Читать книгу Blau Rot Grün - Hinter den Kulissen eines Machtwechsels - Christoph Bumb - Страница 8

Kapitel 1

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Die frühe Geburt der Dreierkoalition

Als DP, LSAP und Déi Gréng am Abend des 21. Oktober 2013 ihre Absicht kundtaten, eine gemeinsame Koalition bilden zu wollen, mussten sie sich von der CSV und einigen enttäuschten Bürgern den Vorwurf anhören, sie hätten im Wahlkampf nicht mit offenen Karten gespielt. In der Tat wurde Blau-Rot-Grün nicht in aller Deutlichkeit angekündigt. Andererseits konnte die Bildung der Dreierkoalition für einen halbwegs aufmerksamen Beobachter des politischen Geschehens nicht wirklich überraschend kommen. Der Wille zum politischen Wandel lag während des gesamten Jahres 2013 – und auch schon davor – in der Luft. Nicht zuletzt die CSV selbst hatte das Gespenst einer gegen sie gerichteten Dreierkoalition im Wahlkampf bei jeder sich bietenden Gelegenheit an die Wand gemalt. In jedem Fall lässt sich die Vorgeschichte der am 4. Dezember 2013 vereidigten blau-rot-grünen Koalition im Rückblick sehr gut nachvollziehen. Dennoch war der Machtwechsel und der Weg dorthin in keiner Weise vorbestimmt.

Die Geheimdienstaffäre gilt gemeinhin als Ausgangspunkt für den politischen Wechsel hin zu Blau-Rot-Grün. Damals bildete sich bereits eine informelle Dreierkoalition, die die Machenschaften des „Service de Renseignement de l’État“ (SRE bzw. Srel) aufarbeitete und letztlich den Bruch der CSV-LSAP-Koalition im Juli 2013 herbeiführte. Im Rückblick gibt es allerdings noch viel mehr und frühere Indizien, die diese Koalition zumindest implizit ankündigten und die Kontroverse um den Geheimdienst nur als letzten Auslöser erscheinen lassen. Die Diskussionen um eine Dreierkoalition sind nämlich keine Erfindung des Jahres 2013.

Schon nach den Wahlen von 2004 hatten LSAP, DP und Grüne eine Mehrheit im Parlament. Und schon damals gab es in diesen Parteien und bei sympathisierenden Kommentatoren zaghafte Überlegungen, dass man diese Mehrheit auch irgendwann politisch nutzen könnte. Zu jener Zeit stand dies allerdings außer Frage, denn die CSV war der klare Wahlgewinner und die DP nach einer für die daran beteiligten Politiker schmerzvollen Regierungserfahrung der Wahlverlierer. Zudem gab es in den Reihen von Blau-Rot-Grün niemanden, zumindest niemanden mit dem nötigen politischen Gewicht, der den Schritt zu einer Anti-CSV-Koalition gewagt hätte. Passend dazu gab es auch noch vergleichsweise wenig Zweifel oder Kritik an Jean-Claude Juncker als der unbestrittenen Führungsfigur der luxemburgischen Politik. Kurzum: Die Zeit war noch nicht reif.

Dies sollte sich jedoch in den folgenden Jahren ändern. Jean-Claude Juncker, der seit 1995 als Staatsminister amtierte und im Herbst 2004 gute Chancen hatte, Präsident der Europäischen Kommission zu werden, folgte diesem Ruf nach Brüssel nicht. Stattdessen wurde er im September 2004 zum ersten ständigen Vorsitzenden der Eurogruppe ernannt. Gleichzeitig blieb er aber Premier- und Finanzminister im eigenen Land. Die zusätzliche Arbeitslast als „Mr. Euro“ und die damit zusammenhängende Prioritätenverschiebung sollten letztlich mit dazu führen, dass Junckers bis dahin unumstrittene Machtposition nach und nach erodierte. Zum schleichenden Machtverlust trug zudem der zunehmend nachlässige Regierungsstil bei, der Juncker in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit als Regierungschef nachgesagt wird. Der bisher in seiner herausragenden Führungsposition unantastbare Premier kapselte sich immer mehr von der luxemburgischen Innenpolitik ab – schon allein aus zeitlichen Gründen. Laut Weggefährten war Juncker aufgrund seiner dauerhaften Präsenz als Euro-Retter in den kommenden Jahren zum Teil nur noch zwei Tage in der Woche überhaupt im Großherzogtum zugegen.

Junckers große persönliche Popularität in der Bevölkerung blieb allerdings noch lange – eigentlich noch über seinen Abschied von der nationalen Politik im Jahre 2014 hinaus – ungebrochen. So war es auch beim Referendum über die EU-Verfassung am 10. Juli 2005, als der Langzeitpremier mit Erfolg sein ganzes politisches Gewicht für ein Ja in die Waagschale warf. Auch beim ultimativen Popularitätstest im Volk blieb Juncker und mit ihm seine Partei höchst erfolgreich. Bei den Parlamentswahlen 2009 fuhr die Premier-Partei mit 38 Prozent der Wählerstimmen sowie 26 von 60 Sitzen in der Abgeordnetenkammer einen historischen Wahlsieg ein. Der Juncker-Nimbus war zu diesem Zeitpunkt so groß wie noch nie. Im Rückblick sieht der Wahlsieg, nach dem sich die CSV gemäß dem ungeschriebenen Gesetz der politischen Landschaft wieder einmal den Koalitionspartner aussuchen konnte, wie der absolute Höhepunkt der Juncker-Ära aus. So stark und mächtig wie 2009 waren die CSV und ihr Premier noch nie. Doch der Triumph von 2009 hatte auch seine Kehrseite. Denn danach konnte es eigentlich nur noch bergab gehen.

Innerhalb der eigenen Partei führte kein Weg an Juncker vorbei. Interne Kritik gab es so gut wie keine. Die meisten Christsozialen hatten dem „Chef“, wie er bis heute von vielen Parteimitgliedern genannt wird, viel zu verdanken. Dies ließ Juncker seine Parteikollegen auch immer wieder spüren. Angesichts seiner Wahlerfolge und seiner Führungsstärke kam so gut wie niemand auf die Idee, den Premier in Frage zu stellen. Im Verhältnis mit den anderen Parteien kam allerdings allmählich etwas in Bewegung. Im Gegensatz zu den CSV-Anhängern, die vom Juncker-Bonus bei den Wahlen profitierten, hatten insbesondere DP und LSAP keinen Grund zu allzu großer Dankbarkeit. Ihre Regierungsbeteiligungen zahlten sich in elektoraler Hinsicht nie aus. Bei den Wahlen 2009 mussten sogar beide Parteien Verluste hinnehmen. So verlor die spätere Dreierkoalition auch ihre in der vorherigen Legislaturperiode noch vorhandene (arithmetische) Mehrheit im Parlament: LSAP, DP und Grüne kamen zusammen nur noch auf 29 Sitze.

Die Frage einer Koalition gegen die CSV stellte sich also vorerst schon rein rechnerisch nicht mehr. Vor 2009 gab es allerdings ein bemerkenswertes, aber mitunter vergessenes Beispiel, bei dem eine Mehrheit der drei Parteien zustande kam. Am 19. Februar 2008 verabschiedete das Parlament mit 31 zu 26 Stimmen bei drei Enthaltungen das sogenannte Euthanasiegesetz. Die dabei entstandene, eher ungewöhnliche Mehrheit war nicht geplant, da die Parteien vor der Abstimmung den Fraktionszwang formal aufgehoben hatten. Es kann in diesem Sinn auch nicht wirklich von einem Präzedenzfall einer gewollten blau-rot-grünen Mehrheit die Rede sein, denn die Meinungen gingen quer durch alle Parteien. So gab es sowohl Ja-Stimmen von CSV- und ADR-Abgeordneten als auch drei Enthaltungen aus dem Lager der Sozialisten.

Dennoch war die Abstimmung über die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe im Rückblick natürlich ein Fingerzeig in Richtung Dreierkoalition. Sie lehrte die Öffentlichkeit und die im Parlament vertretenen Parteien selbst, dass die CSV insbesondere bei gesellschaftspolitischen Grundsatzfragen unter Umständen in der Minderheit sein kann. Dies war der politischen Klasse – nicht zuletzt der CSV selbst – auch vorher schon bewusst. Die Angst, in gesellschaftspolitischen Fragen links überholt zu werden, war bei der konservativen Volkspartei stets greifbar. Schon in den 1970er Jahren hatte sich so eine durch den Wandel der Gesellschaft beförderte Mehrheit jenseits der christlich-konservativen Kräfte gebildet. Die Folge war von 1974 bis 1979 die erste sozialliberale Koalition, die gleichzeitig die erste Regierungskoalition ohne Beteiligung der CSV seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war.

Juncker selbst war gewissermaßen ein Kind der sozialliberalen Koalition. Sein ganzes politisches Grundgerüst baute von Beginn seines Wirkens darauf auf, die CSV auch für linke bzw. gesellschaftlich liberale Anliegen zu öffnen. Diese Öffnung war sowohl durch seine persönlichen Überzeugungen als auch parteistrategisch begründet. Die CSV der 1980er und 1990er Jahre war stets bemüht, bloß keine Angriffsfläche zu bieten, die zur erneuten Bildung einer politischen Mitte-Links-Mehrheit führen könnte. Seit den 1970er Jahren wurden die Christsozialen demnach immer schnell hellhörig, wenn es um Reformen in der Gesellschaftspolitik ging. So auch nach der historischen Abstimmung über das Euthanasiegesetz. Nach der Aussprache ergriff der damalige Fraktionschef der CSV, Michel Wolter, noch einmal das Wort und kritisierte das offensichtliche Ausscheren aus der Logik von Regierungsmehrheit und parlamentarischer Opposition. Es sei „höchst befremdlich“, so Wolter, dass in der Abgeordnetenkammer Motionen und Resolutionen diskutiert würden, die der Koalitionspartner der CSV, also die LSAP, „in einer alternativen Mehrheit einreicht“.

Aus der Kontroverse um die Sterbehilfe zog die CSV allerdings nicht nur die naheliegende Lehre, dass man sich als Volkspartei dem gesellschaftlichen Wandel auf Dauer nicht verschließen dürfe. Auch rein parteipolitisch hinterließ diese Episode ihre Spuren. So hielten CSV und LSAP in ihrem Koalitionsprogramm von 2009 auf Initiative der Christsozialen fest, dass es künftig nicht mehr zur Bildung solcher Mehrheiten abseits der Koalitionsdisziplin kommen dürfe. In einem nicht veröffentlichten Zusatzabkommen hieß es demnach unter dem Kapitel „Arbeitsmethoden“, dass man keinem Gesetzvorschlag zustimmen werde, wenn nicht beide Partner ausdrücklich damit einverstanden sind. Die beim Euthanasiegesetz zustande gekommene „alternative Mehrheit“ hatte in der CSV-Führung also alle Alarmglocken läuten lassen.

Diese alternative Mehrheit war rein rechnerisch an sich auch nichts Neues. Es gab sie schon lange. Seit es die Grünen als parlamentarisch vertretene Partei überhaupt gibt, bestand prinzipiell die Möglichkeit einer Dreierkoalition ohne die CSV. Auch schon davor hätten DP und LSAP ihre arithmetische Übermacht das eine oder andere Mal nutzen können, denn die CSV verfügte allein nie über die absolute Mehrheit. Der Aufstieg der Grünen veränderte dann zwar die Parteienlandschaft, änderte zunächst aber nichts an der Vormachtstellung der CSV. Doch die Mehrheit und damit die Möglichkeit einer alternativen Koalition war immer gegeben: Nach den Wahlen von 1994 verfügten LSAP, DP und Déi Gréng zusammen über 34 von 60 Sitzen, nach 1999 über 33 und ab 2004 über 31 Mandate. Nur 2009, als die CSV ihr historisch bestes Resultat von 26 Sitzen erzielte, die ADR vier und Déi Lénk einen Sitz errangen, gab es keine arithmetische Mehrheit mehr für Blau-Rot-Grün. Von der rechnerisch möglichen zur politisch nutzbaren Mehrheit sollte es aber ohnehin noch ein langer Weg sein.

***

Schon zu Beginn des neuen Jahrtausends führte die politische und wirtschaftliche Großwetterlage dazu, dass die etablierten Parteien zusammenrückten. In der Folge entstand ein pragmatisches Parteienkartell, das unabhängig von der jeweils regierenden Koalition die großen politischen Fragen im Konsens beantwortete. So lösten alle großen Parteien gemeinsam 2008 die „institutionelle Krise“, die aus der Weigerung von Großherzog Henri, das Euthanasiegesetz zu unterschreiben, entstanden war. Die Kompetenzen des Staatsoberhaupts wurden per Verfassungsreform, also im überparteilichen Konsens beschnitten. Fortan sollte der Großherzog die Gesetze nicht mehr gutheißen, sondern nur noch verkünden dürfen. Unabhängig von ihrer jeweiligen Meinung zur Reform der Gesetzgebung über die Sterbehilfe waren sich alle Parteien einig, dass dem Staatschef eine aktive Einmischung in parlamentarische Angelegenheiten nicht zustand.

Auch die globale Finanzkrise führte ab 2008 zur reflexartigen Wiederbelebung des Luxemburger Konsensmodells in Form einer Neuauflage der großen Koalition aus CSV und LSAP ab 2009, mit zunächst eher wohlwollender Begleitung durch die blau-grüne Opposition. Für Juncker und den sozialen Flügel in der CSV stand außer Frage, dass man die Zusammenarbeit mit den Sozialisten in Krisenzeiten fortführen müsse. Andererseits stieß man damit zumindest die Grünen vor den Kopf, die sich nach den Nationalwahlen von 2009 insgeheim zumindest Hoffnungen auf Koalitionsgespräche gemacht hatten. Fünf Jahre zuvor hatte Juncker der grünen Parteiführung nämlich zu verstehen gegeben, dass Schwarz-Grün bei entsprechend stabilen Mehrheitsverhältnissen für ihn zumindest eine Option sei. 2004 verfügten CSV und Déi Gréng zusammen allerdings nur über 31 Sitze. Doch auch 2009 mit der potenziellen komfortableren schwarz-grünen Mehrheit von 33 Mandaten entschied sich Juncker für die sichere Variante einer Fortsetzung der Koalition mit der LSAP.

Die Bewältigung der Krise offenbarte aber auch schnell Risse in der Fassade der in Krisenzeiten eigentlich traditionellen Überparteilichkeit. Das schleichende Scheitern des sozialen Dialogs à la Tripartite und der bald öffentlich ausgetragene Koalitionsstreit zwischen CSV und LSAP über die Sparmaßnahmen der Regierung sollten bei allen Beteiligten tiefe Spuren hinterlassen. Hinzu kam die Tatsache, dass Jean-Claude Juncker in seinem Streben nach dem Posten des ersten ständigen EU-Ratspräsidenten scheiterte. Nicht er, sondern der Belgier Herman Van Rompuy wurde im November 2009 von den Staats- und Regierungschefs für dieses Amt nominiert. Im Gegensatz zu 2004, als Juncker der Posten des Kommissionspräsidenten angeboten wurde, er aber nicht zugriff, war es 2009 ziemlich genau das Gegenteil. Juncker wollte unbedingt Ratspräsident werden, konnte sich in den Reihen seiner europäischen Amtskollegen aber nicht durchsetzen. Nicht zuletzt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Nicolas Sarkozy verweigerten dem Luxemburger Premier die Unterstützung – ein Affront, der sich für den stolzen Europapolitiker Juncker laut seinen Mitarbeitern zu einem nie überwundenen Trauma entwickeln sollte.

Zur persönlichen Enttäuschung des Premiers, der aus seinen Wechselabsichten nach Brüssel keinen Hehl gemacht hatte, gesellte sich bald schon die zunehmende Ernüchterung einiger Parteikollegen, die sich durch Junckers Abtreten von der nationalen Bühne eigene Karrierechancen erhofft hatten. Insbesondere die als „Kronprinzen“ gehandelten Luc Frieden und Claude Wiseler mussten sich demnach weiter in Geduld üben. Vor allem Frieden galt im Vorfeld der Wahlen von 2009 als Junckers natürlicher Nachfolger. Im kleinen Kreis verhielt sich der bis dahin erfolgsverwöhnte christlich-soziale Überflieger auch schon wie der kommende Regierungschef. Juncker selbst hatte im Wahlkampf im Gegensatz zu 2004 einen Wechsel nach Brüssel auch nicht explizit ausgeschlossen. Dass Juncker schließlich doch Staatsminister blieb, kam einer öffentlichen Demütigung von Luc Frieden gleich, die das weitere Verhältnis der beiden Spitzenpolitiker nachhaltig prägen sollte.

Das Jahr 2009 gilt bei vielen Akteuren und Beobachtern des politischen Betriebs demnach als Schlüsseljahr. Die Finanzkrise und die ab 2008 einsetzende Dauerdebatte um die Krisenfolgen für Luxemburg waren der Ausgangspunkt für die bald folgende politische Krise. Die in der Vergangenheit immer kollegial, politisch und persönlich auf Augenhöhe geführte Koalition aus Christsozialen und Sozialisten verlor sich zunehmend in Streitereien und im parteipolitischen Klein-Klein. Sowohl bei der LSAP als auch bei der CSV reifte in dieser Zeit die Überzeugung, dass die Zusammenarbeit in der großen Koalition trotz der überaus komfortablen parlamentarischen Mehrheit von 39 von 60 Sitzen nicht mehr alternativlos war. Doch die Auseinandersetzung um den Umgang Luxemburgs mit den Konsequenzen der globalen Krise sollte nur der Anfang einer Folge von Affären und Kontroversen sein, die die große Koalition schließlich auf eine harte Probe stellen würde.

Durch die immer lauter geführten regierungsinternen Diskussionen um die Ausrichtung der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik stand die Neuauflage der CSV-LSAP-Regierung ab 2009 eigentlich von Beginn an unter einem schlechten Stern. Schon die Koalitionsverhandlungen gestalteten sich laut mehreren Beteiligten ungewöhnlich schwierig. „Es gab keine Dynamik, kein gemeinsames Projekt“, erinnert sich Alex Bodry, damals Parteichef der LSAP. Fünf Jahre zuvor hatte es noch so etwas wie eine politische Aufbruchstimmung gegeben. Die Anker der großen Koalition – Jean-Claude Juncker, Jean Asselborn, François Biltgen, Mars Di Bartolomeo oder Lucien Lux – vertrauten sich, ja sie waren in vielen Fällen persönlich befreundet und lagen auch inhaltlich in den zentralen Fragen auf einer Linie. Die Zusammenarbeit zwischen Christsozialen und Sozialisten bezeichnete Juncker stets als „seine“ Koalition.

Während man sich jedoch 2004 noch schnell einig wurde und im Detail ein gemeinsames Programm ausarbeitete, gerieten die Koalitionsgespräche im Sommer 2009 schnell ins Stocken. Angesichts ihrer historischen Stärke wollten einige CSV-Mitglieder dem Koalitionspartner auf einmal ihre Sicht der Dinge diktieren. Selbst Minister spielte immer wieder allein schon die arithmetische Stärke der CSV aus. „26 zu 13“ – dieser Hinweis auf das parlamentarische Kräfteverhältnis zwischen Christsozialen und Sozialisten entwickelte sich in den folgenden Jahren zum geflügelten Wort. Immer wieder rechneten CSV-Politiker ihrem Koalitionspartner bei strittigen Fragen als unverhohlene Warnung die Sitzverhältnisse vor. Als die LSAP sich durch diese immer öfter aufkommende CSV-Attitüde nicht einschüchtern ließ, kam es aber weder zum Bruch noch zum Kompromiss, sondern man sparte die unangenehmen Dossiers einfach aus. Gerade in der Finanz- und Haushaltspolitik ging das Kabinett Juncker-Asselborn II demnach ohne wirkliches Programm in die von Beginn an durch die globale Finanz- und Wirtschaftskrise überschattete neue Legislaturperiode. Der mangelnde Wille zum programmatischen Kompromiss schlug sich dann in den folgenden Monaten auch in der zwischenmenschlichen Stimmung am Kabinettstisch nieder. Von Freundschaft war zwischen Schwarzen und Roten bald keine Spur mehr.

Politisch brenzlig wurde es aber erst ab dem Jahre 2011. Alles begann mit einem vertraulichen Dokument, das über den Umweg des „Mouvement écologique“ an die Öffentlichkeit gelangte. In einem Brief hatten sich die damaligen Regierungsmitglieder Jean-Claude Juncker, Jean-Marie Halsdorf (beide CSV) und Jeannot Krecké (LSAP) an die Bauunternehmer Guy Rollinger und Flavio Becca gewandt und ihnen ihre Unterstützung für den alternativen Bau eines nationalen Fußballstadions in Liwingen zugesagt. Von einer „aktiven Begleitung“ des Megaprojekts durch die Regierung war die Rede – und das wohlgemerkt unabhängig von jeglichen gesetzlich vorgeschriebenen Prozeduren oder Gutachten. Zudem soll politischer Druck auf Rollinger ausgeübt worden sein, damit dieser sein ursprüngliches Projekt eines Einkaufszentrums in Wickringen aufgebe.

Die damalige Opposition lief Sturm. Von der Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien und gar von Korruption war die Rede. Die einstigen Fraktionschefs von DP und Déi Gréng, Claude Meisch und François Bausch, gaben eine gemeinsame Pressekonferenz und erhöhten so den politischen Druck auf die beiden Mehrheitsparteien. Vor allem die Minister Halsdorf und Krecké standen in der Schusslinie. Ihnen wurde versuchte direkte Einflussnahme vorgeworfen. Juristisch verlief die Affäre zwar im Sand, doch politisch wurde viel Porzellan zerschlagen. Da nicht nur die CSV, sondern auch ein LSAP-Minister im Visier der Kritik standen, schweißte die Episode „Wickringen/Liwingen“ die Koalitionspartner zunächst aber enger zusammen.

Nur Jeannot Krecké zog indes mit gewisser zeitlicher Verzögerung die Konsequenzen aus der Affäre und trat im Februar 2012 zurück. Sein Nachfolger im Amt des Wirtschaftsministers wurde ein gewisser Etienne Schneider, einst Fraktionssekretär der LSAP und seit 2004 Kreckés rechte Hand im Ministerium.

Zwei weitere Affären sollten das gegenseitige Vertrauen der Koalitionspartner jedoch weiter belasten. Einerseits ging es um den Verkauf von Cargolux-Anteilen an Qatar Airways. Nach selbst für einige Kabinettsmitglieder undurchsichtigen Verhandlungen und einem etwas mehr als einjährigen Intermezzo der katarischen Investoren bei der luxemburgischen Frachtfluggesellschaft platzte im November 2012 der von Finanzminister Luc Frieden im Alleingang eingefädelte Deal. In einer Debatte im Parlament gingen die Sozialisten öffentlich auf Distanz zu Frieden. LSAP-Fraktionschef Lucien Lux unterstellte dem Finanzminister, dass dieser die Übernahmeverhandlungen mit Qatar Airways „gegen den Aufsichtsrat der Cargolux“ geführt habe. Andererseits kochte im Januar 2011 die Affäre um Arbeitsminister Nicolas Schmit (LSAP) hoch. Schmit soll bei einer polizeilichen Anhörung seines Sohnes, der wegen einer Amtsbeleidigung vorgeladen wurde, Druck auf die Polizeibeamten ausgeübt haben. So legte es jedenfalls das Protokoll einer anwesenden Polizistin nahe. Der Minister geriet infolgedessen in den Medien unter Beschuss. Die Oppositionsparteien – nicht zuletzt DP und Déi Gréng – forderten seinen Rücktritt. Im Parlament sprach Premier Jean-Claude Juncker seinem Arbeitsminister allerdings das Vertrauen aus. Schmit, der in seiner Partei schon als möglicher Spitzenkandidat bei den kommenden Wahlen gehandelt wurde, ging dennoch beschädigt aus der Affäre hervor und sollte besonders Juncker persönlich dessen staatsmännisch zur Schau gestelltes Vertrauensbekenntnis übel nehmen. Beide Episoden trugen jedenfalls zur weiteren Entfremdung zwischen den Koalitionspartnern bei.

Im Schatten der Affären der CSV-LSAP-Koalition fanden sich Liberale und Grüne, die seit 2005 zusammen in der Hauptstadt den Schöffenrat stellten. Nach den Kommunalwahlen im Oktober 2011 regierte Blau-Grün hier unter einem Bürgermeister namens Xavier Bettel. Auch in der für beide Parteien seit 2004 anhaltenden Oppositionszeit auf nationaler Ebene machte man immer öfter gemeinsame Sache. Erstmals seit den 1970er Jahren entwickelte sich so allmählich ein neues fortschrittliches Lager in der Luxemburger Politik. Die Annäherung zwischen DP und Déi Gréng basierte aber ursprünglich weniger auf einem übergreifenden, etwa „liberal-ökologischen“ Projekt, als vielmehr auf den persönlichen Beziehungen der daran beteiligten Personen, also in erster Linie von Xavier Bettel und François Bausch. Die LSAP stand jedoch angesichts ihrer Regierungsloyalität mit der CSV zunehmend zwischen den Fronten. Die alte Garde der Sozialisten hatte trotz allem immer noch eine klare Präferenz für eine Koalition mit den Christsozialen. Doch innerhalb der jüngeren Generation und vor allem an der Basis der Partei konnte man sich auch schon früh andere Koalitionsmodelle vorstellen.

Während DP und LSAP ohnehin ihre gemeinsame Koalitionsfähigkeit unter Beweis gestellt hatten – beide regierten 1974 bis 1979 ohne die CSV –, kamen auf nationaler Ebene spätestens mit den Wahlen von 2004 Déi Gréng mit ins Boot der vier koalitionsfähigen Parteien. Vor allem in gesellschaftspolitischen Fragen – Euthanasie, Abtreibung, gleichgeschlechtliche Ehe, Familienpolitik, Trennung von Kirche und Staat und einigen mehr – gab es dabei längst die Grundlage für eine unausgesprochene Dreierkoalition. Politisch wurde somit bereits in den späten 2000er Jahren der Weg für eine mögliche spätere Zusammenarbeit der drei Parteien geebnet.

Auch auf rein persönlicher Ebene legten ähnlich denkende Politiker wie Xavier Bettel, Claude Meisch (beide DP), Etienne Schneider (LSAP), Felix Braz und François Bausch (beide Déi Gréng) in den kommenden Jahren die Grundlage für ein vertrauensvolles Verhältnis und eine engere politische Kooperation. Bei allen reifte nach und nach die Erkenntnis, dass eine von der CSV geführte Regierung nicht unbedingt das ewige Erfolgsmodell für Luxemburg sein müsse. Die Gründe zur Annahme, dass zumindest die große Koalition kein solches Erfolgsmodell mehr war, sollten sich in der Tat bald nur so häufen. Und rein arithmetisch erhöhte die Koalitionsfähigkeit der Grünen ohnehin die Chancen einer dauerhaften alternativen Mehrheit gegen die CSV. Was für die Realisierung dieser Mehrheit jedoch noch fehlte, war ein Präzedenzfall. Die Affären um Wickringen/Liwingen, Cargolux und Nicolas Schmit reichten dafür nicht aus – zumal nicht nur die CSV, sondern mit den Sozialisten auch einer der drei potenziellen Partner einer Dreierkoalition geschwächt aus diesen Episoden hervorging.

Die CSV-LSAP-Koalition sorgte unterdessen für weitere negative Schlagzeilen. Als es im Herbst 2012 darum ging, den Staatshaushalt für das kommende Jahr vorzustellen, gaben die Partner der großen Koalition ein für eine Regierung eher suboptimales Bild ab. Finanzminister Luc Frieden wurde sowohl vom sozialistischen Koalitionspartner als auch von seiner eigenen Fraktion zurückgepfiffen und damit öffentlich bloßgestellt. Sein erster, eigentlich nur als interne Vorlage dienender Haushaltsentwurf wurde in der Koalition förmlich zerrissen. Darin hatte der Finanzminister als „Denkanstoß“ weitreichende Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen vorgeschlagen. Zu den vorgeschlagenen Sparposten gehörten unter anderem eine Rentenkürzung, eine Kürzung des 13. Monatsgehalts für Staatsbeamte sowie die Einführung von sozialer Selektivität bei den Familienbeihilfen, was insgesamt schon Einsparungen im Haushalt von über 300 Millionen Euro ausgemacht hätte.

Doch der Premier erteilte dem Entwurf auf ganzer Linie eine Absage, was nach Junckers gescheitertem Wechsel nach Brüssel ein weiterer Affront gegenüber dem eigentlich zuständigen Ressortchef war. Mit seinem nachgebesserten Budgetentwurf erntete Frieden dann auch öffentlich vorgetragene Kritik aus den Reihen der Mehrheitsparteien. Absurderweise warfen ihm jetzt sowohl Parteikollegen als auch Sozialisten mangelnden Mut zur Haushaltssanierung vor. Der im Parlament eingereichte Alternativentwurf der Fraktionsvorsitzenden Marc Spautz (CSV) und Lucien Lux (LSAP), der weit hinter Friedens erster Vorlage zurückblieb, ließ den Finanzminister schließlich komplett desavouiert dastehen. Frieden selbst sah das allerdings nicht so. Er schluckte die bittere Pille, ließ sich nach außen keine persönliche Enttäuschung anmerken und blieb weiter im Amt. „Ein Haushalt bleibt immer ein Kompromiss. Es ist der Haushalt der gesamten Regierung. Es ist nie der Haushalt, so wie der Finanzminister ihn sich im Detail vorstellt“, so seine Erklärung im Rückblick.

Bis heute ist nicht ganz klar, wie es zu der fast schon surrealen Kommunikation der Regierung in Sachen Budget 2013 kommen konnte. In jedem Fall war es der vorerst letzte Ausdruck einer nicht mehr zu kohärentem Handeln fähigen Koalition. „Dass wir uns uneinig gewesen wären, wäre noch untertrieben formuliert“, sagt einer, der an den koalitionsinternen Diskussionen beteiligt war. Infolgedessen wurden die Streitigkeiten immer mehr in der Öffentlichkeit ausgetragen. Die CSV beschuldigte den Koalitionspartner als „Bremser“ dringend notwendiger Reformen. Dagegen stellte die LSAP die CSV und insbesondere Finanzminister Frieden als eiskalten, unsozialen Haushaltssanierer dar. Die Maßnahmen der Regierung zur Bewältigung des in den Krisenjahren ausufernden Haushaltsdefizits stellten schließlich keine der beiden Seiten so richtig zufrieden. Was früher vielleicht noch als brillanter Kompromiss des Premiers gefeiert worden wäre, erschien angesichts des Reformdrucks in Zeiten der Finanzkrise immer mehr als mutloses politisches Handeln.

Unter der Oberfläche der politischen Inhalte nahmen allerdings auch die persönlichen Animositäten zu. Hinter den Kulissen gingen die Koalitionspartner immer öfter auf Konfrontationskurs. Auch innerhalb der CSV sollte der Streit um die Haushaltspolitik nicht ohne Folgen bleiben. Die Kontroverse um den richtigen Regierungskurs offenbarte nicht zuletzt einen tiefen politischen und bald auch zunehmend persönlichen Dissens zwischen Premierminister Juncker und Finanzminister Frieden. Wie mehrere Weggefährten berichten, ging Juncker seinen eigentlich auserkorenen Nachfolger mehrmals vor versammelter Regierungsmannschaft an. Aus dieser Zeit stammt denn auch der mittlerweile berühmte, weil von vielen damals Beteiligten gestreute Satz, mit dem der Premier seinen Finanzminister schließlich offen vorführte: „Finanzpolitik besteet aus zwee Wierder: Finanzen a Politik. Vu Finanze mengs de eppes ze verstoen. Vu Politik, soen ech der, wäerts de ni eppes verstoen.“ Schon innerhalb der CSV war man sich also offensichtlich nicht einig über die einzuschlagende politische Richtung. Juncker gegen Frieden, sozialer gegen liberaler Flügel, Süden gegen Zentrum: Die Episode des Budgets 2013 war wie ein Sinnbild für die andauernden politischen Gegensätze und Widersprüche in der Volkspartei.

Jean-Claude Juncker räumt im Rückblick ein, dass die unterschiedlichen Auffassungen einer angemessenen politischen Antwort auf die Finanzkrise sowohl die Koalition als auch seine eigene Partei auf die Probe stellten. So hätte sich die LSAP mit mutigen Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung schwergetan. Immer wieder habe er einigen Parteifreunden erklären müssen, warum er als Regierungschef den sozialistischen „Vetos“ nachgab. Andererseits entsprachen diese politischen und sozialen Empfindlichkeiten des Koalitionspartners auch weitgehend Junckers persönlichen Überzeugungen. „In der CSV gab es bei einer nicht unwesentlichen Minderheit die Tendenz, einen radikalen Sparkurs zu fahren, der mit mir nicht zu machen war“, so der damalige Premier aus heutiger Sicht.

Die Koalition aus CSV und LSAP, die in der jüngeren politischen Geschichte des Großherzogtums der Regelfall war, erschien jetzt immer mehr wie ein einziges Missverständnis. So flirtete der wirtschaftsliberale Flügel der CSV mitten in der Legislaturperiode offen mit der DP, mit der man sich eine bessere Umsetzung der eigenen finanz- und wirtschaftspolitischen Ziele erhoffte. Wäre die Amtszeit der Regierung bis 2014 regulär verlaufen, so wäre eine CSV-DP-Koalition unter normalen Umständen nach den Wahlen wohl die logische Folge gewesen. Doch die weitere Legislaturperiode verlief alles andere als regulär. Das medial befeuerte Schauspiel um den Haushalt 2013 war nämlich nur die Spitze des Eisbergs.

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Parallel zur politischen Entwicklung konnte man eine Wandlung des Führungsstils von Jean-Claude Juncker erkennen. Als Chef der Eurogruppe war er als einer der Hauptakteure an der Rettungspolitik innerhalb der Eurozone beteiligt. In der Öffentlichkeit wurde Juncker auch vor allem als Europapolitiker wahrgenommen. Zugleich war er in der Heimat immer öfter abwesend. Er zog zwar weiter im Hintergrund die Strippen, ließ den Dingen ansonsten aber immer mehr ihren Lauf. Wichtige Sitzungen wurden von Junckers Staatsministerium nicht mehr vorbereitet. Der Premier selbst versäumte es aber auch, strategische Personalentscheidungen zu treffen oder innenpolitische Dossiers in seiner Abwesenheit an Vertraute zu delegieren. Alles hing an Juncker und von Juncker ab. In guten Zeiten hinterfragten dieses System nur die wenigsten. In Krisenzeiten wurden die Zweifel an der politischen Führung im Land aber immer offensichtlicher.

In der eigenen Partei hatte der „Chef“ diesbezüglich zwar kein Unheil und schon gar keine ernsthafte Konkurrenz zu befürchten. Doch auch in der CSV machte sich langsam, aber sicher Unmut breit, der allerdings nur hinter vorgehaltener Hand geäußert wurde. Genau in diese Zeit fallen jedenfalls diverse Episoden, bei denen Juncker seine Parteifreunde in internen Sitzungen geradezu zusammenfaltete. „Was wärt ihr denn schon ohne mich?“ ist dabei nur eine der ihm in Fraktionssitzungen der Christsozialen zugeschriebenen Aussagen. Mit zunehmender Dauer seiner Amtszeit entwickelte Juncker nicht nur einen herablassenden Umgang mit seinen politischen Mitstreitern, sondern auch ein ausgeprägtes Freund-Feind-Denken. So sympathisch, kumpelhaft und mitunter warmherzig Juncker als Privatperson beschrieben wird, so gnadenlos konnte er im Umgang mit politischen „Freunden“ sein. „Einige haben es drauf und sind würdig, mit ihm auf Augenhöhe zu sprechen, alle anderen sind unfähig“, beschreibt ein langjähriger Weggefährte aus der Partei Junckers Selbstverständnis und den entsprechenden Wandel des Führungsstils des seit 1995 amtierenden Premiers.

Auch der Alkohol spielte eine Rolle. Was in der politischen Klasse bis heute als offenes Geheimnis behandelt wird, ist für viele von Junckers Weggefährten mit ein Grund, der vor allem im Zuge seines gescheiterten Abschieds nach Brüssel zur stetigen Verschlechterung der Arbeitsatmosphäre beigetragen hat. Nicht selten wurden Klausursitzungen abgebrochen oder vertagt, weil der Premier „nicht mehr auf der Höhe“ war, wie es ein langjähriges Regierungsmitglied im Rückblick formuliert. Im Ministerrat sei es demnach zunehmend auf Junckers Launen angekommen, ob er überhaupt zu substanziellen politischen Gesprächen fähig war oder sich eher in fast schon surreal anmutenden, persönlich-biografisch geprägten Monologen erging. Lange habe sich sein Lebensstil zwar nicht negativ auf seine politische Arbeit ausgewirkt. Laut Aussagen seiner Weggefährten entwickelte sich Junckers schwerlich verborgene Neigung zu dauerhaftem Alkoholkonsum, die sich etwa in morgendlichen Apéros oder stundenlangen feucht-fröhlichen Arbeitsessen äußerte, in Kombination mit seinem ohnehin schon launigen Regierungsstil für sein unmittelbares Arbeitsumfeld jedoch zunehmend zum Problem. Dass der Regierungschef auch deswegen immer weniger in der Lage war, die Richtung der Politik vorzugeben oder Streitigkeiten innerhalb seiner Koalition zu schlichten, steigerte bei vielen Vertrauten nur die Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation.

Der Juncker in diesen Jahren zudem zugesprochene geringschätzige bis offen verachtungsvolle Umgang mit Parteifreunden und Koalitionspartnern hinterließ viele offene Wunden, die bei so manchem Beteiligten inner- und außerhalb der Partei den Wunsch nach politischer Rache reifen ließ. Und dennoch: In der eigenen Partei funktionierte das „System Juncker“ bis zum Schluss. Fraktion und Parteiführung wurden oft vor vollendete Tatsachen gestellt. Die wahren Entscheidungen wurden so nicht in den regulären Gremien der Partei, sondern im Vorfeld zwischen wenigen Personen getroffen und dann von den Parteiorganen nur noch abgesegnet. Ähnlich funktionierte das System in der Regierung. Der Ministerrat war nur selten der Ort für eine offene Aussprache; diese hatte der Staatsminister meist schon im Vorfeld mit auserwählten Personen gesucht. So hatte Juncker nach und nach ein machtpolitisches Kommunikationsnetz geschaffen, das allein auf ihn zugeschnitten war. Als er aber wegen seiner zunehmenden Abwesenheit zu Hause die Zügel der Macht aus der Hand gab, wendete sich allmählich das Blatt. Alle von ihm im kleinen Kreis gekränkten und mitunter auch im erweiterten Kreis offen bloßgestellten Weggefährten warteten eigentlich nur auf die richtige Gelegenheit, sich zu rächen.

Inzwischen war die Koalition mit den Sozialisten nach der Zeit der schwierigen Krisenbewältigung und den parallel immer noch schwelenden Affären spätestens im Herbst 2012 vollständig gelähmt. Am Kabinettstisch wurde sich nur noch belauert. Man erzielte selbst über eher unkontroverse Maßnahmen keine Einigung mehr. „Die Koalition hatte irgendwann keine Kraft mehr, sich zusammenzureißen“, erinnert sich Lucien Lux, der damals als Fraktionschef der LSAP an allen wichtigen Entscheidungen beteiligt war. Es kam zwar nicht immer zum offenen Streit, aber die Koalition verfügte eigentlich schon von Beginn ihrer Neuauflage von 2009 an über kein politisches Projekt mehr. Spätestens mit der hausgemachten Regierungskontroverse um die Haushaltspolitik wurde jedenfalls vielen Beteiligten klar, dass die Koalition in dieser Form am Ende war. Wie lange sich dieses Ende hinziehen würde, konnte aber noch keiner so richtig absehen.

Dabei war Juncker früher sehr wohl derjenige, der die entscheidenden politischen Impulse gab, seine Partei auf Linie brachte und damit die von ihm angeführten Koalitionen am Leben hielt. Als er dazu selbst durch seine zusätzliche Beanspruchung als Vollzeit-Euro-Retter und den Wandel seines Regierungsstils nicht mehr in der Lage war, kam es politisch langsam, aber sicher zum Stillstand – eine Wahrnehmung, die die Opposition und letztlich auch die spätere Dreierkoalition immer wieder als Hauptargument für die Notwendigkeit eines grundlegenden politischen Wechsels anführten.

Etienne Schneider, der seit 2012 als LSAP-Wirtschaftsminister am Kabinettstisch der großen Koalition saß, spricht im Rückblick über die späte Juncker-Ära von einem „Politikstil, der einfach nicht mehr in diese Zeit passte“. Die CSV habe einen stets ihre parlamentarische Übermacht spüren lassen, bei jeder Gelegenheit die anderen Parteien über die großen Zusammenhänge der Regierungspolitik belehrt und damit jegliche innovative Reformansätze im Keim erstickt. „Jeder, der mit neuen Ideen ankam oder über die Grundrichtung der Politik diskutieren wollte, wurde sofort abgeblockt.“ Diese „herablassende Attitüde“ sei mit der Zeit „unerträglich“ geworden, so Schneider. Er und seine Parteikollegen hätten sich irgendwann gesagt: „Es muss doch auch anders gehen.“

Blau Rot Grün - Hinter den Kulissen eines Machtwechsels

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