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Aus der Anklage des Apollodoros gegen Neaira

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Zeugenaussage: Philagros von Melite bezeugt, dass er in Korinth anwesend war, als Phrynion, der Bruder des Demochares, zwanzig Minen [= 2000 Drachmen] für Neaira, die hier vor Gericht steht, an den Korinther Timanorides und den Leukadier Eukrates zahlte, und nach der Zahlung brachte er Neaira fort nach Athen.

Ankläger: Als er mit ihr nun hierherkam, verfuhr er mit ihr unbesonnen und leidenschaftlich, nahm sie überall mit hin zum Abendessen und zum Gelage. Er betrank sich ständig mit ihr zusammen, und sie hatten überall ganz offen Geschlechtsverkehr, stellten es für jedermann zur Schau, dass sie die Freiheit hatten, dies zu tun. Unter den vielen Häusern, wohin er sie mit zum Trinken nahm, war das des Chabrias von Axione. […] Dort hatten auch viele andere mit ihr Geschlechtsverkehr, als sie betrunken war und Phrynion schlief, darunter sogar die Sklaven, die bei Chabrias das Essen serviert hatten.

Ps.-Dem. 59.33

Nun läuft Neaira Gefahr, in die Fänge eines Zuhälters (pornobóskos) zu geraten, wenn sie das Geld nicht aufbringen kann (vgl. Davidson, 117 f.). Doch das verhindert ein großzügiger ehemaliger Kunde, ein Mann mit Namen Phrynion. Er hat sie früher oft gebucht, und die jetzige missliche Lage Neairas hat sich herumgesprochen bis nach Athen – dorthin nimmt Phrynion sie mit, und sie wohnt bis auf Weiteres bei ihm (vgl. Ps.-Dem. 59.30–32). Klar, dass Phrynion dafür eine Gegenleistung erwartet; und so nimmt er Neaira ganz ungeniert zu ausschweifenden Festen und Symposien mit. Die Anklage im späteren Prozess schildert eine solche Party im Sommer 374 v. Chr. in allen Einzelheiten.

Phrynions Glück ist jedoch nicht von Dauer: Nur ein bis zwei Jahre später verlässt sie ihn. Er hat sie des Öfteren geschlagen, und Phrynions Lebensstil ist ihr auf die Dauer wohl auch zu anstrengend. Sie nimmt ihre Besitztümer mit und ihre zwei persönlichen Sklavinnen sowie einige Gegenstände, die zu Phrynions Besitz gehören, und macht sich auf nach Megara. Diese Stadt ist ebenfalls für ihr Nachtleben bekannt: Offenbar will sie wieder als Hetäre ihr Geld verdienen, diesmal aber auf eigene Rechnung. Doch sie hat hier wenig Glück. Aufgrund des zwischen Theben und Sparta tobenden Krieges läuft das Geschäft schlecht. Dennoch bleibt sie zwei Jahre in Megara, bis sie 371 v. Chr. Stephanos kennenlernt, einen reichen Mann aus Athen. Zunächst wohnt dieser eine Zeitlang bei ihr, dann nimmt er sie und ihre Kinder – sie hat mittlerweile zwei Söhne und eine Tochter zur Welt gebracht – mit nach Athen (vgl. Ps.-Dem. 59.35 ff.). Stephanos bietet ihr finanzielle Sicherheit, aber auch persönliche – wahrscheinlich fürchtet sie sich immer noch davor, dass eines Tages der rachsüchtige Phrynion vor ihrer Haustür steht.

Und genau dies geschieht. Allerdings kommt es erst dazu, als sie mit Stephanos in Athen ist: Phrynion lässt sie entführen. Er sieht sie als seine Sklavin an und klagt Stephanos an, ihm sein Eigentum genommen zu haben. Stephanos sieht sich im Recht und reicht eine Gegenklage ein, und der Fall wandert vor Gericht (vgl. Ps.-Dem. 59.40). Entschieden wird der Fall jedoch nicht durch Richterspruch, sondern in einem außergerichtlichen Vergleich: Dabei wird bestätigt, dass Neaira keine Sklavin ist, sondern den Status einer Freigelassenen hat. Außerdem muss sie natürlich die Gegenstände zurückgeben, die sie von Phrynion mitgenommen hat und die diesem gehören. Zudem wird vom beauftragten Schlichter festgelegt, dass sie abwechselnd bei Phrynion und bei Stephanos wohnen und ihnen sexuell zu Diensten sein soll (vgl. Ps.-Dem. 59.46–48).

Eine Zeitlang hat dieses Arrangement Bestand – wie lange genau, darüber lässt sich in der Quelle nichts finden. Irgendwann in den folgenden Jahren zieht Neaira offenbar wieder ganz zu Stephanos und lebt fortan mit ihm in einem eheähnlichen Verhältnis. Heiraten dürfen die beiden nicht, denn Ehen zwischen Athenern und Nicht-Athenern sind gesetzlich verboten.

Nun macht die Anklageschrift einen Zeitsprung von zehn Jahren – und hier beginnt die Geschichte, kompliziert zu werden. Ein Mädchen mit Namen Phano, laut Anklage die Tochter der Neaira, wird von Stephanos einem Athener mit Namen Phrastor zur Frau gegeben. Mit Mitgift und allem, was dazugehört. Diese Ehe wird ein Jahr später wieder geschieden. Da ist Phano gerade schwanger. Zu seinen Gründen befragt, sagt Phrastor aus, Stephanos habe so getan, als sei Phano Stephanos’ eigene Tochter mit seiner ersten Ehefrau (vgl. Ps.-Dem. 59.50). Da er sich hintergangen fühlt, weigert sich Phrastor, die nicht unerhebliche Mitgift (3000 Drachmen) zurückzugeben. Was nun folgt, wirkt bekannt: Stephanos klagt Phrastor an, und dieser reicht eine Gegenklage ein. Ganz siegessicher scheinen sich aber beide nicht zu sein, denn die Klagen werden zurückgezogen. Kurze Zeit später erkrankt Phrastor – obwohl er sich von ihr hat scheiden lassen, kümmert sich Phano aufopfernd um den Kranken, zusammen mit ihrer Mutter Neaira. Ob dies aus reiner Berechnung geschieht, wie die spätere Anklage es interpretiert, oder aus Menschenfreundlichkeit – Phrastor setzt ein Testament auf, in dem er seinen und Phanos Sohn als legitimen Nachkommen und Erben anerkennt (vgl. Ps.-Dem. 59.50–59).

Wiederum einige Zeit später, um 356 v. Chr. herum, erwischt Stephanos einen Mann namens Epainetos, der in seinem Haus zu Gast ist, beim Sex mit Phano. Der Hausherr macht sein Hausrecht geltend und hält Epainetos in seinem Haus fest, bis dieser ihm Schadenersatz in Höhe von (wiederum) 3000 Drachmen auszahlen lässt – wahrlich ein teures Vergnügen. Doch Epainetos lässt es damit nicht auf sich beruhen: Schon wieder muss Stephanos vor Gericht. Epainetos will seine 3000 Drachmen zurück; als Begründung gibt er an, Phano sei eine Prostituierte, weshalb das Hausrecht nicht gegolten habe. Er sei betrogen worden, und auch Neaira sei Mitwisserin des Betrugs gewesen. Mag sein, dass Stephanos Angst hat, die Vergangenheit Neairas könnte sich gegen ihn wenden und die Richter davon überzeugen, Phano sei tatsächlich eine Hetäre wie die Mutter – sicher ist, dass es wieder zu einem Schlichtungsverfahren kommt, nach dem er Epainetos immerhin 2000 Drachmen zurückgeben muss (vgl. Ps.-Dem. 59.64–70).

Den Höhepunkt der vielen Prozesse, die im „Fall Neaira“ eine Rolle spielen, bildet aber ein paar Jahre später derjenige, aus dessen Anklage wir so viel über Neairas Leben wissen. Ende der 340er-Jahre v. Chr. reicht Apollodoros, ein politischer Erzfeind des Stephanos, über einen Mittelsmann mit Namen Theomnestos eine Klage wegen Anmaßung des Athener Bürgerrechts gegen Neaira ein. Neaira, so Apollodoros, sei mit Stephanos unrechtmäßig verheiratet, da sie eine Fremde sei, und sie habe ihre Kinder in betrügerischer Absicht als Athener Bürger ausgegeben (vgl. Ps.-Dem. 59.2).

Der Prozess hat einen ganz persönlichen Hintergrund: Apollodoros ist schon lange mit Stephanos verfeindet, und beide sind politische Gegner – seit 348 v. Chr., als Apollodoros einen Antrag in der Ratsversammlung einbringt, einen Feldzug gegen Philipp von Makedonien zu finanzieren. Stephanos, der nicht zu den Makedonier-Feinden gehört, gelingt es jedoch, den bereits gebilligten Antrag gerichtlich stoppen zu lassen. Die Geldstrafe, die er in diesem Zusammenhang für Apollodoros fordert, ist so hoch, dass dieser, wenn er sie zahlen müsste, zum Schuldner des Staates würde und so seine Bürgerrechte verlöre. Zum Glück für Apollodoros bestimmt das Gericht eine wesentlich geringere Geldstrafe. Etwa zwei Jahre später versucht Stephanos erneut, Apollodoros aus dem Weg zu räumen: Er fingiert Beweise und Zeugenaussagen und lässt seinen Kontrahenten wegen Todschlags anklagen. Doch während des Prozesses wird aufgedeckt, dass die Anschuldigungen nicht haltbar sind (vgl. Kapparis, 29).

Nun ist endlich die Stunde gekommen, in der Apollodoros zurückschlagen kann. Und der Ankläger macht sich nicht einmal Mühe, diesen Umstand zu verbergen. Ganz offen wird Stephanos angegriffen; Neaira ist nur ein Mittel zum Zweck, der wunde Punkt, an dem Apollodoros ihn treffen kann (vgl. ebd., 30). Denn Apollodoros weiß: Wenn die Klage Erfolg hat, kann er damit seinen Kontrahenten ein für allemal ausschalten. Wenn nämlich Neaira bzw. Stephanos den Prozess verlieren, dann wird sie nicht nur wieder als Sklavin verkauft und er muss eine Geldstrafe von 1000 Drachmen zahlen, sondern er verliert obendrein das attische Bürgerrecht (vgl. Hamel, 179).


Jean-Léon Gérôme: Phryné devant l’aréopage (1861). Kunsthalle, Hamburg.

Da nur die Anklage überliefert ist und nicht die Verteidigung, können wir letztlich wenig über die Stichhaltigkeit der Vorwürfe aussagen. Ist Stephanos tatsächlich mit Neaira verheiratet, oder leben sie einfach nur zusammen? Wenn Ersteres stimmt, dann hat er ganz klar gegen das Gesetz verstoßen, aber bedenkt man die Umstände des Prozesses und die Beziehung zwischen Ankläger und Angeklagtem, muss man berechtigte Zweifel hegen.

Es ist wirklich schade, dass wir nichts über den Ausgang des Verfahrens wissen. Keine Quelle gibt hierüber Auskunft. Wir können uns nur den Worten des berühmten Philologen Friedrich Blass anschließen, der 1887 schreibt: „Daß der Racheakt der beiden gelang, und Neaira verkauft wurde, möchte ich nicht glauben“ (Blass, 539).

Darstellungen Neairas in der bildenden Kunst gibt es wenige. Das berühmte Gemälde Phryné devant l’aréopage von Jean-Léon Gérôme (1861, heute in der Hamburger Kunsthalle), das eine junge, schöne und nackte Hetäre vor Gericht zeigt und immer wieder gerne in diesem Zusammenhang abgebildet wird (zum Beispiel als Coverillustration von Debra Hamels ausführlicher Neaira-Monographie), hat nichts mit den realen Verhältnissen dieses Hetärenprozesses zu tun. Phryne, die hier dargestellt ist, wird ebenfalls im 4. Jahrhundert v. Chr. in Athen vor Gericht gezerrt – der Vorwurf lautet Asebie, also Gottlosigkeit. Sie soll gesagt haben, sie sei ebenso schön wie Aphrodite, die Göttin der Schönheit. Vor Gericht entkleidet sie sich und wird daraufhin freigesprochen, da die Richter einsehen, dass sie Recht hat. Dies ist natürlich nur eine Legende, denn einer Frau gewährt man im alten Griechenland keinen Zutritt zum Gericht – selbst wenn sie die Angeklagte ist.

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