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Die Macht der Schlafenden

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Ein akademischer Nichtsnutz, ein Müßiggänger, ein eckiger Bolzen, der mit den amorphen Rundungen seiner Welt nicht zurecht kam. Ein Laberkopf, ein Unpünktlicher. Er kehrte Laub auf dem Friedhof. Er verkaufte fettglänzende Leberkässemmeln an übergewichtige Kinder. Er brachte gehbehinderten Großmüttern ihre Fertigmahlzeiten. Doch seine Zeit verging in Schüben, neckte ihn, schlich sich hinterrücks davon, ließ sich nicht einfangen, und dann war er schon wieder zu spät, obwohl er genau wusste, dass es ungehobelt war, einsame alte Damen warten zu lassen.

Milton Meier war zweiundvierzig. Der Ernst des Lebens hatte sich bis heute nicht bei ihm gezeigt. Einstige Gespielinnen heirateten andere Männer. Seine Freunde hatten anspruchsvolle Jobs, urlaubten in streng gestalteten Familienhotels und trafen sich regelmäßig mit ihren Golfpartnern. Milton beantwortete Werbeanrufe und las bunte Reklamebriefe. Die Fast-Food-Restaurants, in denen er aß, waren ebenfalls bunt, mit prahlerisch direkten Farbfotos anstelle von Speisekarten. Das Internet steckte voller leuchtender Bilder, die sich entfalteten, sobald seine elektronische Hand ein Symbol berührte. Selbst die fordernden Briefe vom Arbeitsamt waren von ihrem früheren Beamten-Graugrün abgekommen und mitleidslos knallig geworden.

Morgens lag Milton lange im Bett und redete mit den Astlöchern auf den Holzpaneelen seiner Zimmerdecke. Sie waren seine Mitbewohner, er mochte sie, erzählte Anekdoten und rätselte mit ihnen, was der Sinn seines Lebens sein könnte. Das runde Loch oben sah aus wie ein Puttenkopf, er nannte es Albert Einstein. Das längliche mit dem dunklen Punkt in der Mitte hieß Richard Dawkins und die Hundeschnauze mit der leuchtenden Nase Charles Darwin. Das kleine tiefschwarze Loch ganz links war die Unendlichkeit. Eine Zeit, in der niemand zu spät kam.

Vor zwei Jahren arbeitete Milton als Hausmeister im Feuerwehrmuseum. In der ehemaligen Schlosstorkel standen etwa fünfzehn Spritzenwagen aus anderthalb Jahrhunderten so eng beieinander, dass ein interessierter Besucher kaum genügend Abstand erreichte, um die goldenen Schriften auf den Seiten der Fahrzeuge zu lesen. Der älteste Wagen aus dem Jahr 1858 glich einer Kanone. Der neueste war ein Kübelwagen mit aufgerollten Schläuchen, der den Zweiten Weltkrieg unversehrt überstanden hatte. Im Stockwerk darüber lagen Helme hinter Glas. Einige waren mit brennbaren Federpuscheln bestückt; sie hatten den ranghöchsten Feuerwehrleuten gehört, samt dem Privileg, ihren Untergebenen aus sicherer Entfernung bei den Löscharbeiten zuzusehen. Ein anderer Helm war praktischer, mit dem sogenannten Ziegelspalter aus Stahl, der vertikal nach oben stand wie ein Hahnenkamm.

Es gab auch Uniformen. Eine stammte aus dem Jahr 1944. Sie hing an einem Bügel hinter den Vitrinen, blau mit roten Paspeln, Blechknöpfen und Hakenkreuz am Gürtel. Milton hatte sich gefragt, ob solche Klamotten wohl für die allgemeine Verblendung mitverantwortlich gewesen waren und ob man heute noch etwas davon spüren würde, eine verborgene Schwingung, die sich von der Uniform auf den darin steckenden Menschen übertragen und mörderisches Tun auslösen konnte. Nachdem sich Milton einmal aus Neugier in den kratzigen Anzug hineingewunden hatte, spürte er brennende Verlegenheit. Die Hosenbeine waren unten zu eng. Der Reißverschluss ging nicht zu. Die Jacke war so knapp geschnitten, dass sie ihm die Schultern nach oben zog. Nur der Gürtel ließ sich schließen. Ein Museumsbesucher hörte lautes Schnaufen, spähte durch den Raum und entdeckte einen schwitzenden Feuerwehr-Nazi mit offenem Hosenstall, der mit seiner Uniformjacke kämpfte und sich beinah selbst strangulierte. Gerade noch rechtzeitig gelang es dem Besucher, Milton mit einem kräftigen Ruck aus dem kompromittierenden Kostüm zu befreien. Ein Ärmel riss, es knackte in Miltons Ohren. Als er wieder etwas sehen konnte, nahm er seinen Helfer wahr, einen rosigen älteren Herrn im Trenchcoat, der ihn vorwurfsvoll anblickte und die derangierte Uniformjacke am ausgestreckten Arm weit von sich hielt.

Nach diesem Auftritt war es kaum einzusehen, dass Milton seinen Hausmeisterjob behielt. Immerhin gab es genügend andere, die für Arbeit jeglicher Art dankbar waren und bereit, sich mit Herz und Hand einzusetzen. Das erklärte ihm der Museumsdirektor beim Entlassungsgespräch. Miltons Retter erstattete Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses und beklagte Miltons fehlende Achtung vor historischen Exponaten. Als die Polizei vor Miltons Wohnungstür stand, hatte der längst begriffen, dass es besser war, sich von Einheitskleidung fernzuhalten.

„Was wollten Sie mit der Uniform? Offen für rechtes Gedankengut?“

„Ich dachte bloß …“ Vor allem dachte Milton an seine unaufgeräumte Bude, in der die exakte Geradlinigkeit der vor ihm wartenden Polizeikluft deplatziert gewesen wäre.

„Sie hätten sich schon vor zwei Wochen bei uns auf dem Revier melden sollen. Haben Sie einen Anwalt?“

„Der Stoff“, sagte Milton. „Es war Worsted Tweed. Das ist interessant. Den trugen damals nur die Engländer.“

Der Polizist war noch jung, seine Kollegin besaß einen Vorbau, der sich aufrichtig gegen ihre unnachgiebige Jacke stemmte, und einen hellen Pferdeschwanz aus freundlichen großen Locken. Wieso eigentlich landeten vor allem die molligen Mädels beim Polizeidienst – diejenigen, deren Kurven sich mit dem straffen Schnitt der Uniform so gar nicht vertrugen? War es Masochismus? War es der Wunsch, einen schweren Frauenkörper in eine stromlinienförmige Waffe zu verwandeln? Oder stand etwa, wie bei Milton selbst, das Verlangen dahinter, die Autorität zu spüren, die solch strenges Material seinem Träger vermittelte? Dann müsste sie ihn eigentlich verstehen.

„Kenne ich nicht“, sagte der Polizist.

„Die deutschen Uniformen wurden damals aus Drillich gemacht“, erklärte Milton. „Drillich ist sehr robust. Die engmaschige Gewebestruktur kann bis zu zwanzigtausend Reiberunden aushalten, ohne auch nur zu pillen. Die engen Maschen bewirken allerdings auch noch etwas anderes.“

Die Polizistin griff sich mit beiden Händen in den Pferdeschwanz und riss ihn mit einem Ruck auseinander.

„Sie bewirken, dass sich das Material zunehmend steifer anfühlt“, fuhr Milton fort. „Vor allem Feuchtigkeit bringt die Fäden dazu, sich noch enger zusammenzuziehen. Drei Wochen Dienst im Nebel oder ein versehentlicher Guss aus der Feuerwehrspritze und schon ist der Stoff hart wie ein Brett.“

„Ah ja“, bemerkte die Polizistin mit aufkeimender Einfühlungskraft. „Das ist sicher unbequem.“

„Heute haben Sie diese Uniformen aus Chinotwill“, sagte Milton. „Seien Sie froh und dankbar.“

Auf dem beigefarbenen Oberschenkel des männlichen Polizisten entdeckte er Überreste fetter Bratensoße, dicht und dreidimensional wie ein abgestorbenes Stück Hornhaut.

„Bis zu einem gewissen Grad sind solche Hosen wasser- und fleckabweisend.“ Milton bückte sich und schabte den Fettrest von der Bügelfalte des Polizisten. „Hier.“

Auf der Hose war jetzt nur noch ein blasser Punkt zu erkennen. Milton präsentierte dem Polizisten den Fettpopel auf dem Handteller. „Ihr Stoff kann das ab. Selbst ein deftiges Mittagessen in der Polizeikantine, wo immer mal was daneben geht, hinterlässt keinen bleibenden Schaden.“

Der Polizist fegte Miltons Hand beiseite und stieß ihn mit dem Rücken gegen den Türrahmen. „Sie haben uns immer noch nicht gesagt, was Sie mit dieser Uniform wollten.“

„Zacharias“, mahnte seine Kollegin. „Keine Gewalt.“

Milton rieb sich die Schulter, die mit dem Schlüsselkasten kollidiert war. „Ich weiß ja nicht, worauf Sie so stehen. Latex? Gummi? Silikon? Merino? Oder doch lieber Ihre Twill-Hosen? Schließlich sind Sie ein Schutzmann, oder? Jeder hat seinen Fetisch, obwohl das viele nicht mal wissen. Bei mir ist es der Worsted Tweed. Ich konnte einfach nicht anders.“

„Sie konnten nicht anders als sich als Nazi zu verkleiden?“ Der Polizist Zacharias rang sichtlich um Selbstbeherrschung.

„Irgend jemandem bei der Feuerwehr muss es damals ähnlich gegangen sein“, sagte Milton. „Sonst hätte er die Klamotten ja aus Drillich machen lassen. Wie die ganzen anderen deutschen Uniformen auch.“

Die Wangen des Polizisten Zacharias ließen sich in sympathische Falten legen, sobald er lächelte, doch das Lächeln war ihm vergangen. Er glotzte Milton nur noch an, verständnislos, wie ein Fisch.

„Vielleicht hatten sie ja kein Drillich mehr“, flötete die Polizistin hilfsbereit dazwischen.

„Ach ja.“ Milton nickte. „Das Ende des Krieges. Die Befreier hatten bereits alle Ebenen unterwandert. Der Worsted Tweed war nur der Anfang. Dann kamen die Jeans und heute also diese Chinotwill-Hosen. Ich möchte wetten, die sind irgendwo in Asien hergestellt worden. Von putzigen unterernährten Kleinkindern mit braunen Augen. Ich an Ihrer Stelle würde mich schämen, so etwas zu tragen.“

Die Faust des Polizisten knallte gegen Miltons Nase. Mit dem Rücken zum Türrahmen ging Milton zu Boden.

Verständlicherweise betrachtete er sein unsicheres Expertentum mit Misstrauen. Es ging darum, im richtigen Moment den Mund zu halten. Da aber Milton wenig Gefühl für unregelmäßige Zeitverläufe besaß, wusste er auch nicht, wie sie sich zum eigenen Vorteil nutzen ließen. Der Sinn für fremde Rhythmen fehlte ihm. Die Synchronisation mit anderen Menschen blieb unvollständig, bruchstückhaft. Es fiel ihm oft schwer zu begreifen, was die Leute von ihm wollten. Sobald er die Botschaften anderer zu ergründen versuchte, wurde er in Gespräche verwickelt, aus denen er nur schwer wieder herausfand. Er gab immer zu viel oder zu wenig von sich preis. Und zum Schluss überwog das Gefühl, sinnlos Zeit vergeudet und sich dabei selbst gedemütigt zu haben.

„Irgendwann wird dir jemand einen Nagel durchs Hirn jagen, nur damit du endlich still bist“, prophezeite seine Schwester später, während sie ihm mit einem Wattebausch die blutende Nase abtupfte. „Du wirst enden wie Sisera im alten Testament. Der war wahrscheinlich ein großer Prediger. Genau wie du.“

„Sisera war kein Prediger, sondern ein Tyrann“, entgegnete Milton. „Ein Unterjocher der Israeliten. Außerdem hat er dabei geschlafen.“

„Aber bis dahin werden sich noch viele sensible Gemüter über deine Worte ärgern.“ Sie hatte gar nicht zugehört. „Ich frage mich, wie du das immer machst.“

„Ich mache gar nichts“, sagte Milton. „Ich will bloß meine Ruhe.“

Es stimmte, Sisera hatte geschlafen, als ihm Jael ihren Nagel durch den Kopf trieb. Ganz offenbar wollte er sterben. Seit seiner Kindheit bildete sich Milton ein, dass Schlafende eine geheime Macht ausübten. Als ganz kleiner Junge war er oft als erster aufgewacht und hatte dann seine schlafende Schwester beobachtet. Er verfolgte das leichte Auf und Ab ihres Atems im Stockbett unter ihm, lauschte ihren Geräuschen, die sich mit den Geräuschen im Haus und draußen auf der Straße zu einem Klangnetz verwoben. Das Quietschen der Straßenbahn, das Scheppern eines Mülleimerdeckels, das Gejohle von Schulkindern, das Ah! Ah! Ah! der Nachbarin störte die Menschen in ihrem Schlaf nicht, vielmehr schien es von ihnen auszugehen. Die Schlafenden waren der Mittelpunkt des Geschehens; sie bestimmten, in welcher Lautstärke und in welchem Rhythmus der kommende Tag heranschreiten sollte. Alles, was ihnen im Schlaf zustieß, hatten sie so geplant. Milton bewunderte die Kunst der Schlafenden, sich mühelos und selbstverständlich zum wichtigsten Teil der Welt zu erheben. Ein paradiesischer Zustand, der nur eine einzige Konsequenz erlaubte.

Im Alter von zwölf Jahren wurde Milton Langschläfer. Von da an war er für sein Schicksal selbst verantwortlich.

Ring der Narren

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