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Ich schenkte mir rasch ein Glas Wein ein, um dem Sekt drüben etwas entgegenzusetzen, und ließ den Blick dann nicht mehr vom Fenster. Die beiden küssten sich immer noch, er arbeitete sich langsam ihren Hals entlang und begann an dem Carmenausschnitt zu zerren.

Als der Ausschnitt über ihre makellos braunen Schultern glitt und er begann, ihre Schultern zu küssen, spürte ich meine eigene Erregung. Ich wusste, ich sollte sofort damit aufhören, die Vorhänge zuziehen, das Licht einschalten, vielleicht etwas arbeiten – aber ich war völlig unfähig, mich zu rühren, und starrte gebannt hinüber. Sie streiften sich gegenseitig die Oberteile ab – ach, dieser wunderschöne, kräftige Rücken – und pressten sich eng aneinander.

Als sie sich kurz voneinander lösten, konnte ich einen Blick auf ihren Busen werfen, und voll weiblicher Solidarität stellte ich tief befriedigt fest, dass er ziemlich hing. Meiner war hübscher, eindeutig, rund und fest. Während die beiden auf ein Sofa sanken und damit leider zum Teil aus meinem Blickfeld verschwanden, stellte ich zu meiner Beschämung fest, dass mein Atem schwer ging. Es fehlte nur noch, dass ich zum Vibrator griff. Wahrscheinlich bewahrte mich nur die Tatsache davor, dass ich gar keinen hatte.

Wenn gegenüber weiterhin so Spannendes zu sehen war, überlegte ich, schon wieder weniger verlegen, sollte ich mir vielleicht einmal einen anschaffen? Mit Paul war in dieser Hinsicht ja kaum zu rechnen! Ich konnte auch schlecht jetzt daherkommen und ihm sagen, dass er seit über einem Jahr alles falsch gemacht hatte – Übrigens, ich habe immer nur so getan als ob? So gemein war ich nun auch wieder nicht, und es gab auch ohne das noch genügend Streitpunkte. Ich warf einen letzten bedauernden Blick auf den Prachtrücken und den gelegentlich – ziemlich rhythmisch – auftauchenden festen kleinen Hintern und war überzeugt, dass die Sonnenbanktussi gegenüber es nicht nötig haben würde, ihren Höhepunkt vorzutäuschen und hinterher zur Selbsthilfe zu greifen. So einen Mann müsste man mal kennen lernen! Leider war der Typ von gegenüber ja schon vergeben...

Frustriert ging ich zu Bett. Nicht einmal Pauls schwache Vorstellung hatte ich heute gehabt, aber ich wollte ihn im Moment wirklich nicht mehr sehen. Was sollte jetzt werden? Ich dachte an Scarlett O´Hara und beschloss, morgen darüber nachzudenken.

Am Samstag sah ich nur eine Lösung: Anna anrufen. Ich jammerte ihr alles vor, was Paul an Unfassbarem gesagt hatte, und registrierte erst, als ich ihr unwilliges Grunzen hörte, dass es gerade mal Viertel vor sieben war. „Hab ich dich geweckt?“

„Was ist das für eine Frage? Guck doch mal auf die Uhr! Pass auf, wir treffen uns um zwölf im Salads und essen ordentlich zu Mittag, ja? Und dann erzählst du mir alles genau, jetzt kann ich der Sache noch nicht so ganz folgen...“ Der Hörer schien ihr aus der Hand zu fallen.

Na gut. Ich reagierte meinen Ärger also zuerst an dem zunehmend schrägeren Roman ab, aber nach einer ziemlich grausigen Szene mit Peitsche und heißem Kerzenwachs hatte ich davon auch wieder genug. Flüchtete der Stotterer sich in solche Phantasien, weil er im realen Leben keinen Erfolg hatte? Oder war das eine unzulässig biographische Interpretation? Dunkel erinnerte ich mich an ein Seminar über Autorenrollen (Nebenfach Germanistik), in dem wir vor solchen Deutungen gewarnt worden waren. Trotzdem, zunächst reichte es mir von diesem eigenartigen Text. Lieber schuftete ich mich eine halbe Stunde auf dem Stepper ab, man konnte nie genug Muskeln haben! Dabei fiel mir freilich wieder die Tatsache ein, dass die Sonnenstudiomaus gestern einen Hängebusen hatte – im Gegensatz zu mir. Das hob meine Laune, und ich trabte gleich noch zehn Minuten länger, bevor ich schweißgebadet wieder abstieg, mich in meine Wohnung verzog und erst einmal ausgiebig duschte.

Ich sauste durch die Wohnung und überlegte, was ich anziehen sollte; dabei fiel mir ein, dass ich meinem Nachbarn im Moment auch einen hübschen Anblick bieten könnte – wenn nicht die Sonne so gegen die Fenster schiene, dass er gar nichts sehen konnte. Sollte ich heute Abend leicht geschürzt Jazzgymnastik machen, um mich für die Aufmunterung gestern zu revanchieren? Albern, das kam ja gar nicht in Frage! Obwohl, irgendwie hatte ich direkt Lust, mich ihm zu zeigen... Und da konnte ich Anna nicht mal um Rat fragen, das war einfach zu peinlich!

Ich verdrängte diesen Gedanken, schlüpfte schnell in Jeans und TShirt, schnappte mir die Tasche mit Geld und Schlüsseln und machte mich auf zum Salads & More. Dann musste ich eben einen Umweg laufen, um nicht zu früh anzukommen, aber jetzt musste ich raus aus der Wohnung! Was könnte ich heute essen? Den Thunfischsalat? Den indischen Krabbencocktail? Den italienischen Gemüsesalat mit Parmesanbaguette? Mit diesen Überlegungen versuchte ich mich unterwegs abzulenken, aber leider kam ich am Wäschetraum vorbei. Im Fenster hing ein entzückendes Ensemble aus blassgrauer Seide mit schmalen schwarzen Spitzenkanten. Neunundsechzig Euro für BH und zwei Slips... Paul würde toben! Ich betrat den Laden und kam nach wenigen Minuten mit einem niedlichen Tütchen in der Tasche wieder heraus. Sollte ich das heute Abend...? Nein, nicht schon wieder diese unfeinen Gedanken! Andererseits fand ich mich durchaus sehenswert, wenn man nicht gerade auf den KateMossTyp stand. Ob der Typ überhaupt guckte? Oder war ich die einzige, die sabbernd durch fremde Fenster starrte? Wirklich beschämend!

Mit leicht gerötetem Gesicht betrat ich das Salads, und Anna war tatsächlich schon da. „Ich war so neugierig, was mit Paul schon wieder los ist, da bin ich etwas früher aufgebrochen“, erklärte sie mir, leicht verlegen, und winkte dem Kellner. Sobald wir vor unseren überquellenden Tellern saßen (und wieder war mir die Thunfischsauce in den Obstsalat gelaufen, man sollte eben nicht so gierig sein), begann Anna zu fragen.

„Was war denn jetzt so furchtbar? Ich meine, er ist doch immer der gleiche alte Langweiler, oder?“

„Nein! Dieses Mal war es viel ärger! Er ist sauer, dass ich mehr verdiene als er, dabei war das wahrscheinlich bloß diese Woche, und dann wollte er Verfügung über mein Geld, und meine Wohnung verkaufen, um die Ausbildung der Kinder zu sichern, und Spitzenwäsche findet er Geldverschwendung, und wenn ich einen Witz -“

„Hol doch mal Luft!“

Ich warf ihr einen zornigen Blick zu. „- mache, schnappt er ein, und im Bett ist er langweilig, und dann das Linoleum und die Bohnermaschine und überhaupt, ich hab keine Lust mehr. Ich weiß, den hab ich sicher bis an mein Lebensende, aber -“

„- das ist kein Versprechen, sondern eine Drohung?“ „Genau!“ Wenigstens Anna verstand mich!

„Und was soll ich jetzt machen?“

„Bist du sicher, dass du ihn los bist?“

„Naja, ich denke mal, er ist sauer, und wenn ich am nächsten Freitag einfach nicht da bin... Ich hab keine Lust auf eine Grundsatzdebatte, ich komme eh nicht gegen ihn an.“

„Wieso nicht? So intellektuell überlegen kommt er mir gar nicht vor, und du bist immerhin Akademikerin!“

„Er auch. Na warte, ich glaube, das ist ihm noch gar nicht aufgefallen – vielleicht bin ich ja ohnehin viel zu intellektuell verbildet, um seinen drei Kindern eine gute Mutter zu sein und mit der Bohnermaschine einfühlsam umzugehen! Nein, er nimmt mich einfach nicht ernst. Wenn ich zetere oder protestierte, denkt er immer, das vergeht wieder, und betrachtet mich nachsichtig. Und das macht mich so rasend, dass ich nicht mehr vernünftig argumentieren kann.“

Anna pickte sich heraus, was sie am meisten verblüffte. „Paul ist Akademiker? Ist mir bis jetzt ja nicht gerade aufgefallen! Was hat er studiert? Bürgerliches Idealverhalten?“

„BWL. Der Job ist vielleicht ein bisschen unter seinem Niveau, aber er scheint sich dort sehr wichtig zu fühlen. Wenn es ihn glücklich macht... und diese Heide scheint ihn ja zu vergöttern, aber das beruht offensichtlich auf Gegenseitigkeit. Sag mal, meinst du, es wäre sinnvoll, diese Heide mal kennenzulernen?“

„Willst du ihr ein günstiges Angebot machen?“

„Vielleicht. Wenn sie so ist, wie ich sie mir nach Pauls lähmenden Erzählungen vorstelle, müsste sie für ihn eigentlich ideal sein. Viel besser als ich!“

„Keine blöde Idee... Aber wie willst du an sie herankommen, ohne Paul sehen zu müssen?“

„Weiß ich nicht. Aber ich werde Paul sicher noch ab und zu sehen, nur nicht gerade nächsten Freitag, ich brauche wirklich mal ´ne Pause.“

„Und einen anständigen Lover, einen, der dir wirklich mal zeigt, wie es geht. Paul, diese Lusche!“

„Komm, lass mich in Frieden, ja? Bis jetzt waren alle Männer solche Luschen, ich glaube, es liegt an mir. Vielleicht brauche ich einfach zu lang. Ist doch auch nicht so wichtig.“

„Nicht wichtig? Xenia, du redest wirklich wie die Blinde von der Farbe! Wenn du jemals erlebt hättest, wie es mit einem wirklich talentierten Lover ist, dann würdest du nicht mehr solchen Schwachsinn reden, das verspreche ich dir!“

„Ich will keinen talentierten Lover, das klingt so nach Handwerker. Ich will jetzt erstmal meine Ruhe, und dann mal einen Mann, in den ich richtig verknallt bin.“

„Sag bloß, in Paul warst du nie verknallt?“

Ich hob die Schultern. „Ich bin mir nicht mehr so sicher. Vielleicht war es mehr Vertrauen und das Gefühl der Geborgenheit, Zuneigung und so. Mit Herzklopfen war da nicht viel.“

„Also von Anfang an wie nach zwanzig Jahren Ehe bei anderen Leuten?“

„Kann sein. Ich hab alles falsch gemacht, was?“ Anna schüttelte den Kopf. „Wieso du? Wieso alles? Und wieso falsch? Es gehören zwei dazu, eine Beziehung in den Sand zu setzen – ich sage nur: Bohnermaschine! Und bis jetzt war er doch das, was du gesucht hast, nur jetzt nicht mehr, und jetzt kannst du ihn wohl auch nicht mehr glücklich machen. Wir treiben Heide schon noch auf und hetzen sie ihm auf den Hals. Das wird ja eine Traumfamilie, voll die sechziger Jahre! Kennst du eigentlich Pleasantville?“

„Ja doch! Stimmt, so stelle ich mir Pauls Zukunft auch vor.“ Ich kicherte in meinen Spezi hinein und holte mir noch einen üppigen Salatteller, scheiß auf die schlanke Linie, ich konnte es ja wieder abtrainieren.

Wir überlegten, wie man an Heide herankommen könnte, ohne Paul aufzuscheuchen, und planten, was wir am Wochenende unternehmen könnten. Am frühen Nachmittag brach Anna auf, um ihren umwerfenden Gerd zu treffen (und wahrscheinlich ein paar heiße Stunden zu verbringen, dachte ich nicht ohne Neid), und ich kehrte, immer noch frustriert, nach Hause zurück. Gut, die neue Wäsche munterte mich ein wenig auf, aber ansonsten bot die Wohnung wenig Anregung – ich hatte die Wahl zwischen dem abwegigen Romanmanuskript, einem mehr als schäbigen Fernsehprogramm, einer CD, die ich mal fertig gucken sollte, die mich aber eigentlich nicht interessierte, zwei angelesenen, aber eher langweiligen Romanen und der Möglichkeit, den Kühlschrank abzutauen und gründlich zu putzen. Meine Verfassung wurde wohl am besten daran deutlich, dass ich mich zunächst für den Kühlschrank entschied und ihn danach hausfrauenmäßig stolz betrachtete. Danach gewann ich meinen Verstand aber zurück und trabte zum Bahnhof. Wochenende hin oder her, in der Bahnhofsbuchhandlung gab es sicher etwas mit Leidenschaft!

Schulterbeißer, ging es mir durch den Kopf, als ich vor dem Unterhaltungsregal stand. Im Handumdrehen hatte ich mir einen hübschen Stapel zusammengesucht, lauter mehr oder weniger edlen Kitsch, und der Kassiererin meine Karte hingeknallt. In der Café RoyalFiliale in der Schalterhalle gönnte ich mir noch eine ordentliche Portion Marzipan und ZimtmoussePralinés, am Kiosk daneben eine Schachtel Sobranies und eine kleine Flasche Sekt. Heute würde ich eine Orgie feiern und lauter unvernünftige Dinge tun, lauter Dinge, die Paul aufs Heftigste missbilligen würde! Ha!

Zwei Stunden später war mir grottenschlecht. Ich hatte alle Pralinés verputzt, drei Sobranies geraucht (mit rosa, lila und türkisgrünem Filter, die Dinger waren mir eigentlich viel zu stark) und einen ganzen Roman verschlungen – Millionenerbin verliebt sich in knackigen, naturverbundenen Stallburschen und erlebt in seinen Armen die höchsten Wonnen der Leidenschaft (sehr farbig beschrieben, durchaus anregend!), bis die böse, intrigante Familie, unter anderem die unvermeidliche Stiefmutter (mit rotgefärbten Haaren, schon sehr verdächtig), das liebende Paar auseinander bringt. Also flieht die Millionenerbin mit gebrochenem Herzen (und einem kleinen Stallburschen unter demselben) und versucht, fern der Familie ihr Baby zur Welt zu bringen und großzuziehen. Natürlich taucht der frischgebackene Vater rechtzeitig auf, böser Vater und noch bösere Stiefmutter kommen standesgemäß um (die Stiefmutter fährt, sinnlos betrunken, die beiden frontal gegen einen Brückenpfeiler), die Erbin erbt und die junge Familie lebt nun glücklich in der Familienvilla. Natürlich redete man einer Mesalliance nicht das Wort, der Stallbursche war kein gewöhnlicher Stallbursche, sondern der Erbe einer Pferdezüchterdynastie (der Roman spielte in Kentucky), so dass keine Gefahr bestand, dass er Fisch mit dem Messer aß oder mit Stiefeln ins Bett ging.

Schwachsinn! Ich klappte das Buch zu und ärgerte mich über mich selbst. Andererseits hatte es wirklich Spaß gemacht, diesen Blödsinn zu lesen, richtig zu schmökern. Paul hasste solche Bücher, er hielt sie für unrealistisch und Geldverschwendung. Er selbst las nur Sachbücher, vorzugsweise über Personalführung, Feinheiten des Heimwerkens oder Die schönsten Wandertouren durch das Oberland. Hatte ich ihn jemals mit einem Roman gesehen? War er gar nicht neugierig auf die vielen anderen Leben, die zwischen Buchdeckeln auf ihn warteten? Wohl nicht, er hielt ja sein Leben für das einzig wahre.

Ich merkte jetzt erst, wie wenig ich über ihn wusste. War er

religiös? Wo stand er politisch? Interessierte er sich für Kunst? Guckte er sonntags Autorennen? Wie war seine Schulzeit? Hatte er das alles geheim gehalten oder hatte ich mich nicht genügend für ihn interessiert? Hatte ich ihn nur als mein privates emotionales Sicherheitsnetz benutzt? Hatte ich ihn jemals geliebt? Offenbar nicht, stellte ich fest, missgelaunt auf der Couch liegend und ab und an leise rülpsend. Puh, war mir schlecht! So bald brauchte ich nichts Essbares mehr! Bestimmt hatte ich zwei Kilo zugenommen! Ich schlief, vollgefressen wie ich war, auf dem Sofa ein und wachte zwei Stunden später noch schlechter gelaunt wieder auf. Der Geschmack in meinem Mund war grauenhaft, außerdem musste ich dringend aufs Klo.

Sobald ich diesem Bedürfnis gefolgt war, betrachtete ich mich kritisch im Spiegel. Die Haare verlegt – auf einer Seite standen sie in die Höhe, auf der anderen hingen sie platt herunter, und das Ganze sah aus wie eine herausgewachsene Dauerwelle, dabei waren meine rotbraunen Locken echt, wenn auch leicht fettig. Auch das Gesicht glänzte und war blass, bis auf die rote Nase und die Schatten unter den Augen. Und im Profil hatte ich einen beachtlichen Stehbauch. Grauenvoll!

Entschlossen riss ich mir die Klamotten vom Leib und stieg unter die Dusche. Nach einer Haarwäsche und einer ordentlichen Portion Duschöl fühlte ich mich besser, ich schrubbte mir noch gründlich die Zähne und schlüpfte in einen knappen Sportdress. So sah ich doch schon fast wieder menschlich aus!

Im Wohnzimmer suchte ich zwischen meinen CDs herum, bis ich meine Sportsammlung gefunden hatte – zu Stücken wie It´s Raining Men, Bye bye bye, Don´t Stop Moving, Move Your Body und so weiter konnte man so intensiv tanzen, dass man sich nachher so richtig zufrieden fühlte. Nach einer Dreiviertelstunde hielt ich schweißgebadet inne und rang nach Atem. Sehr gut, ich konnte förmlich spüren, wie das Fett, dass ich mir vorhin so gierig einverleibt hatte, sich wieder verflüchtigte. Und meine Aggressionen gegen Paul schwanden auch dahin!

Ich stoppte die CD, zog die Vorhänge auf, registrierte das Licht gegenüber, drückte wieder auf Start und legte von neuem los. Hoffentlich guckte er auch, mein schweißnasses Decolleté über dem knappen Top war kein allzu hässlicher Anblick, und mein hübscher runder Hintern in den knallblauen Leggings war auch sehenswert. Ich tanzte und turnte, bis ich wirklich nicht mehr konnte, und versuchte, nur ganz unauffällig zum Fenster zu schauen. Guckte er? Schwer festzustellen!

Als ich nach einer erneuten Dusche schließlich im Bett lag, kehrte mein Frust aber wieder zurück, ohne dass ich herausfinden konnte, was mir nun eigentlich genau nicht passte. Wollte ich Paul zurückhaben? Bäh, nein! Wollte ich einen anderen? Hm... Wollte ich Sex? Richtig guten Sex? Vielleicht, ja, aber ein bisschen echte Romantik wäre mir lieber... Wirklich? Das überlege ich mir morgen, beschloss ich und angelte nach dem nächsten historischen Kitschroman. Hm, das klang gut – arme Waise und arroganter Marquis, dessen Herz voller Kälte war. Kann die bezaubernde Isabelle ihn aus seiner Erstarrung lösen und ihn die Liebe wieder lehren? Gierig schlug ich den Prolog auf und las, bis ich darüber einschlief. Leider gelang es mir nicht, von dem arroganten, aber wunderschönen Marquis zu träumen – offenbar wusste auch mein Unterbewusstsein, dass solche Männer nur zwischen Buchdeckeln zu Hause waren. Irgendetwas Angenehmes hatte ich aber geträumt, nur konnte ich mich nicht mehr entsinnen, was es war.

Vielleicht war der Konsum dieser Schinken viel befriedigender als ein Mann aus Fleisch und Blut, der Sportschau guckte, in puncto Finanzen alles besser wissen wollte, schon die Namen für unsere Kinder ausgesucht hatte (Helmut, Peter und Ingrid – nicht ganz mein Geschmack) und nachts phantasielos und viel zu schnell fertig war? So konnte man doch wenigstens träumen und sich ansonsten der Arbeit widmen!

Und wenn ich erst einmal den Job in der Pressestelle hatte, war ich auch abgesichert – mit den Tippereien konnte ich mir dann noch ein Taschengeld dazuverdienen und mein Depot gelegentlich aufstocken. Und Paul konnte meinetwegen zum Teufel gehen... Genau, das war´s! Paul sollte Heide heiraten und mich in Frieden lassen. So ganz befriedigend war dieser Plan noch nicht, aber die weitere Feinarbeit verschob ich auf unbestimmte Zeit und schaltete meinen Computer ein.

Der Roman wurde immer beängstigender. Die Freundin hatte nun voller Entsetzen die Flucht ergriffen, worauf der Held sich ein Haus auf dem Land kaufte, schön einsam gelegen (wovon eigentlich?) und bei einem seiner Besuche in der Stadt eine Frau entführte. Das nächste Kapitel beschrieb ausführlich, wie er sie zur Sklavin erziehen wollte, mit mäßigem Erfolg. Ganz klar wurde freilich nicht, ob es ihn irritierte, dass die Dame – eine ätherische Blondine – so unwillig war, oder ob ihn gerade der Widerstand reizte. Fesseln, Wachs, Peitschen und sonstiger Kram aus dem Sexshop spielten eine große Rolle, und es wurde viel gestöhnt und geschrien. Nur noch zwei Kapitel! Wie wollte er den wackligen Spannungsbogen bis dahin wieder abrunden? Als er einen Freund einlud, um zuzugucken, wie der sich der ätherischen Blondine bediente, brach ich die Arbeit für heute ab – das reichte ja nun wirklich! Bei dem schönen Wetter könnte ich schwimmen gehen...

Ich wühlte mich durch meine Schubladen, bis ich den königsblauen Badeanzug gefunden hatte, packte ein Handtuch und den Roman von dem arroganten, aber insgeheim liebesbedürftigen Marquis ein und trabte über die Straße ins Helenenbad. Gut gefüllt, dafür, dass es erst seit diesem Wochenende wieder geöffnet hatte!

Unter der großen Trauerweide war leider schon alles belegt, dort trieb sich eine größere Clique herum, Leute etwa meines Alters, zum Teil mit Babys. Ich kannte keinen, hatte auf Kindergeschrei auch keine rechte Lust und verzog mich an die Hecke hinter dem Becken, wo man seine Ruhe hatte und auch bei Bedarf wenigstens Halbschatten fand. Immerhin war meine Pralinenwampe nicht mehr so beängstigend groß wie gestern, das Tanzen hatte offenbar etwas genutzt. Ich streckte mich aus und döste, später schwamm ich energisch durch das große Becken, briet dann ein bisschen in der Sonne, las die zu Herzen gehende Geschichte fasziniert zu Ende, döste wieder ein bisschen und stellte mir einen Mann wie den Marquis vor. Statt der hautengen Pantalons der Mode von 1816 natürlich genauso enge, wohl gefüllte Jeans... Die kurzen, schwarzen Locken konnten so bleiben... statt des Phaetons einen Audi TT oder einen netten Jaguar... Auf die Jagd musste er meinetwegen auch nicht gehen, lieber tanzen – oder Ski fahren... Gegen den immensen Reichtum war weiter nichts einzuwenden... Gemütlich... warm und wohlig....

Ich wachte wieder auf, als die Sonne schon ziemlich tief stand und ich im Schatten schon beinahe fröstelte. Schnell streifte ich Jeans und TShirt über und verließ das Bad wieder; im San Carlo nahm ich mir eine Tüte Eis mit und gönnte mir einen ausführlichen Schaufensterbummel. Jetzt musste ich ja nicht mehr für die Ausbildung der drei fiktiven Kinder sparen – wenn ich gut verdiente, konnte ich mir auch etwas gönnen!

Und ich wusste auch, was ich mir morgen gönnen wollte – eine neue Haarfarbe, am besten diesen Rouge-noir-Ton. Müsste mir doch stehen, überlegte ich vor einem spiegelblanken Schaufenster. Und die Haare ein bisschen kürzer!

Und da, im Jeansland gab es richtig gute T-Shirts – ein tolles Rosa! Weiße Jeans dazu? Oder war ich dafür zu dick? Blödsinn! Ich merkte sie mir für demnächst vor, mit dem erfreuten Gedanken an Pauls ärgerliches Gesicht, wenn er mich beim Einkaufen sehen könnte. Er hätte sicher gefunden, dass ein gut waschbarer Putzkittel und ein Flanellnachthemd für mich völlig ausreichten. Na gut, noch etwas weiße Baumwollwäsche und ein zweiter Kittel, zum Wechseln. Nicht mit mir, Paul!

Am Montag tippte ich rasch die letzten beiden Kapitel – die ätherische Blondine verschwand erbost, als sie dem guten Freund angeboten wurde, und der Held fand schließlich eine Seelenfreundin, die der Unterwerfung mehr abgewinnen konnte. Abblende, happy end. Sollte ich den Autor darauf hinweisen, dass das unlogisch war? Der Held hatte doch zuerst gar keinen Geschmack an freiwilliger Unterwerfung gefunden? Ach, was ging es mich an! Ich druckte den Rest aus, legte zwei CDs an, schrieb die Rechnung abzüglich Vorauszahlung und packte alles in eine meiner Mappen. Der Kurier brachte mir mehrere Kleinaufträge von Stammkunden und nahm den Roman gleich mit. Sehr gut, dann musste ich mir das Grinsen auch nicht verkneifen! Die Kleinaufträge waren alle furchtbar dringend, also arbeitete ich zügig weiter und verschob die Haarfärbeaktion auf Dienstag... Nachmittags wurde alles wieder abgeholt und der Kurier brachte das neueste Elaborat von Professor Gieffenbach. Er verfocht die These, dass die Italienpolitik der Sachsenkaiser völlig verfehlt war (wie ich mittlerweile wusste, war diese Debatte seit etwa 1875 überholt) und fand im Jahrbuch der Otto-Gesellschaft immer noch einen Platz für seine giftigen Aufsätze, in denen er längst verstorbene Kollegen mit Spott und Hohn übergoss und zu mehr wissenschaftlicher Sorgfalt aufforderte. Zu seinem Leidwesen verlangte das Jahrbuch, so hirnrissig es inhaltlich sein mochte, die Beiträge auf CD, und Gieffenbach, ein Gelehrter der alten Schule, schrieb noch mit der Hand, den spinnwebfeinen Zügen zufolge noch mit einem richtigen Federhalter.

Ich überschlug den Umfang: fünfunddreißig Seiten, mit Fußnoten – vielen, vielen Fußnoten. Getippt etwa sechzehn Seiten – naja, ein fünfunddreißig Euro. Ich ging sofort an die Arbeit und war bei Sonnenuntergang damit fertig. Damit musste ich insgesamt etwa dreihundert Euro verdient haben – für einen Tag wirklich nicht übel, allerdings hatte noch keiner wirklich bezahlt. Ich aß schnell eine Kleinigkeit – Pralinés konnte ich sobald nicht mehr sehen – warf mich in ein sexy Sportoutfit und begann wieder zu meiner CD zu tanzen. Schade, dass ich schlecht gucken konnte, ob er guckte! Obwohl – warum eigentlich nicht? Ich schlich mittendrin in die dunkle Küche und linste vorsichtig. Mit schien so, als sähe ich seine Silhouette am Fenster, aber das konnte ich mir auch einbilden, also tanzte ich munter weiter. Vielleicht kam ich so wenigstens zu einer noch knackigeren Figur! Und einen Ausgleich für das viele Sitzen brauchte ich schließlich auch...

Erst am Mittwoch kam ich nachmittags dazu, mir die Haare zu färben. Auf das Schneiden verzichtete ich, mir gefiel die Länge. Und in Rouge noir sahen sie noch besser aus,

frecher und auffälliger.

Ich musste sofort am Abend Anna treffen, um ihr meinen neuen Look vorzuführen. Sie war gerne bereit, mit mir ins Florian zu gehen, klang am Telefon aber verdächtig gedämpft. Gab es bei ihr doch Ärger im Paradies?

Ich brezelte mich sorgfältig auf, drückte dem Kurier, der heute reichlich spät kam, einen Stapel Mappen in die Hand und kontrollierte mein Konto – sehr gut, ein Drittel der offenen Rechnungen war mittlerweile bezahlt. Pünktlicher zahlte ich selbst meine Rechnungen ja auch nicht! Wirklich, ich kam sehr gut alleine zurecht, ich brauchte wirklich keinen Beschützer wie Paul, der dann nur alles besser wusste!

Im Florian saß Anna in der hintersten Ecke. Als ich ihr gegenüber auf die Bank rutschte, wusste ich gleich, warum sie sich hier versteckte – alles kalte Wasser und alles Make-up hatte gegen ihre dick verheulten Augen nichts ausrichten können. „Mensch, Anna, was ist denn passiert? Du siehst total fertig aus!“

Sie schluchzte auf. „Gerd ist verheiratet, das Schwein!“

Hm. Was sollte man dazu sagen?

„Hat er dir das gebeichtet oder bist du ihm auf die Schliche gekommen?“

„Teils, teils“, murrte sie. „Erst hatte ich schon einen Verdacht, er konnte am Wochenende immer nicht. Dann hab ich ihn mal verfolgt, bis in ein gepflegtes Eigenheim in Moosfeld, mit Roller und Kinderfahrrad im Garten. Das sagt ja wohl alles!“ Ein erneuter Schluchzer.

„Ich weiß nicht“, gab ich zu bedenken, „dort könnte er doch auch Freunde oder Verwandte besucht haben?“

„Hab ich mir auch überlegt. Ich bin ja nicht blöd, Xenia! Aber erstens stand an der Tür sein Name, zweitens stand im Telefonbuch unter dieser Adresse Gerd und Annika Bergmann – ich hätte mich schon wundern sollen, als er nur eine Handynummer hatte – und drittens habe ich ihn gefragt, da hat er es auch zugegeben.“

„So eine Ratte!“

„Und diese doofen Sprüche! Mit seiner Frau ist er nur noch wegen der Kinder zusammen, sie versteht ihn nicht “

„Das hat er wirklich gebracht? Das hat im alten Athen schon nicht mehr gezogen!“

„Hat er. Unverdrossen!“

„Unglaublich! Hat er wirklich geglaubt, damit kommt er durch?“

„Offensichtlich. Er hat die Arme ausgebreitet und geflötet! Ach Anna, das hat doch mit uns nichts zu tun. So toll wie mit dir war es mit Annika nie, da läuft doch seit Jahren nichts mehr.“

„Das heißt im Klartext wahrscheinlich, dass die gute Annika bald ein neues Kind kriegt. So ist es in einschlägigen Romanen jedenfalls immer. Was ärgert dich mehr, dass du auf den Kerl hereingefallen bist oder dass du ihn jetzt zum Teufel jagen musst?“

„Beides. Aber ich bin eher sauer auf den Lügenhals. Hält der mich für bescheuert?“

„Was hast du zu ihm gesagt?“

„Dass ich das alles schon tausendmal gelesen und gehört habe und er sich seine Sprüche in den Hintern schieben soll. Dann hab ich ihm noch eine geknallt, so dass man hoffentlich noch ein paar Tage meine fünf Finger in seinem Gesicht sieht. Ob Annika ihn fragt? Oder ob sie Kummer gewöhnt ist?“

„Zu gönnen wär´s ihm, wenn seine Frau ihm die Hölle heiß macht. Wollen wir ihm etwas antun?“

„Zum Beispiel?“

Ich zuckte die Achseln. „Weiß ich auch nicht. Ihm etwas abonnieren, Zucker in den Tank, irgendwas Peinliches für den Arbeitsplatz – was macht er eigentlich beruflich?“

„Irgendwas mit Computern, genau weiß ich das auch nicht. Was soll in der Branche schon peinlich sein?“

„Stimmt. Aber eine kleine Rache muss schon sein, finde ich.“

Anna nickte trübsinnig, dann hob sie den Kopf. „Hat sich Paul wieder gemeldet?“

„Natürlich nicht. Sogar wenn er nicht sauer wäre, würde ich erwarten, dass er am Freitag exakt um 19.30 kommentarlos vor der Tür steht und ein gut bürgerliches Essen wünscht. Unter der Woche habe ich seit einem Jahr nichts mehr von ihm gehört, da muss er sich ja für seinen Job fitschlafen und Linoleum verlegen. Ich bin am Freitagabend nicht da. Wollen wir da ins Kino gehen und nachher ein bisschen um die Häuser ziehen? Vielleicht finden wir was Besseres für dich?“

„Für dich nicht?“

„Nö, ich hab im Moment keine Lust auf Männer.“ Warum erzählte ich ihr eigentlich nichts über das Appetithäppchen von gegenüber? Aus einem mir selbst unerfindlichen Grund wollte ich das ganz für mich alleine behalten, vorläufig wenigstens. Ob es daran lag, dass die Spannerrolle mich nicht gerade in einem tollen Licht erschienen ließ? Aber vor Anna musste ich mich doch nicht genieren, früher hatten wir uns gegenseitig nach zuviel Wein den Kopf gehalten und noch früher verglichen, bei wem der Busen schneller wuchs. Und dunkel erinnerte ich mich auch an diese peinliche Nacht im ersten Semester, als wir uns beide in den gleichen Typen verguckt hatten und der, von so viel Aufmerksamkeit geschmeichelt, uns einen flotten Dreier antrug... Nicht noch mal! Wenn Paul davon wüsste... Ich musste kichern. Anna bemerkte es in ihrem Kummer gar nicht, glücklicherweise, denn die Erinnerung an einen Mann mit zwei Frauen war in ihrer momentanen Verfassung nicht ganz das Richtige.

„Was soll ich denn jetzt machen?“, fragte sie mich trübsinnig.

„Ich finde, du solltest ihm was antun. Bis Freitag ist uns sicher etwas eingefallen, irgendetwas richtig Gemeines. Und diese Annika sollte wissen, was für eine Pfeife sie sich da eingefangen hat. Vielleicht schicken wir ihr Reizwäsche, die sie angeblich in irgendeinem Hotel vergessen hat, an einem Abend, an dem er nicht zu Hause war? Weißt du da noch einen Termin?“

Anna belebte sich wieder etwas. „Scharfe Idee. Fies, aber das hat er verdient. Wenigstens muss er dann ordentlich schwitzen, bis er ihren Verdacht wieder zerstreut hat.“

„Ist er dafür überhaupt gewitzt genug?“

„Eher nicht. Ich bin ihm ja auch ziemlich leicht auf die Schliche gekommen. Vielleicht haben die beiden auch eine gemeinsame Emailadresse.... Er hat mir die Adresse irgendwann mal verraten, nicht exakt, aber er sagte mir, dass er seinen Vor und Nachnamen verwenden konnte, oft ist so was ja schon belegt, und den Provider dazu. Ein paar Versuche, und wir können schmachtende Liebesbriefe schicken, natürlich unter einem anderen Namen.“

„Und nicht von zu Hause aus!“, ergänzte ich streng.

„Logisch. Wozu gibt´s das Web-Café in der Carolinenstraße?“

Als wir uns trennten, war Anna schon fast wieder gut gelaunt und fest entschlossen, es Gerd für seine Lügen ordentlich heimzuzahlen. Schade, dass ich mich an Paul nicht rächen konnte, aber er konnte ja eigentlich nichts dafür, dass er so ein spießiger Idiot war und mein Interesse an einer Bindung, die nur sicher und sonst gar nichts war, mittlerweile erloschen war. Ihm musste ich vorläufig nur aus dem Weg gehen, am besten sollte ich ihn wirklich Heide andrehen, aber ich wusste noch nicht, wie ich mit ihr an Paul vorbei Kontakt aufnehmen sollte.

Am Donnerstag liefen unter anderem zwei richtig lohnende Aufträge ein, eine Dissertation mit rund 600 Seiten und Fußnotenzuschlag, und tausend Serienbriefe für eine Versicherung. Das ging besonders schnell, weil man nur die mitgelieferten Adressen einkopieren, alles ausdrucken und eintüten musste, so dass der Korb mit den Briefen schon am späten Nachmittag für den Kurier bereit stand. Also konnte ich mich am Abend schon der Dissertation widmen, aber natürlich behielt ich auch das Fenster gegenüber im Auge und trieb hingebungsvoll Gymnastik, als ich einigermaßen sicher sein konnte, dass er zusah. Leider konnte ich währenddessen nicht selbst schauen, ob er wieder so verlockend halbnackt herumlief oder gar mit seiner Freundin herummachte.

Als ich am Freitagnachmittag allen Kleinkram dem Kurier übergeben hatte und mit der Dissertation weit genug gekommen war, beschloss ich, den Frust, der sich wegen Paul und seiner Bohnermaschine schon wieder in mir ansammelte, im Fitnessstudio abzureagieren, schlüpfte in Leggings und ein enges Top und fuhr in den Keller, wo ich mich fast eine Stunde an verschiedenen Maschinen abarbeitete und mir, wenn es zu anstrengend wurde, vorstellte, ich hätte Pauls Hals zwischen meinen Fingern – oder den dieses verlogenen Gerd. Das gab mir dann sofort wieder neue Kräfte. Schließlich verließ ich das letzte Gerät und trocknete mich seufzend flüchtig ab, als neben mir eine Stimme „Hallo“ sagte. Ich drehte mich um. „Hallo. Kennen wir uns?“

„Ich weiß nicht. Kann es sein, dass wir in gegenüberliegenden Wohnungen wohnen?“

Großer Gott, der Knabe mit dem hübschen Hintern! Ich versteckte mich sofort hinter meinem schweißnassen Handtuch, damit er nicht so deutlich sehen konnte, wie ich feuerrot anlief. Jedenfalls wurde mir plötzlich viel heißer, als dass man es nur auf die Anstrengung hätte schieben können.

„Ich weiß es auch nicht. Wie ist denn Ihre Apartmentnummer? Ich wohne in Ost 208. Wenn wir gegenüber wohnen, müssten Sie West 208 haben.“

„Genau. Ich glaube, Sie machen abends ab und zu Gymnastik, ich habe Sie schon mal gesehen. Ach, warum siezen wir uns eigentlich? Ich heiße Magnus, Magnus Kasparek.“

„Xenia Röhr. Wohnst du schon lange hier?“ Gegen das Duzen hatte ich nichts, vor allem, weil Paul es unmöglich gefunden hätte. „Nein, erst seit wenigen Wochen. Und du?“

„Seit drei Jahren. Kein schlechtes Haus, nicht? Hier gibt´s alles, was man so braucht.“

„Stimmt. Und die Wohnungen sind gut geschnitten. Du hast mich wirklich noch nie gesehen?“

Ich griff wieder nach meinem Handtuch. „Nicht, dass ich wüsste. Wo denn?“

„Einfach bei einem Blick aus dem Fenster oder von Balkon zu Balkon?“

Ich schüttelte langsam den Kopf und hoffte, dass mein Bedauern einigermaßen echt wirkte. Hübsch war er wirklich, leicht gebräunt, naturgemäß völlig verschwitzt, breitschultrig – irgendwie männlich, obwohl er sicher kaum älter war als ich. „Trinken wir was an der Bar? Einen gesunden Saft natürlich“, schlug er vor.

Ich sah auf die Uhr. „Eine halbe Stunde habe ich noch Zeit, dann muss ich mich für eine Verabredung fertig machen.“

„Besser als nichts, komm!“

Warum schließlich nicht? Er machte einen ganz netten Eindruck. Etwas Ernsthaftes wollte er sicher nicht von mir, wo er doch die Sonnenbanktussi mit dem Hängebusen hatte. Wir tranken Fruchtcocktail und erzählten uns von unseren jeweiligen Berufen. Magnus studierte noch, er wollte Lehrer für Mathe und Physik werden und stand unmittelbar vor dem Examen. Seine Zulassungsarbeit war leider schon getippt, abgegeben und benotet. Schade, das wäre ein hübscher Auftrag gewesen!

Wir unterhielten uns recht angeregt, bis ich auf die Uhr sah und erschrocken bemerkte, dass ich gerade noch eine Viertelstunde hatte, bis ich gehen musste, um Anna vor dem Retro-Filmpalast zu treffen, wo wir uns Thirteen Days anschauen wollten. Ich zahlte meinen Drink und stürzte nach oben und sofort unter die Dusche. Hinterher sprang ich nackt durch die Wohnung, um das richtige Outfit zu finden, fuhr schnell in die endlich ausgesuchten Klamotten, kämmte und puderte mich flüchtig, warf das Nötigste in eine Tasche und schoss davon. Ob Magnus mich dabei gesehen hatte? Der Gedanke gefiel mir irgendwie – aber wahrscheinlich saß er immer noch an der Bar im Fitnesscenter.

Ziemlich außer Atem kam ich vor dem Filmpalast an. Keine Anna. Ich holte die Tickets ab und wartete bei einer Zigarette vor der Tür, bis sie schließlich um die Ecke getrabt kam. „Du siehst so vergnügt aus“, stellte sie nach dem ersten Blick auf mich fest. „Findest du? Naja, ich hatte auch einen ganz netten Tag. Erzähl ich dir alles später, der Film fängt gleich an, komm schon!“

Wir versorgten uns mit Popcorn und lernten danach auf unterhaltsame Weise alles über die Kubakrise. Hinterher verzogen wir uns ins San Carlo, in eine dunkle Ecke, um uns ungestört unterhalten zu können. Anna zog ein winziges Tütchen aus der Tasche. „Guck mal, für die liebe Annika!“

Ich griff hinein und zog einen ausgesprochen knappen Stringtanga heraus, in ordinärem karminrot mit schwarzen Spitzenapplikationen, die mir einen anerkennenden Pfiff entlockten. „Heißes Teil! Jetzt brauchen wir nur noch ein höfliches Anschreiben. Und das Ding darf nicht so ungetragen aussehen, mach wenigstens das Preisschild ab.“

„Klar, glaubst du, ich bin blöd? Können wir den Brief bei dir schreiben? Du hast den besseren Drucker, wir müssen ja einen Briefkopf basteln.“

„Kein Problem, das machen wir gleich nachher. Vielleicht Romantic-Hotel oder so? Sweetheart Lounge? Sie könnten die Reizwäsche in der Honeymoon Suite vergessen haben...“

„Xenia, deine kriminelle Phantasie ist noch besser als meine, prachtvoll!“

„Aber wenn er rauskriegt, dass dieses Hotel gar nicht existiert?“

„Um so besser. Wenn er seinen Grips mal anstrengt, kann er seiner Annika von mir aus gerne beweisen, dass er die Treue in Person ist! Ich glaube bloß, seine Stärken liegen ganz woanders. Und da ist er wirklich gut“, fügte sie leiser hinzu. Noch leiser: „Aber wirklich nur da.“

„Bist du noch sehr traurig?“, fragte ich mitleidig.

Anna schüttelte energisch den Kopf. „Ach wo. Sauer war ich, weil er mich für so blöde gehalten hat. Er hätte sich ja schon aus Höflichkeit etwas besser tarnen können, nicht? So lange hat das Ganze nicht gedauert, nicht wie bei dir und Paul, ihr wart doch immerhin eineinhalb Jahre zusammen. Für dich muss es doch viel härter sein."

Ich schüttelte ebenfalls den Kopf. „Eigentlich nicht. Schau, nach den ersten, etwas intensiveren Wochen haben wir uns doch immer nur freitags gesehen, Paul ist ja ein Mann von festen Gewohnheiten. Sagen wir, siebzehn Monate lang einen Tag pro Woche, das sind... vierundsiebzig Tage, also elf Wochen in einer normalen Beziehung, wo man sich täglich sieht. Und ich glaube, ich habe ihn nie wirklich geliebt.“

„Tatsächlich? Du hast ihn immer so vehement verteidigt, wenn ich über ihn gewitzelt habe!“

„Das Pfeifen im Dunklen. Ich wollte ihn doch lieben, ich habe seine Zuverlässigkeit geliebt, aber ihn selbst? In den letzten Tagen ist mir erst klar geworden, wie wenig ich über ihn weiß. Ich hab mir ja nicht einmal die Mühe gemacht, ihn richtig kennenzulernen. Ich glaube, ich muss ihn wirklich an Heide abschieben, dort ist er in viel besseren Händen. Wahrscheinlich wird sie sogar seine Bohnermaschine lieben!“

Anna kicherte. „Wie willst du das machen?“

„Ich hab schon eine Idee. Paul ist ein Mann von festen Gewohnheiten.“

„Das hast du schon gesagt. Inwiefern hilft dir das weiter?“

„Nun, der Mann von festen Gewohnheiten geht mittags um Punkt 12.15 zu Tisch, ja? Du verstehst, zu spätes Essen ist der Verdauung nicht förderlich? Du verstehst auch, dass eine so lebenswichtige Abteilung nicht unbewacht bleiben darf? Es könnte jemand diese Chipkarten klauen, mit denen er mich in den letzten Wochen so genervt hat. Also gehe ich davon aus, dass Heide zeitversetzt essen geht.“

„Und dann rufst du dort an?“

„Richtig. Ich möchte mich mal mit ihr treffen. Gut, wenn sie nicht will – aber sie wird wollen, darauf wette ich!“

„Warum sollte sie? Sie könnte doch verheiratet sein oder anderweitig liiert? Was soll sie sich dann mit der Exfreundin vom Chef ins Café setzen?“

„Paul schätzt es nicht, wenn verheiratete Frauen arbeiten. Dann könnte ja die Bohnermaschine Staub ansetzen! Und von schlampigen Verhältnissen hält er noch viel weniger. Das hätte Heide schon hübsch für sich behalten müssen. Nein, ich glaube, entweder ist sie ohnehin in ihn verliebt oder sie bemuttert ihn ein bisschen. Sie wird auf jeden Fall die Gelegenheit nutzen, mich für meine Herzlosigkeit zu tadeln und mir Tipps geben wollen, wie ich ihn zurückbekommen kann. Oder auch nicht, wenn sie kein Vakuum zwischen den Ohren hat, und das glaube ich nicht. Nicht nach den vielen weisen Ratschlägen!“

„Wenn du meinst... Was ist eigentlich heute mit Paul?“

„Vielleicht wartet er vor meiner Tür. Ich weiß es nicht. Aber da hätte er vorher anrufen müssen, ich wollte heute extra nicht da sein. Übrigens, heute im Fitness habe ich einen ganz netten Kerl kennen gelernt.“

„Ach!“ Anna richtete sich auf. „Los, raus mit den Einzelheiten!“

„Da gibt´s nicht viel zu erzählen, wir wohnen uns genau gegenüber und haben einen Fruchtcocktail zusammen getrunken. Er heißt Magnus und will Lehrer werden.“

„O Scheiße, wieder einer, der alles besser weiß! Hattest du das nicht gerade erst?“

„Bis jetzt hat er nicht kluggeschissen. Außerdem will ich doch gar nichts von ihm, er ist einfach ein Nachbar. Komm, wenn du fertig bist, gehen wir zu mir und schreiben einen schönen Hotelbrief!“

„Au ja, Gerd soll nur ordentlich schwitzen!“ Von Paul bis jetzt keine Spur... Während ich den Rechner hochfuhr, holte Anna, die sich bei mir ja gut auskannte, etwas zu trinken und einen Aschenbecher und setzte sich dann dicht neben mich. Gemeinsam scannten wir einen schönen Hotelbriefkopf ein (ich hatte da noch eine Weihnachtskarte von einem Hotel, in dem ich vor vier Jahren einmal ein Wochenende verbracht hatte), modifizierten ihn ein bisschen und verfassten dann einen ungemein schleimigen Brief, in dem wir uns tausendmal dafür entschuldigten, dass wir der „gnädigen Frau“ das vergessene „Kleidungsstück“ nicht früher zugestellt hatten – bei seiner geringen Größe (haha) sei es leider hinter dem Bett übersehen worden... Glücklicherweise konnten wir uns auf ein Datum beziehen, von dem Anna noch ganz sicher wusste, dass es zu einer ihrer heißen Nächte passte. Überschwängliche Grußformeln, die Hoffnung, die „gnädige Frau“ bald wieder als geschätzten Gast begrüßen zu dürfen, einen phantasievollen Namen für den Chef... Der Laserdrucker fertigte ein ungemein echt aussehendes Exemplar an. Ich unterschrieb schwungvoll und völlig unleserlich, dann verpackten wir den Brief und das mittlerweile wenigstens kurz getragene Höschen diskret und gaben uns endlich unserem Lachbedürfnis hin. „Was Annika wohl tun wird?“, prustete Anna.

„Wie wär´s mit einem Nudelholz?“, schlug ich vor.

„Sie könnte ihn zwingen, das corpus delicti aufzuessen“, hielt Anna dagegen und wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht. „So bleibt ihm das Fremdgehen im Hals stecken, meinst du?“

Anna heulte ins Sofakissen, dann richtete sie sich mühsam wieder auf, hochrot und verquollen. „Stell dir das bloß mal bildlich vor, wie er kaut und würgt und schluckt! Göttlich! Ach, Xenia, nur mit dir kann man so was machen!“

Sie schenkte uns Wein nach und zündete sich eine Zigarette an. „Aber der nächste Kerl ist solo, darauf achte ich ganz streng. Wir sollten ein Detektivbüro aufmachen, das solche Kandidaten überprüft. Wäre sicher eine Marktlücke!“

„Au ja, und wir kommen ordentlich rum, wenn wir aushäusigen Kerlen durch die Bars und Discos nachschleichen. Tolle Idee! Und die wirklich hübschen reservieren für uns selbst!“

„Genau.“ Anna stand auf und zog ihr Sweatshirt zurecht, das das Wälzen auf dem Sofa etwas übel genommen hatte. „Apropos hübsch...“ Sie starrte aus dem Fenster. Ich reckte den Kopf. „Ja, das ist dieser Magnus. Vielleicht sollte ich ihm mal vorschlagen, Vorhänge anzubringen.“ Hatte das echt geklungen oder hatte Anna gemerkt, dass ich auch gerne ein bisschen geglotzt hätte? Sie warf mir einen spöttischen Blick zu. „Du guckst natürlich immer taktvoll weg, was?“ Das würdigte ich keiner Antwort.

„Zieh doch mal dein Hemd aus“, feuerte sie Magnus halblaut an und quietschte entzückt auf, als er ihr den Gefallen tat. „Jetzt verstehe ich die Bürschlein, die früher im Damenbad durch die Löcher in der Holzwand gespannt haben. Das macht ja richtig Spaß! Los jetzt, Hosen runter!“

Ich riskierte einen Blick. Nein, das tat Magnus nun doch nicht, wohl auch besser so. Außerdem musste ihm doch klar sein, dass er gut zu sehen war, wenn er mich beim Sport hatte beobachten können? Er lief nur durch seine Wohnung und räumte hier und da ein bisschen auf. Erwartete er seine Freundin oder hatte er es nur gerne ordentlich? Ich trank mein Glas aus und schenkte mir nach. „Anna, du auch noch?“

„Was?“ Sie starrte immer noch gebannt hinüber.

„Ob du noch Wein willst? Jetzt komm da weg, das sieht er doch. Findest du das nicht peinlich? Oder wir machen wenigstens das Licht aus“, schlug ich vor.

„Gut, noch einen Schluck. Dann gehe ich ohnehin heim, ich bin morgen mit Putzen dran“, seufzte sie. Anna wohnte in einer reinen Frauen-WG, in der männliche Gäste zwar gerne willkommen waren (anders hätte sie ihren Männerkonsum auch kaum regeln können), aber ein hoher Grad an weiblicher Intoleranz gegenüber Schmutz und natürlicher Unordnung herrschte. Ich hatte immer den Verdacht, dass mindestens zwei ihrer Mitbewohnerinnen kehrwochengeschädigte Schwäbinnen waren, auch wenn Anna das vehement bestritt.

Jedenfalls musste sie, wie sie mir ausführlich in jammerndem Ton schilderte, morgen das Bad, das Gästeklo, die Küche und den Flur auf Hochglanz polieren und alles feucht aufwischen. Bitter, am Samstagmorgen. Andererseits bewohnte sie in der etwas schäbigen, aber hinreißenden Altbauwohnung ein riesiges sonniges Zimmer für eine lächerliche Miete und kam abgesehen vom Putzplan mit ihren Mitbewohnerinnen hervorragend aus.

Ich brachte sie zur Tür, damit sie sich für ihre Hausfrauenpflichten fitschlafen konnte, und bot ihr noch an, sich an Paul zu wenden, wegen der Bohnermaschine für den Flur. Anna schien zu überlegen, wie sie mir diese Gemeinheit angemessen heimzahlen konnte, dann bückte sie sich elegant, hob etwas vom Abtreter auf und drückte es mir in die Hand. „Wenn man vom Teufel spricht! Und tschüss...“

Sie sprang die Treppen hinunter, während ich verblüfft auf den Umschlag starrte. Paul schrieb Briefe? Das hatte er ja auch noch nie gemacht! Neugierig riss ich den Umschlag auf.

Xenia,

dass du an unserem Freitag einfach nicht zu Hause bist, finde ich schäbig. Ich dachte, in einer Woche hättest du dich wieder beruhigen können. Sicher bist du mittlerweile wieder vernünftig und siehst ein, dass meine Pläne für unsere Zukunft auch für dich das Richtige sind! Bitte bring mir morgen um zehn den Kaufvertrag und die Eigentümerprotokolle vorbei, ich werde sie für den Verkauf brauchen.

Paul

P.S.: Ich habe doch das braune Linoleum ausgelegt, es sieht gemütlicher aus.

Der Schrei, den ich ausstieß, erschreckte den älteren Herrn, der gerade drei Türen weiter seinen Schlüssel aus der Tasche zog. Er zuckte zusammen, sah sich scheu nach mir um, sperrte dann besonders hastig auf und verschwand schleunigst in seinen sicheren vier Wänden, bevor ich noch einen hysterischen Anfall kriegen konnte.

Tatsächlich stand ich kurz davor, mich hinzuwerfen und mit Händen und Füßen auf den Boden zu trommeln. Er wollte sofort meine Wohnung verkaufen? Braunes Linoleum? Ich sollte wieder vernünftig sein? Was hieß denn überhaupt vernünftig? War er jetzt völlig übergeschnappt? Und dieser Tonfall, so herrisch! War er immer schon so gewesen und ich hatte es nur nie gemerkt? Oder hatte die Tatsache, dass ich in einer einzigen Woche mal anständig verdient hatte, seine übelsten Instinkte zutage gefördert? Mit was für einem Spinner war ich da eineinhalb Jahre lang zusammen gewesen? Und wen, um Himmels willen, hätte ich da beinahe geheiratet? Da konnte ich ja noch froh und dankbar sein! Ich verschwand wieder in meiner Wohnung und lauschte befriedigt dem Knall nach, mit dem ich die Tür ins Schloss geschmettert hatte. Pauls Hals hätte dazwischen stecken sollen! Der hatte ja wohl wirklich mehr als einen Schuss, oder, um einen unserer Eltern-Schockier-Sprüche zu reaktivieren, den Arsch meilenweit offen!

Ich hatte schon den Hörer in der Hand, um ihn anzurufen und ihm mal ganz deutlich die Meinung zu sagen, aber an einem Freitagabend um Viertel nach elf? Normalerweise lag er da leise schnarchend neben mir, während ich mich darüber ärgerte, dass er schon wieder zu schnell fertig gewesen war. Was tat er wohl heute? Zu Hause sitzen und schmollen? Ich würde korrekt bleiben und ihn um Punkt zehn morgen früh anrufen, wahrscheinlich, um nach zwei Minuten hysterisch in den Hörer zu schreien. Vielleicht sollte ich mir aufschreiben, was ich sagen wollte, damit er mich nicht so leicht mit seiner väterlichen Art aus dem Konzept brachte? Gute Idee, ich griff sofort nach Papier und Kuli und machte mir Notizen. Auf jeden Fall wurde die Wohnung nicht verkauft, er durfte mir auch keine Vorschriften mehr machen und überhaupt – es war aus.

Aus, Schluss, Basta, hasta la vista, Baby!

Was für ein Idiot! Und das alles nur, weil ich einen Mann gesucht hatte, der mich nicht spontan für irgendeine Schnapsidee sitzen lassen würde? Lieber sitzen gelassen werden! Den wurde ich ja nie wieder los, wenn ich nicht aufpasste... Lieber ein Ende mit Schrecken, gleich morgen Vormittag, als ein Schrecken ohne Ende, wie diese Ehe es zweifellos werden würde. Nicht mit mir! Ich trabte, Selbstgespräche führend, durch die Wohnung, brutalisierte die Sofakissen und trat gegen die Tischbeine, um meine Aggressionen abzureagieren. Von Angesicht zu Angesicht durfte ich Paul morgen nicht gegenübertreten, dann würde ich mich wahrscheinlich vergessen und gewalttätig werden. Dieses Hemd machte ich doch mit einer Hand fertig, schließlich war ich gut trainiert!

Bei meinen Wanderungen war ich wieder zum Fenster gelangt. Drüben war ja immer noch Licht? War seine Freundin nicht gekommen? Trieben sie´s im Schlafzimmer und hatten vergessen, das Licht auszumachen? Nein, da kam er gerade wieder ins Bild, immer noch in schwarzen Jeans und mit nacktem Oberkörper.

Wahrscheinlich lag seine Tussi irgendwo außer Sichtweite auf einem Sofa herum und räkelte sich verführerisch. Jetzt ging er zur Tür. Kam sie vielleicht jetzt erst? Das konnte mir ja nun wirklich gleichgültig sein! Ich wollte mich schon, ärgerlich über meine Neugierde, abwenden, als er die Tür öffnete und zurückprallte.

Hoppla, was war denn da los? Zwei Männer betraten die Wohnung und drängten Magnus ins Wohnzimmer zurück. Die beiden gefielen mir nicht besonders. Sogar auf die große Entfernung konnte man die Brillantine im Haar sehen, den bulligen Körperbau, die groben Gesichter, die beeindruckenden Hände Marke Familienpizza. Was kannte er denn für Leute? Kannte er die beiden überhaupt? Sein Hinterkopf – mehr sah ich jetzt nicht mehr – strahlte irgendwie Ratlosigkeit aus. Dann nahm ich halb eine hastige Handbewegung wahr und Magnus´ Kopf verschwand. He – die hatten ihn in den Bauch geschlagen! Das ging zu weit!

Ich schnappte mir meinen Schlüssel und rannte hinüber. West 208, das war ja wohl nicht schwer zu finden.

Der Mord von gegenüber

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