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Kapitel 2

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Valerie konnte keinen Schlaf finden. Ihr ging zuviel durch den Kopf. Die Begegnung mit der verzweifelten Mutter hatte sie tief bewegt. Die leidgeprüfte Frau musste die Wahrheit sagen, davon war Valerie überzeugt. Sie konnte unmöglich eine so gute Schauspielerin sein. Und die Überprüfung des Ehemannes hatte auch nichts ergeben. Er konnte für die fragliche Zeit ein felsenfestes Alibi vorweisen, wie sein Chef bestätigte, und schien ähnlich verzweifelt wie seine Frau.

Aber noch etwas anderes beschäftigte Valerie. Am Abend hatte ihre Mutter Karen angerufen und fast nebenbei erwähnt, dass sie und Herbert die Absicht hatten, nach Schweden zu reisen. Genauer gesagt, nach Malmö, dem Geburtsort von Valerie.

»Woher kommt auf einmal der Sinneswandel?«, hatte Valerie gefragt, »die ganzen Jahrzehnte hast du das Land wie der Teufel das Weihwasser gemieden.«

»Übertreib doch nicht immer so schamlos. Ich hatte eben nicht das Bedürfnis, mich der Vergangenheit zu stellen. Erst jetzt im Alter bin ich bereit dazu. Herbert hat mich dazu ermuntert. Etwas, das deinem Vater nie in den Sinn gekommen wäre. Dich scheinen deine Wurzeln auch nicht sonderlich interessiert zu haben. Jedenfalls hast du nie den Wunsch geäußert, Land und Leute kennenzulernen.«

Da war er wieder, der vorwurfsvolle Ton in Karens Stimme, den Valerie so hasste.

»Mama, ich habe nicht die geringste Erinnerung an damals und mich immer als urdeutsch gefühlt. Und zum Reisen bin ich aufgrund meines Berufes nie gekommen, wie du weißt. Schweden ist für mich ein Land wie jedes andere auf der Landkarte.«

Das war nur die halbe Wahrheit. Es hatte eine Zeit gegeben, da konnte sie nicht genug Informationen bekommen. Nur war das schon lange her.

»Was geht dir durch das entzückende Köpfchen, Schatz?«, riss sie Hinnerks Stimme aus ihren Gedanken. »Du wälzt dich hin und her und findest offensichtlich keine Ruhe. War der Anblick des toten Babys doch zuviel für dich?«

»Ja, nein … Das Leid der Mutter war kaum zu ertragen. Dabei ist mir wieder Bens Entführung ins Gedächtnis gerufen worden. Eine Zeitlang hatte es so ausgesehen, als würde ich ihn nicht mehr lebend wiedersehen. Für eine Mutter das Schlimmste, was es geben kann, wenn das Kind zuerst geht.«

»Aber da ist noch etwas … Hängt es mit dem Anruf deiner Mutter zusammen?«

»Es ist beinahe erschreckend, wie gut du mich kennst. Ja, du hast Recht. Aus heiterem Himmel will sie nach Schweden reisen. Etwas, das sie immer peinlichst vermieden hat. Aus welchen Gründen auch immer.«

»Lass sie doch! Zeit und Geld genug hat sie ja.«

»Ja, aber das gilt auch für mich. Ich meine, die Weigerung, mich der Vergangenheit zu stellen. Zuletzt habe ich mich mit Schweden intensiv beschäftigt, als ich achtzehn war. Und auch nur aus dem Grund, weil Karen mir eröffnet hatte, dass ich adoptiert sei.«

»Was?« Hinnerk wäre beinahe aus dem Bett gefallen. »Du bist gar nicht ihre Tochter? Warum hast du mir das nie erzählt?«

»Weil es keine Rolle spielt. Oder hättest du mich dann weniger geliebt? Für mich waren Karen und Christoph immer Mama und Papa. Meine leiblichen Eltern habe ich nie kennengelernt. Mein Vater soll sich frühzeitig aus dem Staub gemacht haben, und meine Mutter ist schon lange tot. Sie war noch ein halbes Kind, als sie mich geboren hat. In diesem Alter hat man noch keinen Bezug zu Babys, auch nicht, wenn es das eigene ist. Meine Großeltern müssen nicht viel besser gewesen sein. Sie wollten den Bastard nur aus dem Haus haben und veranlassten sofort die Adoption. Ein Wunder, dass ich nicht abgetrieben wurde. Ich hatte also all die Jahre keinen Grund, mich für meine Wurzeln zu interessieren.«

»Hast du das damals mit achtzehn alles einfach so hingenommen?«

»Von wegen, ich habe meinen Eltern die Hölle heiß gemacht. Dass sie mich all die Jahre betrogen haben, schrie ich. Zu einer Freundin bin ich gezogen und wollte nie wiederkommen. Da war was los, sage ich dir.«

»Kommt mir irgendwie bekannt vor. Ben scheint ganz nach dir zu schlagen.«

»Du meinst, weil er zu Karen und Herbert geflüchtet ist, um bei ihnen zu wohnen? Der Vergleich hinkt etwas, denn unser Filius fühlte sich nur unverstanden. Dabei weiß er noch nicht einmal, dass Karen nicht seine richtige Oma ist.«

»Du hast es ihm verschwiegen?«

»Ja, was hätte sich geändert? Sollte ich ihm sagen, dass seine leibliche Oma mich nicht haben wollte und er deshalb beinahe nie geboren worden wäre? Wenn er achtzehn ist, kann er es erfahren.«

»Damit handelst du genauso wie Karen …«

»Man ist eben immer das Produkt seiner Eltern. Wobei für ihn die Konsequenzen weniger dramatisch sind als für mich damals.«

»Hast du nie den Wunsch gehabt, der Wahrheit auf den Grund zu gehen? Ich meine, du hast nur die Aussage deiner Eltern …«

»Nein, seit meinem achtzehnten Geburtstag nicht mehr. Wahrscheinlich lebt ohnehin niemand mehr von der Familie. Nur heute habe ich kurz überlegt, ob ich mich Karen und Herbert anschließen sollte. So würde ich wenigstens mal das Grab meiner leiblichen Mutter sehen können.«

Hinnerk war tief in Gedanken versunken und unterließ jeglichen Kommentar.

»Du sagst ja gar nichts. Den unsäglichen Baby-Fall können doch du und Lars allein lösen. Ich habe mir einen Urlaub mehr als verdient.«

»Das wird niemand bestreiten … Wenn es denn einer wird … Was, wenn du etwas herausfindest, das du absolut nicht erwartest?«

»Ich bin schon mit ganz anderen Sachen fertiggeworden. Was mich nicht umbringt, macht mich stärker. Oder glaubst du, ich mache einen Fehler?«

Hinnerk ließ sich Zeit für seine Antwort.

»Folge deinem Instinkt, den ich immer wieder aufs Neue bewundere. Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt, mit der Vergangenheit abzuschließen.«

Valerie kuschelte sich in Hinnerks Arm.

»Manchmal weiß ich, warum ich dich so liebe«, sagte sie zärtlich. »Andere Kerle hätten versucht, es mir auszureden oder stundenlang das Für und Wieder ausdiskutiert.«

»Ich kenne doch deinen Dickkopf. Aber ich bewundere auch deinen Mut. Ich weiß nicht, wie ich an deiner Stelle handeln würde.«

»Genauso. Du kannst es ebenso wie ich nicht ertragen, wenn die Dinge nicht im Reinen sind. Alles muss Hand und Fuß haben. Vorher gibst du keine Ruhe.«

»Komm, versuch noch ein bisschen zu schlafen! Nicht dass Lieschen und Lars denken, wir hätten die Nacht durchgebumst.«

»Warum eigentlich nicht? Gute Idee, Herr Lange.«

»Frau Voss, wie undamenhaft …«

Weiteres Geplänkel der unkeuschen Art ging in einem leidenschaftlichen Kuss unter, dessen Fortsetzung nichts zu Wünschen übrig ließ. Die Nacht wurde jedenfalls sehr kurz.

Die dunkelhaarige, hochschwangere Frau stöhnte vor Schmerzen und hielt sich ihren stark gewölbten Leib.

»Was ist mit dir, Donka?«, fragte Ilana, eine Brünette mit herben Zügen, die ebenfalls aus Bulgarien kam und den Entschluss, sich auf dieses unsaubere Geschäft einzulassen, längst bereute. »Glaubst du, die Wehen haben schon eingesetzt?«

»Nein, das kann nicht sein. Es ist noch zu früh.«

»Hallo, meine Freundin braucht einen Arzt. Irgendetwas stimmt nicht!«, rief Ilana auf den Flur hinaus.

Es dauerte eine Weile, bis ein grobschlächtiger Mann mit brutalen Gesichtszügen aus einem der anderen Zimmer kam.

»Mach hier nicht so einen Lärm«, sagte er auf bulgarisch, »du alarmierst ja die gesamte Nachbarschaft.«

»Das ist mir egal. Donka muss in ein Krankenhaus.«

»Die Entscheidung liegt nicht bei dir. Sie soll sich nicht so haben, Millionen anderer Frauen haben schon Kinder gekriegt. Nachher kommt der Doktor, bis dahin gib ihr die Schmerztropfen.«

»Die helfen doch nicht, wie du siehst. Und dieser Viehdoktor hat keine Ahnung. Wahrscheinlich hat er noch nie eine Frau entbunden.«

»Was ist hier los?«, fragte ein kaum weniger unsympathisch wirkender Deutscher, der plötzlich in der Tür stand.

»Sie macht ein bisschen Theater. Ich regle das schon«, meinte der Bulgare.

»Ihr habt hier alles, was ihr braucht. Also hört auf zu jammern.« Der Deutsche setzte eine Furcht erregende Miene auf. Seine Augen bekamen ein böses Glitzern. »Wer hier nicht spurt, wird auf die Straße gesetzt. Dann könnt ihr sehen, wo ihr bleibt. Das Balg könnt ihr dann im Rinnstein gebären. Und Geld gibt es natürlich auch keins.«

Der Bulgare übersetzte, woraufhin ein aufgeregtes Gemurmel unter den Frauen aufkam. Jeder Fleck des Raumes in der schäbigen Plattenbauwohnung war nämlich für Etagenbetten genutzt worden. In den unteren lagen Hochschwangere wie Donka Kirilowa. Die oberen Betten nutzten Frauen, deren Niederkunft erst nach Wochen erfolgen sollte. Andere saßen an dem einfachen Resopaltisch vor dem Fenster auf wackligen Holzstühlen und schlangen appetitlos ihr Essen herunter. Die Aussicht konnten sie dabei nicht genießen, denn die abgewetzte Jalousie war so justiert, dass nur etwas Licht hereinfiel, aber ein Sichtschutz, vor allem von außen, garantiert war.

Die beiden Männer hatten zum Teil sogar für den Zustand der Frauen gesorgt. Sie waren dabei mit grenzenloser Brutalität vorgegangen, sodass die Frauen fürchteten, der Vorfall könne sich wiederholen, wenn die Gier der Männer erneut Oberhand gewinnen würde. Die Sorge war eher unberechtigt, denn die Kerle schienen jegliches Interesse an den Schwangeren verloren zu haben. Bis auf Petar, bei dem konnte man nie wissen, was ihm als Nächstes in den Sinn kam. Vor allem, wenn Alkohol im Spiel war.

»Du bist doch immer für eine Überraschung gut«, sagte Karen, als Valerie ihr mitteilte, mit nach Schweden fliegen zu wollen. »Wir haben schon vor Wochen die Flüge gebucht, und eine Hotelreservierung war auch nicht so einfach zu bekommen. Es war nicht so leicht, einen relativ günstigen Flug zu erhaschen, denn weder Herbert noch ich haben Lust elf Stunden in der Maschine zu sein und zig Mal umzusteigen. Die rufen zweitausend Euro und mehr für einen einstündigen Flug ohne Zwischenstopp inklusive Hotelbuchung auf. Und selbst da hätten wir von Kopenhagen mit dem Zug nach Malmö fahren müssen. Ein Preis, den wir nicht bereit sind zu zahlen. Jetzt fliegen wir für fünfhundert Euro, landen in Malmö Sturup und haben uns selber ein Hotel gesucht. Allerdings sind wir über sieben Stunden unterwegs, weil wir in Frankfurt und Stockholm umsteigen müssen.«

»Und auf welches Hotel ist eure Wahl gefallen?«

»Wie hieß das noch? Herbert, wo wohnen wir in Malmö?«

»Im Scandic Kramer. Der historische Bau stammt aus dem 19. Jahrhundert und sieht aus wie ein weißes englisches Schloss«, sagte Herbert Schindler. »Noch dazu liegt es sehr zentral nur fünf Minuten vom Hauptbahnhof entfernt.«

»Dann werde ich versuchen, dort auch unterzukommen. Oder ist es euch lieber, wenn ich woanders wohne?«

»Sei nicht albern. Ich fürchte nur, so kurzfristig wirst du kein Glück haben. Ganz zu schweigen vom Flug«, insistierte Karen.

»Ich muss dich enttäuschen, der Flug ist schon reserviert, und das Hotelzimmer wird auch noch klappen. Aber man könnte meinen, du willst mich nicht dabei haben …«

»Ja, Liebste, da muss ich deiner Tochter Recht geben. Es hört sich fast so an«, sagte Herbert.

»Ach, ihr seid ja beide verrückt. Ich frage mich nur, wie es dir gelungen ist, frei zu bekommen. Wo du doch sonst unabkömmlich bist …«

»Hinni und Lars werden mich gut vertreten. Das hat sogar mein Chef Paul Schütterer eingesehen. Vor allem, weil ich diesmal wirklich privat fliege, und nicht undercover in einem Mordfall ermittle.«

»Bist du dir da sicher?«

»Völlig, unser aktueller Fall ist zwar äußerst unappetitlich, da es sich um Kindstötung handelt, doch mit Schweden hat er garantiert nichts zu tun.«

»Weit hat es die Menschheit gebracht«, sagte Karen empört, »jetzt wird noch nicht einmal mehr vor unschuldigen Kindern Halt gemacht.«

»Ich teile dein Entsetzen, Mama, muss aber leider sagen, dass zu allen Zeiten Kinder getötet wurden. Nur hat es damals noch nicht so sensationslüsterne Medien gegeben.«

»Ich werde nie begreifen, warum du diesen Beruf gewählt hast.«

»Ich weiß, Mama, du reibst es mir bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit unter die Nase. Vielleicht freut es dich zu hören, dass dein Enkel ganz deiner Meinung ist.«

»Es freut mich höchstens, dass Ben einen gesunden Menschenverstand besitzt. Doch wie kann er beurteilen, womit ihr euch tagtäglich herumschlagen müsst? Sprichst du etwa zu Hause über deine Arbeit?«

»Keineswegs, doch leider hat er im Präsidium etwas gesehen, das nicht für seine Augen bestimmt war.«

»Du hast ihm doch nicht etwa Akteneinsicht verschafft?«

Valerie lachte herzhaft.

»Bestimmt nicht, er hat auf unserer Tafel Fotos von Mordopfern gesehen. Das hat ihn zu dazu veranlasst, sich deiner Meinung anzuschließen.«

»Wie kann man denn so etwas ausstellen, damit jeder es sehen muss?«

»Wir stellen es nicht aus, Mama, sondern sammeln Fakten und Informationen auf der Wand. Dazu gehören neben allen möglichen Querverbindungen leider auch die Fotos von den Tatorten und der Mordopfer. Ich hoffe, damit ist die Welt für dich wieder halbwegs in Ordnung.«

»Du brauchst mit mir nicht wie mit einer Idiotin zu reden.«

»Wenn ihr die Absicht habt, in euer Reisegepäck die Boxhandschuhe zu integrieren, werde ich mir überlegen, ob ich mitkomme …«, sagte Herbert.

»Das hört sich alles schlimmer an, als es ist, Herbert«, schmunzelte Valerie, »Mama und ich haben nur jahrelange Übung darin, verschiedener Meinung zu sein.«

»Genau«, pflichtete Karen ihrer Tochter bei, »und ich fürchte, daran wird sich bis ans Ende meiner Tage nichts ändern.«

Bis der Doktor bei Donka Kirilowa eintraf, vergingen mehrere Stunden. Ilana war nicht von ihrer Seite gewichen und tupfte ihr unentwegt den Schweiß von der Stirn. Doktor Heinrich Voigt, ein blasser, kleiner Mann mit einem Dutzendgesicht, der nie ganz nüchtern war, hörte die Herztöne des Fötus ab. Seine Miene verfinsterte sich augenblicklich.

»Wir müssen sie in den OP bringen«, sagte er mit krähender Stimme.

Die nicht weniger blasse Schwester in seiner Begleitung nickte beflissen. Es war schwer vorstellbar, dass die Frau mit den großen Händen und der ungesunden Gesichtsfarbe jemals an einem Krankenhaus ihre Ausbildung abgeschlossen hatte, doch danach fragte hier niemand. Jeder konnte sich denken, dass eine gelernte Krankenschwester sich nie und nimmer für derart dunkle Machenschaften hergegeben hätte. Es sei denn, sie war außerordentlich skrupellos oder unter allen Umständen auf den Verdienst angewiesen. Zu welcher Sorte Johanna Haas gehörte, konnte man nur vermuten.

Die Bezeichnung OP für das mittelgroße Zimmer war stark übertrieben. Es befanden sich zwar ein gynäkologischer Stuhl, eine Liege, eine OP-Lampe und verschiedene technische Geräte darin, doch das Ganze erinnerte mehr an das Hinterzimmer einer Engelmacherin als an einen Operationssaal. Es gab zwar jede Menge Pharmaka, Desinfektionsmittel und sogar ein OP-Besteck, doch der Raum war nur leidlich steril. Ein Wunder, dass bisher nicht mehr passiert war, denn dort fanden auch die Geburten statt.

Dr. Voigt rieb Donkas Bauch mit einem dickflüssigen Gel ein und betrachtete kurz darauf das Ultraschallbild auf dem Monitor. »Wie ich vermutet habe, der Fötus ist nicht mehr am Leben«, sagte er, als spreche er übers Wetter, »wir müssen die Geburt künstlich einleiten, damit wenigstens Ihnen nichts geschieht.«

Ilana übersetzte und wurde dann aus dem Raum geschickt. Johanna zog die den Abortus einleitende Spritze auf und drückte sie Donka in die Vene. Dabei ging sie äußerst geschickt vor. Etwas, das man ihr auf den ersten Blick nicht zutraute. Bei den Frauen war sie ohnehin beliebter als der Doktor. Sie sprach zwar kaum ein Wort Bulgarisch, wurde aber nie grob oder unverschämt wie die Kinderschwester Paula, die nebenan die Säuglinge betreute. Und vor allem roch sie nicht nach Alkohol und kaltem Rauch.

Donka Kirilowa ertrug die Prozedur mit Gleichmut. Wie die meisten der freiwillig eingesperrten Frauen, hatte sie während der Schwangerschaft kein Verhältnis zu dem Kind in ihrem Leib aufgebaut. Deshalb bestand für sie kein Unterschied, ob es von einer fremden Frau aufgezogen worden wäre oder tot geboren wurde. Die eigentliche Katastrophe war, das in Aussicht gestellte Geld nicht zu bekommen. Denn das brauchte ihre Familie, die in völliger Armut lebte, dringend.

»Du ruhst dich eine Zeitlang aus, und dann startest du einen neuen Versuch«, sagte Dr. Voigt, der ihre Gedanken zu erraten schien. Sein Ton klang dabei, als habe Donka soeben die Führerscheinprüfung nicht bestanden und würde sie jederzeit wiederholen können.

Donka verstand nicht alles, was er sagte, erfasste aber intuitiv den Sinn der Aussage. Sie würde entscheiden müssen, ob sie unverrichteter Dinge und mit leeren Händen in die Heimat zurückkehren oder die neun Monate in der schäbigen Umgebung verbringen würde. Dabei grauste ihr am meisten bei der Vorstellung, sich noch einmal einem der brutalen Burschen hingeben zu müssen. Sie hätte nicht sagen können, welchen von ihnen sie am widerlichsten fand. Den brutalen Petar, den schmierigen Aleko oder die beiden Deutschen Martin und Simon, falls das überhaupt ihre tatsächlichen Namen waren.

Nein, sie würde sich für eine Nacht Freigang erbitten, um sich von einem bulgarischen Mann schwängern zu lassen, der ihr gefiel und ganz nach ihrem Geschmack war. Einen One-Night-Stand würde ihr bei ihrem Aussehen kaum jemand verweigern. Den Gedanken, erneut eine Fehlgeburt erleiden zu müssen, schob sie weit von sich. Das passiert mir nicht noch einmal, dachte sie, und wenn ich die neun Monate im Liegen verbringe.

Als Ilana Dragnewa zurück in den Schlafraum kam, sahen sie die Frauen mit großen Augen an.

»Lebt das Kind?«, fragte Janka, eine dralle Schwarzhaarige, deren Säugling nebenan unter der Obhut von Paula war.

Ilana schüttelte stumm den Kopf.

»Also war die ganze Mühe umsonst.« Janka stöhnte auf. »Obwohl, wer weiß, was dem Kind dadurch erspart bleibt.«

»Entwickelst du jetzt plötzlich Muttergefühle?«, fragte eine hübsche Rothaarige. »Wie wir alle hast du unterschrieben, dein Kind nicht anzuerkennen und sämtliche Rechte abzutreten.«

»Ich weiß, doch inzwischen denke ich, es war ein Fehler. Wir geben schließlich einen Teil von uns her. Ich weiß noch, wie ich die ersten Tritte in meinem Bauch spürte. Hautnah zu erleben, wie da etwas in mir heranwächst … Und jetzt darf ich das kleine Wurm nicht einmal sehen … Wenn ich wieder gehen kann und mich etwas besser fühle, mache ich mich aus dem Staub. Ich habe die Schnauze voll von der Enge und dem ganzen Dreck hier. Damit meine ich weniger die Hygiene, als die Umstände und den Abschaum, von dem wir in Schach gehalten werden. Und vielleicht nehme ich mein Baby sogar mit.«

»Du bist verrückt«, sagte die Rothaarige. »Du kannst jederzeit wieder Mutter werden und deine sentimentalen Träume ausleben. Mir bedeutet der Fötus in mir nichts. Schon gar nicht bei dem Vater. Jetzt weiß ich, wie sich eine Frau fühlen muss, die vergewaltigt wurde. Was glaubst du eigentlich, was die mit dir machen, wenn du ihnen das Geschäft versaust? Das Geld hast du schließlich schon genommen.«

»Das ist mir egal«, meinte Janka, »ich überlege mir sogar, ob ich zur Polizei gehe.«

»Das wirst du nicht tun. Damit reißt du uns alle rein. Du magst ja auf das Geld weniger Wert legen, aber wir brauchen es für unsere Familien.«

Einer der Nebenräume war blau von Tabakqualm. Auf dem Tisch standen halbvolle Schnapsflaschen, Gläser und leere Bierflaschen. Um der Langeweile zu entgehen, wurde wie in einer Spielhölle gezockt. So mancher Geldschein wechselte den Besitzer.

»Pscht, wartet mal! Hört ihr, was die Weiber da quatschen?«, fragte Petar, denn über eine Wanze bekam man alles mit, was im Zimmer der Frauen gesprochen wurde.

»Ja, das haben schon so viele angedroht«, grunzte Aleko, »das muss man nicht so ernst nehmen. Nach unserer Spezialbehandlung haben sie ihre Meinung stets geändert.« Der Bulgare lachte meckernd und entblößte dabei sein schlechtes Gebiss.

»Mich interessiert vielmehr, was wir jetzt machen, nachdem uns schon wieder ein Baby ausfällt«, sagte Martin, nachdem er einen tiefen Zug aus der Flasche genommen hatte.

»Na, was schon?«, entgegnete Simon und blies den Rauch seiner Zigarette aus. »Aleko wird ein neues beschaffen, vielleicht geht ihm dabei eine unserer Karbolmäuse etwas zur Hand. Freiwillig oder unfreiwillig. Der Liefertermin ist ja erst in ein paar Wochen.«

Valerie hatte ohne Probleme ein Zimmer im Hotel Scandic Kramer reservieren können. Damit stand ihrer Reise in die Vergangenheit nichts mehr im Wege. Während sie noch überlegte, was sie alles mitnehmen wollte und schon den ersten Koffer vorbereitete, platzte Ben mit einer Überraschung ins Haus.

»Ich ziehe aus«, verkündete er stolz, »und zwar schon nächste Woche. Ein Freund, na ja, mehr ein guter Bekannter hat mir ein Zimmer in einer WG angeboten.«

»Du zäumst das Pferd von hinten auf, mein Sohn«, sagte Hinnerk, »zunächst solltest du uns fragen, ob uns das recht ist.«

»Das weiß ich doch. Ihr könnt ruhig zugeben, dass ihr froh seid, mich loszusein.«

»Davon kann überhaupt keine Rede sein. Doch da deine Mutter und ich in deinem Alter ebenfalls erste Erfahrungen außerhalb des Elternhauses gesammelt haben, kannst du zumindest ein gewisses Verständnis unsererseits voraussetzen. Bleibt die Frage, womit du deine neue Freiheit finanzieren willst.«

»Ich dachte, ihr unterstützt mich finanziell etwas …«

»So, dachtest du? Umso merkwürdiger, dass du nicht vorher mit uns gesprochen hast.«

»Es ist ja noch nicht endgültig. Bisher habe ich Thorsten nur gebeten, mir das Zimmer frei zu halten. Aber wenn sich meine Eltern als Geizhälse erweisen, kann ich auch absagen.«

»Nein, nein, damit du die nächste Zeit wie das Leiden Christi durchs Haus schleichst … Das fehlt mir noch. Du weißt, dass deine Mutter auf Reisen geht, und ich möchte nicht zu dem Trennungsschmerz noch deine schlechte Laune ertragen müssen.«

»Bei eurem Hang zur Dramatik und Übertreibung hättet ihr Schauspieler werden sollen …«

»Möglich, doch jetzt ist es für einen Berufswechsel zu spät. Wir werden dir das Geld geben. Nicht auf Dauer, sondern für eine begrenzte Zeit, damit bei dir der Schlendrian nicht einsetzt. Zum Erwachsenwerden gehört auch, sich seine Miete selbst zu verdienen. Dazu waren deine Mutter und ich uns auch nicht zu schade.«

»Jetzt, wo ich bald die Abiturprüfungen haben werde …«

»Es zwingt dich niemand auszuziehen. Wenn du es unbedingt willst, stehen wir dir nicht im Wege, erwarten aber einen gewissen Einsatz deinerseits. Von nichts kommt nichts. Du kannst in einem dieser Burger-Shops jobben, kellnern oder sonst was, wozu du Lust hast oder dich halbwegs eignest. Im Zeitalter der Minijobs dürfte das kein Problem sein. Und komm nicht auf die Idee, deine Großmutter um Hilfe zu bitten …«

In Ben arbeitete es sichtlich. Er hatte schon mit so etwas gerechnet, doch insgeheim gehofft …

»Also gut, einverstanden«, sagte er, »aber wenn ich nicht klarkomme …«

»Unsere Tür steht dir selbstverständlich immer offen.«

»So habe ich es eigentlich nicht gemeint …«

»Ich weiß«, grinste Hinnerk.

Valerie hatte schon mit Marlies’ Hilfe vom Büro aus recherchiert. Doch unter ihrem ehemaligen Familiennamen gab es keine Einträge in Malmö. Keine große Überraschung, da ihre Mutter und deren Eltern bereits tot sein sollten. Trotzdem hatte sie gehofft, vielleicht irgendwelche Halbgeschwister oder andere Verwandte ausfindig machen zu können. So blieb ihr nur die uralte Adresse, die in der Adoptionsurkunde verzeichnet war.

»Willst du das wirklich durchziehen?«, fragte Marlies. »Wer weiß, was du über deine Familie erfährst! Dass sie moralisch nicht sehr hoch stand, hat deine Mutter schließlich schon angedeutet.«

»Ich will nicht ungerecht sein, denke aber, Karen hätte noch ganz andere Dinge behauptet, um mich von intensiven Nachforschungen abzuhalten. Es gehört schon eine gewisse Unverfrorenheit dazu, der Tochter erst mit achtzehn die Adoption zu gestehen. Sie wollte mich ganz für sich alleine haben und ihren Traum so lange wie möglich leben. Dabei ist es erschreckend, wie ähnlich wir uns in manchen Dingen sind. Man sollte das soziale Umfeld nicht unterbewerten. Womöglich ist es doch prägender als die Anlagen.«

»Umso schlimmer muss es für sie sein, dass du jetzt den Schritt tust.«

»Ich weiß, doch ich bin jetzt über vierzig, wie lange soll ich noch warten, um etwas über meine Wurzeln zu erfahren? Genau genommen, hätte ich es schon längst tun sollen, doch ich war ein furchtbarer Feigling.«

»Das ist doch verständlich. Man kann nie sagen, womit man da konfrontiert wird.«

»Ich will eigentlich nur wissen, ob Karens Geschichte stimmt. War meine Mutter wirklich noch ein Teenager, als sie mich zur Welt gebracht hat? Oder war alles doch ganz anders? Wenn ich ihren Grabstein finde, werde ich anhand der Daten Aufschluss erhalten. Ebenso würde mich interessieren, warum sie so früh gestorben ist, ebenso wie ihre Eltern. Vielleicht trage ich eine Erbkrankheit in mir, von der ich keine Ahnung habe.«

Marlies lachte hell auf. »Wann sollte die ausbrechen? Mit siebzig?«

»Weiß man’s?«

»Entschuldige, dass ich gelacht habe. Doch irgendeinem Arzt hätte doch schon mal was auffallen müssen. Zum Beispiel bei Bens Geburt.«

»Du weißt doch, wie das heute läuft. Behandelt werden nur Symptome. Wenn du nicht auf etwas hinweist, wird auch nicht danach gesucht.« Valerie räusperte sich. »So, Schmidtchen, genug der trüben Gedanken. Ich freue mich jetzt auf Schweden und bin bereit, auf Entdeckungsreise zu gehen. Was macht eigentlich dein Privatleben? Bist du schon über den Verlust von Sebastian hinweg?«

»Der Verlust hält sich in Grenzen. Wenigstens hat er die Wahrheit gesagt und macht nicht mit Caro rum, wie ich anfangs vermutete. Jedenfalls werde ich nie wieder auf die Idee kommen, meine Wohnung zu teilen, auch nicht mit einer sogenannten guten Freundin.«

»Und was ist mit der Liebe? Wenn Sebastian nicht der Richtige war …«

»Gibt’s den überhaupt? So langsam zweifle ich daran.«

»Aber um alleine zu leben, bist du eigentlich noch zu jung.«

»Warum soll es mir besser ergehen als Millionen anderer Frauen? Dein Bericht über diese Singlebörse war doch auch eher zum Abgewöhnen. Nein, ich chatte hin und wieder, wie so viele andere. Irgendwann werde ich mich vielleicht sogar einmal mit einem der Chatpartner treffen und eine riesige Enttäuschung erleben, oder auch nicht, man kann ja nie wissen. Sag mal, findet nicht bald mal wieder ein Polizeiball statt? Mehr und mehr gewinne ich die Überzeugung, nur mit einem Kollegen auskommen zu können. Bei euch hat es schließlich auch geklappt.«

»Mit Unterbrechung, ja. Dennoch wissen wir jetzt, was wir aneinander haben.«

»Das Glück, in der eigenen Abteilung … Lars ist schließlich inzwischen auch vergeben.«

»Sag bloß, du hättest dir da was vorstellen können?«

Marlies lachte. »Nicht wirklich, aber pscht, nicht weitersagen.« Sie legte den rechten Zeigefinger an die Lippen.

»Ja, unser Lars aus dem Ländle«, sagte Valerie, »um ein Haar hätten wir ihn verloren. Er wäre den Heldentod gestorben, was ihm selbst am wenigsten genützt hätte. Und jetzt ist er stolzer Papa und mit seiner Anna glücklich. Ach, Schmidtchen, dich müssen wir auch noch unter die Haube kriegen. Die Kerle wissen gar nicht, was ihnen entgeht.«

»Es haben eben zuviel andere Mütter hübsche Töchter. Aber ganz habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben.«

Ohne Skrupel

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