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Auf dem Weg ins Exil – Gründe, Wege, Hindernisse

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Wer das Exil vermeiden kann, tut es zumeist; das war auch im Nationalsozialismus der Fall. Die Mehrzahl derjenigen, die zwar die nationalsozialistische Politik ablehnten, aber nicht akut bedroht waren, arrangierten sich mit dem Regime, suchten sich Nischen, in denen sie ihrer bisherigen Tätigkeit relativ unbeeinträchtigt nachgehen konnten, und versuchten, so wenig wie möglich aufzufallen. Nur wenige, die weitgehend unbeschadet in Deutschland hätten „überwintern“ können, gingen aus Protest ins Exil, weil sie keine Kompromisse machen und sich nicht anpassen wollten. Einer von ihnen, der Autor Herbert Schlüter (geboren 1906 in Berlin, gestorben 2004 in München), wurde, so erzählten seine Freunde, 1933 in Berlin von einem SA-Mann angepöbelt, der ihn fälschlicherweise für einen Juden hielt. In diesem Moment entschied Schlüter: „Jetzt packe ich meine Koffer und reise ab.“6 Das tat er auch, aber nach einiger Zeit wurde ihm das Leben im Pariser Exil so schwer, dass er nach Deutschland zurückkehrte. Doch er merkte schnell, wie weit der Nationalsozialismus inzwischen in der deutschen Gesellschaft verankert war und konnte bzw. wollte sich nicht mit dieser Situation arrangieren. Also verließ er Deutschland abermals; die Stationen seines frei gewählten Exils waren Mallorca, Madrid und Florenz, bis er 1947 nach München zurückkehrte.

Herbert Schlüter war eine Ausnahme. Die meisten verließen ihre Heimat und suchten Zuflucht im Ausland aufgrund von Diskriminierung, Bedrohung und Angst. Einige, wie das Ehepaar Katia Mann (geboren 1883 in Feldafing, gestorben 1980 in Kilchberg) und Thomas Mann (geboren 1875 in Lübeck, gestorben 1955 in Kilchberg), hielten sich zur Zeit der nationalsozialistischen Machtübernahme zufällig im Ausland auf und kehrten nicht mehr nach Deutschland zurück. Katia Mann, die vor ihrer Heirat mit dem Autor der Buddenbrooks Mathematik und Physik studiert hatte, stammte aus der bekannten jüdischen Familie Pringsheim. Den Nationalsozialisten zufolge war sie Jüdin, ihre Kinder galten als „jüdische Mischlinge ersten Grades“. Allerdings war dies nicht der offizielle Grund, weshalb die Familie Mann ins Exil ging; weder Katia noch ihre Kinder definierten sich als jüdisch. Ausschlaggebend war für sie die politische Ablehnung des Nationalsozialismus. Im Februar 1933 veröffentlichte Thomas Mann einen Vortrag mit dem Titel „Bekenntnis zum Sozialismus“, in dem er sich für Humanismus und Bürgerlichkeit aussprach und indirekt vor den Nationalsozialisten warnte. Dafür geriet er ins Kreuzfeuer ihrer Kritik. Anstatt von einem Aufenthalt in der Schweiz nach München zurückzukehren, blieben Katia und Thomas mit ihren jüngeren Kindern in Zürich. Ihre älteste Tochter Erika Mann (geboren 1905 in München, gestorben 1969 in Zürich) kehrte bei Nacht und Nebel noch einmal in das Münchener Elternhaus zurück, das die Nationalsozialisten bewachten, und schmuggelte das Manuskript des Joseph-Romans ihres Vaters über die Grenze. Erikas Großeltern mütterlicherseits blieben vorerst in München, obwohl sie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft bedroht waren. Erst 1939 gelang es ihnen, Deutschland zu verlassen und in die Schweiz zu fliehen.

Diskriminierung und Verfolgung

Die Diskriminierung aller etwaigen und als solcher definierten Feinde der Nationalsozialisten verschärfte sich seit 1933 kontinuierlich. Mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, das im Frühjahr 1933 in Kraft trat, wurden „nichtarische“ Personen aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Zahlreiche Behörden, Vereine und Organisationen führten wenig später „Arierparagraphen“ ein, mit deren Hilfe den nun offiziell unerwünschten Angestellten fristlos gekündigt wurde. Ein Boykott gegen jüdische Geschäfte sollte im April 1933 dazu dienen, antisemitische Ressentiments in der Bevölkerung zu schüren und die „Nichtarier“ dazu zu bewegen, Deutschland zu verlassen. Bis Mitte der Dreißigerjahre wurde ein Viertel bis ein Fünftel der jüdischen Privatunternehmen „arisiert“, d. h., die Besitzer wurden finanziell und politisch so sehr unter Druck gesetzt, dass sie ihre Betriebe und Geschäfte völlig unter Wert verkauften oder überschrieben. Im September 1935 wurden dann die sogenannten Nürnberger Gesetze verkündet, die die jüdische Bevölkerung im Deutschen Reich faktisch entrechteten. Dabei erfolgte die Definition von Personen als „jüdisch“ unabhängig davon, ob diese tatsächlich gläubige, praktizierende Juden waren und sich selbst als Juden definierten oder nicht.

Viele derjenigen, die von den Nationalsozialisten aufgrund ihres nominellen „Jüdischseins“ verfolgt wurden, hatten keinen Bezug zur jüdischen Religion und Kultur. Etliche ursprünglich jüdische Familien waren bereits im Kaiserreich zum Christentum übergetreten. Viele von ihnen verstanden sich in erster Linie als Deutsche und erst in zweiter Linie oder gar nicht als Juden. Für sie war es völlig unverständlich, dass die Nationalsozialisten sie plötzlich aufgrund einer Identität, die gar nicht ihre eigene war, angriffen und ausgrenzten. Der Historiker Hans Baron meinte dazu, es sei „das Schlimmste und Fürchterlichste, dass die eigenen Volksgenossen, mit denen man sich zeitlebens eins glaubte, kommen und Volk und Vaterland und alles, was man für heilig hielt, fortnehmen können“.7 In dieser Formulierung kommt auch zum Ausdruck, dass es nicht allein die offiziellen Instanzen waren, von denen die Diskriminierung und Entrechtung ausging. Große Teile der deutschen Bevölkerung beteiligten sich an der antisemitischen Hetze, unterstützten den Boykott jüdischer Geschäfte, drangsalierten jüdische Nachbarn und Bekannte und taten sich in der Öffentlichkeit mit rassistischen Parolen hervor. Von der Polizei und von Gerichten war keine Hilfe gegen die alltägliche Bedrohung zu erwarten, ebenso wenig wie von anderen Behörden, die sich ganz in den Dienst des NS-Staates stellten.8

Dennoch konnten sich anfangs nur wenige der Bedrohten entscheiden, ihre Heimat aufzugeben; nur etwa 130 000 deutsche Juden verließen zwischen 1933 und 1937 das Deutsche Reich. Vor allem ältere Menschen klammerten sich an die Hoffnung, der „Spuk“ werde schon vorübergehen, wenn man nur Geduld habe. Diejenigen, die nicht daran glaubten, zögerten häufig aufgrund familiärer Bindungen, Deutschland zu verlassen. Gerade Frauen fiel es schwer, sich zur Flucht zu entschließen, weil sie ihre Eltern nicht allein zurücklassen wollten. Andererseits fassten alleinstehende Frauen schneller den Entschluss zur Flucht, und viele derjenigen, die verheiratet waren, drängten ihre Ehemänner dazu, die Emigration vorzubereiten. Insgesamt tendierten die Männer jedoch dazu, abzuwarten und auszuharren. Die Vorstellung, das eigene Land zu verlassen, alles aufzugeben und sich von Verwandten und Freunden zu trennen, war für die meisten unvorstellbar.

Sigmund Freud (geboren 1856 in Prˇibor, Mähren, gestorben 1939 in London), der international angesehene Begründer der Psychoanalyse, war zur Zeit der nationalsozialistischen Machtübernahme in Österreich schon 77 Jahre alt. Er wehrte sich fünf Jahre lang gegen Aufforderungen von Verwandten und Bekannten, Wien zu verlassen und ins sichere Exil zu gehen. Bereits 1933 hatten die Nationalsozialisten seine Veröffentlichungen verbrannt, weil sie seine Theorien über Hysterie, Traumdeutung, Triebstruktur und Unterbewusstsein für „undeutsch“ und „entartet“ hielten. Doch Freud war schwer krebskrank und wollte deshalb nicht mehr reisen, die Strapazen eines Umzugs auf sich nehmen und, wie er noch Anfang 1938 argumentierte, Österreich im Stich lassen. Doch nach dessen „Anschluss“ war klar, dass der Psychiater in Wien nicht mehr sicher war. Nachdem seine Tochter, Anna Freud (geboren 1895 in Wien, gestorben 1982 in London), von der Gestapo verhört worden war, entschloss er sich schließlich doch zur Flucht. Kurz zuvor zwang ihn die Gestapo noch, eine Bescheinigung zu unterzeichnen, dass er nicht misshandelt worden sei; er leistete seine Unterschrift, notierte darunter aber in einem Akt von Galgenhumor oder Widerstand: „Ich kann die Gestapo jedermann auf das beste empfehlen.“9 Nach einem Jahr im Londoner Exil starb Freud 1939. Anna Freud wurde in England zu einer wichtigen Mitbegründerin der Kinderpsychoanalyse.

Anna Freud

Anna Freud war die jüngste Tochter Sigmund Freuds. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Volksschullehrerin, beschäftigte sich dann aber vor allem mit der Psychoanalyse, wurde selbst Psychoanalytikerin und assistierte ihrem Vater. Mit ihm reiste sie auf Kongresse, kümmerte sich um seine Korrespondenz, pflegte ihn, als er erkrankte, und organisierte die Flucht aus Wien. Im britischen Exil eröffnete sie gemeinsam mit ihrer amerikanischen Lebensgefährtin Dorothy Burlingham-Tiffany ein Heim für Kriegswaisen. Nach dem Krieg bauten sie das Heim zur Hampstead Clinic aus, einem kinderanalytischen Lehr- und Behandlungszentrum. Zugleich führte Anna Freud die Arbeit ihres Vaters fort und vertrat seine Ideen auf internationalen Kongressen.

Gegenüber der Mehrheit der Exilanten, die sich 1938 zur Flucht entschlossen, war Sigmund Freud in klarem Vorteil. Er verfügte über hochrangige internationale Kontakte und erhielt relativ einfach eine Aufenthaltsgenehmigung für England, eine österreichische Unbedenklichkeitsbescheinigung und einen Pass – auch wenn all dies mit umständlichen bürokratischen Prozeduren und hohen Gebühren verbunden war. Die weniger prominenten Exilanten hatten unterdessen oft erhebliche Schwierigkeiten, Zuflucht im Ausland zu finden, weil die Einreisebestimmungen im Laufe der Dreißigerjahre immer restriktiver wurden. Damit mussten auch jene kämpfen, die im Zuge des antijüdischen Pogroms am 9. November 1938 verhaftet wurden – neben der Zerstörung der Synagogen, Geschäfte und Wohnungen ein Mittel der Nationalsozialisten, die jüdische Bevölkerung noch weiter einzuschüchtern. Etliche der etwa 30 000 Männer, die sie in diesem Zusammenhang in den Konzentrationslagern Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen inhaftierten und misshandelten, wurden nur unter der Auflage entlassen, innerhalb kürzester Zeit das Land zu verlassen. Doch schon der Versuch, eine Fahrkarte zu kaufen oder einen Pass zu beantragen, um in ein anderes Land einzureisen, konnte zum Spießrutenlauf werden. Die Geschichte von Hertha und Erich Nathorff steht stellvertretend für die Erfahrungen, die viele derjenigen machten, die bis Ende der Dreißigerjahre gehofft hatten, das NS-Regime werde seine Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung mildern.

Die Nathorffs, ein in Berlin weithin bekanntes Arztehepaar, bemühten sich seit Sommer 1938 um die Ausreise, da sie als Juden nicht mehr praktizieren durften und damit keine Existenzgrundlage in Deutschland besaßen. Sie erhielten Unterstützung von Verwandten in den USA und warteten auf ihre Visa, doch dann wurde Erich Nathorff im Zuge des Novemberpogroms in Sachsenhausen interniert. Um ihre Männer aus der Haft zu befreien, versuchten viele Ehefrauen, die für die Ausreise notwendigen Papiere zu erhalten. So auch Hertha Nathorff: Sie sprach beim amerikanischen Konsulat und bei der Auswandererberatungsstelle vor, versuchte, Schiffspassagen zu buchen, um vorweisen zu können, dass sie und ihre Familie tatsächlich ausreisen würden, und erkundigte sich nach Visamöglichkeiten für andere Länder. Schließlich buchte sie eine Passage nach Kuba und konnte somit einen Reisepass beantragen. Dieses Unterfangen nahm mehrere Tage in Anspruch und erforderte mehrere behördliche Unbedenklichkeitsbescheinigungen, weil das Deutsche Reich nicht auf möglicherweise noch ausstehende Steuern (u. a. die sogenannte „Reichsfluchtsteuer“, die Juden bezahlen mussten) verzichten wollte.

Anfang Dezember 1938 erhielt Hertha Nathorff eine Quotennummer vom amerikanischen Konsulat, mit der die Einreise in die USA im Sommer 1939 möglich sein sollte. Um die Zeit bis dahin zu überbrücken, bewarb sich die Familie um eine britische Aufenthaltsgenehmigung; nach vielen Mühen lag sie im Februar 1939 vor. In der Zwischenzeit mussten die Nathorffs allerdings erfahren, dass die Passage nach Kuba, die sie gekauft hatte, nicht erhältlich war. Im März schickte das Ehepaar seinen vierzehnjährigen Sohn mit einem Kindertransport nach London und begann mit der Auflösung der Berliner Wohnung. Alle Wertgegenstände bis auf einige Kleinigkeiten mussten sie weit unter Wert an die deutschen Behörden „verkaufen“ und zusätzlich hohe Ausreisegebühren zahlen, um ihr Mobiliar mitnehmen zu dürfen. Unter Aufsicht eines Zollbeamten wurden die Einrichtungsgegenstände verpackt und in einem sogenannten „Lift“ nach Rotterdam geschickt. Ihre Reisekoffer wurden verplombt, um zu verhindern, dass sie heimlich Wertgegenstände einpackten und am Zoll vorbeischleusten. Im April 1939 reisten die Nathorffs schließlich nach England. Dort mussten sie so lange auf die Weiterreise in die USA warten, dass ihre bereits erworbenen Schiffskarten verfielen. An das Geld, das sie in Deutschland auf der Bank hatten, kamen sie nicht heran, ebenso wenig wie an den Lift. Für dessen Transport sollten sie ein zweites Mal bezahlen, doch dazu fehlten ihnen die notwendigen Devisen. Erst im Februar 1940 gelangte die Familie nach New York City.10 Im Nachhinein mag es nach einer relativ glimpflich verlaufenen Flucht klingen, doch die entwürdigende Behandlung durch die deutschen Behörden, die anhaltende Ungewissheit und die Furcht vor einer neuerlichen Verhaftung waren einschneidende Erfahrungen – all das als Teil des Verlusts der Heimat.

Auf der Suche nach einem Gastland

Wie die Geschichte der Nathorffs zeigt, galt es nicht nur die deutsche, sondern auch die Bürokratien der Einreiseländer zu überwinden. Vergleichsweise leicht war die Einreise nach Palästina, weil sich zionistische Organisationen auf diplomatischer Ebene einsetzten und finanzielle und organisatorische Hilfe leisteten. So gelang es etwa 60 000 jüdischen Deutschen, nach Palästina zu emigrieren. Für andere Länder waren die Visumsregelungen viel strenger. Dies brachte lange Wartezeiten und umständliche Wege mit sich, die an den Nerven der bedrohten Menschen zehrten. Besonders die USA praktizierten eine sehr rigide Einreisepolitik, die sie seit Kriegseintritt kontinuierlich verschärften. Zwar hatte Präsident Roosevelt 1938 eine internationale Konferenz im französischen Évian initiiert, um über die Möglichkeit zu beraten, Flüchtlinge aus Österreich und dem Deutschen Reich aufzunehmen. Doch die Konferenz ging ohne konkrete Ergebnisse zu Ende; letztlich war keines der beteiligten Länder ernstlich bereit, eine bestimmte Zahl von jüdischen Flüchtlingen zu beherbergen. Auch die USA verschlossen sich der Einwanderung. Sie teilten den verschiedenen Ländern, aus denen Menschen in die Vereinigten Staaten einreisen wollten, jährliche Quoten zu; im deutschen Fall handelte es sich um 27 370 Personen, die pro Jahr ein amerikanisches Visum erhalten konnten. Allerdings wurden diese Quoten nach 1940 nicht mehr ausgenutzt, weil es zu schwierig war, überhaupt das Land zu verlassen, und weil die Anforderungen für ein Visum so hoch waren. Prominente Flüchtlinge konnten noch auf ein spezielles Einreiseprogramm hoffen, doch auch sie mussten ab 1941 zwei Bürgschaften aus den USA vorlegen, um Chancen auf ein Visum zu haben.

Viele derjenigen, die auszureisen versuchten, befanden sich in einem Wettlauf gegen die Zeit. Die täglichen Drangsalierungen sowie die konkrete Bedrohung nahmen sukzessive zu, während sich die Chancen auf ein Visum mit Beginn des Krieges dramatisch verringerten. Zunehmend war die Wahl des Exillandes nicht mehr eine freie, sondern eine überaus pragmatische Wahl. Hatten die meisten Flüchtlinge in den frühen Dreißigerjahren versucht, in west- und mitteleuropäischen Ländern unterzukommen, weil ihnen deren Kultur am vertrautesten war und sie sich vergleichsweise leicht zurechtfinden konnten, spielten solche „luxuriösen“ Erwägungen später keine Rolle mehr. Auch ganz und gar unbekannte Länder und Kontinente wurden nun zu Zufluchtsorten, einfach deshalb, weil sie Einreise- und Aufenthaltsmöglichkeiten boten, die andernorts nicht mehr bestanden. Pinchas Erlanger (geboren 1926 in Ravensburg) erinnerte sich, dass seine Eltern seit 1936 die Auswanderung „nach Palästina, Uruguay und Kenia in Betracht zogen [...], aber sie erwogen auch die Auswanderung in die USA, nach Australien und in die Dominikanische Republik“. Außerdem versuchten sie zeitweilig, Zuflucht in Zypern und Syrien zu finden. Nachdem die Ausreise in die USA am strikten Quotensystem gescheitert war, gelang der Familie schließlich in letzter Minute die Flucht nach Palästina.11

Zwischen 1938 und 1939 konnten noch etwa 120 000 Juden aus Deutschland fliehen; dabei mussten sie fast all ihren Besitz zurücklassen. Bis die Nationalsozialisten die Emigration am 1. Oktober 1941 verboten, gelang noch einmal 18 000 bis 20 000 Menschen die Flucht.

Transit

Solange es die politische Lage zuließ, flohen zahlreiche Menschen in die Tschechoslowakei und nach Frankreich, wo große Exilgemeinden entstanden. Schon Ende 1933 befanden sich etwa 30 000 deutsche Emigranten in Frankreich, und im südfranzösischen Sanary-sur-Mer etablierte sich eine deutsche Künstlerkolonie. Paris und Prag wurden zu Zentren der deutschsprachigen Emigration. Hier fanden Exilanten Kontakte zu anderen Flüchtlingen und politischen Gruppen, die ihnen behilflich waren, Arbeit zu finden und gegebenenfalls die weitere Emigration zu planen. Doch gerade dieser Schritt fiel schwer, denn er bedeutete neuerliche Unsicherheit und zugleich das Eingeständnis, dass man sich von den Machthabern vertreiben ließ. Hermann Kesten beschrieb seine Situation im französischen Exil im Oktober 1938 folgendermaßen:

Ich fürchte den Krieg und diesen Frieden, verabscheue dieses neue Europa und hänge am alten Erdteil, möchte fliehen und habe weder Papiere noch Geld.12

Strukturelle Hindernisse und psychologische Hürden bedingten, dass viele der Gefährdeten erst spät und unter immer schwierigeren Umständen den Weg in ein wirklich sicheres Exil antraten.

Je später die Flucht aus dem nationalsozialistischen Machtbereich glückte, desto größer waren die Opfer an Hab und Gut, aber auch die psychischen Lasten im Gepäck.13

Mit dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland und der Annexion eines großen Teils der Tschechoslowakei im Zuge des Münchener Abkommens verschärfte sich die politische Situation 1938 für die Exilanten erheblich. Nun wurde klar, dass an eine Rückkehr so bald nicht zu denken war, sodass sie sich auf ein längeres Exil einstellen mussten. Die Familie Mann zum Beispiel, die sich seit 1933 in Zürich aufhielt und die Lage in Deutschland beobachtete, entschied sich angesichts der politischen Situation 1938, in die USA zu gehen. Thomas Mann hatte bis dahin die Hoffnung gehegt, dass sich ein Arrangement finden lasse und er nach Deutschland zurückkehren könne; u. a. aus diesem Grund hatte er auch darauf verzichtet, sich öffentlich zur politischen Situation zu äußern. Sein Bruder Heinrich Mann war der weitaus prominentere Gegner des Regimes, und auch die beiden ältesten Mann-Kinder hatten viel früher und energischer als ihr Vater begonnen, öffentlich Stellung gegen die Nationalsozialisten zu beziehen. Klaus Mann schrieb antifaschistische Romane und Reportagen und gab zeitweilig eine Zeitschrift, Die Sammlung, heraus, in der exilierte Schriftsteller publizierten.

Erika Mann, eine in der Weimarer Republik weithin bekannte Schauspielerin, Kabarettistin und Journalistin, eröffnete am 1. Januar 1933 in München ein eigenes Kabarett, „Die Pfeffermühle“. Dass sich das Kabarett anfangs im Gebäude in enger Nähe zum Hofbräuhaus befand, in dem 1920 die NSDAP gegründet worden war, ließ sich durchaus programmatisch deuten. Gemeinsam mit Therese Giehse (geboren 1898 in München, gestorben 1975 in München), ihrem Bruder Klaus und anderen linksorientierten Kolleginnen und Kollegen schrieb und inszenierte Erika Mann Stücke mit politischen Anspielungen, die beim Publikum auf großen Anklang stießen. Wenige Wochen nach der Eröffnung des Kabaretts übernahmen die Nationalsozialisten auch in München die Macht, und Erika floh Mitte März nach Zürich. Dort eröffnete sie die „Pfeffermühle“ neuerlich im September 1933, bis das Kabarett 1934 nach Basel umzog. Im Exil verschärfte die „Pfeffermühle“ ihre Kritik an den Nationalsozialisten. Jene reagierten darauf, indem sie Erika Mann 1935 die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannten; die Kabarettistin hatte jedoch rechtzeitig eine Zweckehe mit dem Schriftsteller Wystan H. Auden geschlossen, um einen britischen Pass zu erhalten. Als der nationalistische Widerstand gegen das antifaschistische Programm der „Pfeffermühle“ in der Schweiz zu groß wurde, tourte die Gruppe durch die Tschechoslowakei und die Benelux-Länder. Insgesamt trat sie bis Mai 1936 mehr als eintausend Mal auf und verbreitete ihre Kritik am NS-Regime europaweit.

Dass der weltberühmte Thomas Mann unterdessen zwar die Aktivitäten seiner Kinder befürwortete, selbst aber schwieg, provozierte 1936 einen heftigen Streit in der Familie. Erika warf ihrem Vater vor, zu sehr auf seinen eigenen Vorteil bedacht zu sein, anstatt sich klar auf die Seite der Hitler-Gegner zu stellen und für die Exilanten einzutreten. Der drohende Bruch mit seiner Lieblingstochter brachte den Autor dazu, endlich seine Deckung zu verlassen und sich gegenüber den Nationalsozialisten zu positionieren. In der Neuen Zürcher Zeitung publizierte er einen Artikel, in dem er die Nationalsozialisten unverhohlen angriff. Nur wenige Monate später wurde auch dem Nobelpreisträger die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Sein Status als Feind des NS-Regimes war damit besiegelt, und angesichts der stetig wachsenden Kriegsgefahr ließ sich nicht mehr übersehen, dass die Lage in Europa für die Familie aussichtslos war. Als Mann bei einer Lesereise in den USA im Februar 1938 eine Stelle an der Princeton University angeboten wurde, ergriff die Familie diese Gelegenheit. Dabei kam Thomas Mann zugute, dass er seit 1936 Staatsbürger der Tschechoslowakischen Republik war. In den Dreißigerjahren hatte die ČSR ungewöhnlich freizügig die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit vergeben, was für viele ausgebürgerte Flüchtlinge eine Rettung bedeutete, weil sie sonst keine Visa hätten beantragen können. In den USA angekommen, lebte die Familie Mann für zwei Jahre in Princeton, bis sie an die Westküste zog, wo sie bis Anfang der Fünfzigerjahre blieb.

Therese Giehse

Therese Giehse war eine der bedeutenden deutschen Schauspielerinnen. In eine bürgerliche jüdische Familie geboren, wandte sie sich früh dem Theater zu. 1926 erhielt sie ein Engagement an den Münchener Kammerspielen; dort übernahm sie eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Rollen und war beim Publikum überaus beliebt. Als politische Gegnerin der Nationalsozialisten schloss sie sich 1933 der „Pfeffermühle“ an und floh im März des Jahres in die Schweiz. Eine Zweckehe mit John Hampson-Simpson verhalf ihr nach ihrer Ausbürgerung zu einem britischen Pass. Nachdem die „Pfeffermühle“ in den USA gescheitert war, kehrte Therese Giehse nach Zürich zurück und war dort am Schauspielhaus tätig. Bertolt Brecht schickte ihr aus dem finnischen Exil sein Stück Mutter Courage, mit dem sie nach dem Krieg neuerliche Berühmtheit erlangte. Kurze Zeit arbeitete sie – u. a. als Regisseurin – am Berliner Ensemble, bevor sie 1952 an die Münchener Kammerspiele zurückkehrte, wo sie bis zu ihrem Tod auftrat.

Internierung im Exilland

Weitaus schwieriger war die Situation derjenigen Exilanten, die nach Wien, Prag und andere Orte geflüchtet waren und sich dort 1938 aufhielten. Um dem deutschen „Zugriff“ zu entkommen, mussten sie weiterfliehen, doch die Bedingungen wurden aufgrund der drohenden Kriegsgefahr immer komplizierter. 1939 wurden in Frankreich Internierungslager für deutsche Flüchtlinge eingerichtet.14 Mit dem deutschen Überfall auf Polen und dem daraus resultierenden Ausbruch des Krieges am 1. September 1939 steigerte sich die Gefahr für die Exilanten akut.

Hermann Kesten war einer von vielen Flüchtlingen in Frankreich, die im September 1939 erfuhren, „dass ich in ein Konzentrationslager gehn [sic] muss [...]. Es ist eine ungedeckte Radfahr-Arena, mit Wiese und Tribünen, Platz, um 500 Menschen unterzubringen, nicht aber 15 000 oder 20 000 zusammenzupferchen. Ich habe Angst davor“.15 Er kam in ein Arbeitslager, aus dem er nach einem Monat entlassen wurde.

Wie Kesten kamen etliche Prominente aus den Arbeitslagern frei, weil sich internationale Organisationen oder berühmte Persönlichkeiten für sie einsetzten; andere wurden entlassen, nachdem Sichtungskommissionen sie für „ungefährlich“ erklärt hatten. Etwa 3000 Internierte ließen sich von der französischen Fremdenlegion anheuern – eine Entscheidung, die zwar die Gefangenschaft beendete, aber weder Freiheit noch Sicherheit bedeutete. Ende 1939 befanden sich von den ursprünglich etwa 22 000 Männern und etlichen hundert Frauen, die im Herbst interniert worden waren, fast noch die Hälfte in den Lagern. Ab Januar 1940 wurden 6500 von ihnen in Arbeitskompanien eingegliedert, die zur französischen Armee gehörten, und mussten dort Schwerstarbeit verrichten. Die meisten dieser prestataires konnten in den unbesetzten Süden Frankreichs flüchten, bevor die deutschen Truppen das Land im Juni 1940 überfielen. Die französische Regierung stimmte nach der Kapitulation der Auslieferung der deutschen Flüchtlinge zu; deshalb versuchten fast alle, die nördliche Zone Frankreichs zu verlassen. Jene, denen dies nicht gelang, sowie die der Fremdenlegion beigetretenen Flüchtlinge wurden wiederum in Zwangsarbeitslager interniert (Groupements de travailleurs étrangers). Im Februar 1942 belief sich die Zahl der dort Festgehaltenen auf etwa 38 000 Menschen.16

Die Geschichte der Flüchtlinge aus den deutschsprachigen Gebieten, die vom Kriegsausbruch überrascht wurden, hat die Schriftstellerin Anna Seghers (geboren als Netty Reiling 1900 in Mainz, gestorben 1983 in Ost-Berlin) in ihrem berühmten Buch Transit festgehalten, das als einer der bedeutendsten Exilromane gilt. Seghers, die aus einer orthodoxen jüdischen Familie stammte, hatte Geschichte, Kunstgeschichte und Sinologie in Köln und Heidelberg studiert und 1924 promoviert. Nachdem sie sich bereits während ihres Studiums an den Aktivitäten linker Kreise beteiligt hatte, trat sie 1928 der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) bei und war Mitgründerin des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Im selben Jahr erhielt sie den Kleist-Preis und nahm den Künstlernahmen Seghers an. Sie schrieb Beiträge für kommunistische Zeitungen wie Die Rote Fahne und Die Linkskurve und veröffentlichte 1932 das antifaschistisch motivierte Buch Die Gefährten. Daraufhin wurde sie von der Gestapo verhaftet und floh nach ihrer Entlassung mit ihrem Mann, Laszlo Radványi (geboren 1900 in Budapest, gestorben 1978 in Ost-Berlin), und ihren beiden Kindern Peter und Ruth über die Schweiz nach Frankreich. In Paris arbeitete sie als Redaktionsmitglied der Neuen Deutschen Blätter, war in politischen Exilgruppen aktiv, schrieb für deren Zeitschriften und nahm an antifaschistischen Künstler- und Schriftstellerkongressen teil. Ihr Mann wurde mit Kriegsbeginn von den Franzosen in einem südfranzösischen Lager interniert. Währenddessen musste sich Seghers mit den Kindern in Paris verstecken, nachdem ihr erster Versuch, vor der Wehrmacht ins unbesetzte Südfrankreich zu fliehen, gescheitert war. Erst im zweiten Anlauf gelang die Flucht. Um in der Nähe ihres Mannes zu sein, hielt sich Anna Seghers in der Gegend um Marseille auf; von dort aus bemühte sie sich auch um Papiere für die Flucht aus Europa. Im März 1941 konnte die inzwischen wieder vereinte Familie über Martinique und New York nach Mexiko reisen.

Dort trafen die Flüchtlinge insgesamt gute Bedingungen an. Zwar waren sie anfangs auf die Hilfe religiöser, politischer oder karitativer Gruppen angewiesen, doch immerhin konnten sie „ohne Furcht vor staatlicher Repression und einer möglichen Illegalisierung“ leben, „ohne Angst, von den faschistischen Armeen eingeholt zu werden“.17 Die mexikanische Regierung, die seit 1942 zur Anti-Hitler-Allianz gehörte, machte es den europäischen Exilanten relativ leicht, die mexikanische Staatsangehörigkeit zu erwerben, sodass sie juristisch gleichgestellt waren, arbeiten und reisen konnten. Auch diesen Umständen war es zu verdanken, dass Anna Seghers innerhalb kurzer Zeit ihren Roman Transit schreiben und 1944 veröffentlichen konnte.

Transit basiert u. a. auf den eigenen Erfahrungen der Autorin in Marseille. Erzähler des Romans ist ein junger Mann, der aus einem deutschen Konzentrationslager geflohen und in Frankreich untergetaucht ist, bis er bei Kriegsausbruch interniert wird und kurz nach dem Einmarsch der Deutschen nach Südfrankreich flieht. In Marseille beobachtet er die verzweifelten Versuche der deutschen Flüchtlinge, Visa für die USA, Mexiko, Kuba und andere Länder zu beantragen, nimmt die Identität eines Flüchtlings an, der Selbstmord begangen hat, und verhilft Bekannten zur Flucht. Der Titel des Buches, Transit, ist doppelt belegt: Zum einen verweist er auf die Kategorie des Transit-Visums, das die Exilanten benötigten, wenn sie durch andere Länder reisen mussten, um an ihren Zielort zu gelangen. Dieses Visum zu erhalten bedeutete eine zusätzliche bürokratische Hürde, an der etliche Flüchtlinge scheiterten. Zum anderen steht „Transit“ als „Chiffre für die transitorische Existenz, für den das Leben beherrschenden Zustand der Durchreise, den die Emigranten auf sich nehmen mussten“.18 Parallel zu dieser Erfahrung des improvisierten Lebens in abgewohnten, hellhörigen Hotelzimmern bei ständig schwindenden finanziellen Mitteln fanden sich viele Flüchtlinge in Marseille mit scheinbar unüberwindbaren Problemen konfrontiert: Die strikten Visaquoten, kurzfristig gestrichene Schiffspassagen und die politische Verfolgung durch die französische Polizei gaben ihnen das Gefühl, selbst im noch unbesetzten Teil Frankreichs in der Falle zu sitzen und zusehen zu müssen, wie die Chancen auf Ausreise immer geringer wurden. Der Schriftsteller Hans Sahl (geboren 1902 in Dresden, gestorben 1993 in Tübingen) hielt die Stimmung in einem Gedicht, Marseille IV, fest:

Wir denken nicht, wir fühlen nicht, wir warten,

Wir tragen unsre Unrast durch die Zeit,

Wir stehen tagelang vor Konsulatsportalen,

Wir haben nichts als unsere Haut zu zahlen

Und jagen nach Papieren, Stempeln, Scheinen,

Wir sind von früh bis abends auf den Beinen

Und sind noch hier.

Wir leben nicht, wir sterben nicht, wir warten,

Wir laufen um die Wette mit dem Tod,

Wir wissen alle, dass wir warten müssen,

Wir sind schon tot, bevor wir es selbst wissen,

Und spielen mit Gefühlen wie mit Bällen,

Wir lassen uns von jedem Dummkopf prellen

Und buchen Plätze auf Gespensterschiffen,

Wir haben unser Schicksal längst begriffen

Und sterben nicht.19

Hans Sahl

Der in Berlin aufgewachsene Hans Sahl studierte in Leipzig und Breslau Literatur und Kunstgeschichte. Im Anschluss an seine Promotion 1924 kehrte er nach Berlin zurück und begann eine Karriere als Literatur- und Filmkritiker; parallel schrieb er Gedichte und Theaterstücke. 1933 hatte er gerade einen Vertrag mit dem Rowohlt Verlag unterzeichnet, um ein Buch über die Geschichte des Stummfilms zu verfassen, musste dann aber fliehen, weil er Jude und Kommunist war. Im französischen Exil schrieb er Texte für die „Pfeffermühle“. 1939 wurde er interniert, entkam und floh vor der deutschen Armee nach Marseille; während dieser Zeit brach er mit dem Marxismus und der Kommunistischen Partei. Mit Hilfe des Emergency Rescue Committee, für das er in Marseille arbeitete, gelang ihm 1941 die Ausreise in die USA. In New York lebte er von Übersetzungsarbeiten und schrieb Gedichte und Hörspiele, vielfach mit biographischem Hintergrund.

Hilfe aus Übersee –

Das Emergency Rescue Committee

Mehreren tausend Flüchtlingen kam in dieser scheinbar aussichtslosen Situation die Hilfe des Emergency Rescue Committee zugute, das der amerikanische Journalist Varian Fry (geboren 1907 in New York City, gestorben 1967 in Easton, Connecticut) in Marseille repräsentierte. Gegründet worden war das Komitee von sozialistisch orientierten Intellektuellen in den USA, die Verbindungen nach Europa hatten und Geld sammelten, um den polnischen, tschechischen, französischen, deutschen und österreichischen Verfolgten zu helfen. Eleanor Roosevelt, Ehefrau des US-Präsidenten Theodor Roosevelt, überzeugte auf Bitten des Komitees ihren Mann, ein Spezialvisum für verfolgte Wissenschaftler, Künstler, Politiker und Gewerkschafter zu schaffen, um ihnen die Ausreise zu erleichtern; dieses Visum vermittelte Fry den Exilanten. Geflohene Schriftsteller und Künstler sowie Mitarbeiter der Rockefeller Foundation, des Museum of Modern Art und der New School for Social Research in New York erstellten Listen mit den Namen derjenigen, die in besonderer Gefahr waren. Unter dem Deckmantel einer amerikanischen Organisation, deren Ziel es war, die Ausreise von Flüchtlingen in die USA zu erleichtern, verhalf Fry den Flüchtlingen zur Ausreise aus Frankreich. Er arrangierte Reiserouten, mietete zwischenzeitlich eine Villa, um einige der Verfolgten zu verstecken, und besorgte ihnen Geld, gefälschte Pässe, Aufenthaltsgenehmigungen sowie Ausreise- und Transitvisa. Um die Papiere kümmerte sich der tschechoslowakische Konsul in Marseille, Vladimír Vochoč. Auf teils abenteuerlichen Wegen wurden die Flüchtlinge schließlich über die Landesgrenzen geschleust. In Zusammenarbeit mit dem im Widerstand aktiven Ehepaar Lisa und Hans Fittko und dem hilfsbereiten Bürgermeister eines kleinen Grenzdorfes gelangten 200 Menschen zu Fuß über die Pyrenäen und von dort über Lissabon in die USA. Hannah Arendt, Heinrich Mann, Franz Werfel, Lion Feuchtwanger sowie mehreren tausend anderen (prominenten und weniger prominenten) Flüchtlingen glückte mit Frys Hilfe die Flucht in die Vereinigten Staaten.

Gescheiterte Flucht

Nicht alle der etwa 40 000 deutschen und österreichischen Juden, die sich bei Kriegsbeginn in Frankreich aufhielten, konnten das Land rechtzeitig verlassen. Fast 10 000 wurden von den Franzosen an die Deutschen ausgeliefert, die übrigen seit 1942 in die Vernichtungslager deportiert.20 Einer derjenigen, denen die Ausreise in die Vereinigten Staaten nicht gelang, war der Kunstkritiker, Kulturwissenschaftler und Philosoph Walter Benjamin (geboren 1892 in Berlin, gestorben 1940 in Port Bou). Er stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie, bewegte sich in den Zwanzigerjahren im Umkreis linker Theoretiker wie Theodor W. Adorno und Georg Lukács und war mit Bertolt Brecht befreundet. Seine Arbeit war vom Marxismus einerseits, von der jüdischen Theologie andererseits inspiriert – eine Mischung, die ihn aus Sicht der Nationalsozialisten eindeutig zum Gegner machte. Sein Bruder Georg, ein Arzt und kommunistischer Stadtverordneter, wurde gleich nach der NSDAP-Machtübernahme festgenommen und misshandelt; 1942 starb er im Konzentrationslager Mauthausen. Walter Benjamin gelang die Flucht nach Frankreich. In Paris schrieb er u. a. für die Zeitschrift des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und verbrachte die meiste Zeit in der Bibliothèque Nationale, wo er an einer kulturwissenschaftlichen Studie über Paris im 19. Jahrhundert sowie an einem Buch über den Lyriker Charles Baudelaire arbeitete.

Anfang 1939 wurde Benjamin die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen, er selbst mit Kriegsbeginn interniert. Französische Freunde setzten sich für seine Entlassung ein, sodass er nach einigen Monaten nach Paris zurückkehren konnte; von dort aus bemühte er sich um Ausreisegenehmigungen in die USA und Palästina. Kurz vor dem Einzug der deutschen Truppen nach Paris im Sommer 1940 fuhr Benjamin nach Lourdes und von dort weiter nach Marseille, wo ihn ein amerikanisches Visum erwartete, das Max Horkheimer besorgt hatte. Allerdings fehlte ihm das französische Ausreisevisum, und so begab er sich, obwohl er schwer herzkrank war, Ende September 1940 unter Führung von Lisa Fittko (geboren 1909 in Uzhgorod, Ukraine, gestorben 2005 in Chicago) gemeinsam mit einigen anderen deutschen Flüchtlingen auf den illegalen Weg über die Pyrenäen. Als er in Port Bou, dem spanischen Grenzort, ankam, verweigerten ihm die Behörden die Einreise. Benjamin fürchtete, von den Franzosen erneut interniert oder an die Gestapo ausgeliefert zu werden. Damit bestätigte sich seine pessimistische Empfindung, die er kurze Zeit zuvor in einem Brief an Theodor W. Adorno beschrieben hatte:

Die völlige Ungewissheit über das, was der nächste Tag, was die nächste Stunde bringt, beherrscht seit vielen Wochen meine Existenz. Ich bin verurteilt [,] jede Zeitung [...] wie eine an mich ergangene Zustellung zu lesen und aus jeder Radiosendung die Stimme des Unglücksboten herauszuhören.21

Um der erzwungenen Rückkehr nach Frankreich bzw. Deutschland zu entgehen, nahm sich Benjamin in einem Hotelzimmer in Port Bou am Abend des 26. September 1940 mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben. Er wurde auf dem Friedhof des Grenzorts begraben, in dem heute ein Denkmal an ihn erinnert.

Irrfahrten

Auch jene Flüchtlinge, die mehr Glück hatten und einen Platz auf einem Schiff ergatterten, konnten sich noch nicht in Sicherheit wägen. Immer mussten sie damit rechnen, am Ziel der Reise nicht an Land gelassen oder gar zurückgeschickt zu werden. Dies war das Schicksal jener fast tausend Flüchtlinge, die sich an Bord der S.S. St. Louis befanden, die im Mai 1939 von Hamburg nach Kuba fuhr; einige von ihnen waren erst kurz zuvor aus deutschen Konzentrationslagern entlassen worden. Als das Schiff im Hafen von Havanna ankam, verweigerte die kubanische Regierung fast allen Emigranten die Einreise. Aus Verzweiflung versuchten sich einige von ihnen das Leben zu nehmen. Der spätere Arzt und Forscher Arno Motulsky (geboren 1924 im damaligen Fischhausen, Ostpreußen) war als Fünfzehnjähriger mit seiner Mutter und zwei Geschwistern auf dem Schiff; er empfand die Situation in erster Linie als Abenteuer. Sein Vater war bereits 1938 nach Kuba geflohen und wartete im Hafen von Havanna auf seine Familie. Als das Schiff vor dem Hafen ankerte, mietete er ein Motorboot und fuhr zur St. Louis hinaus, konnte seine Frau und Kinder aber nur aus der Distanz sehen. Schließlich musste er beobachten, wie das Schiff nach einigen Tagen den kubanischen Hafen wieder verließ und Kurs auf Florida nahm. Die Bemühungen einer jüdischen Organisation, eine amerikanische Einreisegenehmigung für die Flüchtlinge zu erwirken, scheiterten, und so musste das Schiff nach Europa zurückkehren – eine schreckliche Vorstellung besonders für jene, die gerade erst der Lagerhaft entkommen waren.

Die Motulskys fanden Zuflucht in Belgien; Arnos Vater gelangte in der Zwischenzeit nach Chicago und besorgte amerikanische Visa für die Familie. Doch bevor sie sich auf die Reise in die USA machen konnte, marschierten die Deutschen in Belgien ein. Arno wurde in französischen Lagern interniert. Nach mehreren Monaten kam er in ein Lager in der Nähe von Marseille. Dort bemühte er sich beim amerikanischen Konsulat darum, sein inzwischen abgelaufenes Visum erneuern zu lassen. 1941 kam das Visum endlich an, und Arno machte sich auf den Weg nach Spanien, um von dort nach Lissabon zu gelangen, wo das Schiff nach New York abfuhr. Dort angekommen, fuhr er weiter nach Chicago, wo er seinen Vater wieder traf. Arnos Mutter und Geschwister hatten weniger Glück. In Brüssel erhielten sie einen Bescheid, dass sie „in den Osten umgesiedelt“ würden, was mit hoher Wahrscheinlichkeit ihren Tod bedeutet hätte. Es gelang ihnen mit Hilfe belgischer Freunde, in die Schweiz zu flüchten, wo sie den Krieg in Internierungslagern überlebten. Erst 1946 erfuhren Arno und sein Vater, dass ihre Familie am Leben war.22

Reise ohne Wiederkehr?

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