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Dritter Tag

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"Wenn der blinde Maulwurf in blindem Instinkt die Erde durchwühlt, so möchte es wohl sein, daß in der tiefsten Teufe bei dem schwachen Schimmer des Grubenlichts des Menschen Auge hellsehender wird, ja daß es endlich, sich mehr und mehr er­kräftigend, in dem wunderbaren Gestein die Abspiegelung Dessen zu erkennen vermag, was oben über den Wolken verborgen.”

E.T.A. Hoffmann, Die Bergwerke von Falun

Information kann nicht schaden, dachte ich nach meiner gewöhnlichen Montagsdepression

Es war ruhig geworden in der Kneipe. Viele schliefen und schnarchten sogar. Der Zeitungsjunge kam pünktlich gegen Mitternacht mit der neuesten Nachtdepesche. Altersgierig nach Sex and Crime griff ich gewohnheitsmäßig zu und faltete erwartungsfroh das Revolverblatt auseinander. Die Schlagzeile ließ mein Blut erstarren, die Zeilen verschwammen vor meinen Augen. Ich rang erbärmlich nach Luft und Fassung.

"PFANDFLASCHENPREISE AB SOFORT FREIGEGEBEN. FDP SETZT SICH MIT IHRER FORDERUNG NACH FREIER MARKTWIRTSCHAFT ERNEUT DURCH.”

Das mir als dynamisch aufstrebendem Frischlingswirt einer hoffnungslos veralteten Schänke mit Pißbudenbeleuchtung! Diese Schlagzeile ist doch der beste Beweis, dass die offene Psychiatrie in Deutschland gescheitert ist. Hastig überschlug ich sofort die Pfandflaschenbestände. Ich kam annähernd auf 22 Kästen Ostheimer Pils, 13 Kästen Weihengeorg, 40 Kästen Selters der billigsten Art, 15 Kästen Säfte der unschmackhaftesten Sorte und bestimmt 23 mal diese unsäglichen Landweinzumutungen, die süßliche Spezialität von Joschi und Lola. Multipliziert mit dem noch gestern gültigen Pfandpreis hatte ich in dem feuchten Keller bestimmt um die 712 Märker rumstehen.

Und jetzt? Würde ich morgen reich oder arm sein wie eine der sich unbotmäßig stark vermehrenden Kirchenmäuse? Könnte ich mir morgen früh noch Brötchen leisten? Horten oder abstoßen? Zukaufen? An der Börse spekulieren oder in die FDP eintreten, um Schlimmeres zu verhindern? Das Pfanddrama schien endgültig ausgebrochen. Irgendwie hatte ich es immer geahnt, aber nie ausgesprochen. Selbst nicht bei meiner legendären Rede am Donoper Teich. Dabei hatte ich mir doch vorgenommen, hier alles und endgültig vorauszusagen.

Sofort schwor ich auf den Mut zur spekulativen Wahrheit und die Omnipotenz der Dementia Liberalis Postcox oder so ähnlich, um dann schweißgebadet aus meinem Bett zu springen. Nichts als die gewöhnliche Montagsdepression. Mein Wecker strahlte mir unerbittlich fünfuhrdreizehn entgegen. Wie lange noch? Schon war es vorbei. Fünfuhrundvierzehn. Man kann sich aber auch auf nichts mehr verlassen. Säumt man zu lange, so wird der Feind gewarnt. Ja, ja. Wilhelm Tell und Schiller hatten es trotzdem noch einfacher. Oder anders. Verfluchte Hirnfäule.

Genüsslich und ergeben schlürfte ich meinen Cappuccino und die morgens immer irgendwie verkorkste erste Selbstgedrehte. Der Tag wollte sorgfältig geplant sein. Aber ich kannte mich ja schon ein bisschen. Wenn mir schon der Überblick hier und da abhanden kommt, so tanzt das Wesentliche doch irgendwann aufreizend und verlockend vor meiner Nase. Verwaltungsgänge. Ahhh! Terror und Tränen, hastende Kugelschreiber und hyperdominante Kassenbrillen würden mir den Morgen versüßen und die erste Gerstenkaltschale meinen Sieg und die neu gewonnen Freunde besiegeln. Auf, auf! Der Beamte wartet nicht gerne. Oder zumindest nur ungern - wie meiner. Stolz klopfte mein Herz bei dem Gedanken an meine bisherigen Steuerzahlungen. Jetzt können sie sich endlich einmal gebührlich revanchieren. „Der Kunde ist König,” trällerte ich auf dem Lokus.

Verbrechen lohnt sich nicht, schoss es mir durch den Kopf, als ich endlich entnervt einige Stempel aus der Verwaltungsbürokratie herausgepresst hatte. Was Kassengestelle doch dickköpfig sein können - und trotzdem passen sie. Elefantös, aber wahr - niemand hatte auch nur das geringste Interesse an dem Pfanddrama. Sicherlich hatten sie alle in ihren Stadtrandkleinsteigenheimkolonien mit Satellitenantenne den ganzen Keller mit Mehrwegflaschen vollgestellt oder radikal geräumt. Wissend um den neuesten Trick auf dem Weg zur endgültigen Liberalität.

Und ich? Gyroskauend starrte ich energisch in meine Zukunft und begegnete fortwährend diesen ernsten und starren Augen. Zeig mir einen Helden und ich zeig dir eine Tragödie. Irritiert fasste ich den Entschluss, weder Kater noch Kosten zu scheuen, um meine Montagsdepression zu beseitigen. Und siehe: Die Augen begannen irgendwann beredt zu leuchten. Ausgeträumt. Weitermachen. Jetzt war ich wirklich hellwach.

Ich beschloss, meine Lungen durch einen längeren Spaziergang mit Siegel etwas zu entlüften, gleichzeitig mein Gehirnknäuel etwas zu sortieren und mich mental auf das entscheidende Erbentreffen einzustimmen. Siegel wedelte schon erwartungsfroh neben seiner Leine. Keine Spur von Trauer über Joschis Abgang.

Für heute hatte sich Siegel einiges vorgenommen. Zielstrebig bog er rechts in die Luerdisser Straße, vorbei an den reich verzierten Ackerbürgerhäusern aus dem sechzehnten Jahrhundert, kreuzte bei dem Schmerimenhaus, einem 1547 erbauten Sandsteingebäude mit gegliederter Renaissancefassade, die Straße und steuerte unbeirrt die Mittelstraße entlang. Vorbei an dem Planetenhaus mit Venus, Saturn und Jupiter mit Säbel und dem Apothekenerker, dem Höhepunkt der Weserrenaissance. An dem Fahrradständer neben dem Gebäude musste etwas besonders gut riechen, so hatte ich Zeit, das Relieffries mit zehn berühmten Naturforschern, Ärzten und Alchimisten von 1612 zum vierzigsten Mal zu studieren. Mein genaues Wissen über die Gebäude hatte ich von kleinen Plastikschildern, die eine ABM-Mitarbeiterin an allen denkmalgeschützten Gebäuden angebracht hatte. Den Alten Krug hatte die Fachkraft vergessen. Ich werde demnächst Bürgermeister Müller darauf hinweisen.

Siegel führte mich weiter an dem Palais vorbei, wo heute das Musikkloster seinen Sitz hat. Auf dem Weg Richtung Niewälder Teich mussten wir uns an einer Gruppe junger Koreaner und Japaner vorbeidrängeln, die uns bewaffnet mit Geigenkästen, leichten Oboenschächtelchen und verpackten Hörnern entgegenkamen.

Als wir über den Parkplatz am Teich gingen, atmete ich beruhigt auf. Von den Menschmassen am Wochenende war nichts zu spüren. Keine Hundertschaft Jogger, nervöser Pferde und schimpfender Familien. Da konnte das Naturschutzgebiet mit dem Mörther Hochmoor heute durchaus zur Erholung werden und ich mich meinen Gedanken hingeben.

Warum hatte ich mich nur zu diesem Schwachsinn überreden lassen und nicht gleich gesagt: Ohne mich? War es ein Tribut an unsere Joschi oder die Angst, heute Abend kein Ziel zu haben? War es die Flucht aus meinem bisherigen Spitzenjob oder bloße antiquierte Loyalität zu verkrachten Psychologiestudenten, Molkereibesitzern und ihren Töchtern, vegetierenden Computerhackern und abgedroschenen Zitatenhaien? Wahrscheinlich wollte ich dem tölenden Mischling Siegel nur eine ihm schon vertraute Heimstatt geben, versuchte ich mich über den dann drohenden oder zwangsläufigen Jobverlust als Taxizentralentelefonator hinwegzutrösten. Wer nichts wird, wird Wirt, machte ich meine tägliche Referenz an unseren studierten Heinz Döhlke.

Während Siegel ausgiebig an irgendeiner spannenden Buche oder so `rumschnüffelte und ein einsamer Jogger triefend an uns vorbeischnaubte, versuchte ich zu rekapitulieren. Joschi war mausetot. Der Alte Krug gehörte schon seit unendlichen Zeiten ihrer Familie. Sie hatte drei Stammbewohner der Kneipe als Erben ausgewählt und ihnen einen Auftrag erteilt. Mit einem Testament und einem Brief. Hier fand sich eine fremdsprachige Eintragung von Joschi, die auch von Döhlke nicht im ersten Durchgang zu entziffern war. Platt hätte ich ja noch verstanden, das wäre auch Joschi näher liegend gewesen. In dem Brief einer gewissen Frietze war von einem offensichtlichen Arschloch mit dem Namen Siegel die Rede. Siegel schaute kurz auf, er schien Gedanken lesen zu können. Warum hatte Joschi den Hund Siegel genannt? Dann unserer Winkeladvokat. Seinen Job musste er tun, war aber nicht auf Joschis und unserer Seite. Wahrscheinlich hatte er da undurchsichtige Deals mit dem Bürgermeister und dem Fraktionsvorsitzenden, denen der Alte Krug ein Dorn im Auge ist. Der Bürgermeister Müller hatte sich ja verräterisch verplaudert, wie Giesbert richtig aufgefallen war.

Siegel zerrte an der Leine. Eine Hundedame näherte sich mit siegelaufreizenden Gebärden. Meine Entscheidung war in diesem Moment getroffen. Ich werde mich Joschis Herausforderung stellen. Siegel versuchte in diesem Moment mir mit einem energischen Antritt den Arm auszukugeln.

Innerlich gestärkt kündigte ich telefonisch der Taxizentrale zu deren hörbarer Freude meine Mitarbeit auf und begab mich auf erste Spurensuche. „Wir beide sind jetzt Schnüffler,” tätschelte ich Siegel. Der interessierte sich aber inzwischen mehr für ein neu eingesätes Stück Rasen. Akribisch baggerte er ein halb Meter tiefes Loch. Wofür? Vielleicht muss man alles im Leben symbolischer nehmen.

Entschlossen betrat ich erstmals in meinem Leben die städtische Bibliothek mit angeschlossenem Archiv. Eine nette Frau, garantiert halbe Molkereitochterqualität, erläuterte mir bereitwillig und geschäftlich den Umgang mit den Folterwerkzeugen der Archivare. Sofort verschwand ich Hals über Kopf in Karteikästen, Stichwortregistern und Querverweisen. Relativ erfolgreich für einen kommenden Rockstar und werdenden Wirt. Zum Abtransport der Schriften über den Alten Krug, das Bierbrauen im allgemeinen und einigen Ortschroniken musste ich im gegenüberliegenden Supermarkt zunächst Einkaufstüten organisieren. Ich entschied mich für Baumwolltaschen. Fünfzig Pfennig das Stück.

Als ich in den Alten Krug kam, hörte ich den Hacker im Hintergrund rumoren. Die erste schwerwiegende Entscheidung des Mittags war nun zu treffen. Fordernd blickten mir rauchgeschwängerte Gardinen und spinnwebenüberzogene Hirschgeweihe entgegen. Sie harrten meiner emsigen Hand mit dem großen Feudel. Doch das heftig um Einblick werbende Bibliotheksbündel war stärker, die ersten Gäste noch fern, und schon verschwand ich in dem Stapel Fotokopien. Als Giesbert Romanowski nach fünf Minuten - die Uhr sprach allerdings von über drei Stunden - vor meinem zettelübersäten Stammtisch stand, platzte es ungestüm aus mir heraus. "Also, Hacker. Ich war heut´ in der Bibliothek und habe Materialien über den Alten Krug gesammelt. Premiere. Der alte Krug muss 1704 gebaut worden sein. Das dendrochronologische Gutachten datiert die Fällung der Eichenhölzer für den Fachwerkbau eindeutig auf 1703. Es war der erste Bau außerhalb der mittelalterlichen Stadtmauer. Der Fürst hat für die Ansiedlung etliche Knete sausen lassen. Er hat das Grundstück kostenlos dem Kammerrat Gabriel Friedrich Pierlinger oder so ähnlich überlassen – konnt´ ich nicht so genau entziffern. Jedenfalls hat der Typ `ne Branntweinbrennerei und `ne Scheune errichtet. Für 300 Taler wurde der dann auch noch auf ewige Zeit von allen steuerlichen Lasten entbunden. Steht hier in der Prozessakte.”

"Äh, ja,” unterbrach mich Giesbert. "Da könnten wir ja vielleicht zwecks Kostenminimierung mal einen Antrag ans Finanzamt stellen. Ewig ist doch ewig - oder wie.” Das klang überzeugend, kam aber bestimmt nicht hin. Wir beschlossen, den Winkeladvokaten dahingehend auszupressen.

"Du, ich hab von `nem Kumpel billig den 486er, 33 Megahertz, voll mit 32-bit Eisa Architektur abgestaubt. 200 Megabyte - Festplatte, 4 MB RAM - können wir aber jederzeit aufrüsten. Zwei Laufwerke - logo und Cache, Coprozessor und sogar mit Maus. Lahme, alte Kiste, reicht aber für die Buchführung. Geil, wa? Da machen wir jetzt das ganze Management mit. Drucker ist auch kein Problem. Yanco hat da noch ein Schätzchen in der Ecke stehen. Wo wollen wir den Kasten denn aufbauen?"

"Können wir denn mit der Digitalkiste auch die Pfandpreise berechnen und vorhersagen ?" Der Hacker zuckte, nichts kapierend, unruhig mit Achseln und Augenbrauen.

Schwerfällig, abr entschlossen stand ich auf. Die Küche war zu fettig, der Keller zu weinselig. Blieb für das Computerschätzchen also nur das Kabuff neben der rumpelnden Kegelbahn. Oben und in Joschis Wohnung hatte ich mich noch gar nicht umgetan. Giesbert war gleich voll im Geschäft. "Du, ich richte jetzt die Festplatte ein, spiel ein paar affentittengeile Programme drauf - alle voll schwarz und ohne Viren und schon fluppt das. Du kümmerst dich ja um die Kneipe. In einer Stunde geht`s los.”

Während ich im afrikanischen Windstil die Wirtsstube für den nächtlich ersehnten Umtrunk kostümierte, sortierte ich mein neues Wissen. Also, der Stadtgrundriss von 1750 zeigte Joschis Kneipe mit einem rechtwinklig nach Westen anschließenden Flügel. Das Ding gab es heutzutage nicht mehr. Es soll die damalige Stall- und Wagenremise gewesen sein. Zwei Aschenbecher gingen zu Boden, während mir dämmerte, dass der als Scheune bezeichnete Gebäudeteil Schnapsbrennerei und die rückwärtigen Anbauten Stallungen, Wagenscheuer und Gesinderäume gewesen sein müssten. Die Prozessakten! Hier war zu lesen, dass Pierlinger oder so ähnlich im Jahre 1722 den „bau der Scheure für Korn und Zugvieh hinzuzufügte und fing an solch Gebäude, in situ destinatu für sich und seine familie frey zu besitzen.” Der Schlawiner Pierlinger. Doch irgendwie nahm alles seinen gerechten Lauf. Im selben Jahr wurde er wegen Veruntreuung angeklagt und unter Hausarrest gestellt. Am 4.7. 1728 vermietet er sein am „schnipelfeldnerischen Wege gelegenes hauß mit dabey befindlichen hoffplatze und kleiner scheure an den Joseph Beuteler.” Wahrscheinlich war die Vermietung nicht so ganz freiwillig gewesen. Womit wir irgendwie bei Joschi angekommen wären. Ihr Vorfahr erhoffte sich wohl sein wirtschaftliches Auskommen im Tabak und eröffnet eine diesbezügliche Manufaktur. Schnaps, Bier und Tabak. Beuteler – Zigarren. Was will der Mann mehr - vielleicht noch das adrette Töchterchen des Molkereibesitzers. Ich steche vorsorglich und weitblickend ein neues Fass an. Ich glaub, die Kneiperei ist mein Geschäft.

Gerade noch rechtzeitig, denn schon hatten sich der Hobbyschauspieler Breiheim und seine Frau in froher Erwartung des ersten kühlen Blonden vor mir aufgebaut. Die Kopierkosten und der Bibliotheksausweis würden sich schon amortisieren, trällerte ich frohgemut vor mich hin. "Na, Herr Kneiper, wie lässt es sich denn so an. Schon eine Leiche im Keller gefunden?,” fragte Frau Breiheim hinterhältig mit spitzen Lippen. Ich zuckte so lässig wie möglich mit der Schulter. Während ich noch verzweifelt über eine philosophisch tiefschürfende Antwort nachgrübelte, kam der Sprücheklopfer Döhlke hereinspaziert. Wie immer eher kleinwüchsig, aber stramm und offenkundig unerschütterlich in sich selbst ruhend. Trotz seines außergewöhnlichen Aussehens. Er trug einen Jogginganzug, Joggingschuhe der etwas teureren Marke und natürlich immer noch seinen Hut.

"Aller Anfang ist schwer - nur Müßiggang, aller Laster Anfang, nicht. Sprichwort,” brüllte er uns entgegen, während er seinen Hut lässig auf den Ständer trudeln ließ. Der Mittelscheitel saß wie immer korrekt. "Zuviel kann mal wohl trinken, doch nie trinkt man genug. Gotthold Ephraim Lessing. Ha. Ein Korn, ein Bier! Was war das wieder für ein grausamer Schultag. Ich kann nur sagen: Hurra, wir verblöden. Volksmund.” Er schnaufte tief, während ich ihm seine erste gerechte Belohnung für den erlittenen harten Tag kredenzte.

„Döhlke, genau dasselbe hast du gestern auch schon gesagt. Und überhaupt wollen wir doch heute über den Antritt der Erbschaft beraten,” versuchte ich den Oberstudienrat auf einen trockneren Dampfer zu bringen.

Der Erbe winkte lässig ab. „Geschenkt,” prustete Döhlke. „Habe recherchiert, nachgedacht und ihr seid doch schon am Werkeln. Keine abgeschlossene Tür. Gleich gemerkt. Haha. Das passende Zitat liegt mi auf der Zunge. Nach Korn und Bier ziehen wir das alles kurz mal durch. Verteilen die Aufgaben und so.”

Döhlkesche Sprachverwirrung? Auch seine Kleidung war irgendwie anders. Breiheim - der ausgemusterte Hobbyschauspieler - und seine rote Mona musterten uns unverhohlen zwischen skeptisch und freudig erregt, orderten aber brav eine neue Lage.

In diesem Moment ging die Tür auf. Wie täglich durchmaß Schimmelpfennig den Raum, ohne das Gesicht irgendwo hinzuwenden, noch jemanden zu grüßen. Eilig verschwand er im Mantel auf der Herrentoilette, durchquerte nach zwei Minuten im gleichen raumfassenden Schritt die Gaststube und verschwand wie er gekommen war.

Endlich ging die Tür erneut auf. Während Frau Mona Breiheim ein erstes Liedchen trällerte, schwebte das Molkereibesitzertöchterchen in die Gaststube. Die offen stehende Tür ließ die bei uns seltene Nachmittagssonne hereinblinzeln und tauchte den Schankraum in ehrwürdiges Gold. Sie schien außer hochhackigen Schuhen einen Heiligenschein zu tragen. Gekonnt tänzelte sie zu uns an den Tresen und blinzelte vor allem mich betörend an. Bildete ich mir zumindest ein.

„Hier bin ich, wie abgesprochen. Ich mach dann die Theke bis fünf Uhr, damit ihr Erben alles richten und besprechen könnt.“ Abgesprochen? Mit wem? Hinter meinem Rücken! So ging das aber nicht. Döhke lächelte verräterisch. Der also. Mmmh.

Wir trollten uns ins Hinterzimmer und ihr schillernder Blick verfolgte uns. Muffige Luft und zugezogene Gardinen erwarteten uns. Döhlke rümpfte die Nase, zog entschlossen die Vorhänge zurück und öffnete ein Fenster. Türkische Musik aus dem Nachbarhaus machte sich sanft in unserem Konferenzraum breit. Wir setzten uns. Durch seine Entschlossenheit hatte der Altphilologe das Zepter in der Hand. Mal sehen, ob ich ihm folgen werde. Schließlich verhandelt er schon hinter meinem Rücken mit bezaubernden Damen in Angelegenheiten des Geschäftsalltages. Keine gute Basis für eine Erbengemeinschaft.

„Ich schlage folgende Tagessordnung vor,” eröffnete Döhlke geschäftig unsere Sitzung. „Zunächst reden wir über die Organisation des Ladens, unsere Arbeitsteilung hier in der Kneipe und notwendige Renovierungsmaßnahmen im Sinne von Joschi. Dann über unsere Testamentsaufgaben. Danach entscheiden wir, ob wir das Ding so angehen oder nicht.” Eine Einleitung ohne Zitate. Der Mann lernt schnell, dachte ich so bei mir. Döhlke hatte mich blind verstanden. „Das passende Zitat suche ich noch. Ist ja auch eine außergewöhnliche Situation.”

Waren wir nicht zu verschieden? Ich musterte meine Miterben. Knallhart, brutal, schonungslos – hoffnungslos. Unser Oberstudienrat war fest in der öffentlichen Hand, der ewige Student Romanowski den digitalen Windungen des Hightech verfallen und ich einfach nur dem Rhythmus des Lebens. Morgen und Abend, Sommer und Winter. Hierüber aber später. Wir nickten die Tagesordnung ab.

Giesbert zeigte Stärke. „Ich hab einen alten Computer von Yanco aufgetrieben. Fast schon fertig eingerichtet, die ganze Buchführung hab ich im Griff. Alles easy. Ich mach so das Betriebswirtschaftliche – wenn ihr wollt. Mit Bestellungen und Schwarzgeld, ihr wisst schon.” Klare Aussage, klares Nicken der anderen Erben.

„Tommy sollte sich um den Alltag kümmern. Frikadellenrezept, Senf, täglich wechselndes Hauptgericht, Tresenbedienung, Saubermachen und das ganze Zeugs,” fuhr Romanowski ungerührt fort. Eine erste schwere Last machte sich auf meinen Schultern bemerkbar. Das soll die Zukunft sein? Meine Zukunft? Schaudern wollte aufkommen, aber da baute sich die Molkereitochter vor meinen inneren Augen hinter dem Tresen auf. Auch eine Perspektive. Ich nickte ergeben.

Und Döhlke? Gespannt blickte ich die beiden an. Giesbert schien entspannt, Döhlke geschäftlich. Giesbert Romanowski zog sein Brillengestell zurecht und wollte offensichtlich weiterreden. Döhlke war schneller.

„Also ich hab einen Job. Den will ich auch weitermachen. Ihr versteht, Kampf für den Humanismus, eine bessere Welt, unseren blauen Planeten. Wie schon Platon sagte..“

„Reg dich ab,” unterbrach ihn Romanowski. „Es geht um drei Erben und die organisatorische Aufgabenverteilung. Was machst du?“ Ein kurzes Schweigen, das durch den Engel verlängert wurde, der durch die Tür nach unseren Wünschen fragte. Hätte ich schon, konnte meine Wünsche aber nicht in dieser wenn auch begrenzten Öffentlichkeit formulieren. Nicht jetzt, nicht hier. Es blieb bei einem Bier für jeden.

Döhlke räusperte sich auffallend lange. „Das find` ich ja bisher echt knorke.” Knorke? Er wollte wohl richtig modern werden. Knorke war aber meines Wissens oberout. „Ich verstehe mich als geistiger Mentor des Alten Kruges. So kulturelle Veranstaltungen organisieren, das Niveau am Stammtisch heben. Dies ist wohl im Sinne von Joschi. Warum sonst soll sie mich zum Miterben eingesetzt haben? Die geistig ordnende Hand bin doch wohl ich?“

„Zum umsonst Saufen und am Gewinn Partizipieren reicht es bei dir zumindest,” warf Giesbert betont kühl ein. Döhlke zuckte mit den Achseln und reagierte prompt: „Quatsch. Ich will den Alten Krug retten. Meine Recherchen zu den Testamentsaufgaben – wir kommen ja gleich noch dazu - aber auch meine positive Stimmung soll rüberkommen und das gesamte Umfeld will ich mit ihr heben, immer bei Zeiten präsent sein, den richtigen Weg im Auge....” Döhlke verhedderte sich immer mehr und zerrte unmotiviert am Kragen seines Joggingoberteiles herum. Wir nickten. „Aber Glühbirnen einschrauben und so, da wärst du doch auch bereit zu?,” fragte ich lauernd. „Die Axt im Haus erspart den Zimmermann, Schiller, Wilhelm Tell. Ich mach` das in meinem Zimmer ja schließlich auch – und auch bei meiner Vermieterin,” zeigte sich der Altphilologe wenig geschockt und ließ seine Joggingmontur wieder in Ruhe. Fein. So soll es sein. Der Superevent Michaela kredenzte eine Runde Bier. Wie kann das Leben schöner sein?

„Formalia,” rettete Döhlke sich selbst vor neuen Aufgaben. „Lasst uns die Bude mittwochs zuhalten, wie es Joschi auch gemacht hat und eventuell neue Öffnungszeiten einführen,” ergänzte ich mutig. Meine Kollegen kratzten sich am Kopf. Auf dem Schild vor der Tür stand nichts von Öffnungszeiten, sondern genau das Gegenteil: „Geschlossen von 12 bis 15 Uhr.” Das Thema wurde nach heftiger Kontroverse vertagt. Auch ein Erfolg. Mittwochs dicht und im September drei Wochen. So wie immer.

Der Computerfachmann Giesbert Romanowski hatte einen unwiderstehlichen Drang nach vorne. „Wir sind jetzt also mit der Arbeitsteilung fertig. Abgefahren. Jetzt zur Umgestaltung des Ladens. Die Pissbudenbeleuchtung muss weg,” krähte er keck. „Und überhaupt sollte unser Laden ein etwas anderes Image kriegen. Ich denke da an ein moderneres Outfit. Aber natürlich im Sinne von Joschi.” Wir schnauften unisono. Das konnte heiter werden.

Giesberts Wangen röteten sich leicht, die Augen begannen zu glänzen. „Ich denke da so an einen stylish Club für Feierleute mit Glamour-Kralle. Eben so ein bisschen Glas, Stahl, High-Tech-Ambiente mit Chillout-Zone und cooler Lounge. Toller Sound von Charts über House bis Soul, abgefahrene Cocktails und logo – Internetecke.” Mit erhobenem Haupt lehnte er sich zurück und erwartete jetzt wohl einige Fußküsse von uns. Döhlke kratzte sich am Kopf, ich hüstelte leise und drehte mein Bierglas um 180 Grad hin und her.

„Also,” sammelte ich mich langsam, „wir sind uns wohl einig, dass hier in dem Laden was passieren muss. Aber bevor wir hier Gigantoinvestitionen am Start haben und dann auf einem Schuldenberg rumreiten, müssen wir erst einmal überlegen, an welche Zielgruppen wir uns wenden wollen. Wenn wir das so in deinem Sinne machen, werden etliche Schnapsdrosseln und Frikadellenfreaks abspringen. Zudem wird sich Joschi im Grab drehen.” Döhlke nickte erleichtert und in Giesberts Kopf begann es zu arbeiten. Ha, offensichtlich erst mal abgebügelt. Mit der Erfahrung von zehn Jahren erfolgloser Rockgruppe.

Döhlke blickte auffällig zur Uhr. „Michaela muss gleich gehen. Wir werden heute mit unserer Tagesordnung nicht durchkommen. Ich habe morgen nur eine Stunde Latein. Um halb zehn könnte ich hier sein, damit wir uns den ganzen Tag um das Thema Testamentsaufgaben kümmern können. Schließlich ist morgen Mittwoch und irgendwann kommt Schmollenberg. Dem müssen wir ja irgendwas Definitives erzählen. Ihr seid da?“ schloss er mehr rhetorisch sein Statement.

Wir nickten mit letzter Kraft. Siegel schnarchte.

Als der Oberstudienrat schon fast die Tür hinter sich geschlossen hatte, rief ihm Giesbert energisch nach: “Hast du eigentlich schon rausbekommen, was dieser Spruch Ky thmi do te kete moter bedeutet?

Döhlke erstarrte und drehte sich langsam um. „Ja, wisst ihr. Kein Griechisch, kein Latein. Es wird wohl eine andere Sprache sein. Altphilologenspruch.”

Energisch schlug er die Tür hinter sich zu.

Der Alte Krug

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