Читать книгу Schatten über Adlig-Linkunen - Dieter Janz - Страница 7

November 1887

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Bezüglich der Aufklärung des Entführungsfalles tat sich in der folgenden Zeit nicht allzu viel, obwohl Bouffier und Hinrich mit Nachdruck daran arbeiteten. Der Polizeileutnant traf sich des Öfteren mit Hannes Kokies und stellte fest, dass die Gespräche miteinander sehr fruchtbar waren. Er hatte das Gefühl, dass er zahlreiche Anregungen aus diesen Unterhaltungen mitnehmen konnte. Hannes zeigte sich sehr interessiert an Kriminalistik und durch sein Studium der Juristerei konnte er auch fundierte Kenntnisse vorweisen. Peter Bouffier sprach mit Hannes auch über die sogenannte Daktyloskopie von Welkur und die Möglichkeiten, sie auch in der Justiz und Kriminologie einzusetzen. Bouffier hatte sich einige Materialien besorgt, um daktyloskopische Abdrücke sichtbar zu machen und Experimente in seinem Büro angestellt, bisher allerdings ohne Erfolg. Einmal hatten sie beide gemeinsam den Versuch unternommen, das Entführer-Schreiben auf diese Weise zu analysieren, ebenfalls erfolglos.

„Mach dir nichts daraus, Peter, bei einem Strafverfahren würde diese Methode sowieso nicht als Beweis akzeptiert werden.“

Aus ihren Treffen entwickelte sich langsam eine gute Freundschaft, und sie stellten fest, dass sie viele Gemeinsamkeiten hatten.

Auch äußerlich wiesen sie Ähnlichkeiten auf. Peter war zwar einige Jahre älter als Hannes, aber sie hatten etwa die gleiche Größe und Statur, beide relativ groß, dunkle Haare, recht schlank, aber mit kräftiger Muskulatur. Bouffier trug nur einen kleinen, eleganten Schnurrbart.

Der Oktober war nun vergangen und mit dem November bekam man in den Masuren langsam einen deutlichen Vorgeschmack auf den Winter. Die Nächte waren schon bitterkalt und die ersten Schneeflocken hinterließen einen weißen Anstrich. Auf Adlig-Linkunen ging alles wieder seinen alten Gang. Aber unter den Angestellten herrschte noch ein gewisses Unbehagen. Denn das Gerücht, dass einer von ihnen mit dem Verbrechen zu tun gehabt haben soll, hatte sich schnell herumgesprochen. Kündigte einer der Landarbeiter, um seines Weges zu ziehen und woanders sein Glück zu suchen, fragte man sofort: „War das der Kollaborateur?“

Sogar die Hausangestellten und die betroffenen Familien selbst wurden von den Verdächtigungen nicht verschont und die aberwitzigsten Spekulationen kamen in Umlauf. Steckte womöglich gar die Polizei mit den Entführern unter einer Decke? Hatten Herr und Frau Doepius das Ganze inszeniert, um an viel Geld zu kommen? Einige wussten zu berichten, dass die Gutsfamilie Kokies in schwere finanzielle Nöte durch die Lösegeld-Zahlung geraten war und die ohnehin knappen Landarbeiterlöhne bald gar nicht mehr bezahlt werden könnten.

Auch im Herrenhaus selbst herrschte eine gewisse Besorgnis. Inzwischen wüssten die Entführer sicherlich, dass sie statt Maria, Anna entführt hatten. Es wäre doch sicherlich durchaus denkbar, dass sie einen zweiten Versuch machten, um diesmal die Richtige zu entführen. Aus ihrer Sicht war ja der erste Versuch reibungslos gelungen. Wenn die Familie Kokies bereit war, für die Tochter von Angestellten Lösegeld zu zahlen, dann würden sie es für die eigene Tochter erst recht tun. Auf jeden Fall war die Zeit der unbeschwerten Ausflüge und Ausritte in die masurischen Wälder für die beiden Mädchen vorbei. Auf Anordnung von Wilhelm-Antonius musste bei jedem Ausflug ein bewaffneter Reiter die jungen Damen begleiten, was solche Unternehmungen nicht unbedingt lustiger machte.

Anna hatte sich seit ihrem schicksalhaften Erlebnis verändert. Für solche, die sie nur flüchtig kannten, war es kaum bemerkbar, aber die ihr Nahestehenden konnten es nicht übersehen. Sie war nachdenklicher geworden, weniger oberflächlich.

Eines Tages sprach Maria sie darauf an. Sie waren zu Pferde unterwegs zu einem der vielen Seen in der Umgebung, um zu erkunden, ob er schon so zugefroren war, sodass man auf ihm Eislaufen konnte. In gebührendem Abstand folgte ihnen ihr Bewacher, so dass sie sich einigermaßen ungestört unterhalten konnten, ohne dass dieser jedes Wort verstand, aber wenn nötig, sofort bei ihnen sein konnte.

„Du bist ruhiger geworden seit dem Ereignis. Kommst du mit deinen Gedanken nicht mehr davon los? Hast du jetzt ständig Angst? Das verstehe ich durchaus, aber dagegen musst du ankämpfen. Ich möchte dir dabei helfen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass du mit mir redest, mir deine Sorgen und Ängste mitteilst. Ich bin doch deine beste Freundin. Und wenn du das jetzt verneinst, entführe ich dich auf der Stelle noch einmal. Und dann wirst du nicht wieder freigelassen!“

Anna lachte: „Du vergisst unseren Bewacher, liebe Maria, sieh ihn dir nur an. So grimmig und wichtig, wie der dreinschaut, hast du keinerlei Chance.“ Sie drehten automatisch beide ihre Köpfe um, sahen in die Richtung ihres Aufpassers und mussten laut kichern. Der Arme wusste nicht, wohin er blicken sollte, und sein Gesicht lief purpurrot an.

„Ich glaube Anna, das war eben nicht allzu nett von uns!“ Es dauerte trotz dieser Einsicht noch eine Weile, bis sie ihr Lachen ganz unterdrücken konnten und Anna weitersprach:

„Natürlich bist du meine beste Freundin, aber du machst dir zu viele Sorgen. Es mag komisch klingen, aber ich habe keine Angst. Natürlich muss ich oft an meine Entführung denken, aber es beherrscht mich nicht. Vielmehr sehe ich viele Dinge anders als früher, sowohl Kleinigkeiten wie auch Wichtiges. Ein Frühstück zum Beispiel ist nichts Bedeutendes, aber auch nichts Selbstverständliches. Deine Freundschaft ist auch nichts Selbstverständliches und ich befürchte, ich habe sie früher als solche gesehen. Heute möchte ich Gott jeden Tag dafür danken. Du bietest mir deine Hilfe an und ich spüre, du meinst es wirklich so. Das ist etwas Wichtiges, etwas wirklich Bedeutendes.“ Sie machte eine kurze Pause, Maria schwieg ebenfalls. „Weißt du, Maria, wie wir unser künftiges Leben gestalten wollen? Unbeschwert in den Tag, in unsere Zukunft hineinleben? Eines Tages einen mehr oder weniger netten Mann kennenlernen, Kinder bekommen, das war’s?“ Erneut machte Anna eine Pause und sie ritten eine Weile schweigend nebeneinander her, bevor sie sagte: „ Ich möchte Ärztin werden!“

Abrupt stoppt Maria ihr Pferd und starrte Anna an: „Wie bitte, was hast du eben gesagt?“

„Ich will Ärztin werden!“

Anna war inzwischen auch stehengeblieben.

„Das ist doch nicht dein Ernst! Du weißt, dass das nicht möglich ist! Frauen können keine Ärztin werden!“

„Doch, es gibt Ausnahmen. Wenn der Dekan einer medizinischen Fakultät die Erlaubnis erteilt, darfst du Medizin studieren.“

„Selbst wenn, dann darfst du später aber nicht als Arzt tätig sein.“

„Soweit bin ich noch nicht. Bis dahin vergeht noch viel Zeit, es kann sich einiges ändern. In Amerika fordern Frauen das Wahlrecht für sich und ihre Chancen stehen gar nicht so schlecht.“

„Amerika ist weit weg, Anna, dort haben sie nicht einmal einen König oder Kaiser, sondern einen Präsidenten, der vom Volk gewählt wurde; unvorstellbar!“

„Nein, nicht vom Volk, nur von Männern. Oder gehören Frauen nicht zum Volk?“

Maria erwiderte zunächst nichts und sie setzten langsam ihren Ritt fort. Nach einer Weile sagte sie: „Ich habe eigentlich noch nicht darüber nachgedacht, Anna. Vielleicht hast du Recht. Was sagen deine Eltern dazu?“

„Ich habe noch nicht mit ihnen darüber gesprochen.“

„Bevor du die Zustimmung irgendeines Dekans bekommst, benötigst du erst einmal der Zustimmung deines Vaters. Und außerdem, verstehe mich bitte nicht falsch, ich will nicht überheblich sein, woher willst du das Geld für ein Studium nehmen?“

„Ich kann arbeiten; es werden immer wieder junge Frauen gesucht, die reiche alte Leute versorgen.“

„Woher willst du das wissen?“

„Du hast es mir selbst gesagt, Maria. Du hast erzählt, dass bei deiner Mutter immer wieder Anfragen eingehen, ob sie niemanden entbehren könnte, der solchen Aufgaben gewachsen ist.“

„Ja hier in Ostpreußen, auf hiesigen Gütern. Wie willst du studieren und gleichzeitig auf einem masurischen Gut Kranke pflegen?“

„Nicht auf einem masurischen Gut; in den Städten muss es auch Kranke geben, zum Beispiel in Berlin!“

„Anna, du bist naiv. Bitte, stürze dich nicht in irgendwelche Abenteuer, die dich in den Ruin ziehen. Schon die Vorstellung, dass du alleine in Berlin bist, graut mir. Hast du mal darüber nachgedacht, in welchem Licht man dich sehen wird?“

„Aber Maria, wir leben im 19. Jahrhundert, die Zeiten ändern sich. Was heute noch ungewöhnlich ist, wird morgen bereits normal sein. Außerdem ist man in Berlin erheblich toleranter als hier im verstaubten Ostpreußen!“

„Du meinst unmoralischer, nicht toleranter. Ich schlage dir vor, erst einmal mit deinen Eltern zu reden. Sag mal, wie bist du eigentlich auf all diese Ideen gekommen? Woher weißt du, dass man in Berlin als Frau studieren darf, wenn man eine Genehmigung erteilt bekommt? Hat Hannes für dich in Berlin nachgefragt? Du warst doch noch nie alleine dort!“

Anna wollte gerade antworten, als Maria ihr ins Wort fiel: „Ah! Sag nichts, ich glaube, ich kann es mir selbst zusammenreimen: Hat es etwas mit Otto Goldfeld zu tun und der Tatsache, dass unser Hausarzt, Dr. Markowski, in letzter Zeit öfter bei ihm ist?“

In der Tat ging es dem Gutsverwalter immer schlechter und der Arzt sah regelmäßig nach ihm. Goldfeld konnte seine zunehmende Atemnot nicht mehr verbergen, wie er es noch vor kurzer Zeit getan hatte. Maria war aufgefallen, dass Anna bei den Arztbesuchen immer zugegen war und sich auch sonst oft bei Goldfeld aufhielt; hatte dies aber ausschließlich auf das enge Verhältnis der beiden zueinander zurückgeführt. Aber jetzt erschien das Ganze in noch einem anderen Licht. Und in der Tat bestätigte Anna: „Ja, es hat auch sehr viel damit zu tun. Ich habe mich ausführlich mit Dr. Markowski unterhalten. Zunächst nur, um in Erfahrung zu bringen, wie ich Opa Goldfeld helfen kann. Dabei wurde aber auch generell mein Interesse für die Medizin geweckt. Ich merkte, wie wenig ich ohne medizinische Kenntnisse für ihn tun kann. Dr. Markowski ist eine Goldgrube und sehr, sehr erfreut, wenn man ihn ausfragt. Ich glaube, er denkt, dass er in mir eine gelehrige Schülerin gefunden hat, und ich hoffe, er hat Recht. Schon bald habe ich ihm anvertraut, wie sehr mich ein Studium interessieren würde. Er hat zunächst genauso reagiert wie du, und ich versuchte, alle seine Einwände zu entkräften. Auf der anderen Seite imponierten ihm wohl meine Hartnäckigkeit und meine Verärgerung darüber, dass Frauen nicht studieren dürfen. Eines Tages überraschte er mich mit der Nachricht, dass ich mit Sondergenehmigung die Universität besuchen kann. Er ging sogar noch einen Schritt weiter und erklärte mir, dass er den Dekan der medizinischen Fakultät in Berlin recht gut kenne und sich für mich einsetzen könne. Er riet mir allerdings, ebenso wie du, zuerst mit meinen Eltern ausführlich zu sprechen.“

„Und die werden alles andere als erfreut sein. Ich glaube, so wie die Dinge stehen, wird dies schon die erste unüberwindbare Hürde sein. Aber ich bewundere dich, Anna, und überlege, wie ich dir helfen kann. Hast du überhaupt schon mit jemandem, außer Dr. Markowski und mir, darüber gesprochen?“

„Um Gottes willen, nein. Ich muss mir alles genau überlegen, einen genauen Plan machen. Und ich möchte nicht, dass meine Eltern das Vorhaben von jemand anderem erfahren als von mir, also behalte unser Gespräch für dich!“

„Natürlich, Anna, das versteht sich doch von selbst!“

Inzwischen waren sie an dem See angekommen und mussten feststellen, dass die Eisfläche noch viel zu dünn war, um sie betreten zu können. Es würde noch ein paar Tage benötigen, bis der See so weit zugefroren war, dass man darauf laufen könnte. Also machten sie sich wieder auf den Heimweg. Sie wechselten die Gangart ihrer Pferde zwischen Galopp und Trab, weshalb ein intensives Gespräch nicht möglich war und sie relativ schnell zu Hause ankamen. Als sie am Verwalterhaus vorbeikamen, sahen sie die Kutsche von Dr. Markowski davor stehen. Es musste sich um einen Besuch handeln, der nicht eingeplant war und das beunruhigte die beiden Mädchen.

Sie stiegen von ihren Pferden ab und wollten gerade das Verwalterhaus betreten, als der Arzt seinerseits aus dem Haus trat. Markowski war ein kleiner humorvoller Mann. Sein lockiges Haar war weiß geworden, denn er war auch nicht mehr der Jüngste. Eine ordentliche Frisur zierte selten sein Haupt, meist stand die Lockenpracht zu Berge oder war zerzaust. Über der Oberlippe wuchs ein kräftiger, weißer Schnurrbart, der oft so lang war, dass er ihm über den Mund reichte. Viktor Markowski war mit Wilhelm-Antonius befreundet und aß des Öfteren bei Familie Kokies zu Abend. Seine Frau war schon vor Jahren verstorben und Kinder hatten die beiden keine. Maria konnte bei den gemeinsamen Abendessen beobachten, wie geschickt der Mann seine Suppe trotz des riesigen Schnurrbartes in seinen Mund balancierte, dennoch blieb es nicht aus, dass sich hin und wieder ein Stückchen Gemüse oder Kartoffel in den Barthaaren verfing. Markowski hatte es sich wohl deshalb zur Angewohnheit gemacht, zwischendurch mit dem rechten Handrücken über den Mund zu fahren. Sein Gesichtsausdruck war stets freundlich, seine Augen strahlten ein Lächeln aus und seine Anekdoten, die er zum Besten gab, waren eine beliebte Abendunterhaltung.

Aber jetzt wirkte er alles andere als heiter und er sah die beiden Mädchen sorgenvoll an.

„Wie geht es Herrn Goldfeld?“, fragte Maria und hatte vor der Antwort Angst.

„Nicht gut, ich bin auf dem Weg zu deinem Vater, um ihm von dem ernsten Gesundheitszustand seines Verwalters zu berichten. Ich fürchte, wir müssen uns auf das Schlimmste gefasst machen.“

Anna drängte sich an Markowski vorbei und rannte ins Haus zu Goldfelds Zimmer. Als sie die Tür öffnete, fand sie den alten Mann schlafend in seinem Bett. Sein Atem war flach aber regelmäßig. Anna zog einen Stuhl heran, setzte sich neben ihn und ergriff vorsichtig seine Hand. So verharrte sie eine ganze Weile, bis Goldfeld die Augen aufschlug. Als er Anna erblickte, lächelte er und versuchte, etwas zu sagen, aber es fiel ihm sichtlich schwer. „Psst, du brauchst nicht zu reden. Ich bleibe einfach ein wenig bei dir und halte deine Hand. Hast du Schmerzen?“

Goldfeld schüttelte leicht mit dem Kopf und drückte Annas Hand. Jetzt bemerkte sie, dass ihm Schweißperlen auf der Stirn standen. Auf einer Anrichte neben dem Bett befand sich ein Wasch-Lavor und daneben lagen saubere Handtücher. Anna ergriff eines davon und tupfte Otto vorsichtig die Stirn damit ab. Er hatte die Augen wieder geschlossen, aber sie merkte, dass er nicht schlief.

„Weißt du noch, wie du ebenso wie ich jetzt an meinem Bett gesessen hast, als ich noch ein Kind war? Du hast mir schöne Gutenacht-Geschichten erzählt, weil ich nicht einschlafen konnte.“

Otto nickte und lächelte, hielt aber die Augen weiterhin geschlossen.

„Ich glaube“, fuhr Anna fort, „die Geschichten hast du dir alle selbst ausgedacht. Aber es waren immer wieder neue, keine hast du zweimal erzählt. Einen großen Teil der Erzählungen habe ich vergessen, aber es gibt noch sehr viele, an die ich mich erinnere. Eines Tages, hoffe ich, werde ich sie meinen Kindern, so Gott will, erzählen und ihnen sagen: Die sind von Opa Goldfeld, und wenn ihr mal Kinder habt, erzählt ihr sie denen auch. Du siehst, dass du unsterblich geworden bist.“

Ottos Gesichtsausdruck war völlig entspannt, ja, eine gewisse Heiterkeit ließ sich daraus ablesen. Er hielt Annas Hand fest in der seinen. Sie sprach weiter von früheren Zeiten und welch große Bedeutung er für ihre Kindheit gehabt hatte. Schließlich schlief Goldfeld wieder ein. Ein vorsichtiges Klopfen war von der Tür her zu hören und Anna rief leise: „Herein!“, woraufhin die ganze Familie Kokies in das Zimmer trat. Anna stand auf und deutete mit dem Finger an der Lippe daraufhin, leise zu sein, um Otto nicht in seinem Schlaf zu stören. Eine Weile standen sie schweigend beieinander. Dr. Markowski hatte die Familie ausführlich informiert, und sie wussten, dass dies möglicherweise der Abschied von Goldfeld war. Dieser war inzwischen wieder aufgewacht, aber jetzt erkannte er die Anwesenden nicht mehr. Erneut ergriff Anna seine Hand und flüsterte den anderen zu: „Ich bleibe bei ihm. Sobald sich eine neue Situation ergibt, werde ich berichten.“

Sie verstanden den Sinn von Annas Worten und verließen das Zimmer. Ottos Blick war auf sie gerichtet und er formte seine Lippen zu einem „Danke“, um sofort wieder einzuschlafen. Aber jetzt war sein Atem nicht mehr regelmäßig, sondern ein stetes Auf und Ab, wenngleich er dabei völlig ruhig war, weder stöhnte noch jammerte. Von Dr. Markowski wusste Anna, was das zu bedeuten hatte. Nach einer Weile hatte Goldfeld seinen letzten Schlaf gefunden.

Der Tod des Gutsverwalters erfüllte alle auf Adlig-Linkunen mit tiefer Trauer. Wilhelm-Antonius Aufgabe war es jetzt, einen neuen Verwalter zu bestellen. Es gab etliche schriftliche Bewerbungen und die Entscheidung war nicht leicht. Tagelang verzog sich Kokies in sein Arbeitszimmer, um alle Referenzen und Zeugnisse zu studieren. Dabei fiel ihm Eine ganz besonders ins Auge. Ein gewisser Franz Perloff, er war zwar noch sehr jung, hatte aber schon Erfahrung auf Landgütern gemacht, vorzügliche Referenzen und Zeugnisse vorzuweisen und eine ausführliche, vielsagende Bewerbung geschrieben. Seine Eltern bewirtschafteten einen der Lehenshöfe von Adlig-Linkunen, und zwar mit großem Erfolg. Kokies hatte den jungen Mann zwar nie persönlich kennengelernt, aber er wusste, dass ihm ein guter Ruf vorauseilte. Schließlich traf er die Entscheidung und schickte einen Boten zu Franz Perloff mit der Aufforderung, sich in Adlig-Linkunen vorzustellen. Dieser erschien dann auch pünktlich zu dem genannten Termin.

Es war ein für Ende November außergewöhnlich sonniger Tag, als Franz Perloff am frühen Nachmittag die Klingel am Hauptportal des Herrenhauses in Adlig-Linkunen betätigte. Der Butler öffnete und fragte: „Sind Sie Herr Perloff?“

„Der bin ich. Herr Kokies hat mir einen Termin für heute zwei Uhr Nachmittag geben lassen.“

Den Grund seiner Vorladung nannte er nicht, weil er annahm, der Butler wisse es ohnehin. „Bitte treten Sie ein, ich werde Sie melden.“

Perloff folgte Doepius in die Eingangshalle. Der Butler verlor zwar nicht allzu viele Worte, aber an seinem freundlichen Lächeln merkte Perloff, dass er willkommen war. Die Eingangshalle wirkte trotz ihrer Größe fast schon gemütlich. Sie war in hellen Holztönen gehalten; zwei Treppen führten in leichtem Schwung auf der dem Hauptportal gegenüberliegenden Seite nach oben zu einer Empore. Sowohl diese wie auch die Treppen zierten kunstvoll gedrehte schmiedeeiserne Geländer. Die Empore erstreckte sich über drei Seiten der Halle. Von dem unteren Teil der Halle gingen zahlreiche Türen zu anderen Bereichen des Herrenhauses. Dennoch war genügend Platz an den Wänden, um bequem gepolsterte Stühle und kleine Sessel aufzunehmen. Außerdem hingen etliche in Öl gemalte Portraits mit wunderschönen Rahmen an den Wänden: die Ahnengalerie der Familie Kokies. Überall standen wie zufällig platziert, kleine Tischchen und Säulen, auf denen sich Vasen mit frischen Blumen befanden. Im November frische Blumen zu haben, bedeutete, dass das Gut ein großes und beheiztes Gewächshaus besaß, ein Luxus, der auf Friederikes Liebe zu bunten Blumen beruhte. In der Tat wirkte dadurch die Halle freundlicher und heller.

Doepius bot Perloff Platz auf einem der Sessel an.

„Bitte gedulden Sie sich einen Moment“, sagte er freundlich, „es wird nicht allzu lange dauern, bis ich Sie zu Herrn Kokies vorlasse.“

Dennoch hatte Perloff genügend Zeit, die Eingangshalle von seinem Platz aus zu studieren. Er saß in der Nähe eines Kamins, in dem ein gemütliches Feuer knisterte und eine derangenehme Wärme verbreitete. An der Stirnseite des Raumes ließen zwei große Fenster das Sonnenlicht hindurch. Da Kokies ein wichtiges Telefonat führte, verlängerte sich die Wartezeit beträchtlich. Die Verbindung war schlecht, so dass jeder Satz zwei- oder dreimal gesagt werden musste.

Doepius erschien zwischendurch in der Halle und entschuldigte die Verspätung, aber Perloff wurde es nicht langweilig, den Blick in der Halle umherschweifen zu lassen. Er hatte zwar schon in einem Herrenhaus gedient, aber dessen Vestibül war nicht annähernd so schön wie dieses.

Nach einer Weile öffnete sich eine der Türen und Anna trat in die Eingangshalle. Sofort erhob sich Perloff und verbeugte sich höflich.

„Ah, wir haben Besuch! Guten Tag der Herr.“ Sie trat auf Perloff zu und streckte den Arm aus. Dieser wusste nicht, ob er jetzt einen Handkuss andeuten oder die Hand ergreifen sollte und errötete leicht. Aber Anna nahm ihm die Entscheidung ab, in dem sie ihrerseits seine Hand ergriff und leicht schüttelte.

„Gestatten, mein Name ist Perloff, Franz Perloff“, sagte er leicht verlegen, „ich, ...ich bin hier, um...um mich zu bewerben.“

„Aha, dann müssen Sie der Anwärter für den Posten des Gutsverwalters sein. Sie sind noch sehr jung. Ich heiße Anna Doepius“, antwortete sie lächelnd. Perloff ertappte sich dabei, wie er Anna bewundernd anstarrte. Anna zog langsam ihren Arm zurück und sprach munter weiter: „Aber das Alter hat ja nicht unbedingt etwas zu sagen, Herr Kokies wird sicherlich die richtige Entscheidung treffen.“

„Das nehme ich auch an“, stimmte er ihr zu. Die Bemerkung über sein Alter belustigte ihn ein wenig, da Anna zweifellos noch etliche Jahre jünger war als er. Die Unterhaltung wurde durch das Erscheinen von Doepius unterbrochen. Dieser warf Anna lächelnd einen freundlichen Blick zu und wandte sich zu Perloff: „Der gnädige Herr lässt bitten, wenn Sie mir bitte folgen wollen.“ Während er hinter Doepius herging, drehte er sich noch einmal zu Anna um und sah, wie sie beide Daumen drückend ihre Arme leicht erhoben in seine Richtung hielt und lächelte. Perloff lächelte zurück. Als der Butler kurz zurücksah und die Situation bemerkte, zog er zunächst beide Augenbrauen hoch, um anschließend ebenfalls leicht zu lächeln.

Doepius führte Franz Perloff ins Arbeitszimmer des Gutsherrn. Kokies saß an seinem Schreibtisch und erhob sich, um ihn zu begrüßen und bot ihm einen Platz an. Perloff hatte vor diesem Termin lange geübt, vor allem höfliches Benehmen. Also wartete er, bis sich Kokies wieder hingesetzt hatte, bis er selbst den angebotenen Platz einnahm.

Das Vorstellungsgespräch dauerte lange, Kokies stellte präzise Fragen. Perloff kam sich vor wie in einer Prüfung und begann zu schwitzen. Langsam näherte sich das Ganze dem Ende und Kokies sagte zu Perloff: „Sie sind noch sehr jung.“ Das hatte Perloff heute schon einmal gehört. „Trauen Sie sich eine solch verantwortungsvolle Tätigkeit in vollem Umfang zu?“

„Ich glaube schon, gnädiger Herr.“

„Glauben oder wissen Sie es?“

Perloff nahm sich mit der Antwort Zeit: „Ich gehe davon aus, dass Sie Ehrlichkeit von mir erwarten, also: Ich glaube es. Wissen kann ich es erst, wenn ich die Stellung bekomme und meine Arbeit aufgenommen habe.“

Kokies sah ihn streng an. Auch er nahm sich Zeit, bevor er sprach: „Diese Antwort gefällt mir!“ Er läutete nach seinem Butler, der sofort erschien. „Doepius, bitten Sie doch mal meine Frau, zu mir zu kommen.“ Perloff wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. War das eine Aufforderung für ihn zu gehen? Als er Anstalten dazu machte, deutete Kokies ihm an, sitzen zu bleiben. Kurz darauf erschien Friederike.

„Darf ich dir Herrn Franz Perloff vorstellen, meine Liebe. Er bewirbt sich als Gutsverwalter.“

Damit hatte der junge Mann nicht gerechnet, und es schien ihm, als beginne jetzt der schwierigste Teil der Prüfung. Aber Friederike verstand es geschickt, ihn in ein scheinbar belangloses, freundliches Gespräch zu verwickeln und entlockte ihm dabei doch recht persönliche Dinge. Perloff war von der Gutsherrin beeindruckt. Sie war ausgesprochen hübsch, charmant und wirkte sehr jung. Er wusste, dass sie zwei erwachsene Kinder hatte, anzusehen war es ihr nicht.

Als auch dieses Gespräch beendet war, bat Kokies den Bewerber, einen Moment vor dem Arbeitszimmer zu warten. Der herbeigerufene Doepius führte ihn hinaus und bot ihm Platz auf einem Stuhl nahe dem Arbeitszimmer an.

„Was meinst du, was hältst du von ihm?“ begann Kokies das Gespräch, sofort nachdem die Tür geschlossen wurde.

„Er ist nett, höflich, dennoch zurückhaltend. Macht einen guten Eindruck auf mich. Aber was hältst du von seiner Kompetenz?“

„Nun, er hat Ahnung, viel Ahnung. Ob er sie auch praktisch umsetzen kann, weiß ich nicht.“

Friederike und Wilhelm-Antonius beratschlagten noch eine Weile und kamen dann zu dem Schluss, Perloff probeweise einzustellen. Friederike verließ das Arbeitszimmer und forderte ihn auf, sich wieder zu Kokies zu begeben.

„Herr Perloff, wir wollen es miteinander versuchen; probeweise, sagen wir für ein halbes Jahr. Wenn’s gut geht, können Sie für den Rest Ihres Lebens unser Gut verwalten!“ Dann sagte Kokies noch etwas wie: „Dem Personal vorstellen“ und „Sie können nächste Woche anfangen“ und „persönliche Dinge regeln“, aber Perloff nahm alles nur noch durch einen Schleier von Glück wahr.

Als er das Herrenhaus verließ, hoffte er, Anna noch einmal zu sehen. Ihr Daumendrücken hatte offensichtlich geholfen. Er merkte, dass ihm von allen Händen zur Begrüßung, die er heute gespürt hatte, nur Annas in Erinnerung geblieben waren.

Schatten über Adlig-Linkunen

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