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Widmayer und die Reise nach Aschgabad

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Das Stadion am Bieberer Berg: Für jeden halbwegs fußballbegeisterten Jungen in Offenbach, und das waren zu meiner Jugendzeit eigentlich alle, übte die Spielstätte des OFC eine besondere Anziehungskraft aus. Wenn die beiden großen Flutlichtmasten an einem Freitagabend oben auf dem Berg über der Stadt erstrahlten, war das ein Festtag. Die Abendspiele in Offenbach waren bei den anderen Teams gefürchtet, so manche bereits verloren geglaubte Partie wurde hier mit der frenetischen Unterstützung der Fans noch gedreht. Die Ränge stiegen direkt vom Spielfeldrand auf. Es gab keinen Auslauf, geschweige denn eine Tartanbahn. Zwischen Tribüne und Spielfeld lagen tatsächlich nur wenige Meter. Das sorgte für diese ganz spezielle Stimmung. Man war so dicht am Geschehen, dass man die verbalen Auseinandersetzungen der Akteure mitbekam. Und wenn man wie ich einmal erlebt hatte, wie das ganze Stadion „Hermann, Hermann“ skandierte, vergaß man das nie mehr. Hermann Nuber, der Kickers-Spieler, war in den 60er-Jahren auch mein Idol. Später sollte ich unter ihm hin und wieder bei den Amateuren trainieren. Aber noch war es nicht so weit.

Ich war gerade erst in die B-Jugend des Klubs gewechselt. Direkt hinter der Gegengeraden lagen die Hartplätze, auf denen die Jugendteams trainierten und spielten. Wenn wir gegen die verhasste Mannschaft aus der Nachbarstadt Frankfurt, die Eintracht, antraten, kamen aber auch schon mal 800, 900 Zuschauer. Nach den Jahren in Götzenhain genoss ich diese Kulisse und trug das Wappen des OFC mit Stolz auf der Brust. Ich hatte ein ziemlich gutes Jahr in der B-Jugend. Mein Trainer Uwe Peterson vertraute mir und förderte mich, wo es ging. Er war für mich so etwas wie die erste Vaterfigur im Fußball. Später arbeitete er viele Jahre in meiner Fußballschule. Regelmäßig stand ich unter ihm in der Startelf, und ebenso regelmäßig schoss ich meine Tore. Er empfahl dem Verein, mich als jüngeren A-Jugendlichen direkt in die A1 zu übernehmen, wo Kurt Schreiner, eine Offenbacher Legende, Trainer war.

Im Juni 1970, ich war 16, schloss ich zudem meine Mittlere Reife ab, ab August sollte ich die Handelsschule in Frankfurt besuchen. Die Dinge kamen also voran. Auch für unsere Profi-Mannschaft, die nach dem direkten Abstieg aus der Bundesliga 1969 ein Jahr später wieder die Chance zum Aufstieg hatte.

Am 24. Juni 1970, einem Sonntag, am vorletzten Spieltag in der Aufstiegsrunde zur Fußballbundesliga, spielte Offenbach zu Hause gegen den FK Pirmasens. Eine unglaubliche Spannung lag in der Luft. Schon am Mittag strömten Tausende Kickers-Fans hoch zum Bieberer Berg. Das Stadion war mit 30 000 Zuschauern restlos ausverkauft. Die ganze Stadt fieberte mit, ich natürlich auch. Es war schließlich ein Unterschied, ob man für einen Bundesligisten oder einen Regionalligisten auflief. Die Stimmung war großartig, aber die Bedeutung des Spieles und der Druck schienen die Kickers um die Stützpfeiler Egon Schmitt, „Pille“ Gecks, Helmut Kremers, Roland Weida und Walter Bechtold zu lähmen. Ein Sieg musste her. Bei einer Niederlage hätten der VfL Bochum oder Hertha Zehlendorf vorbeiziehen können. Wir führten 1:0, doch dann fiel das 1:1 der Pfälzer, und es wurde still im Rund. Aber da war ja noch der Schiedsrichter. Walter Eschweiler, der die Partie pfiff, meinte es gut mit dem OFC. Kurz vor der Pause gab er uns einen mehr als schmeichelhaften Elfmeter, dann erkannte er einen Einwurf, der über den Torwart hinweg direkt im Pirmasenser Tor landete, trotz heftigster Proteste zum 3:1 an, und zu guter Letzt zeigte er Pirmasens auch noch eine völlig übertriebene Rote Karte. Am Ende gewannen wir 4:1. Trainer Tschik Cajkovski, den ich später beim 1. FC Köln kennenlernen sollte, hüpfte wie wild auf dem Platz herum. In Offenbach wurde bis spät in die Nacht gefeiert.

Mein erstes Jahr in der A-Jugend des OFC

Der OFC war also zurück in der Ersten Liga, ich rückte ins A1-Team, Kurt Schreiner wurde mein Trainer. Schreiner war Teil der Mannschaft gewesen, die 1949 und 1955 zweimal die Oberligameisterschaft gewonnen und danach jeweils knapp die Deutsche Meisterschaft verpasst hatte. In Offenbach trainierte er nach seiner aktiven Laufbahn die Amateure und die Jugendteams. Ihm gehörten in Offenbach mehrere Kinosäle, zum Beispiel auch das Atlantik, das ich gerne besuchte. Er war aber nicht nur ein guter Geschäftsmann, sondern hatte auch als Trainer seine Meriten. Im April 1968 war er für den gefeuerten Kurt Baluses auf der Trainerbank eingesprungen und hatte als Interimstrainer den OFC zum ersten Mal in die Bundesliga geführt. Das begründete seinen Heldenstatus in Offenbach. In erster Linie war Schreiner aber ein hervorragender Jugendtrainer, mit Jugendlichen konnte er sehr gut umgehen. Er nahm sich Zeit, hatte sich viele meiner B-Jugend-Spiele angesehen und mir zahlreiche Tipps gegeben. Er war immer positiv, freundlich und konnte motivieren. Ich mochte seine Art sehr.

Aber im Sommer 1970 brach sich der neue Coach der ersten Mannschaft, Aki Schmidt, Nachfolger von Tschik Cajkovski, das Bein und fiel als Trainer aus. Schreiner musste für acht Wochen einspringen. Da die letzten vier Pokalrunden der Saison 1969/70 aufgrund der WM in Mexiko in den Juli und August verlegt worden waren, durfte Schreiner den OFC in drei Spielen ins Pokalfinale nach Hannover führen. Offenbach gewann mit Schreiner auf der Bank gegen Dortmund, sensationell in Frankfurt und auch gegen Nürnberg im Halbfinale – alles innerhalb weniger Wochen. Am 29. August stieg schließlich das Finale gegen den scheinbar übermächtigen 1. FC Köln in Hannover. Dort saß erstmals der neue Coach Schmidt auf der Bank. Offenbach gewann überraschend 2:1 und holte das erste und bisher einzige Mal in der Geschichte den DFB-Pokal auf die südliche Seite des Mains. Ich sah das Spiel in Götzenhain im Fernsehen. Unvergessen, wie Torwart Karl-Heinz Volz kurz vor Schluss den Elfmeter von Werner Biskup hielt. Ich hüpfte auf der Couch herum wie ein Irrwisch. Den Triumphzug der Mannschaft um Kapitän Egon Schmitt durch die Offenbacher Innenstadt in Cabrios am nächsten Tag wurde von Zigtausenden gefeiert. Auch mein Stiefvater und ich fuhren in die Stadt, um den Spielern zuzujubeln. Damals ahnte ich nicht, dass ich den Pokal sieben Jahre später selbst in den Händen halten würde.

Das erste Jahr in der A-Jugend war alles in allem nicht einfach. Die körperlichen Anforderungen waren weitaus höher, ich hatte keinen Stammplatz. Zum Team gehörten unter anderem Erich und Heinz Traser, die Zwillinge aus Wixhausen bei Darmstadt, die mich auf dem Weg zu den Spielen öfters abholten, beide spätere Bundesligaprofis, und der talentierte Rainer Blechschmidt. Vorne drin hatte ich mit dem etwas älteren Walter Krause, der in der Jugendnationalmannschaft spielte, einen starken Konkurrenten. Aber die Konkurrenz spornte mich an, ich lernte, mich durchzubeißen, und Schreiner war ein guter Trainer, der mir viel beibrachte. Er legte sehr viel Wert auf die Schusstechnik und korrigierte uns fortwährend. Wir schossen so viel im Training, dass uns die Füße wehtaten. Schon damals hatte ich, obwohl ich nicht ganz so groß war, ein gutes Kopfballspiel. Schreiner war aber nicht zufrieden: „Du kannst das besser“, sagte er. Er schickte mich an das Kopfballpendel neben dem Platz. Die jungen Spieler von heute kennen das kaum noch, dabei sollte es eigentlich Standard sein: ein Pfosten, ein Ball und eine Leine. Ich musste fast nach jedem Training nach draußen ans Pendel. Kein Tor, kein Netz, keine Flanke, nur dieses Ballpendel, das immer wieder hin- und herschwang. Anfangs war ich beleidigt, wenn ich draußen Zusatzschichten absolvieren sollte. Mit den Wochen wurde mein Kopfball aber immer fester und präziser. Vor allem bekam ich dadurch ein gutes Timing, was mir in späteren Profijahren unglaublich weiterhalf. Zu ahnen, wo der Ball runterfällt, um ihn dann ins Tor einzunicken, ist ja das Kerngeschäft eines Torjägers, und das lernte ich in Offenbach neben dem Hartplatz.

Unter der Woche fuhr ich meist direkt von der Handelsschule in Frankfurt nach Offenbach, wo mich dann mein Stiefvater abholte, um mich nach Götzenhain zu bringen. Er kam auch schon mal früher, schaute beim Training zu und versuchte, so oft wie möglich bei den Spielen dabei zu sein. Nun ging es ja nicht mehr gegen Langen oder Egelsbach, sondern wir spielten gegen Darmstadt 98, Eintracht Frankfurt oder den FSV Frankfurt. Wir wurden Hessenmeister, mussten uns aber bei der Süddeutschen Meisterschaft dem 1. FC Nürnberg geschlagen geben. Für ein Jahr sollte dies das letzte Spiel sein, das wir mit der A-Jugend verloren. Wir hatten eine richtig starke Mannschaft.

Gleichzeitig erschütterte der Bundesliga-Skandal 1971 die deutsche Fußballwelt. OFC-Präsident Horst-Gregorio Canellas, den man regelmäßig am Bieberer Berg sah, hatte mit heimlich aufgenommenen Tonaufnahmen von Bestechungsversuchen den Skandal losgetreten, der den Fußball zwischen Kiel und München für Jahre belastete. Offenbach war wieder abgestiegen, doch dieses Mal hatte das eine Menge mit bestochenen Spielern und Schmiergeldzahlungen zu tun, wie die langwierigen Ermittlungen ergaben. Außer Offenbach waren Schalke 04, Bielefeld, Hertha BSC, der MSV Duisburg, VfB Stuttgart, der 1. FC Köln, Rot-Weiß Oberhausen und Eintracht Braunschweig in die Schiebereien verwickelt. Am Ende wurden 52 Spieler verurteilt. Canellas trat noch am selben Tag, an dem er die Tonbandaufnahmen publik gemacht hatte, vom Amt des Kickers-Präsidenten zurück. Er wurde außerdem im selben Sommer vom DFB lebenslang gesperrt (weil er zum Schein auf Bestechungsangebote eingegangen war), 1976 aber begnadigt. Hans-Leo Böhm wurde 1971 sein Nachfolger als OFC-Präsident.

Mädels und Mode

Ich wurde allmählich erwachsen und merkte, dass ich bei Frauen einen gewissen Schlag hatte. Meine erste Freundin hieß Angelika und kam aus Götzenhain. Sie konnte ich auch ohne Probleme mit nach Hause nehmen, das war für meine Eltern okay. Wir trafen uns an fußballfreien Nachmittagen, knutschten ein bisschen herum oder fuhren zusammen nach Frankfurt zum Bummeln. Ich begann mich für Kleidung zu interessieren. Mein Stiefvater war auf diesem Gebiet mein absolutes Vorbild: Er ging immer elegant gekleidet aus dem Haus, sein Markenzeichen war ein Einstecktuch, das er zu jedem seiner maßgeschneiderten Anzüge trug. In Frankfurt zeigte er mir die Männerboutique „Henry“. Dort kaufte ich mir meinen ersten blauen Blazer, dazu eine graue Flanellhose und ein weißes Hemd. Geld dafür bekam ich von meinem Stiefvater. Ihm gefiel es, dass ich an schöner, eleganter Kleidung Geschmack fand. In meinem neuen Outfit ging ich gerne mal mit meinen Kumpels aus der A-Jugend in Offenbach aus. Ziel war das „Schiffche“, eine Gaststätte mit Musik und Tanzfläche in Rumpenheim, direkt am Main. Ich war 17 und machte hier meine ersten Erfahrungen, wie man mit Frauen anbandeln konnte. Auch die (bedeutend ältere) Frau, mit der ich zum ersten Mal Sex hatte, lernte ich in Rumpenheim kennen.

Grundsätzlich waren diese Techtelmechtel keine Gefahr für meine Fußballkarriere. Ich ging gern mit Mädels aus, aber in Sachen Fußball machte ich keine Kompromisse. Vor einem Spiel zu tief ins Glas schauen, lange feiern gehen oder gar ein Training verpassen, das gab es damals nicht bei mir.

Das eine oder andere Mal war bei unseren Abenden auch ein Junge namens Jimmy Hartwig mit dabei. Obwohl ein Jahr jünger, spielte er ebenfalls in der A1. Jimmy musste man einfach mögen. Er war immer gut drauf und hatte unglaubliche Sprüche auf Lager. Er kam aus dem Marioth, einem Gelände mit Eisenbahnwaggons und Bunkern im Osten der Stadt. In Offenbach wurde der Stadtteil auch „Waggonhausen“ genannt. Ärmere Familien, Obdachlose, Stadtstreicher und Arbeitslose lebten auf dem heruntergekommenen Areal. Wer dort groß wurde, durchlebte eine harte Schule. Entsprechend hatte Jimmy ein Selbstbewusstsein, um das ich ihn beneidete. Technisch gehörte er nicht zu den Besten, aber er war sehr robust und körperlich stark. Auf ihn konnte man sich im Spiel verlassen. Jimmy gab immer Vollgas, er hatte eine Pferdelunge.

Mit Widmayer durch die Welt

Mein letztes Spieljahr in der A-Jugend stand im Zeichen großer Reisen. Mit unserer Mannschaft, die jetzt Berti Kraus, 1962 WM-Teilnehmer in Chile unter Sepp Herberger und 1964 Pokalsieger mit 1860, trainierte, ging es im Sommer nach Jamaika und Guadeloupe. Es war meine erste Reise über den Atlantik. Heutzutage fliegt schon jeder Jugendliche für einen Spottpreis durch die Weltgeschichte, aber 1971 war eine Reise in die Karibik etwas kaum Vorstellbares. Es gab kein Internet, keine TV-Sendung, die einen mit Bildern oder Informationen versorgte. Der Fußball ermöglichte mir somit schon in jungen Jahren Erfahrungen, die für den damaligen Normalbürger unerreichbar waren.

Das Spiel in Kingston, der Hauptstadt von Jamaika, vor 20 000 Zuschauern, die Trommler auf den Rängen, die Hitze und der stumpfe Rasen waren ein entsprechend einschneidendes Erlebnis. Außerhalb des Spielfeldes hinterließ die große Armut, die wir in den Slums der Hauptstadt zu Gesicht bekamen, bei uns jungen Spielern einen nachhaltigen Eindruck.

Weitere Reisen schlossen sich an, denn im Herbst 1971 wurde ich in die deutsche U-18-Nationalmannschaft berufen. Trainer war Herbert Widmayer, der Anfang der 60er-Jahre mit dem 1. FC Nürnberg Deutscher Meister und Pokalsieger geworden war. Auch sonst hatte er ein sehr bewegtes Leben hinter sich. Während des Zweiten Weltkrieges wurde er zweimal als Pilot eines Kampfflugzeuges abgeschossen und geriet in britische Gefangenschaft. Seine Erfahrungen aus dieser Zeit, die er häufiger zum Besten gab, saugten wir begierig auf. Wir erfuhren, dass er seinen Bruder Werner, Spieler von Holstein Kiel und Nationalspieler, im Krieg verloren hatte. Nach seiner Heimkehr erkrankte seine Frau tödlich und wenig später verlor er bei einem Autounfall auch noch seinen Sohn.

Er wurde für mich eine ganz wichtige Bezugsperson, wir ergänzten uns: Widmayer hatte keinen Sohn mehr und ich lechzte nach väterlichen Bezugspersonen. Für meine Fußballkarriere war er auf jeden Fall der wichtigste Mensch, auch in späteren Jahren beriet er mich in sportlichen Fragen. Einmal sagte er zu mir: „Vergiss nie die Freunde auf dem Weg nach oben, denn sie könnten dir auf dem Weg nach unten wieder begegnen“ – eine wichtige Lebensweisheit, die ich nie vergaß.

Im Herbst 1971 kristallisierte sich mehr und mehr der Kern der deutschen U-18-Auswahl heraus. Zum Stamm gehörten Helmut Roleder, Ronald Worm, Wolfgang Kraus, Peter Hidien und Kurt Eigl und Charly Körbel, der eigentlich noch jüngerer A-Jugendlicher war. Wir verstanden uns auf Anhieb gut und schätzen uns bis heute sehr, obwohl wir uns in zig Bundesligaspielen gnadenlos bekämpften und uns auf die Socken hauten. Über Silvester und Neujahr 1972 flogen wir für 14 Tage nach Israel. Widmayer war dabei in seiner Rolle als Pädagoge und Wertevermittler für uns sehr prägend. Israel war 25 Jahre nach Kriegsende ja nicht irgendein Land für uns Deutsche und entsprechend sollten wir auch auftreten. Unser Trainer hielt mehrere Ansprachen, in denen er uns mitgab, dass Deutschland Verantwortung für die Gräueltaten an den Juden übernehmen müsse und dass unser Auftreten in Israel Signalwirkung habe. Demut, Bescheidenheit und Menschlichkeit waren die Werte, die er uns mitgab. Das war ein Fundament fürs Leben. Wir besuchten mit der Mannschaft die Klagemauer, Bethlehem, Jerusalem.

Ich registrierte, dass ich mich von den anderen Spielern unterschied. Ich hatte Tischmanieren und zog mich anders an. So trug ich zum Silvesterabend in Jerusalem meinen mitgebrachten Anzug, während die anderen in Trainingsklamotten zum Essen kamen. Sie machten sich über mich lustig und mich zu einem kleinen Sonderling. Trotzdem kam ich gut bei der Mannschaft an, auch weil ich immer meine Tore machte.

Mit der U 18 im Schnee von Aschgabad

In Vorbereitung auf die U-18-Europameisterschaft, die im Mai in Spanien stattfand, machten wir im Februar 1972 auch eine Reise nach Turkmenistan, die zu den speziellsten in meiner Karriere gehörte. Die kommunistische UdSSR hatte Deutschland als erstes westliches Land zu einem Ostmächte-Turnier für U-18-Mannschaften nach Aschgabad, der Hauptstadt der Sowjetrepublik Turkmenistan, eingeladen. Wir trafen uns wie gewohnt im Hotel Wessinger in Neu-Isenburg (wo es bis heute übrigens für mich den besten Kuchen im Rhein-Main-Gebiet gibt) und flogen einen Tag später von Frankfurt aus nach Moskau. Nach einem kurzen Zwischenstopp ging es dann in einer sowjetischen Militärmaschine mit Propellern in vier Stunden ans Kaspische Meer. Direkt an die Sitzreihen schloss sich der Laderaum an, in dem Hühner und auch ein Schwein in Käfigen eingepfercht waren. Das roch man auch. Als wir in Aschgabad landeten, mussten wir erst mal schlucken: Alles war weiß. Die Stadt war komplett eingeschneit und es war elendiglich kalt. Wir wurden in eine Sporthalle gefahren, wo wir auf dem Boden auf Matten schliefen. Und das als deutsche U-18-Nationalmannschaft! Wenn ich mir vorstelle, wie die heutige Spielergeneration groß wird, was ihnen in den Akademien oder bei den Auswahlturnieren alles abgenommen wird, welchen Luxus sie im Alltag wie selbstverständlich genießen, wünschte ich mir, dass die 17-, 18-jährigen Supertalente von heute mal so eine Reise wie wir damals machen würden. Das würde sie erden, auf den Boden der Tatsachen zurückholen.

Auf den Plätzen lag meterhoch der Schnee, der mühsam plattgewalzt wurde. Dass wir in weißen Trikots mit weißen Stutzen spielten, machte das Ganze nicht einfacher. Zuschauer gab es kaum welche. Wer will sich bei Minustemperaturen schon ein Spiel zweier Jugendnationalteams anschauen? Wir gewannen im Turnier gegen die Ukraine 3:1, spielten gegen Jugoslawien 1:1, verloren gegen die UdSSR 1:2 und gewannen im Spiel um Platz drei gegen die DDR im Elfmeterschießen. Das Lustige war, dass es nach jedem Spiel ein Elfmeterschießen gab, dessen Ergebnis für den Fall herangezogen sollte, dass es am Ende Punktgleichheit gab – Elfmeterschießen auf Halde sozusagen. (Die Russen haben ja ein Faible für das Ausschießen. In den 70er-Jahren führten sie in ihrer Liga kurzzeitig ein Elfmeterschießen nach jedem Remis ein, um einen Sieger zu ermitteln.)

Das Turnier war brutal. Wetter, Platzverhältnisse und Gegner verlangten uns alles ab. Aber das focht uns nicht an. Wie wir tickten, zeigt ein Beispiel unseres Kapitäns Wolfgang Kraus, Spieler bei der Eintracht. Nach einem Foul sollte er rausgetragen werden. Wir dachten, er habe sich mindestens das Bein gebrochen. Doch sobald er mitbekam, dass Widmayer Anstalten machte, ihn auszuwechseln, sprang er von der Trage runter und meldete sich zurück: „Es geht schon wieder!“

Wir waren ein verschworener Haufen und genossen die Aufenthalte bei der U-18-Auswahl. Die Ausrüstung, auf der überall das DFB-Emblem prangte, behandelten wir, als wäre es Gold. Für Deutschland zu spielen, machte mich stolz. Es gab auch etwas Geld – Reisekosten – für unsere Tage beim DFB. Unser Mann dafür war Bernd Pfaff, der spätere Organisationsleiter der A-Nationalmannschaft. Für jeden Tag gab es fünf Mark plus Fahrtkosten, gar nicht mal wenig für uns 16- und 17-Jährige. Aber natürlich versuchten wir, so viel wie möglich herauszuholen und ihn bei den Spesen so gut es ging zu bescheißen. Pfaff ließ sich aber nicht so leicht hinters Licht führen: Wenn ich ein Bahnticket aus Hannover vorlegte, dann wurde er sauer, weil ich aus Offenbach schlecht über Hannover nach Frankfurt gefahren sein konnte. Er kämpfte um jede Mark und hatte bei uns den Spitznamen „Mückenpfaff“ weg.

Wir waren fußballerisch ein klasse Team, verstanden uns aber vor allem menschlich. Viele Spieler wie Charly Körbel (Dossenheim), Bernd Dürnberger (Freilassing) oder Toni Schumacher (Düren) waren noch bei kleinen Vereinen. Einen Berater hatte keiner von uns. Wir waren einfach nur dankbar, dabei sein zu dürfen.

Im Mai erreichten wir nach Siegen gegen Dänemark und Schweden in der Quali die EM-Endrunde in Spanien, wo wir den zweiten Platz erlangten. Damit sorgten wir in Deutschland für großes Aufsehen. Anfang der 70er wurden internationale Vergleiche selbst im Jugendbereich noch anders wahrgenommen als heute. In allen Bereichen gab es Wettbewerbe zwischen den Nationen und natürlich auch zwischen den politischen Blöcken von West und Ost. Der Fußball war da keine Ausnahme. Man wollte zeigen, dass man anderen Ländern voraus war. Als Beinahe-Europameister waren wir in aller Munde.

Das Endspiel gegen England in Barcelona verloren wir unter den Augen von FIFA-Präsident Stanley Rous und UEFA-Präsident Gustav Wiederkehr zwar, aber das Turnier war ein Sprungbrett für uns alle. Spieler wie Ronny Worm, Helmut Roleder, Charly Körbel, Wolfgang Kraus oder auch ich starteten danach großartige Karrieren in der Bundesliga.

„Dann gehört dir die Zukunft“

Natürlich bekam man auch in Offenbach mit, dass da in der A-Jugend ein gewisser Kaster für Furore sorgt. Mittlerweile war Kuno Klötzer Trainer der Regionalligamannschaft, die nach dem Abstieg kein einziges Spiel verloren hatte und sich im Juni 1972 glanzvoll in der Aufstiegsrunde zur Bundesliga durchsetzte. Klötzer war ein richtig guter Trainer und darüber hinaus große Respektsperson. In der Rückrunde 1971/72 durfte ich häufiger mit der Ersten Mannschaft trainieren und ihn kennenlernen. In dem einen oder anderen Testspiel ließ er mich schon mal mit Niko Semlitsch, Winnie Schäfer oder Erwin Kostedde ran. Er sagte mir: „Ich will dich nicht verheizen. Du wirst langsam an das Team herangeführt, aber wenn du so weitermachst, dann gehört dir die Zukunft.“

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