Читать книгу Das Flüstern der Kristalle - Christian Gemsa - Страница 7

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Prolog

Die Festung thronte wie eine steinerne Krone auf dem Hügel. Das schwindende Sonnenlicht legte einen blässlichen Schimmer über das Land und der Wind trug die erste Kälte des nahenden Winters heran. Die weiße Pflasterstraße, die zur Festung hinaufführte, schimmerte leicht im letzten Licht des Tages und wies der Gruppe von Reitern den Weg zu ihrem Ziel. Sechs Männer und drei Frauen, allesamt in schwarze Reiseumhänge gehüllt, steuerten auf die Festung zu. Ein Hornsignal tat kund, dass man ihre Ankunft zur Kenntnis genommen hatte, und das Tor öffnete sich einen Spaltbreit, um zwei Reiter hindurchzulassen, die nun zu den Neuankömmlingen herunterritten. Beide trugen die Kavallerierüstung der Legion und einer von ihnen hielt stolz die Standarte der Republik: die goldene Sonne auf rotem Grund.

Als die beiden Reiter die Gruppe erreichten, salutierten sie respektvoll vor deren Anführer.

»Erznoctus Salvarion, im Namen des Tribuns und des Direktors entbiete ich Euch Grüße und heiße Euch willkommen!«

Der Angesprochene quittierte die gestelzt vorgetragene Begrüßung mit einem knappen Nicken. Er war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, die Haare schneeweiß, wie es für sein Volk bereits von Kindesbeinen an üblich war, die Augen gelb und hart. Seine Gesichtszüge waren fein und scharf geschnitten und sein Gebaren war das eines Mannes, der es gewohnt war, dass seinen Anweisungen Folge geleistet wurde.

»Nun denn, Centurio, zur Festung!«, sagte der Erznoctus ruhig, aber bestimmt, woraufhin der Offizier erneut salutierte, sein Pferd wendete und die Gruppe hoch zum Tor eskortierte. Man geleitete sie ohne weitere Unterbrechungen ins Innere der Festung, wo sie ihre Pferde in die Obhut des Stallmeisters gaben und ihre Mäntel ablegten. Darunter trugen sie allesamt schwarze Lederrüstungen – alle außer dem Erznoctus selbst, welcher in einen schlichten schwarzen Anzug gekleidet war.

Im Festungshof warteten bereits zwei weitere Männer auf die Neuankömmlinge, die der Centurio pflichtschuldig als Tribun Garion Voreo und Direktor Iulos Oppenius vorstellte. Direktor Oppenius trug einen extravaganten weißen Anzug mit goldenen Stickereien. Er war hochgewachsen und schlank, das weiße Haar trug er zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden. Nach Mode der Hauptstadt hatte er die Augen mit Schminke umrandet, diese dabei jedoch merklich dicker aufgetragen als üblich, um die starken Augenringe zu kaschieren.

Tribun Voreo, gekleidet in der glänzenden Offiziersrüstung der Legion, war von drahtiger Statur und etwas kleinerem Wuchs. Er salutierte zackig vor dem Erznoctus, während sich der Direktor lächelnd verneigte.

Salvarion nahm die Begrüßung stumm zur Kenntnis und wandte sich dann knapp an Tribun Voreo.

»Mit Eurem Einverständnis werden meine Männer die Festung inspizieren.«

»Natürlich, Herr!«, antwortete der Tribun und salutierte ein weiteres Mal. Ohne eine Anweisung ihres Anführers abzuwarten, lösten sich drei Männer aus der Gruppe. Der Erznoctus entließ den Tribun mit einer einfachen Handbewegung, der die drei Männer in Schwarz daraufhin in Richtung des Wehrganges führte. Der Centurio folgte ihnen, mit einem Ausdruck der Erleichterung im Gesicht.

»Nun, Direktor, wenn ich bitten darf«, sagte Salvarion höflich, aber bestimmt. Oppenius lächelte, wirkte dabei aber zunehmend nervös. Er verbeugte sich noch einmal und wies dann in Richtung des Haupthauses. Der Erznoctus und seine verbliebenen Begleiter folgten ihm schweigend. Sie passierten die beiden Legionäre, die am Portal Wache standen, durchschritten die kahle Eingangshalle und betraten schließlich einen breiten Aufzug, der sich auf ein Glockensignal des Direktors hin rumpelnd in Bewegung setzte. Dieser führte sie tief hinab, vorbei an den gewaltigen Steinquadern, aus denen die Festung errichtet war, bis das Fundament schließlich durchquert war und die grauen Steine schwarzer Erde wichen. Tiefer und tiefer ging es hinunter; im Inneren des Fahrstuhls spendete lediglich eine kleine Öllampe ein schwaches Licht. Niemand sagte ein Wort.

Schließlich setzte der Fahrstuhl überraschend sanft auf und ein Mann in einem türkisfarbenen Kittel öffnete die schwere Tür. In der dahinterliegenden Halle befanden sich Gerätschaften, die jeden Bürger der Republik an seinem Verstand hätten zweifeln lassen. Fein geschwungene Symbole aus geisterhaftem, bläulichem Licht schwebten wie von Zauberhand über Konsolen aus grauem Metall. In den Oberflächen dieser Konsolen, welche etwa die Größe und die Form von Schreibtischen hatten, fanden sich dieselben Symbole in eingravierter Form wieder. An den Geräten saßen Dutzende Männer und Frauen in türkisfarbenen Kitteln und jedes Mal, wenn sie mit den Fingern über die Symbole auf den Konsolen fuhren, änderten sich die schwebenden Lichter.

Kein Mensch an der Oberfläche hätte jemals geglaubt, dass fremdartige Wunderwerke wie diese existieren konnten, und dennoch gingen die Mitarbeiter hier ihren Aufgaben mit einer Selbstverständlichkeit nach, als hätten sie ihr Leben lang nichts anderes getan.

An einigen Geräten schien das geisterhafte Licht in unregelmäßigen Abständen zu flackern und Männer mit Klemmbrettern versuchten, die immer wieder aufflammenden Symbole nachzuzeichnen.

»Wie ich sehe, sind noch immer nicht alle Konsolen vollständig wiederhergestellt«, sagte der Erznoctus in einem ruhigen Ton, der den Direktor dennoch leicht zusammenzucken ließ.

»Noch nicht, Herr«, antwortete Oppenius, wobei er beim Gehen eine leicht gebückte Haltung annahm. »Die Übersetzungen lassen aber darauf schließen, dass es sich um für unsere Arbeit unwesentliche …«

»Dann sind die Übersetzungen weiter fortgeschritten?«, unterbrach ihn Salvarion.

»In der Tat, Herr!«, antwortete der Direktor, offenbar erleichtert darüber, einen Erfolg vermelden zu können. »Wir sind zuversichtlich, die letzten entscheidenden Elemente entschlüsselt zu haben. Die Überlebensrate der Subjekte hat sich seitdem deutlich erhöht. Ein Exemplar im Besonderen gibt Anlass zur Hoffnung.«

Oppenius, der das Schweigen des Erznoctus als Wohlwollen interpretierte, führte die Gruppe in die Mitte der Halle, wo sich eine große, kreisrunde Öffnung im Boden befand, die mit Glas verkleidet und von einem Geländer umgeben war. Von dort hatte man einen ungestörten Blick auf einen etwa zwei Stockwerke tiefer gelegenen runden Raum, welcher größtenteils im Schatten lag. Salvarion, Oppenius und der Rest der Gruppe traten an das Geländer heran und schauten in die Tiefe.

»Wir werden das Exemplar, von dem ich gerade sprach, einem weiteren Test unterziehen«, verkündete Oppenius mit strahlenden Augen. »Verläuft dieser erfolgreich – und damit rechne ich fest –, sind alle Weichen gestellt für die erste erfolgreiche Transformation in der Geschichte dieser Anlage!«

»Ich hoffe«, antwortete Salvarion, »dass sich Euer Optimismus als angebracht erweist. Um euretwillen, Direktor.«

Das kriecherische Lächeln gefror auf Oppenius’ Gesicht. Er räusperte sich und gab einem Mitarbeiter in türkisenem Kittel ein Zeichen, woraufhin dieser ein Symbol an einer Konsole in der Nähe des Geländers berührte. Sofort erwachte der kreisrunde Raum unter ihnen zum Leben. In seine Wände waren feuerlose Lampen eingelassen, die ein unnatürliches weißes Licht abgaben. Die Wände bestanden ausschließlich aus tiefblauen Kristallen, die in allen Größen und Formen in den Raum hineinragten. Die einzige Ausnahme war eine geschlossene Tür, die aus demselben Metall zu bestehen schien wie der Boden des Raumes und die Konsolen in der Halle darüber. In der Mitte des Rundes befand sich ein thronartiger Stuhl aus einem seltsamen, glasartigen Material. Über diesem ragte ein Metallarm mit zwei Spitzen von der Decke herunter. Der Direktor wandte sich erneut an den Mitarbeiter neben ihm.

»Bringt das Exemplar herein!«, befahl er. Gehorsam betätigte sein Untergebener ein weiteres Symbol auf seiner Konsole. Zunächst geschah nichts, dann aber glitt die Tür des Raumes unter ihnen wie von Geisterhand zur Seite. Herein traten zwei kräftig gebaute Wachmänner, die eine junge Frau von etwa neunzehn Jahren in den Raum zerrten. Sie trug ein einfaches, braunes Kleid aus Leinenstoff und die schwarzen Haare sowie die gräuliche Haut gaben zu erkennen, dass sie zum Volk der Brynei gehörte. Ihre Füße waren nackt und sie machte einen dürren, ausgemergelten Eindruck. Dennoch wehrte sie sich mit erstaunlicher Kraft gegen die beiden Männer, die sie nun in Richtung des seltsamen Stuhls in der Mitte des Raumes zerrten. Je näher sie dem Stuhl kamen, desto mehr verwandelte sich der Widerstand der jungen Frau in Panik. Ihre Augen waren aufgerissen und sie schüttelte verzweifelt den Kopf, während sie etwas zu schreien schien. Durch die Glasfront war jedoch nichts zu hören und ihr Flehen wäre ohnehin auf taube Ohren gestoßen.

Mit kalter Gleichgültigkeit schaute Salvarion auf das Geschehen unter ihm hinab. Als die Wachen die Frau an den Stuhl fesselten und sie sich verzweifelt, aber erfolglos dagegen zu wehren versuchte, trafen sich ihre und Salvarions Augen. Die einen grau und tränenverquollen, erfüllt von animalischer Panik. Die anderen gelb, hart und unnachgiebig.

»Sie scheint nicht ganz bei sich zu sein«, kommentierte der Erznoctus in beiläufigem Ton. »Seid Ihr Euch sicher, dass sie die Prozedur überstehen wird?«

»Ihr Zustand ist das unvermeidbare Ergebnis der vorausgegangenen Behandlungen«, antwortete der Direktor. »Der menschliche Verstand verkraftet diese Art von Verfahren nicht. Ich erwarte eine vollständige Zerstörung ihres Geistes durch den anstehenden Test. Doch seid unbesorgt, Herr«, fügte er mit einem Seitenblick auf Salvarion hinzu, »sie wird nicht sterben. Ihr Verstand ist für unsere Zwecke nicht von Belang.«

»Das ist er in der Tat nicht«, stimmte Salvarion zu und gab dem Direktor mit einer wohlwollenden Handbewegung die Erlaubnis fortzufahren. Dieser nickte seinem Mitarbeiter an der Konsole erneut zu, welcher eine Reihe von Symbolen berührte, woraufhin sich der Metallarm über dem Stuhl langsam abwärtszubewegen begann. Die junge Frau schrie und wand sich, als sie das Objekt auf sich zukommen sah, doch es half nichts, denn die Männer, die den Raum inzwischen verlassen hatten, hatten ihre Hände, ihre Füße und ihre Stirn mit metallenen Klammern an den Stuhl fixiert. Alles, was sie tun konnte, war, flehentlich zu den Männern und Frauen über ihr zu schauen und diese stumm um Gnade anzuflehen – Gnade, die ihr nicht gewährt wurde.

Als der Metallarm mit seinen zwei Spitzen die Stirn der jungen Frau berührte, ließ der Mann an der Konsole seine Hand über ein einzelnes Symbol gleiten, das größer war als alle anderen. Die blauen Kristalle begannen nun hell zu leuchten. Ein Vibrieren ging durch den Metallarm und die junge Frau auf dem Stuhl begann unkontrolliert zu zittern. Plötzlich zuckte ein blauer Blitz zwischen den beiden Spitzen des Arms hervor, gefolgt von einem zweiten und einem dritten. Dann schlug mit der Wucht eines niedergehenden Gewitters ein gewaltiger blauer Blitz in die Stirn der gefesselten Frau ein. Sie schrie, strampelte, zuckte hilflos und krampfhaft. Ihr Körper bäumte sich unter unermesslichen Qualen auf, während der Lichtstrahl, der sich in ihren Kopf bohrte und dabei Haut und Knochen auf wundersame Weise unangetastet ließ, heller und heller wurde.

»Intensität erhöhen!«, befahl der Direktor. Auf seiner Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen, seine Augen waren vor Gier geweitet. Der blaue Blitz wurde noch gleißender und die unhörbaren Schreie der jungen Frau, des Exemplars, wie Oppenius sie genannt hatte, wurden – davon war auszugehen – lauter und schriller. Schaum trat ihr vor den Mund und nun geschah etwas Seltsames. Sie begann von innen heraus zu glühen! Blau strahlende Adern aus Licht traten unter ihrer Haut hervor, waren sogar unter dem inzwischen schweißnassen Stoff ihres Kleides gut erkennbar.

Die Schmerzen, welche die Frau inzwischen litt, mussten unvorstellbar sein, doch eine gnädige Ohnmacht schien sich nicht einstellen zu wollen. Zu ihren Füßen hatte sich längst eine gelbliche Pfütze gebildet, nachdem die Frau sämtliche Kontrolle über ihre Körperfunktionen verloren hatte. Ihre Augen waren krampfhaft verdreht und ihr Körper bebte unaufhörlich.

»Maximale Intensität erreicht«, verkündete der Mann an der Konsole in sachlichem Ton.

In diesem Moment hörte das Zucken des Körpers auf dem Stuhl plötzlich auf. Der Lichtstrahl wurde noch intensiver, immer und immer heller.

»Energiezufuhr abbrechen!«, rief der Direktor, doch egal wie oft sein Untergebener das entsprechende Symbol berührte, es geschah nichts.

»Ich verstehe nicht … Es …«, stammelte er.

»Energiezufuhr abbrechen!«, fiel ihm Oppenius ins Wort, die Stimme nun deutlich panischer als zuvor. Etwas stimmte nicht!

»Unmöglich, Herr!«, begehrte der Mitarbeiter mit sich überschlagender Stimme auf. »Die Energie kommt nicht länger von uns. Sie kommt direkt aus dem Vorkommen!«

»Wie kann das sein?« Alle vorgetäuschte Ruhe fiel von Oppenius ab. Er stürmte zur Konsole und stieß seinen Untergebenen grob beiseite. Wie ein Besessener hämmerte er auf die Symbole ein, sein Blick jagte über die leuchtende, fremdartige Schrift, die über der Konsole schwebte.

»Das ist nicht möglich! Das ist …«, stammelte er verständnislos, bevor sich seine Augen vor Entsetzen weiteten. »Valys stehe uns bei!«

Plötzlich brach das blaue Licht im Raum unter ihnen unvermittelt ab. Der thronartige Stuhl war in Stücke gesprengt worden und in den Trümmern stand die junge Frau. Ihr Kopf war leicht schief gelegt, ihr Blick gesenkt. Als Erznoctus Salvarion zurück ans Geländer trat und nach unten sah, hob sie den Blick und schaute ihm direkt in die Augen. Es lag keine Angst mehr in ihrem Blick und ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. Langsam wandte sie sich ab und trat auf die Tür zu, durch die sie wenige Minuten zuvor hereingebracht worden war. Ihre rechte Faust schnellte vor und die massive Metalltür flog aus den Angeln, als bestünde sie aus Papier. Das Lächeln auf dem Gesicht der Frau wurde breiter, als sie aus dem Raum schlenderte und langsam von den Schatten verschluckt wurde.

Rufe nach den Wachen wurden laut, die Männer und Frauen in den türkisenen Umhängen rannten umher, verwirrt und führungslos. Niemand konnte begreifen, was gerade geschehen war, und die Angst griff mehr und mehr um sich. Der Erznoctus starrte einen Moment lang schweigend in den nun leeren Raum. Dann gab er einem seiner Begleiter ein Zeichen. Dieser nickte knapp und trat an den Direktor heran. Oppenius wirkte völlig apathisch und seine Lippen bewegten sich unaufhörlich, aber lautlos. Dann verschwand sein Kopf in dem schwarzen Sack, den Salvarions Begleiter ihm überstülpte. Ein anderer verschränkte die Arme des Direktors auf dem Rücken und fesselte sie mit eisernen Handschellen. Er würde einige Fragen zu beantworten haben, bevor man ihm gestatten würde zu sterben. Salvarion sah ein letztes Mal in den Raum unter ihnen hinab. Er war sich sicher, dass die Wachen nicht in der Lage sein würden, die junge Frau aufzuhalten. Und zum ersten Mal seit Jahrzehnten fühlte er Angst in sich aufsteigen.

Das Flüstern der Kristalle

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