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2 Kinderhaus Schülerin Christin Engel

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Keuchend ließ sich Herr Engel auf dem neuen Bürostuhl von IKEA nieder. Die Höhe war nicht richtig eingestellt. Er musste wieder aufstehen, den Hebel suchen, und das alles ärgerte ihn. Zutiefst unglücklich starrte er auf das beigefügte Schreiben seines Anwaltes bezüglich seiner Anzeige die ehemalige Schulleiterin seiner Pflegetochter Christin, Frau von Hofgarten, betreffend. Die Schulleiterin klang in ihrer schriftlichen Stellungnahme zum Vorfall, den er zur Anzeige gebracht hatte, sachlich und durchaus ehrlich. Zur Genüge kannte er selbst diese Auseinandersetzungen mit den Pflegekindern.

Als ehemaliger Bauingenieur wurde er nach der Wende plötzlich nicht mehr gebraucht. Seine Firma aufgelöst. Blühende Landschaften hatte man ihnen versprochen. Aber davon konnte keiner leben, wenn er kein Geld besaß. Aufbruch. Seine Frau, eine Grundschullehrerin, sehnte sich danach, die Keime für ein selbstbestimmendes Handeln und Verwirklichung ihrer Ideale zu blühenden Pflanzen gedeihen zu lassen. Sie quittierte den Schuldienst und ließ sich als Leiterin eines Kinderhauses in den alten Bundesländern ausbilden. Frei und selbstständig wollte auch er arbeiten. Ein Kinderhaus bauen. Nie hätte Herr Engel gedacht, dass so etwas gar nicht funktionieren könnte. Immer war man abhängig von irgendwelchen Behörden, Instutionen und Ämtern und natürlich von dem Wohlwollen oder der Missgunst der Mitarbeiter selbiger, die es gelernt hatten, aus Gesetzen und Verfügungen, das für sie Günstigste herauszuangeln. Im Klartext: keine Verantwortung zu übernehmen, Fehler nur bei anderen zu suchen, und das dumme Fußvolk brauchte nicht alles zu wissen.

Dieses Schreiben der einst von ihm hochgeschätzten Schulleiterin Frau von Hofgarten war wie eine gesetzte Kanüle, um jederzeit Blut von ihm und seiner Frau abzuzapfen. Sie schrieb: Christin Engel betrat meinen Schulleitungsraum in spürbarer Abwehr. Sie setzte sich entsprechend meiner Aufforderung mir gegenüber. Dazwischen stand der Schreibtisch. Rechts vom Schreibtisch auf einem Stuhl lag meine Handtasche. Schon bei meiner ersten Frage:“ Weißt du, warum ich dich hierher bestellt habe?“ wanderten ihre Blicke nur zu diesem Stuhl mit der Handtasche, was mir erst im Nachhinein richtig bewusst wurde. Wütend stritt sie ab, je im Aufenthaltsraum der Sportlehrer gewesen zu sein oder gar Geld aus ihren Taschen genommen zu haben. Da müsste ich andere fragen wie zum Beispiel Samanda Aurelli oder Külüm aus der Parallelklasse. Beide hätte sie nacheinander aus dem Sportlehrerzimmer kommen sehen. Sie gebärdete sich wie ein zutiefst verletztes Mädchen.

In diesem Augenblick informierte mich die Sekretärin Frau Malsch in der Tür stehend, dass sich ein Schüler in der Turnhalle verletzt hätte. Daraufhin verließ ich kurz mein Zimmer. Als ich es wieder betrat, sah ich, wie Christin Engel mein geöffnetes Portemonnaie in der linken Hand hielt und in der rechten meinen 50-Euro-Schein, den ich am Morgen eingesteckt hatte. Schnell ließ Christin Engel den Schein in der rechten Tasche ihrer Jeanshose verschwinden. Die Geldbörse warf sie auf den Schreibtisch. „Nun hast du ja, was du sehen wolltest, aber es ist mein Geld, was du an mir verdienst!“ rief sie ungehörig frech. „Christin, lege sofort das Geld auf den Tisch!“ Mehr brachte ich nicht heraus. Christin machte höhnisch “Pah“ und lief in Richtung Tür. Von hinten packte ich sie am rechten Arm und sagte: „So nicht, mein Mädchen!“ Christin Engel schlug mir mit dem rechten Ellenbogen mehrmals vor die Brust, aber ich hielt sie fest. In diesem Moment erschien die Sekretärin Frau Malsch wieder an der Tür, weil der Unfall in der Turnhalle und die Anforderung des Notarztes meiner Zustimmung bedurften. Christin Engel spuckte Frau Malsch ohne jeglichen Grund ins Gesicht. Das trieb mich zum Äußersten, was ich nachweislich noch nie während meiner 37jährigen Dienstzeit als Pädagogin getan hatte. Ich gab Christin Engel zwei Ohrfeigen, eine links und eine rechts. Christin Engel stürmte mit den Worten: „Euch werde ich noch zeigen, was ihr davon habt. Das hast du nicht umsonst mit mir gemacht!“ aus dem Schulleitungszimmer.

Zuerst eilte ich in die Turnhalle, um mich über den Unfall und die eingeleiteten Maßnahmen zu informieren. Wieder im Büro rief ich die Klinik an, in die der Junge gebracht worden war, und dann die Mutter des beim Fußballspielen am Kopf verletzten Schülers. Es dauerte einige Zeit, bis ich die Mutter beruhigen konnte, dass es nichts Ernstes wäre mit der Verletzung ihres Sohnes, wir aber auf Nummer Sicher gehen müssten. Sofort nach dem Telefonat ging ich zum Klassenraum der 8a. Die Vertretungslehrerin für Deutsch, Frau Petzold, erklärte mir vor der Tür, dass Christin Engel aufgelöst und mit hochrotem Kopf in die Klasse gekommen wäre, ihre Schulsachen zusammengepackt und gerufen hätte:“ Der werde ich es zeigen! Die Alte hat mich geschlagen. Jetzt muss ich zum Arzt. Meine Zähne hat die mir rausgeschlagen!“

Herr Engel atmete mehrmals tief durch. Die Zeilen verschwammen vor seinen Augen. Er steckte das Schreiben mit zittrigen Fingern zurück in den Umschlag. Ach hätte er doch nicht so voreilig gehandelt und alles erst einmal genau überprüft. Doch Christin, die er und seine Frau seit acht Jahren betreuten und vor zwei Jahren adoptiert hatten, klang so ehrlich. Er musste ihr doch jedes Wort glauben. Vor lauter Eifer, Gerechtigkeit walten zu lassen, damit die Schulleiterin für ihre Tat schnell bestraft werden müsste, hatte er im Auftrage seiner Frau, die die Leiterin des Kinderhauses war, und nach Absprache mit dem Dachverband Kinderhaus e.V. Anzeige erstattet. Der Verein hatte ihnen dazu geraten. Körperliche Gewalt gegen Kinder in so einer eindeutigen Form von zwei Ohrfeigen müsste bestraft werden und ihnen einen Anwalt genannt.

Der Rausch des Triumpfes war vorbei. Narkotisiert und gelähmt saß Herr Engel auf dem neuen schönen IKEA Stuhl aus Echtholz. In ihm begann erneut ein Brodeln, als er die Zeilen des Zahnarztes las.

Christin Engel erschien am 17.12.2013 nach 14Uhr in meiner Praxis. Sie gab an, dass sie von der Schulleiterin zusammengeschlagen worden sei. Bei eingehender Untersuchung stellte ich eine leichte Verbiegung der Zahnspange fest. Ich entfernte die Zahnspange, da aufgrund ungenügender Zahnpflege eine Parodontitis entstanden war. Verletzungen im Mund- Kieferbereich konnten nicht festgestellt werden.

Jeder Tag war ein harter Kampf um die Finanzierung des Kinderhauses. Der Kampf um die sich ausweitenden Probleme der sechs Kinder nahm nicht nur seine ganze Kraft in Anspruch, sondern mehr und mehr auch die Kraft seiner Frau. Es wurden ihnen in letzter Zeit kaum zu beherrschende Problemfälle zugeteilt. Bei der Aufnahme von Christin war das anders gewesen. Seine Frau schloss das niedliche kleine Mädchen mit den langen dunklen Haaren sofort in ihr Herz. Dank der guten Ernährung wuchs Christin atemberaubend schnell in die Höhe. Das Fallenlassen eines Tellers, wenn der Tisch abzuräumen war, wurde auf das schnelle Wachstum ihrer Knochen geschoben. Zeigte Christin nicht schon da Aggressionen, wenn man etwas von ihr forderte, das ihr nicht gefiel? Herr Engel hielt sich einen in seinem Inneren fest angeschraubten Rückspiegel vor die Augen. Mit welcher Wärme hatte seine Frau dieses Mädchen stets umgeben und seit geraumer Zeit nur Zurückweisungen erfahren? Christin stellte nur Forderungen. Fünfzig Euro Taschengeld im Monat. Ihr Aufenthalt im Kinderhaus würde ja auch mindestens eintausend Euro allen einbringen.

„Was denkst du? Das Geld fällt vom Himmel? Woher kommt deiner Meinung nach das Geld, was wir an dir verdienen?“ fragte seine Frau.

„Na vom Staat, das haben wir in der Schule gelernt. Da hast du nicht richtig aufgepasst bei deinen Weiterbildungen. Damals. Weil du ja in der DDR groß geworden bist und kannst das nicht wissen.“ schleuderte Christin ihr entgegen.

Die Worte seiner Frau: Wir bedeuten ihr nichts. Sie brüllten jetzt in seinem Gehörgang bis zum Gehirn. Erinnerungen durchdrangen ihn. Erinnerungen, die gar nicht so weit entfernt waren. Er selbst hatte seiner Frau vorgeschlagen, nur mit Christin allein zwischen Weihnachten und Neujahr drei Tage in Potsdam Babelsberg zu verbringen. Der Filmpark mit seinen Aktionsprogrammen würde seine Frau zerstreuen und die Annehmlichkeiten eines Vier-Sterne- Hotels sie von den täglichen Pflichten der Erziehungspläne, der Dienstpläne für die Angestellten, der Finanzkalkulationen im Kinderhaus und das ganze Drum und Dran entlasten. Und Christin könnte ihrer Adoptivmutter wieder die Zuneigung und Liebe wie früher zeigen. Es war der reinste Pseudotrip gewesen. Seine Frau hatte ihm berichtet:

Am ersten Tag lief alles wunschgemäß. Frau Engel traf eine jüngere Mutter mit einer 13jährigen und einer 8jährigen Tochter, die das gleiche Angebot von Sparreisen gebucht hatten. Sie verbrachten mit den Kindern den Nachmittag im Filmpark und hatten viel Spaß. Nach dem Abendessen setzten sich die beiden Frauen an die Bar und gaben den Kindern zwei Stunden Freizeit. Es war noch nicht eine Stunde um, als die kleine Tochter der jüngeren Frau erschien und ihrer Mutter mitteilte, dass es der Schwester ganz schlecht ginge. Sie solle den Zimmerschlüssel holen, damit sich ihre Schwester ins Bett legen könne. Am nächsten Tag beim Frühstück herrschte beklemmende Stille, bis die junge Mutter mit den zwei Töchtern am Buffet und weit genug von den Ohren der Kinder entfernt seiner Frau mitteilte: Ihre Tochter wäre betrunken gewesen, und zwar von dem Uso, den Christin an der Bar geklaut hätte. Christin hätte sehr viel mehr von dem brennenden Zeug getrunken als ihre Tochter und ihr erzählt, dass Sie eben nicht ihre richtige Mutter wären. Ihre richtige Mutter sei viel jünger und schöner, und bald würde sie wieder zu ihrer richtigen Mutter zurückkehren.

Das hatte seiner Frau die Sprache verschlagen und noch viel mehr die Behauptung von Christin ihm gegenüber: Nicht sie hätte Alkohol getrunken, sondern seine Frau. Total betrunken wäre ihre Mutter ins Bett gewankt.

„Du siehst echt Scheiße aus.“

Diese Worte von Christin gerichtet an seine Frau hatten das Fass zum Überlaufen gebracht. Von Liebe, Sympathie oder Herzenswärme war in jenem Moment nicht das kleinste Fünkchen zu spüren. Christin sagte, was ihr gerade einfiel. Keiner hinderte sie, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. Sie wollte ihre Macht ausprobieren, seine Frau auf einen Feuerstuhl setzen. Aber diese hielt dem Druck der gemeinen Verleumdungen, den züngelnden Flammen stand. Nur in Gedanken zerquetschte sie wenn auch behutsam und nachdenklich wie eine echte Mutter die vierundzwanzig Rippen in Christines Brustkorb.

„Ich ersticke hier in einem Zimmer mit dir.“ waren die einzigen Worte seiner Frau gewesen, die auch Christin bestätigte, als sie bereits am zweiten Tag im Kinderhaus ankamen. Warum hatte er nur nicht daran gedacht, als er die Anzeige machte. Seine Frau hatte ihn nicht dazu ermutigt. Er erinnerte sich ihrer fragwürdigen Meinungsäußerung:

„Christin hat es uns doch gesagt, wir würden nur Geld mit ihr verdienen. Sind wir doch offen und ehrlich. Mit der Adoption sind wir hineingetreten in den Misthaufen.“

Herr Engel kam nach intensiven Überlegungen zu dem Schluss, nicht mehr mit diesem schrillen Lokomotivenpfiff aus vergangenen Zeiten zu reagieren und auch nicht mehr auf das anhimmelnde Winseln von Christin hereinzufallen. Schon gar nicht mehr wollte er sich das Flötenkonzert seiner Übergeordneten anhören. Nein, er musste sich selbst ein Bild machen, um es herauszukriegen: Warum und zu welchem Zweck Christin rebellierte? Wer verfolgte da welche Interessen?

Den beiden festangestellten Erzieherinnen gab er konkrete Anweisungen, besonders die so nebensächlich geäußerten Bemerkungen von Christin zu beachten und sie unauffällig zu beobachten. Die Haushaltshilfe bat er, die herumliegenden Sachen von Christin sich genauer anzusehen, ob sie heimlich Flaschen mit Alkohol verstecke. Er war mit seiner Frau jetzt 27 Jahre verheiratet. Zur Silberhochzeit hatten sie Christin adoptiert. Es war sein Geschenk an die vielen Jahre mit seiner Frau gewesen, in denen sie sich immer Kinder gewünscht hatte, aber nie eins bekam oder besser bekommen konnte. Das lag nicht an ihr, sondern an ihm. Er hatte es immer gewusst, aber niemanden verraten, auch nicht seiner Frau. Seine Mutter, die sehr früh verstorben war, hatte es ihm auf dem Sterbebett gebeichtet. Seine Hoden wären erst mit sieben Jahren operativ von der Bauchhöhle in den Hodensack transportiert worden. Die Ärzte hätten ihr damals gesagt, dass er vermutlich nie Kinder zeugen könne. In Anbetracht dieser Tatsache dachte Herr Engel seit seinem 18. Lebensjahr, er müsse sein Fortpflanzungsorgan eifrig trainieren, denn zu irgendetwas musste es ja taugen, wenn schon nicht zum Kinderzeugen. Natürlich nicht nur mit seiner späteren Frau. Maßliebchen nannte er seine wenigen Affären. Sein letztes Maßliebchen, eine sexbesessene selbstherrliche Dozentin für Psychologie, wollte ihn bezähmen. Angstvoll hatte er schon bei jedem Anruf von ihr gezittert. Sie blies ihn schaudernd um das ganze Erdrund. Er solle seinen Winden freien Lauf lassen. Nach Osten, Süden, Westen, Norden. Herr Engel war ein einfacher bodenständiger Mensch mit einer wahrscheinlich verstaubten Erziehung für das Gute und Schlechte. Den Begriff pervers trennte er sehr spät von dem Begriff originell. Jetzt sträubten sich seine Haare nicht mehr zu Berge. Dozentin Schreckensliebchen hatte ein anderes Opfer gefunden. Dafür gab es andere Brandstellen. Wie eine langsam im Mund schmelzende Praline hatte Herr Engel sich wieder auf seine Frau besonnen. Er liebte ihr Lächeln, ihren Humor, und er liebte sie selbst. Gut, abends trank sie ein, zwei Gläschen Rotwein, aber meistens Rotweinschorle und harte Sachen nie. Nie hatte er seine Frau betrunken gesehen. Widerwärtig, mit welchen Problemen er sich beschäftigen musste.

Und prompt klopfte Christin an seine Bürotür. Herr Engel trat zur Begrüßung nah an sie heran, konnte aber keinen Alkohol riechen, da Christin den ganzen Mund voller Kaugummi hatte.

„Jetzt nicht.“ sagte er. „Ich muss dringend weg. Gehe mal zu deiner Mutter in die Küche.“

Christin verschwand in Windeseile. Sie ahnte sicher, dass er übelgelaunt war.

Zuerst zog es Herrn Engel in die Schule. Vielleicht würde er noch die Klassenlehrerin oder einen Sportlehrer antreffen. Dann zu seinem ehemaligen Schulfreund, der hatte ein Alkometer. Er musste der Sache auf den Grund gehen und nichts bemänteln. Die Anzeige eventuell zurückziehen.


Gestrandet in Weimar

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