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Himmelwärts und in die Tiefe

Eine Höhlenerfahrung

Meine Augen benötigten einige Augenblicke, um sich an die plötzliche Dunkelheit zu gewöhnen. Nach und nach ließen die schemenhaften Umrisse immer mehr Details erkennen. Vorsichtig wagte ich die ersten Schritte. Eine sparsame Beleuchtung wurde sichtbar, dann Stützpfeiler und schließlich der Weg in die Höhle, den wir bei unserer Führung nehmen würden. Die Expedition dauerte fast eine ganze Stunde und führte uns zu faszinierenden Tropf- und Edelsteinen. Schließlich näherten wir uns wieder dem Ausgang. Der Schritt ins Freie war ein Schock. Die Sonne strahlte hell vom blauen Himmel. Die bunten Farben des Frühlings brannten grell in meinen Augen, die sich auf das dunkle Grau der Höhle eingestellt hatten. Ich wäre gestolpert, hätte nicht jemand in kluger Voraussicht ein robustes Geländer genau an dieser Stelle angebracht. Dankbar ergriff ich es und konnte mich so Schritt für Schritt in die Wirklichkeit der Welt da draußen zurücktasten.

Dieses Erlebnis kommt mir in den Sinn, wenn ich über das Vaterunser nachdenke. Es ist interessant: Die Bibel erzählt davon, dass Gott nicht nur im Licht (1Tim 6,16), sondern auch im Dunkeln (1Kön 8,12) wohnt. Wenn wir beten, kann es uns daher so vorkommen, als verließen wir die dunklen Höhlen des Alltags und träten in Gottes Gegenwart. Sein Licht umstrahlt uns, seine Liebe und Gnade empfängt uns. Hell und grell heben sie sich von unserem Alltag ab. Darum stolpern manchmal die Worte am Anfang unserer Gebete. Die Augen des Herzens sind noch nicht bereit, Gottes Schönheit zu schauen.

Doch auch die entgegengesetzte Erfahrung ist möglich: Aus dem bunten Alltag kommen wir in die Stille und Gegenwart Gottes. Doch sie umgibt uns zunächst wie ein leerer und unergründlicher Raum, den wir kaum mit unseren Worten zu betreten wagen.

In kluger Voraussicht hat Jesus uns ein geistliches Geländer gegeben: das Vaterunser. Es führt uns Schritt für Schritt in die Tiefe und gleichzeitig himmelwärts – und damit hinein in Gottes Gegenwart.

Das Vaterunser – bekannt und verkannt

Nach einer Umfrage von TNS Infratest erkennen 94 % der Bundesbürger das Vaterunser wieder, wenn es ihnen vorgelesen wird. Fast die Hälfte der Menschen kennt es auswendig. Damit ist dieses Gebet bekannter als die Nationalhymne, deren Text, wenn man einer anderen Umfrage glaubt, nur 44 % ohne fremde Hilfe aufsagen oder vorsingen können. Ich selbst habe nur sehr wenige Bestattungen erlebt, bei denen die überwiegende Mehrheit der Trauergäste geschwiegen hat, als am Grab gemeinsam das Vaterunser gebetet wurde. Doch ich spüre immer noch die bedrückende Atmosphäre dieser Verlegenheit, angesichts des Todes stumm bleiben und anderen beim Beten zuschauen zu müssen.

Das Vaterunser ist bekannt und dennoch verkannt. Nur ein Bruchteil der Menschen betet es persönlich. Selbst für manche Christen, die sich klar zu ihrem Glauben bekennen und regelmäßig in den Gottesdienst gehen, hat das Vaterunser keine große geistliche Bedeutung. Die häufigen Wiederholungen, so sagen sie, hätten es zu einem leeren Ritual werden lassen. „Der Mund spricht die Worte, doch das Herz ist nicht dabei.“ Schon Martin Luther klagte darüber, dass das Vaterunser der größte Märtyrer sei. Jeder plage und missbrauche es.

Diese Gefahr ist nicht zu leugnen. Die Frage sollte doch aber nicht sein, ob wir das Vaterunser beten sollen, sondern wie wir es beten können, damit wir sein Martyrium nicht verlängern! Denn für Jesus ist das Vaterunser das zentrale Gebet, das uns Schritt für Schritt nicht nur in Gottes Gegenwart, sondern auch durch die Tiefen des Alltags führt.

Lehre uns beten

Das Neue Testament berichtet immer wieder davon, dass Jesus sich in die Stille und Einsamkeit zurückzieht, um dort mit seinem himmlischen Vater zu sprechen. Manchmal bleibt er eine ganze Nacht lang in der Gegenwart Gottes – besonders vor größeren Entscheidungen (Lk 6,12). Er redet, schweigt und hört. Die Jünger nimmt Jesus gelegentlich in sein Gebetsleben mit hinein (Lk 9,28). Sie werden Zeugen der einzigartigen Verbindung, die Jesus mit dem Vater pflegt. Sie können spüren, wie Jesus aus dem Gebet Kraft empfängt und Mut schöpft. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sie ihn bald bitten: „Herr, lehre uns beten!“ (Lk 11,1).

In dieser Bitte kann man die Sehnsucht erahnen, ähnlich wie Jesus eng mit Gott verbunden zu sein. Vielleicht klingt sogar eine Spur Traurigkeit an, dass die eigenen Gebete diese innere Vertrautheit und verändernde Energie vermissen lassen. Jedenfalls enthält die Bitte „Lehre uns beten“ zwei wichtige Botschaften: Beten muss man lernen, und Beten kann man lernen.

1. Beten muss man lernen. Beten ist das Luftholen der Seele, und doch ist es uns nicht wie das Atmen als Instinkt in die Wiege gelegt. Der Volksmund sagt zwar, dass die Not beten lehre. Und tatsächlich wenden sich viele Menschen gerade dann an Gott, wenn sie selbst mit ihren eigenen Möglichkeiten nicht weiterkommen. Doch beschränkt sich das Gebet in diesen Grenzsituationen oft auf ein kurzes Bitt- oder Stoßgebet. Sobald sich die Lage geklärt hat, wird die Verbindung mit Gott nicht weiter gepflegt. Wie oft fällt mein eigenes Dankeschön viel kürzer aus als die dringende Bitte?

Aus unserem Wesen heraus können wir Menschen nicht so beten, dass die innere tiefe Verbindung zu Gott spürbar und aufrechterhalten wird. Wir sind nicht mit den geistlichen Fähigkeiten geboren, im Gebet nicht nur zu reden, sondern auch Gottes leises Reden in unserem Inneren zu hören. Das ist ein Geschenk des Heiligen Geistes (1Kor 2,10–12) und gleichzeitig eine Übung (Heb 5,14), die man erlernen muss.

2. Die gute Nachricht ist aber: Beten kann man lernen. Sonst hätte Jesus die Bitte der Jünger abgewiesen. Seine Antwort bestätigt vielmehr: Mit innerer Vertrautheit und verändernder Kraft zu beten, ist kein Privileg, das nur Jesus als Sohn Gottes zukommt. Jedes Kind Gottes wird vom himmlischen Vater ganz persönlich dazu eingeladen, es geschenkt zu bekommen und zu üben.

Vielleicht ist es wie beim Schwimmenlernen. Einige Kinder springen mutig ins Wasser, strampeln sich selbst an die Oberfläche und machen ihre ersten Züge. Die meisten allerdings brauchen Hilfe, Anleitung und Übung, um sich in diesem neuen Element wohl zu fühlen.

Das Vaterunser

Die Jünger haben ihre Bitte geäußert: „Lehre uns beten!“ Jesus antwortet nicht mit einem theoretischen Vortrag über die Theologie des Gebets. Er spricht vielmehr ein Muster-Gebet, ein Beispiel zur Nachahmung: „Wenn ihr betet, so sprecht“ (Lk 11,2). Dann folgen die Worte, die über eine Milliarde Menschen in ihrer je eigenen Sprache beten können:

Vater unser im Himmel

Geheiligt werde dein Name

Dein Reich komme

Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden

Unser tägliches Brot gib uns heute

Und vergib uns unsere Schuld,

wie auch wir vergeben unseren Schuldigern

Und führe uns nicht in Versuchung,

sondern erlöse uns von dem Bösen

Denn dein ist das Reich und die Kraft

und die Herrlichkeit, in Ewigkeit

Amen.

Die frühen Christen haben Jesu Anweisung befolgt. Die erste Kirchenordnung vom Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr., die sogenannte Didache, macht es für jeden Gläubigen zur Pflicht, das Vaterunser dreimal täglich zu beten. Sie lehnt sich damit an die jüdische Sitte an, dreimal täglich das Achtzehnbittengebet zu sprechen.

Das Vaterunser wurde zu einem weltumspannenden Gebet. Selbst wenn von etwa zwei Milliarden Menschen, die sich zum Christentum bekennen, nur jeder Zehnte einmal täglich eine Minute lang langsam das Vaterunser betet, gibt es in jedem Augenblick durchschnittlich 2300 Menschen, die mit mir die gleichen Worte in der je eigenen Sprache sprechen.

Nicht plappern, sondern von Herzen beten

Wie sollen wir das Vaterunser sprechen? In der Bergpredigt des Matthäusevangeliums gibt Jesus folgenden Hinweis (Mt 6,7–8):

„Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.“

Das Gebet ist also keine magische Zauberformel, die man so lange wiederholt, bis bestimmte geheimnisvolle Worte unsere Wünsche in Erfüllung gehen lassen. Das wäre gerade das „Plappern“, vor dem Jesus unser Gebet bewahren will. Der griechische Begriff lässt an eine gedankenlose Aneinanderreihung von Worten denken. Bereits das Alte Testament erzählt von einem solchen Beten bei den Baalspriestern, die ihren Gott durch lautes und unaufhörliches Rufen wecken wollen (1Kön 18,26–29). Bei den Völkern, die Israel und die ersten Christen umgaben, gehörten Zauberformeln zum Alltag (vgl. Jes 28,10). Die sogenannten Zauberpapyri haben sich seit der Zeit Jesu erhalten und können im Museum betrachtet werden. Hierbei handelt es sich um antike Zettel mit magischen Gebeten, die durch Anhäufung von Gottesnamen und geheime Formeln die Götter beeinflussen und magische Kräfte entfalten sollen.

Ganz anders lehrt Jesus über das Beten. Wir müssen Gott nicht belehren, überzeugen oder überreden. Die Grundlage des Gebetes und auch des Vaterunsers ist vielmehr das Vertrauen, dass Gott schon weiß, was uns innerlich bewegt und was wir brauchen. Die Worte unseres Gebetes dürfen aus einem Herzen fließen, das sich von Gott zutiefst gesehen, gehört und verstanden weiß.

Den Heiligen Geist im Herzen predigen lassen

Martin Luther hat 1535 die kleine Schrift verfasst: „Eine einfältige Weise zu beten, für einen guten Freund“ (WA 38,351–375; Auszüge im Anhang des Buches). „Einfältig“ meint an dieser Stelle nicht „unterbelichtet“, sondern „einfach“. Luther will eine für alle Menschen verständliche Anleitung geben, damit das Beten nicht den vermeintlichen Profis in den Klöstern und Kirchen vorbehalten bleibt.

Die Schrift ist ein sehr persönliches Werk, in dem Luther Einblick in sein eigenes Gebetsleben gibt:

„Lieber Meister Peter. Ich geb‘s euch so gut, wie ich‘s habe, und ich selber mich beim Beten verhalte.

Unser Herr Gott gebe euch und jedermann, es besser zu machen.“

Am Anfang des Werkes gibt Luther zu, dass er selbst durch den Betrieb des Alltags oft „kalt und unlustig zu beten“ sei. Durch Psalmen und andere Bibelverse werde dann das Herz „erwärmt“, komme zu sich selbst und werde zum Beten bereit.

Nun geht Luther dem Vaterunser entlang. Nach jeder Zeile hält er inne, sinnt über sie nach und lässt sich durch die überlieferten Worte zu eigenen Gebeten inspirieren. Er bringt persönliche und weltumspannende Anliegen vor Gott, bevor er die nächste Zeile des Vaterunsers betet. Durch die Worte Jesu werde das eigene Herz zu eigenen Worten „angereizt“ und „unterrichtet“. Ja, der Heilige Geist predige selbst zu unserem Herzen.

Auf diese Weise wird das Vaterunser zu einem Geländer, das uns Halt und Orientierung gibt. Es führt uns Schritt für Schritt in die Gegenwart Gottes, sei es ins Dunkel oder ins Licht, bis er selbst dort durch seinen Geist zu uns redet.

Himmelwärts, Erdwärts und zurück

Das Vaterunser vollzieht eine Bewegung vom Himmel auf die Erde und wieder zurück. Es beginnt mit der Anrede „Vater unser im Himmel“ und lässt drei Bitten folgen, die himmlische Realitäten in den Blick nehmen und gleichzeitig auf die irdische Wirklichkeit zielen. Gottes Name, Reich und Willen sollen Einfluss und Raum auf der Erde gewinnen. Danach wird aus dem vorangestellten „dein“ ein „unser“. Unsere menschlichen Anliegen werden nun vor Gott gebracht: was wir brauchen, was uns belastet und was unser Leben bedroht. Wir beten himmelwärts und bleiben doch mit beiden Beinen auf dem Boden.

Das Gebet schließt mit einem Lobpreis an Gott, den Schöpfer. Das „Wir“ kann wieder einen Schritt zurücktreten, weil es sich von Gottes „Du“ gehört und angenommen weiß.

Anrede: 1x „unser“

1.–3. Bitte: 3x „dein“

4.–6. Bitte: 3x „unser“, 4x „uns“

Lobpreis: 1x „dein“

Das Vaterunser vollzieht eine Bewegung, die dem Gebot Jesu entspricht, zuerst nach dem Reich Gottes zu trachten. Gleichzeitig lebt es aus dem Vertrauen, dass wir in Gottes großen Plänen nicht untergehen, sondern zu dem finden, was wir wirklich brauchen. Denn Jesus sagt (Mt 6,32b–33):

„Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.“

Himmelwärts beten

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