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Antikmarkt

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Antikmarkt – heute war wieder so ein Tag, an dem es sich lohnte, aufzustehen, sich zu recht zu machen, heute war wieder ein Tag, an dem sie etwas vorhatte. Sie konnte planen, überlegen wie sie dorthin kommen könnte, sie hatte ein Ziel.

Sie machte sich Gedanken über ihre Kleidung, an solchen Tagen zog sie nicht einfach das Nächstliegende an, an solchen Tagen wollte sie gefallen. Sonst war es ihr egal, wie sie aussah, es kam ja sowieso keiner vorbei und sie ging nirgendwohin, nur mal eben zu Aldi, um das Nötigste einzukaufen. Bei Aldi sieht keiner den anderen an, alle haben nur das Ziel möglichst schnell und billig einzukaufen. Aber auf den Antikmärkten war es anders, man konnte sich schöne Dinge zeigen lassen, sie lange ansehen, in der Hand halten, sie hin und her drehen, man konnte sich dabei vorstellen, diese Dinge zu besitzen. Der Verkäufer stand nicht nur wortlos da, er unterhielt sich mit den Kunden, er zeigte ihnen alles, das war umso vieles persönlicher und deswegen legte sie an diesen Tagen Wert auf ihr Äußeres.

Sie beschloss ihr kleines, kariertes Röckchen anzuziehen, das war das beste Stück in ihrer Garderobe. Sie wusste sehr wohl, dass dieser Rock ein wenig zu kurz war, sie hatte jedoch keine andere Wahl, sie hatte wirklich nichts Besseres. Ihre Garderobe war ziemlich trostlos, im Sommer fiel sie damit nicht so sehr auf, aber im Winter, wenn alle ihre dicken Pelzmäntel hervorholten, dann sah ihr fadenscheiniges Mäntelchen ziemlich armselig aus. Sie zog das karierte Röckchen an und dazu die etwas eng gewordene braune Weste, die auch schon bessere Tage gesehen hatte. Die Haare wusch sie sorgfältig, heute gönnte sie sich eine kleine Spülung, dann sahen die Haare besser, gepflegter aus und standen nicht so wirr vom Kopf ab.

Gleich nach dem Frühstück wollte sie losgehen, der Eintritt musste sich lohnen. Sie packte die vorbereitete Stulle ein, füllte die Wasserflasche mit frischem Leitungswasser und los ging es.

Sie hatte sich viel Mühe mit der Auswahl der Antikmärkte gemacht, die sie regelmäßig aufsuchen wollte. Sie hatte nacheinander alle besucht, manche sofort gestrichen, einige ein paar Mal aufgesucht, sich zu Hause immer sorgfältig Notizen gemacht, die Vor – und Nachteile genau beschrieben und nach langer Vorarbeit sich entschlossen nur noch die Märke in den beiden größten Einkaufszentren der Stadt zu besuchen. Es war eine schöne Zeit gewesen, als sie mit dieser Auswahl beschäftigt war, es war ein so befriedigendes Gefühl, etwas getan zu haben. Sie fühlte sich fast so glücklich, wie an den seltenen Tagen in der Firma, wenn sie von der Gruppenleiterin der Buchhaltung für ordentliche Arbeit gelobt worden war.

Sie konnte nicht auf alle Märkte der Stadt gehen, dazu reichten ihre Mittel nicht aus, auch wenn sie nie etwas kaufte. Außerdem war sie der festen Meinung, zu häufige Besuche würden ihre Freude im Lauf der Zeit schmälern. So hatte sie 8 Sonntage im Jahr, auf die sich freuen konnte und den Besuch dieser Antikmärkte konnte sie auch in aller Ruhe vorbereiten.

Diese beiden Orte hatte sie letztendlich ausgewählt, weil dort die Leute überwiegend freundlich und selten ungeduldig waren. Hier konnte sie ziemlich sicher sein, nicht beschimpft zu werde weil sie immer so lange für ihre Entscheidung brauchte und dann doch immer unverrichteter Dinge wieder ging. Auf den anderen Märkten die sie alle getestet hatte, war es schon mal passiert, dass sie von den Ständen mit lauten Beschimpfungen vertrieben worden war.

Sie dachte daran, als sie das erste Mal auf einem Antikmarkt gewesen war, sie war zufällig dort hineingeraten. Auf einem ihrer einsamen Sonntagsspaziergänge an der Alster war sie von einem heftigen Gewitter überrascht worden. Vor Gewittern hatte sie schon immer panische Angst gehabt und von der Angst getrieben ist sie in das große, weiße Hotel hineingegangen. Sie hatte damals voller Staunen diese große Hotelhalle betrachtet, die Menschen, die sich dort wie selbstverständlich bewegten, sie konnte sich gar nicht satt sehen und ließ sich einfach ein wenig mit den Hotelgästen mittreiben. In einem Flügel des Hotels war gerade ein Antikmarkt und damals hatte sie zum ersten Mal diesen Teller mit der roten Rose gesehen. Es war ein einfaches, aber wunderbar gemaltes Dekor, ihr gefiel gerade die schlichte Art des Tellers und seit dieser Zeit träumte sie davon, einen dieser Teller zu besitzen.

Um 10 Uhr öffnet der Markt, um pünktlich da sein zu können, nahm sie den Bus um 9 Uhr und fuhr Richtung Alstertal. Eine Station vor dem Einkaufszentrum stieg sie wie immer aus, dann kostete der Bus 1 € weniger und der Fußmarsch würde ihr gut tun.

In ihrem kurzen Röckchen, der engen Weste und den Turnschuhen sah sie etwas verloren aus, sie wusste das wohl, aber sie war es auch gewohnt, nirgendwohin zu gehören, immer außerhalb zu stehen. Sie hätte gerne zu den anderen dazu gehört, mit ihnen gelacht, gefeiert, getanzt, sich auch mal verliebt und gehofft, ein junger Mann würde sie aus ihrem einsamen Leben herausholen. Aber es geschehen keine Wunder und so blieb sie nach dem Tod der Mutter ganz allein zurück, seither gab es niemanden mehr, der sich für sie interessierte. Eigentlich hatte sich auch die Mutter nie für sie interessiert, sie war nie wichtig gewesen, sie war nur dazu da, der Mutter alles abzunehmen, nur für sie da zu sein und ihr ewiges Nörgeln und Schimpfen zu ertragen. Aber das war nun vorbei und trotz der lähmenden Einsamkeit sehnte sie sich nicht nach der Mutter, sie war froh, sie los zu sein!


Punkt 10 Uhr betrat sie das Einkaufszentrum, sie suchte wieder den Stand mit dem wertvollen Porzellan. Schon beim ersten Besuch dieses Antikmarktes hatte sie an diesem Stand den Teller mit der roten Rose entdeckt. Ein junger Mann, der offensichtlich seinem Vater zur Hand ging, hatte ihr den Teller gezeigt. Er war sehr freundlich zu ihr gewesen, obwohl sie nichts gekauft hatte, nichts kaufen konnte. Seither ging sie jedes Mal auf diesem Antikmarkt zu dem Stand von Vater und Sohn.

Sie würde diesen Stand erst gegen später besuchen, sie wollte sich ein wenig umsehen, sie freute sich darauf, mit diesem jungen Mann zu sprechen, er war immer so zuvorkommend, so höflich und freundlich zu ihr, er verlor nie die Geduld , er sah sie nie mit dem mitleidigen Lächeln an, das die anderen so oft im Gesicht hatten. Mit ihm konnte sie beinahe normal sprechen, bei ihm hatte sie nicht das Gefühl nur lästig, dumm und überflüssig zu sein. Heute hatte sie sich auf diese Begegnung besonders sorgfältig vorbereitet!

Sie dachte an die Zeit zurück, in der sie in diesem Alter gewesen war. Damals – wenigstens dieses eine Mal in ihrem Leben - hatte sich ein Mann für sie interessiert. Damals arbeitete sie in der Buchhaltung einer großen Firma und er verteilte die Post im Haus. Sie hatte ihn schon lange beobachtet, ihr gefiel seine stille Art, sein freundliches Lächeln, nie sah er mürrisch aus, sie begann auf den Augenblick zu warten an dem er an ihrem Arbeitsplatz vorbeikam. Sie lächelte zurück und an einem schönen Sommermorgen sprach er sie plötzlich an, sie spürte heute noch, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg und wie sie unfähig war, zu antworten. Er sagte nur, welch schöner Morgen und schien gar nicht böse zu sein, dass sie nur mit dem Kopf nicken konnte, er ging weiter in den nächsten Raum, um seine Post den Adressaten zu bringen.

Aber an jenem Morgen, als in der Firma alles auf dem Kopf stand, als das Gerücht aufkam, die Firma habe Konkurs anmelden müssen, als keiner so richtig wusste, was los war und was dies bedeutete, an diesem Morgen, als sowieso alles anders war, da sprach er sie wieder an und fragte, ob sie den neuesten Film im Abaton Kino schon gesehen habe. Wie konnte er annehmen, dass sie diesen Film gesehen hatte, sie war schon so lange nicht mehr im Kino gewesen, die Mutter würde es niemals erlauben, seit dem Tod des Vaters musste sie jede freie Minute bei der Mutter sein, musste für sie den Haushalt führen, waschen, putzen, einkaufen, kochen und wieder waschen ….Nie bekam sie ein anerkennendes Wort für ihre Arbeit im Haushalt, nie hörte sie ein einziges freundliches Wort. Früher hatte der Vater ihr einen Großteil der Arbeit abgenommen, aber auch für ihn hatte die Mutter nie ein freundliches Wort gehabt. Manchmal kam ihr der Verdacht, der Vater sei nur gestorben, um dem ewigen Nörgeln der Mutter zu entkommen.

An diesem Morgen, als der Mitarbeiter von der Poststelle sie ansprach, war die Welt sowieso aus allen Fugen geraten und sie nahm all ihren Mut zusammen und sagte, nein, den Film kenne sie noch nicht, aber sie würde ihn sehr gerne sehen. Er schien sich zu freuen und so verabredeten sie sich für den Abend. Den ganzen Tag über machte sie Pläne, wie sie ihrer Mutter sagen konnte, dass sie mit einem Mann ins Kino gehen würde. Es würde eine harte Auseinandersetzung geben, das wusste sie und diesen Auseinandersetzungen war sie nicht gewachsen, am Ende tat sie doch alles, was die Mutter wollte. Aber dieses eine Mal wollte sie sich nicht dem Willen der Mutter beugen und so machte sie sich die Notlage der Firma zunutze und erzählte hastig und stotternd der Mutter, sie müssten alle Überstunden machen in der Buchhaltung, um die Lage der Firma zu klären.

Sie gingen zusammen ins Kino, von dem Film hatte sie wenig mitbekommen, der Film schien irgendwie lustig zu sein, der Mann neben ihr lachte unentwegt und sie hatte nur ständig Angst, an der falschen Stelle zu laut zu lachen. Sie gingen noch 2 oder 3-mal zusammen ins Kino, einmal gingen sie sogar zusammen Essen. Sie konnte damals kaum einen Bissen herunterbringen, sie war so aufgeregt und so ängstlich darauf bedacht, alles richtig zu machen, der Teller wurde nach einiger Zeit fast unberührt wieder abgeräumt. Sie war sicher, der Mann würde sie nun nie mehr fragen, ob sie zusammen ausgehen wollten. Als er sie am nächsten Tag fragte, ob sie mit ihm zusammen das große Feuerwerk des Kirschblütenfests an der Alster ansehen wolle, da raste ihr Herz, mit hochrotem Kopf konnte sie nur stammeln, sie würde gerne mitgehen. Der Mutter hatte sie nichts von ihm erzählt und ihr abendliches Fernbleiben weiter mit den Schwierigkeiten in der Firma erklärt. An diesem Abend war es sehr spät geworden und als er sie nach Hause begleitete und an der Tür kurz in den Arm nahm, da hatte sie sich einen Augenblick ganz lebendig gefühlt, sie sah ihm nach, als er ging, ihr Herz klopfte zum Zerspringen und im selben Augenblick wusste sie, dass ihre Mutter die Notlügen nicht mehr glaubte, dass sie etwas ahnte und alles zerstören würde.


An all dies dachte sie, als sie den jungen Mann aus der Ferne beobachtete, sie beneidete ihn um seine Fröhlichkeit, um sein sicheres Auftreten. Sie überlegte sich, was er wohl beruflich machte, vielleicht studierte er noch, sie hätte es zu gerne gewusst. Er sah gut aus, groß, schlank, die dunklen, dichten Haare hatte er mit Gel zu bändigen versucht, er war gut angezogen nur die Turnschuhe, die er zum Anzug trug, gefielen ihr nicht.

Sie ging weiter, sie wollte sich diesen Besuch bis zum Schluss aufbewahren, auch wenn sie dann vielleicht etwas müde sein würde, das war ihr gleichgültig, die Vorfreude wollte sie möglichst lange genießen.

Sie sah sich alle Stände an, im Erdgeschoß und auch die im unteren Geschoß, aber kein Stand gefiel ihr so gut wie der von dem Vater mit dem Sohn.

Das Umhergehen in dem überheizten Einkaufszentrum machte sie durstig, sie ging in eine ruhigere Ecke des Zentrums, kramte in ihrer großen Tasche, die sie von der Mutter übernommen hatte nach der Flasche mit dem Wasser. Gierig trank sie einen Schluck und trank beinahe die ganze Flasche in einem Zug aus, wie gut, dass sie hier die Flasche wieder auffüllen konnte. Voller Neid sah sie die Besucher des Zentrums, die in dem gemütlich aussehenden Cafe an den kleinen Tischchen saßen, sich angeregt unterhielten und dabei genüsslich ihren Kaffee tranken und ein Stück der köstlich aussehenden Torten auf ihrem Teller hatten. Ob diese Menschen eigentlich wussten, welches Glück sie hatten, ob diese sich ihre Einsamkeit vorstellen konnten? Sie war allein, sie würde immer alleine sein, das wusste sie, und trotzdem träumte sie immer wieder davon, jemanden zu haben mit dem sie wenigstens ab und zu etwas gemeinsam unternehmen könnte, die Einsamkeit lähmte sie an manchen Tagen vollkommen, sie sehnte sich nach der Nähe anderer.

Sie ging langsam zurück zum Eingang, an dem sie hereingekommen war, von weitem schon sah sie den jungen Mann, er unterhielt sich mit einem älteren Herrn, einem sehr gut aussehenden älteren Herrn. Sie ging näher hin, dem Gespräch der beiden konnte sie entnehmen, dass der junge Mann tatsächlich noch Student war, er studierte Medizin und schien kurz vor dem Abschluss zu stehen. Der ältere Herr war offenbar ein Medizinprofessor, die beiden unterhielten sich sehr angeregt und schienen die Umwelt gar nicht mehr wahrzunehmen.

Sie hatte nicht wirklich damit gerechnet, von dem jungen Mann beachtet zu werden und schon gar nicht, wenn er mit einem so in ein Gespräch vertieft war. Das Blut schoss ihr in die Wangen, als der junge Mann sie sah, sein Gespräch kurz unterbrach und zu ihr sagte, er würde ihr sofort ein besonders seltenes Stück von dem Dekor der roten Rose bringen. Es sei eines der ältesten Stücke aus dieser Serie, eine ganz ausgefallene Form, dieser Teller würde ihr bestimmt gefallen.


Die Frau des Professors hatte sich von dem Vater die kostbarsten Stücke seiner Meißensammlung zeigen lassen. Besonders angetan schien sie von einer Figur zu sein, es war ein Schäfer, der an seinen Stock gelehnt an einem Strickstrumpf arbeitete. Sie wusste aus ihrem intensiven Studium des Meißner Porzellans, dass dies eine Figur aus der Marcolini – Zeit war und wenn sie an den Preis dieser Kostbarkeit dachte, wurde ihr ganz schwindelig. Der Professor würde diese Figur seiner Frau bestimmt sofort kaufen, er würde ihr vermutlich alles kaufen, was sie haben wollte. Sie beneidete diese Frau glühend, nicht weil sie solche Kostbarkeiten haben konnte, sie beneidete sie, weil sie eine Familie hatte, weil sie nicht alleine war, weil sie geliebt wurde.

Sie fühlte sich noch einsamer, noch verlassener als sonst, die Frage, warum sie überhaupt lebte, drängte sich ihr auf. Sie würde von niemandem vermisst werden, wenn sie in ihrer Wohnung fallen würde, könnte sie wochenlang liegen bleiben, das würde niemand bemerken. Es gab niemand auf der ganzen Welt, der wirklich ihre Existenz wahrnahm, der Interesse an ihr hatte, dem sie nicht gleichgültig war.


Der junge Mann brachte ihr einen besonders schönen Teller mit der roten Rose, der Rand sah aus, wie gehäkelt, sie wusste genau, wie teuer diese Teller waren. Sie nahm ihn beinahe ehrfurchtsvoll in die Hand, drehte ihn hin und her und war glücklich, nun auch ihr Wissen, das sie sich in den langen Stunden in der Bibliothek erworben hatte, anwenden zu können. Sie unterbrach den jungen Mann, der gerade über das Alter, die Malerei, die Signierung des Teller reden wollte und fing an, ohne zu stocken, ihm alles was sie darüber wusste, zu erzählen. Sie fühlte sich dabei so sicher, sie genoss seine Verblüffung und sagte ihm zum Ende auch genau, wie viel wert dieser Teller war. Seine Verblüffung hätte nicht größer sein können und zum ersten Mal seit langer Zeit konnte sie schmunzeln, sie freute sich, dass es ihr gelungen war, ihn zu überraschen.


Sie hatte schon oft darüber nachgedacht, warum ihre Mutter ständig nörgelte warum sie mit nichts zufrieden war, warum sie selbst keine Freude am Leben hatte und warum sie es nicht zuließ, dass andere sich an etwas erfreuten, warum sie immer alles Schöne zerstören musste. Sie wusste wenig über das Leben der Mutter, der Vater hatte geschwiegen und die Mutter hatte sowieso nie aus ihrem Leben erzählt, eine Großmutter hatte sie nie gekannt, auch nie von ihr gehört, nie erfahren wie sie gelebt, wo sie gewohnt hatte und was für ein Mensch sie gewesen ist. Eigentlich wusste sie nicht einmal, ob die Großmutter vielleicht sogar noch lebte. Sie wurde nie das Gefühl los, nirgendwohin zu gehören, sie war wie ein Findelkind groß geworden, ohne Großeltern, Onkel und Tanten, Kusinen – es gab niemanden außer der Mutter und dem Vater.


Sie konnte sich nicht daran erinnern, ob die Mutter immer so gewesen ist, sie konnte sich nicht daran erinnern, ob die Mutter ihr abends im Bett noch eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen hatte, wie es war, wenn sie als Kind beim Spielen gefallen war, hatte die Mutter sie dann getröstet? Sie hatte keinerlei Erinnerung an diese Zeit.


Wie anders hätte ihr Leben verlaufen können, wenn sie sich nur einmal, ein einziges Mal gegen die Mutter durchgesetzt hätte, wenn die Mutter ihr nur ein einziges Mal das Gefühl gegeben hätte, nicht lästig zu sein, wenn sie ihr nur ein einziges Mal gezeigt hätte, dass sie ihre Tochter liebte. Vielleicht hätte der Mann von der Poststelle sie eines Tages gefragt … Nein, das war unmöglich, sie war keine Schönheit, sie war pummelig, unbeholfen und dumm und anderen immer im Weg.


Sie hielt dieses wunderschöne und so kostbare alte Porzellan das er gebracht hatte immer noch in die Hand, ängstlich darauf bedacht, auf diese Kostbarkeit aufzupassen, den Teller nicht fallen zu lassen oder irgendwo anzuschlagen.


Sie drehte den Teller hin und her, besah ihn sich ganz genau, sie wollte ihn so gerne kaufen, aber das würde ihre finanziellen Möglichkeiten bei weitem übersteigen. Innerlich begann sie zu rechnen, wenn sie den alten Mantel doch noch einen Winter lang tragen würde, sie ging in Gedanken alle Einsparmöglichkeiten durch, die ihr einfielen, aber es würde einfach nicht ausreichen.


Eine gut aussehende junge Frau war an den Stand gekommen, der Vater begrüßte sie herzlich und rief sofort dem Sohn zu, er solle mal sehen, wer eben gekommen sei. Der junge Mann ließ alles stehen und liegen um diese junge Frau zu begrüßen, er nahm sie in den Arm und küsste sie auf beide Wangen. Ob das seine Freundin war, sie war nicht sicher, die jungen Leute küssten sich ja heute immerzu und jeder küsste jeden, das hatte nichts zu bedeuten


Sie war nur einmal flüchtig geküsst worden, von dem Mann in der Poststelle, als sie ihn nach dem Essen mit der Mutter zur Tür brachte. Sie hatte damals sofort gespürt, dass dies der Abschied war, er würde sie nicht noch einmal einladen und obwohl sie sich auch weiterhin täglich in der Firma sahen, sprach er sie nie mehr an.


Die Mutter hatte sie, als sie nach dem Kirschblütenfest spät nach Hause gekommen war zur Rede gestellt, sie hatte ihr auf den Kopf zugesagt, dass sie niemals so spät noch in der Firma gearbeitet habe und sie wolle sofort wissen, wer der Mann sei, der ihr so den Kopf verdreht habe, dass sie sogar ihre Mutter belügen würde. Sie hatte keine Wahl, sie musste alles der Mutter erzählen und sie wusste, dass die Aufforderung der Mutter, den Mann am nächsten Abend mit nach Hause zu einem gemeinsamen Abendessen zu bringen, nichts wirklich Gutes zu bedeuten hatte.


Sie hatte den Mann von der Poststelle am nächsten Morgen angesprochen, nur die Angst vor der Mutter hatte sie dazu gebracht, und ihn zum Abendbrot nach Hause eingeladen. Er schien erfreut zu sein und sagte sofort zu. An diesem Tag brachte sie in der Buchhaltung einiges durcheinander und die Gruppenleiterin fragt sie, ob sie denn krank sei oder ob etwas mit ihrer Mutter wäre.

Ihr Herz klopfte laut, als sie zusammen mit dem Mann nach Hause kam. Die Mutter erwartete sie schon, sie hatte sich ordentlich angezogen, den Tisch gedeckt, sogar das gute Porzellan hatte sie herausgeholt und der Auflauf, der dampfend auf den Tisch kam, roch so gut, alles schien auf einen friedlichen Abend hinzudeuten.

Als sie beim Nachtisch angekommen waren, fing die Mutter an zu reden, sie redete ohne anzuhalten, sie redete weiter, obwohl beide versuchten, sie zu stoppen, sie ließ sich nicht beirren. Sie erzählte, welch schweres Leben sie gehabt habe, ein Leben mit einem Mann, der es zu nichts gebracht habe und dies setze sich nun bei der Tochter fort, sie, die Tochter sei langsam, träge, eigentlich so recht zu nichts zu gebrauchen, den Job in der Buchhaltung dieser Firma habe sie nur durch ihr persönliches Eingreifen bekommen und auch den werde sie wohl bald verlieren, wenn sie so weitermache, die Mutter belügen würde, um sich mit einem dahergelaufenen Mann zu verabreden. Er, der Mann aus der Poststelle müsse wissen, welch schlechten Charakter ihre Tochter habe, sie sei faul, unzuverlässig, immer nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht, sie würde sogar sie, die alte und kranke Mutter hintergehen, nur um sich mit Männern herumzutreiben. Aber das habe nun ein Ende, sie werde es in Zukunft zu verhindern wissen und dazu sei ihr jedes Mittel recht, mit den jungen Männern habe sie auch kein Mitleid, die wollten sowieso immer nur das Eine. So redete die Mutter in einem fort und plötzlich stand der Mann aus der Poststelle auf, er hatte rote Flecken im Gesicht und sagte mühsam die Form zu wahren versuchend, er müsse nun nach Hause gehen und er habe verstanden. An der Wohnungstür küsste er sie flüchtig auf beide Wangen und sagte nur‚ schade’.

Die Firma war damals knapp an dem Konkurs vorbeigeschlittert, sie behielt ihre Arbeitsstelle in der Buchhaltung und so eintönig die Arbeit auch war, sie war froh dadurch wenigstens tagsüber den Nörgeleien ihrer Mutter zu entkommen.

Sie sah den jungen Mann mit der hübschen Frau ganz unbefangen plaudern, sie antwortete ihm vergnügt, es war offensichtlich, dass die beiden Freude an diesem Gespräch hatten. Sie sah sich die junge Frau ganz genau an, sie war hübsch, sie war jung und so voller Leben, wie sie es nie gewesen war, nie hatte sein können.

Sie konnte den Blick von den beiden nicht abwenden, sie musste die beiden einfach ansehen, ihnen zusehen, den Teller mit der roten Rose hielt sie immer noch in der Hand. Der Markt war inzwischen noch voller geworden, die Leute schoben sich an den Tischen der Aussteller entlang, sie stand gedankenverloren mittendrin und bemerkte gar nicht, wie sie langsam aber sicher mit der Menge mitgeschoben wurde.

Sie dachte über ihr einsames, trostloses Leben nach, sie dachte an die Mutter, die keine Freude zugelassen hatte und sie dachte an den Vater, der der Mutter nie widersprochen hatte, warum hatte er eigentlich nie widersprochen, warum hat er sich nie für seine Tochter eingesetzt, warum hat nicht wenigstens er seiner Tochter ein wenig Liebe geschenkt? Diese Fragen beschäftigten sie immer mehr, die Mutter war nun über ein Jahr tot, aber sie hatte heute noch dieselbe Macht über sie wie zu ihren Lebzeiten. Bei allem, was sie tat, fragte sie sich auch heute noch, was die Mutter dazu sagen würde, sie war die oberste Kontrollinstanz in ihrem Leben. Das einzige, was sie gemacht hatte, obwohl sie wusste, ihre Mutter hätte es nie gebilligt, war die Stellung in der Buchhaltung zu kündigen. Sie hatte es genau berechnet, bei äußerster Sparsamkeit konnte sie von dem kleinen Vermögen, das die Mutter hinterlassen hatte leben. Sie hatte sich nach der Kündigung wie befreit gefühlt, diese stumpfsinnigen Zahlen waren ihr immer so gleichgültig gewesen, dass sie immer wieder Fehler gemacht hatte, Beträge auf falschen Konten abgebucht oder falsche Beträge eingetragen hatte und jedes Mal gab es einen Verweis von der Gruppenleiterin.

Wie sehr ihr die Einsamkeit zu schaffen machen würde, das hatte sie allerdings nicht geahnt.

In den ersten Wochen nach dem Tod der Mutter war sie noch optimistisch gewesen, sie hatte gehofft, ihr Leben doch noch in den Griff zu bekommen und ein einigermaßen sinnvolles und vielleicht sogar ein wenig glückliches Leben führen zu können, aber diese Einsamkeit lähmte sie und innerlich dachte sie immer wieder, dass die Mutter recht gehabt hatte, dass sie im Leben zu nichts tauge.

Aber was hatte die Mutter denn für ein Leben geführt, warum hatte sie dem Ehemann und der Tochter mit ihren Vorwürfen, ihren Launen und ihrer Missachtung das Leben so schwer gemacht? In all den Monaten hatte sie sich unentwegt mit ihrer Mutter beschäftigt und manchmal begriff sie für einen kurzen Augenblick dass sie trotz allem und nur sie für ihr Leben verantwortlich sei und dass sie auch jetzt noch Möglichkeiten hätte, etwas aus ihrem Leben zu machen. Diese Augenblicke waren immer genau so schnell verschwunden wie sie auftauchten, aber sie kamen immer wieder und manchmal konnte sie sie für eine kleine Weile festhalten. Dann begann sie zu träumen, es waren keine großen Träume von Reichtum, Familie, Kindern, das einzige was sie sich im Traum wie im Leben aus tiefstem Herzen wünschte, waren Freunde, Menschen, die sich für sie ein wenig interessierten, denen sie etwas bedeutete und für die auch sie etwas tun könnte. Aber da war niemand und sie wusste auch nicht, wie sie Menschen kennen lernen könnte.

Ein- oder zweimal war ihre Nachbarin herübergekommen, um sich etwas auszuborgen, vielleicht wäre das doch eine Möglichkeit gewesen – aber nein, diese Nachbarin hatte viele Freunde, warum sollte sie sich für sie interessieren?

In ihren trüben Gedanken versunken, hatte sie gar nicht bemerkt, dass sie mit der Menge mitgeschoben worden war und plötzlich vor dem Ausgang stand. Warum nur ließ sie es zu, dass die Mutter auch heute noch ihr Leben beherrschte, sie musste davon loskommen, sie musste ihr Leben gestalten, so gestalten, dass sie nicht genauso verbittert werden würde, wie ihre Mutter.

Sie dachte an die junge Frau, die so offen und so sicher auf sie gewirkt hatte, diese junge Frau hätte sich von ihrer Mutter bestimmt nie so schikanieren lassen, sie hätte sich gewehrt, gekämpft und sie hätte gesiegt, da war sie ganz sicher. Warum hatte sie das nie getan? Und vor allem, warum ließ sie sich auch jetzt noch von dieser Mutter beherrschen?

Gedankenverloren setzte sie sich auf eine Bank vor dem Einkaufszentrum, sie dachte darüber nach, wie sie ihr Leben ändern könnte. Ihr war klar, dass dies nur in kleinen Schritten erfolgen könnte, sie würde nicht von heute auf morgen ein ausgefülltes Leben führen können, sie konnte sich doch nicht vollkommen verändern, sie konnte doch nur versuchen kleine Schritte in die richtige Richtung zu machen.

Sie nahm sich vor, bei ihrer Nachbarin, die schon mehrmals zu ihr herübergekommen war, zu klingeln, unter irgendeinem Vorwand, da würde ihr schon etwas einfallen. Aber sofort kamen die Bedenken: hatte nicht die Mutter immer gesagt, sie sei so langweilig und dumm, kein Mensch würde sich für sie interessieren, sie sei nur lästig. Schon wieder, die alles beherrschende Mutter, sie hatte sie immer noch im Griff. Sie würde sich darüber hinwegsetzen, sie musste versuchen, auf andere Menschen zuzugehen – wie um Himmels Willen sollte sie das denn schaffen?

Sie entschloss sich, nach Hause zu gehen und dort wollte sie einen Plan machen: jeden Tag eine Aufgabe, die sie aus ihrer Einsamkeit ein wenig befreien könnte. Morgen wollt sie zu der Nachbarin gehen, das war das Erste. Sie wollte ihre Geldbörse aus der Tasche holen und bemerkte plötzlich, dass sie immer noch den Teller mit der roten Rose krampfhaft umklammert hielt. Vor Schreck und Entsetzen wäre ihr der Teller beinahe aus der Hand gefallen, was mussten der Vater und der Sohn wohl von ihr denken, sie musste den Teller sofort zurückbringen und sich entschuldigen. Ob die Beiden ihr wohl glauben würden? Was hatte sie da nur gemacht, die Mutter hatte wohl doch Recht, sie machte immer nur Fehler, sie taugte zu nichts.

Nein, sie würde es sich und der Mutter zeigen, sie würde sofort zu dem Stand gehen, sie würde alles erklären und niemand würde schlecht von ihr denken. Das war die erste Aufgabe, die sie zu lösen hatte und sie würde sie lösen, Aufgabe für Aufgabe, sie würde kein so trostloses Leben führen wie ihre Mutter, sie würde auf jeden Fall alles versuchen, um aus diesem Leben noch etwas sinnvolles, vielleicht sogar etwas Schönes zu machen.

Langsam ging sie zurück zu dem Stand mit dem Meißner Porzellan, Vater und Sohn standen alleine an dem Tisch, es waren nur noch wenige Besucher in dem Zentrum. Mit hochrotem Kopf ging sie auf die Beiden zu, fing an, stotterte mühsam eine Erklärung, warum sie mit dem Teller verschwunden war. Wie erleichtert war sie, als die Beiden ihr den Teller abnahmen und sagten, sie hätten sich so etwas schon gedacht, sie wäre so in Gedanken versunken gewesen, sie hofften nur, sie hätte an etwas Schönes gedacht. Nein, sagte sie, es war nichts Schönes, aber sie hoffe, es sei der erste Schritt auf einem neuen Weg gewesen.

Sie bat den Vater, ihr den Teller nochmals in die Hand zu geben, sie hielt ihn fest und wusste, dass sie ihn behalten würde, behalten musste. Sie war fest entschlossen, den Teller zu kaufen, egal welchen Preis er hatte.

Dieser Tag, dieser Teller, das Bild der jungen, so selbstbewusst wirkenden Frau, das wollte sie festhalten. Sie wusste, sie würde nie so werden, aber ein wenig, vielleicht ein klein wenig würde sie von ihr übernehmen können.

























MORGEN

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