Ein untersetzter, bulliger Araber, breites Gesicht, kurz geschorenes Haar, zeitweise rechts und links schauend, wartend, ein Handy in der Hand, zweites Handy in der anderen Hand, drittes und viertes Handy in den Gesäßtaschen. Auf Höhe Weddingplatz stimmt ein Autokonvoi ein Hupkonzert auf die Freuden eines türkischen Hochzeitspaares an.

Als das Brautpaar vorbeifährt, kommt der Verkehr zum Erliegen. Bei heruntergelassenem Fenster schaut die Braut zu mir herüber. Sie lächelt verhalten, bewegt ihre schmale, in weiße Spitze getauchte Hand „queenlike“ mit zurückhaltender Geste.

„Gümrük ödenmis? (Zoll bezahlt?)“, rufe ich mit sichtbarem Schmunzler.

Doch das verunsichert die Braut nur noch mehr, woraufhin sie den Bräutigam konsultiert. Der streckt mit breitem Grinsen halbwegs seinen Kopf aus dem Fenster: „Ey, schon bezahlt, Mann.“

„Tebrikler! (Alles Gute!)“, sage ich noch, da setzt sich der Hochzeitskonvoi auch schon wieder in Bewegung.

Der Bräutigam streckt den Daumen in die Luft und taucht im Fond wieder ab. Kurz bevor ihr Wagen um die nächste Ecke verschwindet, schaut die Braut noch mal, winkt und zeigt dabei alle ihre hübschen Zähne.

Es kommen mir drei lange Deutsche in ihren Urban-Outdoor-Jacken entgegen, beim Vorbeigehen schnappe ich ihre Worte auf: „Clara…Date…geil“.

Ich denke mir nur: Clara, das Flittchen! Handwerker stehen am Imbissstand, das Tagespensum Bier anpeilend. Ich treffe auf die Müllerstraße. Es brummt, gurkt, Auspuffe rasseln. Auf den Stufen hinunter zum Bahnsteig U-Bahn „Reinickendorfer Straße“ kämpfe ich gegen einen starken Sog an, der mit Erreichen des Bahnsteigs spontan nachlässt. Der Blick auf die Anzeige kündigt den nächsten Zug in einer Minute an. Ich passiere eine Gruppe Straßenmusikanten, Roma, halten Geige, Akkordeon, Klarinette im Anschlag. Fast schon erreiche ich das andere Ende der Station, da fährt der Zug ein.

Im Zug herrscht eine gespenstische Atmosphäre, wie schon seit Tagen, Wochen. Seit dem Tag der Unruhe, als die Uhren schneller tickten, die Arbeit hastiger erledigt wurde, die Menschen sich nicht mehr ausreden ließen. Dann verstummten sie und sind fortan auf ihre technischen Geräte fixiert.

Hier im sprichwörtlichen Untergrund zeigt sich die Veränderung, der Wechsel vom Menschen zum User, deutlich. Ich kann durch den ganzen Zug schauen. Ein hundert Meter langer Tunnel. Wenn ich hineinschaue und der Zug schlängelt sich durch den Märkischen Boden Berlins, haucht es ihm Leben ein, wird zum Körper eines verwunschenen Drachen, dessen Schwanzende hin und her schlägt. Gezähmte Mobilität im Drachen-Express. Als Betriebsmittel hier und da eine Touristengruppe, französisches Baguette, spanischer Serrano-Schinken, italienische Pasta. Im Innern ist noch viel Platz. Der Drache muss in diesen Tagen auf Touristen verzichten. Stattdessen sitzen rechts und links die User. Sie sitzen nebeneinander, in Reih und Glied, ziehen sich wie vom Fließband bis zum Ende. Tragen voluminöse Kopfhörer auf den Ohren, verstöpselt mit ihren technischen Geräten, befinden sich im Tunnel, in Abwesenheit, im Zustand völliger Aufgabe der Teilhabe am Leben um sie herum. Wie willensfremd stehen manche auf, ohne Aufzuschauen, ohne Mienenspiel, ohne Gefühlsregung. Andere nehmen deren Platz ein.

„Somewhere Over The Rainbow“ dringt als sehnsuchtsvolle Interpretation gefühlvoller Geige, klangvoller Klarinette und wimmerndem Akkordeon aus der Tiefe des Körpers an mein Ohr. Die Straßenmusikanten spielen für sich.

Zwei Stationen später verlasse ich den Zug. Ich nehme den vorderen Ausgang, zwei Stufen auf einmal. Oben angekommen, stehe ich auf der Chausseestraße, Kreuzung Invalidenstraße. Am Café vorbei, um die Ecke, vorbei am Kiosk und ich bin da.

„Morgen!“, rufe ich, wie ich durch die Tür stiebe.

Das Büro liegt im ersten Stock eines Neubaus, hochgezogen allein für Gewerbe, in den Neunzehnhundertneunzigern New Economy, zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts Leerstand. Jetzt gemischt. Vor etwas mehr als zwanzig Jahren war das hier Ostberlin.

„Morgen“, erwidert mein Kollege kraftlos, während er bei offener Tür in seinem Büro sitzt und dabei nicht aufschaut. Er stiert auf seinen Flachbildschirm.

Ich gehe in mein Büro, das auf Seiten der Invalidenstraße liegt und reiße die Fenster auf. Ordentlich was los unten auf der Straße. Einen Moment lasse ich durchlüften, derweil statte ich meinem Kollegen einen Besuch ab.

„Sonst wer da?“, frage ich Lennart.

Anfang vierzig, seine Größe ist nicht sein Aushängeschild, surfblond gefärbtes, kurzes, zerzaustes Haar, gewollt „Out-of-bed-Look“, vom Beachvolleyball-Camp auf Mallorca erhaltene Sonnenbräune, gebleachte Zähne, Timberlands, Jeans, Funktions-Fleece-Pullover. Er schaut, antwortet aber nicht, sein Blick geht leicht an mir vorbei, sein Antlitz hellt sich etwas, er sucht davon abzulenken, dreht sich auf seinem Bürostuhl um die eigene Achse, klatscht in die Hände und zieht während seines Drehers die Worte nach sich: „Da sein ist relativ.“

In dem Moment halten mir zwei kalte Hände von hinten die Augen zu. Und eine übertrieben weiblich-laszive Stimme flüstert: „Also ich bin schon gekommen.“

„Bei deinen kalten Händen weiß ich, wo das Blut hin ist“, konter ich, greife meiner Kollegin an ihre Handgelenke und befreie mich.

„Hey, das ist ein anständiges Büro, nimmt bitte Rücksicht auf die, die hier arbeiten“, mischt Lennart mit.

„Ach, auf einmal“, neckt Meike zurück.

Sie bevorzugt für sich den Namen „Like“, Ende Zwanzig, groß, schlank, kurvig, langes brünettes Haar - ihr einziger Makel, wie sie selbst sagt.

„Leute, ich für mein Teil hab schon was getan. Heute Morgen habe ich einem Brautpaar auf altmodische wie moderne Art Freude bereitet, indem ich…“

„Sie gefickt hast und er durfte dabei zusehen. Ja, das mach ich auch gerne“, unterbricht mich Meike.

Ich signalisiere ihr mit zuschnappender Hand, dass sie die Klappe halten soll.

„Indem ich sie nach dem Wegezoll fragte.“

„Hä! Was ist das denn für ein Scheiß?“, kommt es von Meike.

Sie hat sich auf die Tischplatte von Lennarts Beratungstisch gesetzt, trägt eine superenge schwarze Röhrenjeans, dazu hohe Stiefel, die Schenkel gespreizt.

„Kennt ihr das nicht, okay, ich muss dazu sagen, es war eine türkische Hochzeit. Es hat Tradition das Brautpaar anzuhalten und ihnen Wegezoll abzuknöpfen. Das bringt Glück.“

„Fragt sich nur für wen. Bestimmt nicht für deren Geldbeutel“, kommentiert Meike trocken.

„Es geht um den Symbolgehalt, Tradition, Glaube“, versuche ich zu überzeugen.

„Hochzeit wird überbewertet“, sagt Lennart nur.

„Dito“, stimmt Meike dem zu. „Wisst ihr aber, was krass ist? Ich habe krass viele E-Mails von Kunden, die sich um ihr Geld sorgen. Ist das nicht geil?“

„Was ist daran gut?“, frage ich schnippisch wegen Übergehens meiner Geschichte.

„Na, keine Akquise heute, du Dummerchen. Die Kunden selbst servieren sich auf dem Silbertablett. Ich klapper die Kunden ab, erzähl ihnen sonst was und verkaufe ihnen, haltet euch fest, die Versicherung zur Versicherung.“

„Wie soll das gehen?“, frage ich noch immer angesäuert.

„Wenn sie keine Lebensversicherung haben, gibt’s die von mir und heißt dann 21.12.12-Verlustschutz-Versicherung. Wenn sie keine Berufsunfähigkeitsversicherung haben, gibt’s die von mir und heißt dann…?“ Sie guckt uns beide an, mit gespitzten Lipgloss-Lippen deutet sie die Antwort an, dabei kreisen ihre schlanken Hände vor und zurück auf Höhe ihrer Brüste, die sich unter einem hautengen schwarzen Rollkragen-Longsleeve abzeichnen, und was wie ein doppelter Anreiz anmutet. „Richtig, 21.12.12-Verlustschutz-Versicherung. Sehr gut, Jungs.“

Lennart und ich gucken einander an.

„Wenn sie keine Rechtsschutzversicherung haben, gibt’s die von mir und heißt…“

„21.12.12-Verlustschutz-Versicherung“, beenden wir im Chor.

Sie rutscht vom Tisch. „So, jetzt muss ich aber mal für Pussys“, unterrichtet sie uns, stolziert zwischen uns hindurch und verlässt das Zimmer.

„Heute Abend ist eine Like-Party“, verrät mir Lennart. Und wir stutzen über denselben Gedanken, doch Meike ist schon in der Toilette verschwunden.

„Motto-Party“, verbessert Lennart zur Vermeidung von Verwechslungen, „Multi

& Media lädt ein.“

„Was ist das Motto?“

Er wendet sich seinem Bildschirm zu, bewegt die Maus, klickt, schaut, klickt, scrollt, klickt. „Mach’s gut und danke für den Fisch“, liest er und lässt sich in seinem High-End-Bürostuhl energisch nach hinten fallen, die Sitzfläche passt sich seiner Bewegung an, die Füße heben ab und er hängt um fünfundvierzig Grad gekippt im Stuhl, bereit ins All geschossen zu werden.

„Das ist ein Buchtitel“, trotze ich der Situation, „von Douglas Adams.“

„Wer weiß, vielleicht kommt der auch!“, merkt er noch an, doch bereits geistig abwesend, konzentriert auf die Funktionalität seines Raketenstuhls.

Zehn, Neun, Acht. Der Countdown zählt bereits runter. Lennart rutscht auf dem Sitz hin und her.

Sieben, Sechs, Fünf. Er nimmt letzte Sitzkorrekturen vor, bedient die Armlehnen wie Schalttafeln.

Vier, Drei, Zwei. Er streckt die Beine in die Luft.

„Der ist tot!“, unterbreche ich seine Startphase in letzter Sekunde.

Lennart lässt ab von seinem gewagten Unterfangen, als erster Raumreisender mit eigenem Bürostuhl in die Geschichte der Raumfahrt einzugehen, kippt mit geübtem Schwups den Stuhl in die aufrechte Position, zupft sich seine Strähnen gerade, sitzt dann entspannt, zu mir gewandt: „Da hat er uns was voraus!“

Trotz der soeben gesehenen kuriosen Szene bleibe ich ernst.

„Aber du weißt schon, was ich von Multi & Media halte?“, frage ich ihn.

Lennart macht einen minimalen Hüpfer auf dem Stuhl, reißt die Arme in die Luft, lehnt sich nach hinten und guckt mich mit einem offen-zynischen „O“ an.

Unter Lennarts Führung hatte ich vor fünf Jahren als Versicherungsverkäufer angefangen. Viel mehr hatte es damals nicht gebraucht, glücklich zu sein. Katharina und ich fanden unser Zuhause in Berlin-Wedding.

Eine Altbauwohnung mit achtzig Quadratmetern, drei Zimmern, zwar mit Gas-Etagenheizung und ohne Balkon, dafür aber mit drei Meter vierzig hohen Decken, renoviertem Bad und neuer Küche, mit Kaminöfchen für gemütliche Stunden zu zweit und einer liebevollen alten Dame als Eigentümerin. Im Juni waren wir eingezogen, im November hatte ich den Job. Auch wenn der nicht meiner ersten Wahl entsprach, konnte ich der Arbeit für einen weltumspannenden Versicherungskonzern von Anfang an etwas Gutes abgewinnen. Er verschaffte mir Einblicke in die Finanzwelt. Schnell waren für mich Versicherungen die tragendenden Elemente eines, wie ich es nannte, Finanzwerkhauses. Das war mein Anspruch an die vernünftige Koexistenz von Mensch und Versicherung.

Dass die Realität von Konzernvorgabe, unerbittlichem Wachstum, Vertrieb und menschlicher Schwäche so weit entfernt der Wahrheit liegt, weiß ich erst heute. Doch wählerisch durfte ich nicht sein. Zu viele Absagen aus den Bereichen Beratung, Handel, Personal gaben mir zu verstehen, dass ich nicht gut genug war, dass ich mich in Schule, Universität und Freizeit nicht genug qualifiziert hatte, dass ich keiner von ihnen war. Die Fach- und Führungskräfte aus den jeweiligen Personalmanagements suchten verzweifelt nach sich selbst in meinem Lebenslauf. Doch sie überforderten sich beim Pressen meiner Persönlichkeit in ihren Schematismus. Ich war ihnen strikt zu unkonventionell. Mathematisches, künstlerisches Abitur, Militär, sportliche Auszeichnungen, absolviertes Jurastudium, zwei Jahre juristische Praxis, gescheitertes Anwaltsexamen, Auszeichnung als Projektleiter zur Umsetzung von kreativen Ideen, Neuanfang fern der Heimat, monogam, Zwilling. Nein! Die Damen und Herren griffen auf ihre auswendig gelernten, sozial-psychologischen methodischen Muster „Bekannt und Bewährt“ zurück, riskierten dabei gar nichts, schufen gar nichts, lebten gar nichts, so wie schon ihr ganzes Leben lang im ruhigen Fahrwasser schematisch korrekter Evaluierung. Das wäre in der seichten Form auch so weiter gegangen, wenn „Bekannt und Bewährt“ nicht für die Finanz- und Wirtschaftskrise gesorgt hätte.

„Ouuh“, dehnt Lennart an diesem Morgen mehr als sonst seinen Gesichtsausdruck.

„Was nur spricht für die Globalisierung der Welt außer Fortschritt? Dass sie zukunftsweisend ist? Alle Interessen zusammenführt? Einfachheit des Lebens bedeutet? Was habe ich vergessen?“

„Heterogenozid!“, sage ich.

Lennart erstarrt. Sein „O“ ist ihm gründlich aus dem Gesicht gewischt. Er prüft mit Blick zur Tür, ob auch niemand zuhört. Dann schaut er mich verständnislos, fast maßregelnd an, bewegt seine flache Hand horizontal zum Tisch bedächtig rauf und runter, signalisiert mir, dass ich mich besänftigen soll.

„Was redest du da? Das geht doch nicht! Weißt du, was du da redest?“ In seiner Stimme schwingt etwas besorgt Hysterisches mit, gleichzeitig versucht er die Situation verhaltend konspirativ zu meistern.

„Hilf mir auf die Sprünge!“, sage ich nur von ihm amüsiert.

„Wo hast du das her, das mit Heterogenozid?“, fragt er.

„Lennart! Dir geht’s doch nicht um eine bloße Wortfindung! Also warum erschreckt dich meine bloße Behauptung über…, über was sprechen wir…, einen weltumspannenden Ring von zweifelhaften Botschaften und leeren Versprechungen und Handel und Konsum?“

„Wir sprechen darüber, dass Mutter Teil davon ist. Damit sind wir auch Teil davon. Wie du dir vorstellen kannst, macht sich das deiner Karriere nicht gut, wenn du nicht Mutters Philosophie teilst.“

„Teilen, Teilen, Teilen!“, wiederhole ich, „nur, dass „teilen“ nichts mehr gemein hat mit seiner einstigen Bedeutung. „Teilen“ steht heute nur noch vordergründig für sozial, engagiert, interessiert. Aber nichts davon ist wahr! Tatsächlich spaltet sich die Persönlichkeit und verliert sich. Die Folge: Gemacht wird, was alle machen. Konsumiert wird, was alle konsumieren. Gedacht wird, was alles denken. Weißt du, wie man das nennt? Homogenität! Gleichschaltung! Hirntod! Gehen vielleicht diese Bezeichnungen konform mit der Unternehmensphilosophie? Werde ich damit zum Verkäufer des Monats? Scheiß drauf! Ich mach nicht mit beim Heterogenozid!“

Stille.

Wir hören Meike, wie sie den Moment aus der Damentoilette tritt. Sie pfeift die Filmmelodie von „Twisted Nerve“ von Roy Boulting, mit der Musik von Bernard Herrmann, besser bekannt auch aus „Kill Bill“ von Quentin Tarrantino. Ein hoher schriller Pfeifgesang. Sie tritt durch die Tür und hält inne, ihr Pfeifen erstirbt.

„Was ist hier los? Ihr werdet doch nicht gelauscht haben, wie ich in die Keramik geplätschert hab, oder?“

„Sag mal, Meike, sagt dir Heterogenozid etwas?“, stellt Lennart ihr ohne Umschweife die Frage.

„Äh, was? Hetero…? Also wenn ihr mich nach meinen sexuellen Vorlieben fragt, ich steh auf alles!“

„Nun, Meike, es gab vor nicht allzu langer Zeit ein dunkles Kapitel in der deutschen Geschichte“, holt Lennart aus. „Vor siebzig Jahren fand der Massenmord an den deutschen und europäischen Juden durch die Nationalsozialisten statt!“

„Ach so, Genozid, ja, jetzt weiß ich, was du meinst! Nein, das mag ich wiederum nicht.“

„Kannst du dir vorstellen, dass Multi & Media so etwas mit uns macht?“

Meike wechselt ihre Pose von leicht vorgebeugt mit engstehenden Beinen zu leichter Rückenlage mit rechtem Standbein, ihr rechter Arm in die Seite gestemmt. „Multi & Media sind Nazis?“, fragt sie skeptisch.

„Angenommen Multi & Media sind keine politisch motivierten Nazis“, führt Lennart aus. „Angenommen Multi & Media wollen nur die marktbeherrschende Stellung in der Welt in den Bereichen…Konsum. Würdest du sagen, das ist so etwas wie…“, er schaut zu mir, nickt dabei seine Wortwahl ab, sodass ich ihm mein Okay signalisieren möge - ich verdreh nur die Augen -, „…die Beseitigung…der Vielfalt…unserer persönlichen Vorlieben?“

„So ein Quatsch! In der Uni haben wir gelernt, dass alle Veränderung allein aus dem Konsumentenverhalten selbst resultiert. Sie entspricht dem Wunsch des Verbrauchers selbst. Noch nie zuvor konnte jeder auf alles jederzeit zugreifen.

Multi & Media dient als Abbild seiner selbst dem User allein.“

„Wann wurde der Begriff des Verbrauchers ersetzt durch den des Users?“, hake ich ein.

Meike dreht den Kopf zu mir und tadelt mich mit einem affektierten Augenaufschlag, als hätte ich zwei Erwachsene unterbrochen. „Was meinst du?“, ziert sie sich schwerfällig.

„In der Universität hast du den Begriff des Verbrauchers gelernt. Im Zusammenhang mit Multi & Media sprichst du von User. Wann fing das an mit der mittlerweile gebräuchlichen Verwendung des Users?“

„Was weiß ich. Das wird die offizielle Bezeichnung aller Member sein. Das hat sich durchgesetzt. Ist doch aber auch unwichtig.“

Platz genommen auf einem der Beratungsstühle, erhebe ich mich, beuge mich in Richtung Lennart und argumentiere messerscharf: „Für mich ist User ein deutliches Zeichen für eine um sich greifende Säuberung!“ Dann wende ich mich von ihm ab und begebe mich zur Tür.

„Warte!“, stoppt er mich. „Heute Abend ist wichtig. Ich weiß das aus gut unterrichteten Kreisen. Heute Abend gibt’s Antworten.“ Er sieht meinen fragenden Blick. „Antworten das Ende betreffend. Bist du dabei?“

„Mal sehen!“

Ich höre noch Meike, wie sie spitz fragt: „Wobei dabei?“

Ich schließe das noch offen stehende Fenster und beobachte, wie sich auf dem Parkplatz gegenüber eine zwielichtige Gestalt an einem Pritschenwagen zu schaffen macht. Ein Mann mittleren Alters, dürre Gestalt, Arme und Beine überproportional lang zum Oberkörper. Er schaut am Heck des Transporters unter die Plane, greift hinein, hängt mit ganzem Kopf drin, wühlt, zieht seinen Kopf wieder raus, schaut um sich, steckt seinen Kopf wieder hinein, wühlt, lässt davon ab, schaut um sich, geht um das Fahrzeug herum und prüft, ob die Führerkabine verschlossen ist. Sichtlich selbst überrascht kann er die Fahrertür öffnen.

Er durchstöbert fachmännisch die bewährten Plätze, wo für Gewöhnlich etwas zu finden sein wird. Derweil habe ich die unscheinbare graue Stahltür im Auge, die unweit des Geschehens in der Wand eingelassen ist. Im Gegensatz zu dem Dieb kann ich den Wagen zuordnen. Es ist das Betriebsauto der Mahallesi-Familie, die auf der Chausseestraße ein Restaurant betreibt, das über die besagte Stahltür einen Zugang zum Parkplatz hat.

Die graue Stahltür geht auf. In aller Ruhe schieben sich zwei dicke Brüder heraus. Der eine von den Dicken nähert sich der Fahrzeugkabine von links, der andere von rechts. Kurz bevor sie dicht dran sind, streckt der Dieb seinen Kopf heraus, kriegt entsprechend der Größe des Dicken einen riesen Schrecken, setzt sein dürres, aber flinkes Wesen ein, will auf der anderen Seite entwischen und stürzt in die Arme des anderen. Der packt zu und hält fest. Die Arme des Dicken agieren präzise wie mechanische Greifarme und wollen so gar nicht zum übrigen Korpus passen. Der schlaksige Körper, den die Klauen festhalten, windet sich versuchsweise, aber aussichtslos, ermüdet, schlafft ab und besinnt sich seines Schicksals.

Der Dicke zieht ihn vollends aus dem Auto und hält ihn wie einen abgerissenen Ast seitlich fixiert entlang seines gewaltigen Leibes. Der andere wandert derweil um den Wagen herum, kommt zu Hilfe, sodass beide den armen Wicht in deren Mitte wegtragen.

Unten drückt sich indessen unbeeindruckt und unentwegt der Verkehr durch die enge Straße.


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