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Gassen und Winkel

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Nur einige Häuser entfernt von mir erhaschte ich die Silhouette des geheimnisvollen Mannes mit dem Zylinder. Er ging weder hektisch noch unsicher, sondern passte sich dem Tempo der anderen Passanten an. Keinem konnte auffallen, dass dieser Mann nur einige Minuten zuvor in den geheimen Unterlagen meines Meisters gestöbert hatte.

Ich hatte bisher nur sehr begrenzte Erfahrung in Verfolgungsjagden. Um nicht aufzufallen, ließ ich mich deshalb noch ein paar Meter weiter zurückfallen.

Gerade in dem Moment, als ich die Distanz wieder verringern wollte, schoss ein Pferdegespann um die Ecke. Ein Schwarm Tauben flatterte auf und ein verärgerter Mann mit stattlichem Wanst plärrte der Kutsche nach. Schnell sprang ich zur Seite und verbarg mich hinter einer Laterne.

Staub wirbelte durch die Gasse und als ich aus meinem Versteck hervortrat, war der Fremde meiner Sicht entschwunden.

Auf der Straße herrschte immer noch ein reges Treiben und die Menschen waren nach der Störung wieder zu ihren Tätigkeiten zurückgekehrt.

Hektisch prüfte ich die Umgebung. Nichts. Wo konnte der geheimnisvolle Fremde nur sein? War er vielleicht hinter jener Tür verschwunden, die gerade langsam ins Schloss fiel? In dieser Straße standen die Häuser dicht an dicht und es gab wenig, das sie voneinander unterschied. Nur jenes Haus, auf das ich nun meine ganze Aufmerksamkeit richtete, stach etwas aus der Reihe hervor. Die Fensterläden im Erdgeschoss waren geschlossen und neben der Türschwelle döste ein Bettler mit angewinkelten Beinen und gesenktem Kopf.

Unauffällig ging ich an ihm vorüber, doch irgendetwas ließ mich stutzig werden. Hier passten partout ein paar Dinge nicht zusammen. Vielleicht bildete ich mir auch viel zu viel ein und er genoss möglicherweise nur die Wärme eines Ofenrohres, das an dieser Stelle an der Innenseite des Hauses verlief. Dabei war es zu dieser Stunde gar nicht kalt. Trotzdem trug der Mann einen weiten, grünen Regenmantel, als ob er darunter etwas verbergen wollte. Und während die meisten Landstreicher und Bettler, an die ich mich erinnern konnte, abgelaufene Schuhe und zerschlissene Kleidung trugen, besaß dieser Mann feste Stiefel aus gutem Leder, die bis weit über seine Knöchel reichten. Verhalten schlenderte ich noch einige Meter weiter und stoppte dann unmittelbar hinter dem Nachbarhaus. Dort stand in einem Durchgang eine ältere Frau und kehrte mit einem Reisigbesen den Hof.

»Entschuldigen sie, gnädige Frau. Können sie mir sagen, wer in diesem Haus dort wohnt?«

Die Frau schaute auf und musterte mich. Ihr Ausdruck wechselte zwischen Skepsis und Neugier. Einen Augenblick später hatte sie sich entschieden und kam zu mir an die Straße. Sie warf einen kurzen Blick um die Hausecke auf das Gebäude, auf das ich mit meinem Kopf hingedeutet hatte, und gab mir zur Antwort: »Eine gute Frage. Bis vor wenigen Tagen haben dort die Sigmundssons gewohnt. Aber jetzt? Da bin ich überfragt.«

»Vielen Dank.« Für mich war damit das Gespräch schon zu Ende, doch die Frau wollte mir nur zu gerne noch mehr verraten. »Ich weiß zwar nicht, wer jetzt dort wohnt, aber als Nachbar macht man sich doch so seine Gedanken …«, flüsterte sie mir zu.

»Was wollen sie damit andeuten?«, hakte ich nach, denn meine Neugier war geweckt. Und sie ließ sich nicht lange bitten: »Nun, ich frage mich schon, was sich hier abspielt. Vor wenigen Tagen ist Familie Sigmundsson einfach verschwunden. Kein Mensch weiß wieso oder wohin. Und dann zieht dort sofort eine Gruppe von Männern zusammen mit einer Frau ein! Ich sag ihnen, das ist mir nicht ganz geheuer.« Immer wieder hatte die Frau dabei verstohlen zu dem Haus hinübergeschaut. Doch jetzt blickte sie mir fest in die Augen. »Warum interessiert sie das eigentlich, junger Mann?«, fragte sie offen heraus.

Ich konnte die Frau nicht einschätzen: Sollte ich mich ihr anvertrauen? Aber die Geschichte hatte mich gepackt. Was war im Haus der Sigmundssons geschehen? Es gab für mich kein Zurück mehr. Außerdem machte die Frau einen redlichen Eindruck und ich durfte meinen Meister nicht enttäuschen.

Also antwortete ich ihr im Flüsterton: »Ich verfolge einen Mann, der heimlich etwas aus unserer Kutsche gestohlen hat. Ich bin mir sicher, dass er in diesem Haus verschwunden ist.«

»Was sie nicht sagen«, presste sie hervor. Die ganze Geschichte hatte offensichtlich jetzt auch ihr Interesse geweckt. Also wagte ich eine kühne Bitte: »Wäre es vielleicht möglich, dass ich mich hier bei ihnen noch etwas gründlicher umschauen könnte?«

»Sicherlich, gegen einen gemeinsamen Tee zum Abend sollte nichts einzuwenden sein, oder?«, sagte sie, zwinkerte mir verschwörerisch lächelnd zu und gemeinsam gingen wir zur Tür ihres Hauses.

Die ganze Zeit über schien uns der fremde Bettler vor dem Nebenhaus aus den Augenwinkeln beobachtet zu haben; seine Körperhaltung verriet seinen Argwohn. War meine Absicht durchschaut worden? Die Nachbarin hatte wohl denselben Eindruck, denn aus heiterem Himmel sagte sie auffallend laut, sodass es auch jeder hören musste: »Schön, dass du es geschafft hast, deine alte Tante nach so vielen Monaten zu besuchen.« Diese Worte waren für den Mann im Regenmantel bestimmt.

»Gerne, ich hatte dir doch versprochen, einmal bei dir vorbei zu kommen«, erwiderte ich unbeholfen.

Dann zog sie in aller Ruhe ihren großen Schlüssel aus der Manteltasche, öffnete die Tür und bat mich in ihr Haus.

Ein mulmiges Gefühl beschlich mich: Was sollte ich dieser Frau erzählen, wenn sie mich nach meinem Leben fragen würde? Was wusste ich denn wirklich über mich und meine Vergangenheit? Da waren nur Bilder und Bruchstücke, die meist dann in meiner Erinnerung auftauchten, wenn ich mit meinem Meister auf dem Festland unterwegs war. Spuren einer fremden, vergessenen Welt. Fragile Erinnerungen an etwas, das mein Leben gewesen zu sein schien.

Einmal sah ich mich, wie ich auf einem kleinen Holzstuhl saß und einen Lehrer betrachte, der neben einer Tafel stand. In seiner rechten Hand hielt er einen Stock. Auf der Tafel standen Wörter in verschiedenen Sprachen und Zahlen, die sich zu Formeln zusammensetzten. Anscheinend war ich einst in vielen Dingen unterrichtet worden, hatte Menschen aus aller Herren Länder getroffen und in vornehmen Kreisen gelebt. Dann vermischte sich das Bild mit dem eines Jungen, der auf einem Pferd saß und an einer Treibjagd teilnahm. Ich erkannte mich in ihm wieder, und doch fühlten sich diese Eindrücke so fremd und unwirklich an.

Solche Momente blieben nicht lange. Die Erinnerungen gingen, angstvolle Ungewissheit kam, die Leere blieb. Ohnmacht und eine schmerzvolle Unruhe quälten mein Herz. Was war mein Leben? Wer war ich?

Hinter uns fiel die Tür ins Schloss und die Frau sicherte sie mit einem zusätzlichen Metallriegel. Auch wenn sie auf mich einen eher biederen Eindruck machte, fühlte ich mich etwas unwohl in meiner Haut.

»Wissen sie«, flüsterte die Frau, »etwas stimmt hier absolut nicht.«

Leicht verwirrt schaute ich mich um. Der Eingangsbereich bestand lediglich aus einem schmalen Flur, auf dessen Boden ein abgetretener Läufer lag. Zwei Türen auf der rechten Seite ermöglichten den Zugang zu anderen Räumen.

Dahinter gab es eine einfache Holztreppe, die nach oben führte. An der Treppe hing ein metallener Gong, der eventuell dazu diente, die übrigen Bewohner des Hauses zum Essen zu rufen.

An einer der Wände entdeckte ich einige Schwarz-Weiß-Fotografien und von der Decke hing eine unförmige Schirmlampe herab. Die Frau schien wohlhabend genug zu sein, um ihre Wohnung geschmackvoll einrichten zu können.

»Was meinen sie damit, dass hier etwas nicht stimmt?«, fragte ich halblaut.

Sie legte nur den Zeigefinger auf ihren Mund und gab mir zu verstehen, leise zu sein. Nun drückte sie ihr Ohr an die Wand des Flures und hielt sich das andere Ohr zu.

»Ich muss wohl nicht betonen, dass, wenn wir sie hören können, dies umgekehrt genauso gilt«, flüsterte sie.

Nun legte auch ich mein Ohr an die Wand zum Nachbarhaus. Tatsächlich hörte ich Stimmen. Sie drangen von der anderen Seite wie durch einen Filter zu mir herüber. Die hohen Töne hatten es schwerer als die tiefen, aber einzelne Wortfetzen kamen an.

»Was geht da vor sich?«, raunte ich und nahm meinen Kopf von der Wand.

Die Frau schaute mich klar und unerschrockenen an.

»Im Nachbarhaus halten sich Preußen auf …«

»Preußen? Sind sie sich da wirklich sicher?«, unterbrach ich die Frau und ahnte doch gleichzeitig, dass sie mit ihrer Vermutung richtig lag.

»Vor einigen Jahren reiste ich in einer Familienangelegenheit nach Danzig. Von daher ist mir diese harte Sprache in Erinnerung geblieben«, fuhr sie fort.

Für einen Moment standen wir uns schweigend gegenüber. Dann begann sie zögernd von Neuem: »Wissen sie …« Anscheinend war sie noch unsicher, ob sie ihr Geheimnis preisgeben sollte. Sie fixierte mich mit ihren Augen und nahm allen Mut zusammen.

»… auf dem Speicher befindet sich ein Durchgang zum Nachbarhaus. Davon weiß niemand außer mir. Es handelt sich um eine kleine Luke, die auf die andere Seite führt.« Erneut legte ich den Kopf an die Wand und versuchte etwas zu erlauschen. Doch selbst wenn ich den Rest des Abends hier stünde, könnte ich doch nicht verstehen, was sich auf der anderen Seite der Wand abspielte.

Die Fremden im Haus der Sigmundssons sprachen tatsächlich deutsch, denn ich verstand einzelne Bruchstücke und hatte diese Sprache anscheinend einst gelernt. Allerdings ergaben die Worte für mich keinen Sinn.

»Dürfte ich sie denn bitten, mir den erwähnten Durchgang zu zeigen?«

»Warten sie, denn die Wände in diesem Haus können keine Geheimnisse für sich bewahren«, flüsterte sie. Dann schlurfte sie ins Nachbarzimmer. Dort holte sie eine Platte aus dem Schrank, hob den silbernen Arm des Grammophons vorsichtig an und legte die Scheibe auf. Zunächst vernahm ich nur ein leises Kratzen, dann hörte ich eine singende Männerstimme. Jetzt trat die Frau wieder heraus auf den Flur.

»Normalerweise bin ich nicht so vorsichtig. Aber das, was dort drüben vor sich geht, ist mir einfach nicht geheuer«, erklärte sie ihr Verhalten.

Dann stiegen wir die Treppe hinauf und ich folgte ihr leise auf den Dachboden. Dort angekommen zog sie mit einem Haken an einer Öse, die fast unsichtbar in der Decke versteckt war. Eine Holztreppe klappte wie aus dem Nichts herunter und vor uns befand sich der Einstieg zum Speicher.

»Bitte sehr.« Nacheinander stiegen wir langsam und vorsichtig die raue Leiter hinauf. Oben angekommen zündete meine Gastgeberin eine kleine Öllampe an, die an einem Dachbalken hing.

»Schauen sie, dort hinter den Holzfässern befindet sich die verborgene Öffnung, die hinüber führt.«

Im flackernden Schein der Öllampe wälzte ich vorsichtig die Fässer zur Seite, entfernte ein Brett und kroch durch die frei gewordene Öffnung. In dem stickigen Speicher des Nachbarhauses herrschte fast völlige Dunkelheit. Nur durch eine kleine dreckige Dachluke drang das fahle Licht des Mondes.

Hier oben entdeckte ich einzelne Kisten. Einige waren recht lang, auf manchen klebte ein Totenkopfsymbol. Direkt unter dem Fenster, wo es am hellsten war, lagen einzelne Gewehre mit aufgeschraubten Bajonetten. Die Preußen, denen das Haus als Unterschlupf diente, hegten mit größter Sicherheit keine guten Absichten.

Am Ende des Speichers stieß ich auf eine steile Holztreppe, die in das darunterliegende Stockwerk führte. Vorsichtig bewegte ich mich Schritt für Schritt die Stufen hinunter, zog die Tür einen Spalt auf und betrat den verlassenen Raum.

Allem Anschein nach befand ich mich nun in einem der Schlafzimmer dieses Haues. Auf dem eisernen Bett lag eine Matratze mit Decken. Die Türen des Kleiderschranks waren mit versierten Schnitzereien versehen und ein Stapel Papier auf einem Sekretär verriet, dass hier ab und zu jemand herein kam.

Wer lebte hier? Was ging hier vor sich? Wo waren die Sigmundssons und warum lagerten Waffen auf dem Speicher? Alle diese Fragen drehten sich in meinem Kopf. Um Antworten zu bekommen, musste ich mich weiter in dem Haus umschauen. Vorsorglich zog ich meine Schuhe aus und schlich bedächtig zur Treppe, die nach unten führte. Je weiter ich hinunter huschte, desto deutlicher drangen Stimmen an mein Ohr. Offensichtlich war eine wilde, hektische Diskussion im Gange. Es klang, als ob hier jeder auf seiner Meinung beharrte. Irgendwie musste es mir gelingen, einen Blick in den Raum zu werfen, aus dem die Stimmen kamen.

In dem Flur vor dem Zimmer hing ein kleiner Spiegel an der Wand. Wenn ich nicht in den Raum gehen konnte, dann bot dieser zumindest die Chance, von außen einen Blick in das fremde Zimmer zu werfen. Vorsichtig nahm ich den Spiegel ab und hielt ihn in verschiedenen Winkeln in die nur angelehnte Tür.

Fünf düster blickende Männer mit langen Mänteln und schweren Stiefeln saßen und standen um einen Tisch. Spätestens jetzt wusste ich, dass der Bettler vor der Tür zu dieser Truppe gehörte, denn fünfmal das gleiche Schuhwerk konnte kein Zufall sein. Auf dem Tisch befand sich ein ähnlicher Fernschreiber wie ihn mein Meister besaß. Die Diskussion, die geführt wurde, drehte sich darum, welche Botschaft durch dieses Gerät übertragen werden sollte. Als ich den Winkel des Spiegels ein wenig veränderte, erkannte ich an der Rückwand des Raumes eine große Landkarte von Europa.

Bisher hatte ich keine Ahnung, weshalb wir uns auf dieser Reise befanden, aber vielleicht hatte es ja mit dieser Karte und dem seltsamen Koffer zu tun, der nun geöffnet auf dem Tisch stand. Überall lagen Dokumente herum, die von den Männern akribisch untersucht und besprochen wurden.

Schließlich einigten sich die Männer auf die Botschaft, die sie übermitteln wollten. Während einer den Text vorgab, betätigte ein anderer das Gerät. Da war er! Der Mann aus dem Stall.

»Mittelmächte sollen in einen Krieg gezogen werden. Weiterbau der Eisenbahn soll verhindert werden. Schutz der Adeligen und Politiker muss erhöht werden. Versuchen Weiteres in Erfahrung zu bringen.«

Im Spiegel konnte ich erkennen, wie sich die Männer besorgt anschauten. Dann wurden die Sachen wieder sorgfältig in den Koffer geräumt.

»Bring das Gepäck wieder zur Kutsche«, sagte ein Mann mit Vollbart zu jenem, dem ich gefolgt war. »Wir müssen abwarten, welchen Auftrag wir erhalten. Vorher können wir keine Entscheidungen treffen.«

Wenn ich Glück hatte, dann würde mein Meister nie erfahren, dass jemals etwas aus unserer Kutsche gestohlen wurde. Anscheinend wendete sich noch einmal alles zum Guten.

Lautlos verschwand der Spiegel wieder an seinen Platz und unhörbar betrat ich die erste Stufe der Treppe. Knapper hätte mein Abgang kaum sein können, denn just in dem Moment, als meine Ferse hinter der ersten Biegung verschwand, öffnete sich die Haustür. Nun war es für mich unmöglich, die Treppe weiter nach oben zu gehen. Selbst ohne Schuhe war die Gefahr zu groß, dass eine der Dielen knarren würde. Wie versteinert stand ich dort und wartete ab, was passieren würde.

»Wisst ihr, ob unsere Nachbarin Verwandte hat?«

In der Küche entstand ein Gemurmel und ich hörte wie Stühle nach hinten gerückt wurden.

Es konnte nur noch Sekunden dauern, bis sie mich entdeckten. Dann wäre es aus mit mir. Keiner würde mich vermissen und mein Meister würde sich einfach einen neuen Diener suchen.

Doch plötzlich ertönte durch die angrenzenden Gassen ein durchdringender Klang, dessen Ursprung ich direkt zuzuordnen wusste. Dies war meine Rettung! Wild und unbändig hämmerte die Nachbarin auf ihren metallenen Gong. Dazu rief sie mit lauter Stimme die Menschen dazu auf, Fenster und Türen zu schließen – immer und immer wieder. Erst nur laut, dann gellend.

Die Männer rannten nun zur Haustür und zum Fenster und reckten die Hälse, um zu sehen, was dort draußen vorging. Ich aber nutzte die Verwirrung und den Lärm im Haus, um so schnell es ging die Treppe nach oben zu hasten. Durch das Schlafzimmer erreichte ich den Aufgang zum Speicher und verschwand auf dem Dachboden.

Hier war das Dämmerlicht des Abends dem Schein des Vollmonds gewichen und der Stauraum unter dem Dach war nun sogar heller erleuchtet als zuvor. Unter dem Fenster lagen immer noch die Gewehre und die geheimnisvollen Kisten. Als ich mich gerade neben einem der länglichen Kästen befand, stieg ein schrecklicher Gedanke in mir auf. Ein Schauer der Erkenntnis durchströmte meinen Körper. Wahrscheinlich barg diese Kiste das Rätsel um die verschwundene Familie Sigmundsson. Irritiert hielt ich inne und überlegte, ob ich nicht so schnell wie möglich vom Speicher verschwinden sollte. Aber irgendetwas drängte mich, die Wahrheit herauszufinden. Also drückte ich vorsichtig den Deckel der Kiste ein Stück nach hinten. Der faulige Geruch nach Verwesung bestätigte meine Befürchtungen.

Als ich mich endlich traute, direkt in die Öffnung zu schauen, erwartete mich ein grauenvoller Anblick, den ich nie wieder vergessen werde. Von Würmern zerfressen lag eine männliche Leiche in ihrem getrockneten Blut und verrottete. Durch die zum Teil eingeschlagene Schädeldecke waren Stücke des Gehirns zu sehen. An anderen Stellen war das Fleisch schwarz und fleckig. Ein Schauder durchfuhr mich. Ich wollte den aufsteigenden Brechreiz unterdrücken, doch ich schaffte es nicht – was ich sah war zu furchtbar. Ein Schwall aus Flüssigkeit und Resten meiner letzten Mahlzeit ergoss sich über Herrn Sigmundsson. In Panik zog ich den Deckel wieder zurück und verschwand durch das Loch in der Wand in das Nebenhaus.

Dort kletterte ich leise über die hölzerne Stiege hinab in das Dachgeschoss und eilte dann weiter in das untere Stockwerk. Noch ehe ich das Ende der Treppe erreicht hatte, sah ich die Hausherrin, die mir außer Puste entgegenkam.

»Ich habe mich um sie gesorgt«, redete sie verängstigt los. »Der Bettler, er hatte seinen Platz verlassen und …«

»Danke, sie haben mein Leben gerettet!«, erwiderte ich und hielt mich erleichtert am Geländer fest.

Immer noch völlig aufgelöst, wiederholte ich in groben Zügen, was ich zuvor aufgeschnappt hatte: Die Mittelmächte sollen in einen Krieg gezogen werden, Adelige und Politiker sind in Gefahr.

Ein besorgter Schatten huschte über ihr Gesicht und die Adern an ihren Schläfen pulsierten. »Anscheinend plant jemand einen Anschlag und die Deutschen haben Wind davon bekommen«, kommentierte sie das Gesagte und blickte sorgenvoll auf die Wand zum Nachbarhaus. »Und was ist mit den Sigmundssons? Wo sind sie?«, fragte sie zögernd.

Ich haderte mit mir selbst, doch vielleicht war es besser, sie nicht mit dem zu belasten, was ich gesehen hatte. Hilflos zuckte ich mit meinen Schultern.

»Darf ich sie noch nach draußen begleiten?«, fragte die Frau, als ich mich zur Tür drehte. Ich nickte und folgte ihr zur Haustür.

»Danke«, sagte ich, als wir gemeinsam vor der Tür standen und begab mich, von der Kälte der Nacht umhüllt, zurück in die Straße, aus der ich gekommen war.

Der Glanz des Mondes wurde inzwischen von einzelnen Sternen am Himmel begleitet. Die Fischer im Hafen arbeiteten emsig und die ersten Boote fuhren bereits aufs offene Meer hinaus. Ich musste mich beeilen und schnell wieder zurück zur Scheune gelangen. Sobald die Preußen den Koffer zurückgebracht hätten, würde ich mich in die Kutsche legen und diese besser bewachen. Ich wollte meinen Meister niemals enttäuschen. Und morgen, morgen würden wir dann wohl weiterreisen und Reykjavík verlassen.


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