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Erstes Kapitel Der Kirchspieldiener. – Die Kirchspielfeuerspritze. – Der Schulmeister.

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Wie viel ist nicht in dem einzigen kleinen Wörtchen »Kirchspiel« enthalten? Wie viele Geschichten von Kummer und Elend, von vernichtetem Glück und zu Grabe getragenen Hoffnungen, nicht selten aber auch von eisenstirniger Schuftigkeit und triumphirender Büberei knüpfen sich an dasselbe. Da ist ein armer Mann mit großer Familie, der nur geringen Verdienst hat, welcher gerade hinreicht, um von der Hand in den Mund, das heißt, von einem Tage zum andern zu leben; er kann nur so viel erwerben, um die Bedürfnisse des Augenblicks zu befriedigen, ohne im Stande zu sein, etwas für die Zukunft zurückzulegen; seine Steuern kommen in Rückstand; das erste Quartal geht vorüber; ein anderes kommt heran, er hat selbst nichts mehr zu leben – nun wird er vor das Kirchspiel berufen.

Seine Habseligkelten werden verkauft, seine Kinder jammern vor Kälte und Hunger, und das einzige Bett, auf dem sein krankes Weib darnieder liegt, wird unter ihr weggenommen. – Was kann er thun? An wen kann er sich um Hilfe wenden? Darf er die Unterstützung der Privaten angehen? sich an einzelne wohlthätige Personen wenden? Gewiß nicht, dafür ist sein Kirchspiel da.

Da ist die Kirchspiels-Verwaltung, das Kirchspiels-Spital, der Arzt, die Beamten und der Diener des Kirchspiels. Vortreffliche Einrichtungen und edle, liebreiche Menschen. Das Weib stirbt – sie wird auf Kosten des Kirchspiels beerdigt. Die Kinder haben keinen Beschützer – das Kirchspiel übernimmt die Sorge für sie. Der Mann vernachlässigt im Anfange seine Arbeit, am Ende kann er keine mehr bekommen – er erhält Unterstützung vom Kirchspiel; und wenn Elend und Trunkenheit ihr Werk an ihm völlig gethan haben, so ist endlich das Kirchspiels-Irrenhaus sein Ziel, das ihn als einen harmlos plappernden Blödsinnigen erhält.

Der Kirchspielsdiener oder Büttel ist eines der wichtigsten, vielleicht das wichtigste Mitglied der Gemeindeverwaltung. Er ist freilich weder so hoch gestellt, als die Kirchenvorsteher, noch so gelehrt, als der Kirchspielschreiber, auch steht es ihm nicht so vollständig zu, den Gang der Gemeinde-Angelegenheiten anzuordnen, wie einer von diesen; aber seine Macht ist nichts destoweniger sehr ansehnlich, und nie vergibt er seiner Seits der Würde seines Dienstes etwas, was dazu beitragen könnte, diese zu behaupten. Der Diener unseres Kirchspiels ist ein vortrefflicher Kerl. Es ist höchst ergötzlich ihm zuzuhören, wenn er an Sitzungsabenden den alten, tauben Weibern im Vorzimmer des Sitzungssaales die Armengesetze erklärt; wie er ihnen mittheilt, was er zu dem Kirchenältesten sagte, und was der Kirchenälteste zu ihm gesagt hat, und wie »wir« (nämlich der Büttel und die anderen Herren) endlich einen Beschluß gefaßt haben.

Ein elend aussehendes Weib, deren Aeußeres von der fürchterlichsten Noth zeugt, wird in das Sitzungszimmer berufen. Sie gibt an, daß sie eine Wittwe mit sechs kleinen Kindern sei. »Wo ist Eure Wohnung?« fragt einer der Kirchspielsaufseher. »Schon seit sechzehn Jahren wohne ich bei Herrn Brown, Nummer 3, König Wilhelmsgäßchen, zwei Treppen hoch nach hinten, meine Herrn: dieser kennt mich als sehr fleißig und unverdrossen, und wie mein Mann noch am Leben war, meine Herrn, der im Hospitale starb . . .« »Schon gut, schon gut,« unterbricht sie der Aufseher, indem er sich die Angabe notirt; »ich werde morgen früh Simmons, den Kirchspielsdiener, hinschicken, um sich zu erkundigen, ob Eure Angaben wahr sind; ist dem so, so werden wir Euch in das Armenhaus aufnehmen. – Simmons, gehen Sie morgen früh vor allem Andern in die Wohnung dieser Frau. Vergessen Sie's nicht.« Simmons nickt bejahend und führt das Weib ab. Die Ehrfurcht, welche ihr die Mitglieder der Kirchspielsversammlung eingeflößt, die alle hinter großen Büchern mit den Hüten auf dem Kopfe dasitzen, löst sich dem Respekte vor ihrem mit Borten geschmückten Begleiter gegenüber in Nichts auf; und ihre Erzählung von dem, was im Sitzungssaale vorgekommen, erhöht – wenn es je noch möglich ist – die hohe Achtung, welche diesem ausgezeichneten Bediensteten von den anwesenden Armen erwiesen wird.

Es wäre aber auch rein unmöglich, einen Auftrag im Namen des Kirchspiels gleich Simmons zu besorgen. Er weiß alle Titel des Lordmajors auswendig, richtet seine Aufträge aus, ohne nur einmal zu stottern, ja man will sogar wissen, daß er sich einst einen Scherz mit ihm erlaubt habe, der, wie des Lordmajors erster Kammerdiener (welcher zufällig zugegen gewesen) nachher einem genauen Freund im Vertrauen mittheilte, fast einem Scherze des Herrn Hobler gleichkam.

Man muß ihn aber vollends Sonntags in seinem Staatskleide, mit seinem dreieckigen Hute auf dem Kopfe, den Staatsstock mit einem großen Knopfe in seiner Linken und ein kleines spanisches Rohr zum Gebrauche in seiner Rechten sehen.

Wie feierlich er die Kinder an ihre Plätze weist; mit welch' scheuer Ehrfurcht die kleinen Knirpse nach ihm blicken, wenn er sie, nachdem Alle sitzen, mit einer Amtsmiene überschaut, die nur Kirchspielsdienern eigen ist. Haben die Kirchenvorsteher und Aufseher nach der Ordnung in ihren verhängten Kirchenstühlen Platz genommen, so nimmt auch er seinen eigenen für ihn bestimmten Mahagonisitz, ganz oben im Kirchgange, ein, und theilt seine Aufmerksamkeit zwischen seinem Gebetbuche und den Knaben.

Plötzlich, gerade beim Anfange des Gottesdienstes, während die ganze Versammlung in tiefes Schweigen versunken ist, das blos durch die Stimme des Geistlichen unterbrochen wird, hört man an dem Platze der Kinder mit weit sich verbreitendem Klange einen Penny auf das steinerne Pflaster des Kirchganges fallen. Alles sieht auf den Büttel. Unfreiwillig drückt er einigen Schrecken aus, zeigt aber im Augenblick eine so vollkommene Gleichgültigkeit, als wenn er die einzige Person wäre, die den Klang nicht gehört hätte. Die List gelingt. Der Schuldige, der die Münze hat fallen lassen, fühlt bald mit dem rechten bald mit dem linken Fuß darnach, und wagt es dann sogar, sich ein paar Mal nach ihr zu bücken; der Kirchspielsdiener aber hat sich inzwischen leise näher geschlichen, und so wie der kleine runde Kopf wieder über den Sitzen emporkommt, begrüßt er ihn etwas unsanft mit dem vorbesagten spanischen Rohre, zum ausnehmenden Vergnügen dreier jungen Leute, die in einem Kirchenstuhle in der Nähe sitzen und bis zum Ende der Predigt hie und da von einem heftigen Husten befallen werden.

Dieß sind einige wenige Züge von der Wichtigkeit und dem Ernste eines Kirchspielsdieners – ein Ernst, von dem er sich, so viel wir haben beobachten können, nie und unter keinen Umständen trennt, den einzigen Fall ausgenommen, wenn die Dienste jener besonders nützlichen Maschine, der Kirchspielsfeuerspritze, in Anspruch genommen werden. Dann hört man freilich nichts, als einen rührigen tollen Lärm. Ein paar kleine Knaben laufen, so schnell als sie ihre Füße tragen können, zum Kirchspielsdiener und hinterbringen ihm, daß sie selbst einen benachbarten Schornstein hätten brennen sehen. Die Feuerspritze wird nun schleunig hervorgezogen, eine hinreichende Menge von Knaben herbeigeholt, mit Stricken vor die Spritze gespannt, und fort rasselt diese über das Pflaster. Der Kirchspielsdiener rennt – wir übertreiben nicht – rennt athemlos neben her, bis man vor einem stark nach Ruß riechenden Hause anlangt, an dessen Thüre der Würdenträger mit unabweichlichem Ernste eine halbe Stunde lang klopft. Wenn die Hausbewohner diesen Manipulationen keine Aufmerksamkeit schenken, so wird Wasser herbeigeschafft, die Spritze gegen das Haus gerichtet, und nachdem sie eine hinreichende Menge Wasser ausgeworfen, unter dem Lärmen der Knaben wieder nach dem Armenarbeitshause gezogen. Der Büttel aber »zieht« des andern Tags nach der Wohnung des unglücklichen Mannes, und fordert den Betrag seiner gesetzlichen Belohnung. Wir haben nur ein einzigesmal eine Kirchspielsfeuerspritze bei einem wirklichen Brande gesehen. Sie rasselte mit einer Schnelligkeit von drei und einer halben Meile in der Stunde heran. An Wasser fehlte es nicht, und sie war die erste auf dem Platze. Die Pumpen arbeiteten Schlag auf Schlag – das Volk schrie erschrecklich – der Kirchspielsdiener troff von Schweiße; allein, als man eben das Feuer zu bewältigen dachte, machte man unglückseliger Weise die Entdeckung, daß sich Niemand auf das Füllen der Feuerspritze verstand – ein Umstand, welchem es zuzuschreiben war, daß sich achtzehn Knaben und ein Mann zwanzig Minuten lang im Pumpen erschöpft hatten, ohne nur die geringste Wirkung hervorzubringen.

Die Nächsten im Ansehen nach dem Kirchspielsdiener sind der Hausmeister des Armenhauses und der Schulmeister des Kirchspiels. Der Kirchspielschreiber ist, wie Jedermann weiß, ein kurzes, dickes Männchen, schwarz gekleidet, mit einer dicken goldenen Uhrkette von ansehnlicher Länge, an der zwei große Petschafte und ein Uhrschlüssel hängen. Er ist ein Rechtsgelehrter und gewöhnlich sehr geschäftig, doch nie mehr, als wenn er seine Handschuhe in der einen Hand zusammenwickelt und ein großes rothes Buch unter dem andern Arm zu einem Parochialgeschäft eilt. Was die Kirchenvorsteher und Aufseher anbelangt, so übergehen wir sie mit einander, weil wir Alle von ihnen wissen, daß sie in der Regel achtungswerthe Gewerbsleute sind, Hüte mit flachem Rande tragen, und gelegentlich merkwürdige Vorfälle der Kirche, wie z. B. das wichtige Ereigniß, daß eine Emporkirche vergrößert oder verschönert, oder eine Orgel neu gebaut wurde, mit goldenen Buchstaben auf blauem Grunde, an leicht in die Augen fallenden Stellen verewigen.

Der Hausmeister in unserem Kirchspiele – wie wohl auch in den meisten andern – gehört nicht zu jener Klasse von Menschen, die bessere Tage gesehen und sich mit dem, was davon übrig geblieben, in untergeordneter Lage hinschleppen, während ihnen gerade genug Erinnerung an die Vergangenheit bleibt, um sich gedemüthigt zu fühlen und mit der Gegenwart unzufrieden zu sein. Wir sind selbst nicht genau überzeugt, welchen Stand der Mensch früher eingenommen hat; doch glauben wir, daß er eine untergeordnete Art von Schreiber bei einem Advokaten war, oder etwa auch Lehrer bei einer Nationalschule: was er übrigens auch gewesen sein mag, so viel ist klar, daß seine gegenwärtige Stellung eine Verbesserung zu seinen Gunsten war. Sein Einkommen ist allerdings klein, wie der abgeschabte schwarze Rock und der abgetragene Sammetkragen darthun; allein er darf doch keine Hausmiethe bezahlen, erhält ein beschränktes Quantum von Kohlen und Licht, und eine unbeschränkte Autorität in seinem kleinen Königreiche. Er ist ein großer, hagerer Mann, trägt stets Schuhe und schwarze wollene Strümpfe zu seinem Oberrocke, und blickt Jeden, der an dem Fenster seines Wohnzimmers vorübergeht, an, gerade als ob er wünschte, daß er ein Kirchspielsarmer wäre, um ihn seine Macht fühlen zu lassen. Er ist das klare Muster eines kleinen Tyrannen – wunderlich, grob und übellaunig gegen seine Untergebenen, kriechend gegen seine Vorgesetzten, und eifersüchtig auf des Kirchspielsdieners Ansehen und Einfluß.

Unser Schulmeister ist gerade das Gegenstück dieses liebenswürdigen Würdenträgers. Es ist einer von jenen Menschen gewesen, von denen man zuweilen hört, daß auf sie das Mißgeschick sein besonderes Augenmerk gerichtet zu haben scheint, weil nichts, was er auch immer thun mochte, oder wobei er betheiligt war, gelingen wollte. Ein reicher alter Verwandter, der ihn erzogen und öffentlich seine Absicht ausgesprochen hatte, für ihn zu sorgen, vermachte ihm in seinem letzten Willen 10,000 Pfund, und widerrief diese Verfügung durch ein Codicill. Auf solche Weise unerwartet in die Nothwendigkeit versetzt, für sich selbst sorgen zu müssen, verschaffte er sich eine Anstellung im öffentlichen Dienste. Die jüngeren Angestellten, die er hinter sich hatte, starben, als wenn die Pest unter ihnen gewüthet hätte; aber die ältern vor ihm, auf deren Tod er sehnsüchtig wartete, blieben fort und fort am Leben, als ob sie unsterblich wären. Er spekulirte und verlor. Er spekulirte abermals und gewann, aber er gelangte nie zu seinem Gelde. Seine Talente waren ansehnlich, seine Gemüthsart liebreich, edel und freigebig. Seine Freunde benützten das Eine und mißbrauchten das Andere. Verlust folgte auf Verlust; Unglück häufte sich auf Unglück; jeder neue Tag brachte ihn in größere Noth, und die ehemaligen Freunde, welche gerade die wärmsten waren, so lange er etwas zu geben hatte, zeigten sich befremdend kalt und teilnahmslos, als nichts mehr von ihm zu erlangen war. Er hatte Kinder, die er liebte, und eine Gattin, die er anbetete; die ersten wandten ihm den Rücken zu, die Letztere starb gebrochenen Herzens. Er ließ sich von dem Strome fortreißen – es war von jeher sein Fehler gewesen, und er besaß nicht Muth genug, gegen so viele Stürme anzukämpfen – er hatte nie für sich selbst gesorgt, das einzige Wesen, das ihn in Armuth und Elend gepflegt, war ihm entrissen. Er war nun genöthigt, um die Unterstützung des Kirchspiels nachzusuchen. Einige edelherzige Männer, die ihn in besseren Zeiten gekannt hatten, waren gerade dieses Jahr zu Kirchenvorstehern gewählt worden, und auf ihre Verwendung erhielt er seine gegenwärtige Stelle.

Er ist nunmehr ein alter Mann geworden. Von den Vielen, die sich einst mit all' der hohlen Freundschaft einer so betitelten guten Kameradschaft um ihn drängten, sind einige gestorben, andere gleich ihm gefallen, wieder andere glücklich geworden – vergessen haben ihn Alle. Zeit und Unglück haben glücklicher Weise dazu beigetragen, sein Gedächtniß zu schwächen, und durch Gewohnheit ist ihm seine gegenwärtige Lage erträglich geworden. – Sanftmüthig, unverdrossen und eifrig in der Erfüllung seiner Pflichten, wie er ist, hat man ihm gestattet, lange über die gewöhnliche Altersperiode in seinem Amte zu bleiben, und es ist nicht zu zweifeln, daß er darin ausdauern wird, bis Gebrechlichkeit ihn dazu unfähig macht, oder der Tod ihn davon erlöst. Wenn der alte Mann mit seinem grauen Haupte auf der Sonnenseite seines kleinen Hofraumes zwischen den Schulstunden schwankenden Schrittes auf- und abgeht, dann würde es selbst den Vertrautesten seiner ehemaligen Freunde schwer werden, in der Person des Armenschulmeisters den einst so muntern und glücklichen Gefährten ihrer Lustbarkeiten wieder zu erkennen.

Skizzen aus dem Londoner Alltag

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