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Vorhang auf.

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„Er fühlte, daß ihm alles, was er tat, nur ein Spiel war. Nur etwas, das ihm half, über die Zeit dieser Larvenexistenz im Institute hinwegzukommen. Ohne Bezug auf sein eigentliches Wesen, das erst dahinter, in noch unbestimmter zeitlicher Entfernung kommen werde.“

Zitat aus: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß von Robert Musil
















#spiegelblick

waschbärgesicht

manderinengesicht

verfaulte mandarine anstatt ‘nem gesicht

ich schmolle sinnlich mit entenmaul

ohne arsch gibt’s keinen belfie

à la kim kardashian

ohne freund kein relfie

und auch kein after-sex-selfie

ohne topfigur gibt’s

kein bilfie

kein shower-selfie

kein bedstagram

denn ich heiß blöderweise nicht lena dunham

das ich verpixelt

das ich versprengt

gemeinsam einsam

komm wir machen ein ussi

das mädchen im spiegel

eine freundin

eine fremde

M.S.

Sie schaute in ihre blassblauen Augen. Umrandet von ihren hellen, fast unsichtbaren Wimpern. Das war der große Nachteil daran, blond zu sein. Mia hasste es, blond zu sein. Seit Kurzem färbte sie sich ihre Augenbrauen eine Nuance dunkler. Sie hatte das Gefühl, dass dieser Akzent ihr Gesicht lebendiger machte. Ihrer Mutter gefiel das überhaupt nicht. Sie sehe aus, als habe sie mit einem Edding in ihrem Gesicht herumgekritzelt. Ihrem Vater war die bahnbrechende Veränderung gar nicht erst aufgefallen. Aber Haare färben, also auf dem Kopf, das hatte sich Mia noch nicht getraut.

Mias Blick fiel auf ihre Brüste. Sie waren nicht besonders groß, aber auch nicht ungewöhnlich klein. Meistens trug sie B. Trotzdem war Mia nicht zufrieden. Ihre Brustwarzen waren viel zu hell. Außerdem waren ihre Titten im nicht-erigierten Zustand so schlaff und unförmig. Faule Plattpfirsiche. Sie hatte schon überlegt, ob sie sich die Pille holen sollte. Nur damit ihre Titten größer würden. Sex hatte sie ja noch keinen. Aus ihrer Stufe nahmen viele Mädchen schon die Pille. Angeblich wegen ihrer Pickel. Mia bezweifelte das stark, denn so viele Pickel hatten die meisten nun auch wieder nicht.

An Mias Bauchausformung konnte man erkennen, dass sie mehr Sportmuffel als -junkie war. Ihr Oberkörper war alles andere als straff. Sie setzte sich auf ihren nackten, mondförmigen Hintern, rutschte näher an den Spiegel heran und zählte ihre Speckrollen. Drei Stück. Wenn man ein Auge zudrückte: Zweieinhalb. Die Obere war ein bisschen kleiner als die anderen. Vielleicht bekam sie die Kleinste in diesem Frühling noch weg. Ihr wurde jetzt schon schwindelig, wenn sie an die bevorstehende Bikinizeit dachte. Und an ihre Victoria‘s-Secret-Model-Freundinnen, mit denen sie dann ins Freibad gehen durfte. Naja, zumindest fast Victoria’s Secret. Ganz so streichholzförmig nun doch wieder nicht. Vielleicht eher Hunkemöller.

Mia öffnete ihre Beine, wobei sie sich mit ihren Handinnenflächen über beide Oberschenkel strich. Sie war nicht rasiert. Aber es war ja Winter gewesen. Und ihre Beinbehaarung war ja ebenso blond wie ihre Wimpern. Dünne, kurze und – von einer gewissen Entfernung aus – unsichtbare Haare. Das war der Vorteil daran, blond zu sein. Sollte sie noch einmal unter die Dusche springen? Wenn sie sich beeilte, würde sie es vielleicht schaffen. Andererseits. Sie machte sich wahrscheinlich eh zu viele Hoffnungen. Heute würde Vanja ihre nackten Beine eh nicht sehen. (Nicht sehen wollen.) Sie hatten sich ja noch nicht mal geküsst. Wieso stellte sie sich jetzt schon vor, wie er ihre nackten, beharrten Beine betastete? Er würde sich bestimmt erschrecken, denn er erwartete ganz sicher glattrasierte, weiche Oberschenkel wie aus der Gillette-Werbung. Und keine Schimpansen-Beine. Erwecke die Königin in dir. Aber wollte sie überhaupt schon so weit gehen? Oder gefiel ihr in Wirklichkeit nur die Vorstellung, so weit zu gehen? Sie hatte das Gefühl, dass es ihr nicht erlaubt war, zu wollen, wenn Vanja nicht wollte.

Mia schaute auf ihre Schamlippen. Bei taff hatte sie erst vor ein paar Tagen gesehen, dass die meisten Schönheitsoperationen bei Frauen an den Schamlippen vorgenommen wurden. Diese Erkenntnis hatte sie den ganzen Tag nicht mehr losgelassen. Zuvor hatte sie noch nie über ihre Schamlippen nachgedacht. Ob sie schön oder hässlich waren. Ästhetisch ansprechend. Sie hatte, ehrlich gesagt, gar keine Ahnung gehabt, dass Schamlippen… Ja, dass Schamlippen so wichtig waren. Aber vielleicht lag das auch daran, dass bisher keiner außer ihr selbst sie gesehen hatte. Bis zum heutigen Tag hatte sie sich keine Gedanken machen müssen. Und jetzt. Waren sie zu groß, zu klein, hatten sie die richtige Farbnuance, zu rosig, zu hell, zu dunkel, hatten sie die richtige Konsistenz, zu hart vielleicht, oder zu weich? Die bei taff hätten auch ruhig mal verraten können, wie es denn nun sein sollte. Das Schamlippen-Schönheitsideal. Wie einen Ikea-Klappstuhl klappte Mia die Beine wieder zu. Heute musste sie sich damit eh noch nicht auseinandersetzen. Heute waren ja noch nicht einmal ihre behaarten Beine auf der Speisekarte. Mia musste glucksen. Manchmal widerte sie sich selbst an.

Sie sprang auf, hüpfte zum Kleiderschrank und drehte auf dem Weg dahin die Musik noch einen Tacken lauter. Ariana Grande. Problem. Wie schön, dass ausnahmsweise niemand die Treppe herunterbrüllte, sie solle die Musik gefälligst wieder leiser drehen. Sie werde sonst ganz sicher taub werden. Allerdings musste Mia sich eingestehen: So weit hergeholt war diese Behauptung eigentlich gar nicht. Aber ihr war das egal. Musik musste gespürt, gefühlt, gelebt werden. Durch die Haut gehen wie eine Nadel beim Impfen.

Langsam wurde sie nervös. Nur noch eine halbe Stunde bis die ersten Gäste auftauchen würden. Sie blickte in den leeren (vollen) Kleiderschrank. Zwei Cardigangs, fünf Hoodies, hundert hässliche T-Shirts, aber nur ein spießiger Rock und zwei Kleider, von denen eins noch von ihrer Konfirmation war. Sie war ja auch noch nicht oft (nie) auf einer richtigen Party gewesen. Aber das mit den Partys. Das ging jetzt richtig los. Sie musste dringend shoppen gehen. Wenn sie heute Abend gut aussähe, würde viel passieren. Heute war die Nacht der Entscheidungen. Was überzeugte Jungs wohl mehr? A) Ein figurbetontes Kleid kombiniert mit einem perfekten Lidstrich oder B) der Selbstbewusstseins-Booster, den man bekam, wenn man mit einem figurbetonten Kleid und einem perfekten Lidstrich rumrannte? Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem. Vanja würde sie bestimmt auch ungeschminkt, mit Dutt und im Snoopy-Pyjama mögen. Auf die Probe stellen wollte sie ihn trotzdem nicht. Sie griff nach dem sexiesten Kleid, das ihr Schrank zu bieten hatte. Zum einen war es klassisch: schwarz. Zum anderen ein Blickfang: mit Pailletten besetzt. Und es ging nur bis kurz über den Po. Sie griff nach einem schwarzen BH – ihrem einzigen Exemplar mit Push-Up – und einem knallpinken Slip. Kein String. Valeska hatte behauptet, dass sie immer String trage. Auch beim Schlafen. Aber die hatte ja auch schon einen Freund. War ja bei ihr egal, was sie untenrum trug. Nachdem sie in das schwarze Pailletten-Kleidchen geschlüpft war, stellte sie sich wieder vor den großen Wandspiegel. Das Kleid lag viel zu sehr an – es betonte ihre Kakerlaken-Figur: Einerseits zeichneten sich ihre Speckröllchen und ihre runden Hüften deutlich ab, andererseits wurden, dank der Kürze des Kleides, ihre schlanken Beine hervorgehoben. Was blieb ihr anderes übrig? Eine wirkliche Alternative gab ihr Schrank nicht her. Musste sie halt den ganzen Abend (noch mehr) den Bauch einziehen. Dabei hatte sie sich schon so auf die Triple-Chocolate-Cupcakes gefreut, die Julie versprochen hatte, mitzubringen. Julies Triple-Chocolate-Cupcakes waren der Hammer.

Resigniert stolperte Mia ins Badezimmer. Nur noch fünfundzwanzig Minuten. Erst kämmte sie sich die Haare. Dann ein wenig Make-Up. Leichtes Puder, dunkelbraunen Lidschatten in die Lidfalte, hellbraunen auf das Oberlid, verblenden. Ein dünner, tiefschwarzer Lidstrich, kein Kajal. Sie hatte keine Kulleraugen à la Zooey Deschanel – Kajal ließ ihre Augen so weit schrumpfen, dass sie aussahen wie die Knopfaugen eines Teddybärs. Dezentes Rouge. Viel Wimperntusche. Kein Lippenstift. Valeska hatte gemeint, dass Jungs lieber ungeschminkte Lippen küssten. Zweite Runde Bürsten, denn wenige Minuten nach dem ersten Kämmen verknoteten sich ihre Haare bereits wieder.

Noch fünfzehn Minuten. Eigentlich war sie jetzt fertig. Für ihr Spiegelbild setzte sie ein Lächeln auf, das bezaubern sollte. Sie fühlte sich maskiert und wohl in dieser zweiten Haut. Mia wünschte, sie würde sich auch wohl in ihrer ersten, in ihrer eigenen, Haut fühlen. Eines Tages würde sie Vanja gegenübertreten, entpuppt – nackt und ungeschminkt – und er würde ihr sagen, wie schön sie sei. Und dass er unbedingt mit ihr schlafen wolle. Nur mit ihr. So stellte Mia sich das vor. So stellte sie sich eine perfekte Beziehung vor. „Head in the clouds. Got no weight on my shoulders”, summte sie gut gelaunt. So richtig verliebt. Das wäre Mia gerne. Das war ihr großes Ziel.

In den letzten zehn Minuten pickte Mia die ganzen Klamotten, die sie auf den Boden geschmissen hatte, wieder auf und schmiss sie zerknüllt in den Schrank, versteckte ihren Snoopy-Pyjama unter ihrer Bettdecke, betätigte zur Vorsicht nochmal die Klospülung, holte die Mischbierflaschen aus dem Gefrierschrank, welche sie zuvor kalt gestellt hatte, und platzierte sie in einer Reihe auf dem Küchentisch, rückte die Kissen auf der Couch im Wohnzimmer zurecht, startete die Mia’s-16.-Liste auf Spotify, die sie vor ihrer Maskenbildnerei stundenlang zusammengestellt hatte, überprüfte zwischendurch noch ein paar Mal ihren Look im Badezimmer-, Wohnzimmer- und Flurspiegel und kämmte sich zu guter Letzt noch ein drittes Mal die Haare. Dann schmiss sie sich auf die Wohnzimmer-Couch. Atmete tief ein. Noch eine Minute. Es würde wahrscheinlich eh keiner pünktlich kommen. Sie war noch aufgeregter als sie es erwartet hatte. Was Vanja ihr wohl schenken würde? Sie hatte die ganze Zeit versucht, nicht darüber nachzudenken. Sich nichts auszumalen. Sie wollte keine zu hohen Erwartungen haben. Aber jetzt, während der Ruhe vor dem Sturm… Wie er sich heute wohl verhalten und was er sagen und ob er sie um zwölf küssen würde. Sie konnte an nichts anderes mehr denken. In ihrem Kopf liefen zig unterschiedliche Versionen des Abends ab. Trailer mit verschiedenen Genres, mal mit dramatischer, mal mit erotischer musikalischer Begleitung, mal mit Cliff-Hänger, mal mit vorweggenommenen Happy-End, aber immer wieder mit denselben Protagonisten: Vanja und Mia. Mia und Vanja. Sie griff mit verschwitzten Fingern nach ihrem iPhone, welches auf dem gläsernen Wohnzimmertisch lag. Zum Glück hatte sie das schwarze Pailletten-Kleid angezogen. Auf dem Stoff würde man ihre großformatigen Schweißflecke nicht erkennen können. Und sie würde heute Abend ganz sicher viel schwitzen. Warum war ihr Schweiß so peinlich? Jeder Mensch schwitzte doch. Ihre Hände kribbelten. Etwas saß in ihrem Unterleib und strampelte wie verrückt. Sie hatte das Gefühl rot anzulaufen. Was war los mit ihr? Stand sie tatsächlich auf Vanja? So richtig? Oder steigerte sie sich nur in eine Verliebtheit rein? Weil sie es sich so sehr wünschte? Das ganze Paket. Gestern war sie sich doch gar nicht so sicher gewesen, ob sie das überhaupt wollte. Eine richtige Beziehung. Mit Vanja. Mia und Vanja. Sie blinzelte aufs Iphone. Keine Nachricht. Sie war enttäuscht. Freute er sich gar nicht auf die Party? Er hatte den ganzen Nachmittag nicht geschrieben. Mia hatte sich dazu gezwungen, ihr Handy während der Vorbereitung wegzulegen. Den ganzen Nachmittag hatte er nicht geschrieben. Und wenn sie es sich so recht überlegte… Hatte er auch nie wirklich zugesagt. Was, wenn er überhaupt nicht kam? Sie wollte gerade noch einmal Facebook checken, schauen ob er zu- oder abgesagt hatte, da ertönte die Klingel.

As sie sich von der Couch erhob, schwankten ihre Beine als stände sie auf dem Deck eines Katamarans. Die Vorstellung, dass er es sein konnte, der vor der Tür stand, machte sie ganz benommen. Er war noch nie bei ihr zuhause gewesen. Fast rutschte ihr die Hand von der Klinke ab, als sie die Tür öffnete. (Vorhang auf.)

Es war Julie. Sie war ein bisschen enttäuscht, dass es nicht Vanja, sondern Julie war. Mias schlechtes Gewissen versetzte ihr einen Stich. Doch von der einen Sekunde auf die andere drehte sich Mias Gefühlswelt um 180°. Als sie in Julies mandelförmige, haselnussbraune Augen schaute, war sie plötzlich erleichtert, dass ihre beste Freundin als erstes da war und nicht Vanja. Julie hielt Mia ein verführerisch duftendes Paket vor dir Nase.

„Hier für dich. Deine Lieblings-Cupcakes. Triple-Chocolate.“

„Du bist die Beste, Julie. Alter, wie das duftet. Ich wünschte, ich hätte etwas anderes angezogen.“

„Sag mir nicht, du isst jetzt nichts von den Cupcakes, nur weil Vanja kommt.“

Mia warf ihr einen schuldbewussten Blick zu.

„Tut mir schrecklich leid. Aber mein Fett quillt ja jetzt schon über. Heute wird etwas passieren. Und dann will ich nicht aussehen wie eine fette Qualle. Auch wenn es dafür wahrscheinlich schon zu spät ist.“

„Miaaaa. Geh mir nicht auf den Sack. Du siehst super aus. Dreh dich mal.“

Mia stieß sich mit ihrer Fußspitze ab, warf die Arme nach oben und drehte eine Pirouette.

„Nicht schlecht, nicht schlecht!“

„Ja, wirklich? Bist du dir sicher? Ich war mir nicht so sicher, ob ich das tragen kann.“

Julie ging an Mia vorbei, stellte die Cupcakes auf dem Küchentisch neben den Bierflaschen ab und machte es sich anschließend auf der Couch bequem. Mia dackelte ihr hinterher.

„Na, klar, kannst du das tragen. Du spinnst ja schon wieder total rum. Was ist denn los mit dir?“

„Boah, ich weiß auch nicht. Ich bin heute irgendwie richtig unselbstbewusst. Das mit Vanja setzt mich unter Druck.“

Mia ließ sich seufzend neben Julie auf die Couch fallen und vergrub ihr Gesicht theatralisch unter ihren Händen.

„Lass dich da doch nicht so stressen. Was willst du denn jetzt überhaupt? Stehst du jetzt so richtig auf ihn?“

„Ich glaub schon.“

„Sicher, dass du dir das nicht nur einredest? Weil du dir schon so lange einen festen Freund wünschst. Und vielleicht, weil du viel zu viele Serien suchtest.“

„Nein, ich glaub, ich mein das wirklich ernst. Ich konnte den ganzen Tag an nichts anderes denken.“

„Hm. Okay.“

„Du findest, wir passen nicht zusammen.“

„Ja. Ach, keine Ahnung. Ich hab dich irgendwie immer mit jemand anderem gesehen. Mit jemandem, der dich wirklich in- und auswendig kennt und schätzt. Und der romantisch ist.“

„Du glaubst, er steht nicht auf mich.“

„Das hab ich überhaupt nicht gesagt, Mia! Hör auf, immer irgendwo so nen Bullshit rein zu interpretieren.“

„Ich glaub, er steht nicht auf mich. Manchmal hab ich das Gefühl, er findet Valeska immer noch süß.“

Julie fing an zu lachen.

„Also, das glaub ich nun wirklich nicht. Als wir uns alle kennengelernt haben, ja, okay, als er sie das erste Mal gesehen hat. Da fand er sie vielleicht äußerlich ganz ansprechend. Aber jetzt kennt er sie und er kennt dich und es ist doch klar, wen er da vorzieht.“

„Nein, das ist gar nicht so klar. Und sowieso. Dass er sie heiß findet…“

„Fand.“

„Das weißt du doch gar nicht. Dass sie voll sein Typ ist, find ich nicht so cool.“

Julie schwieg für ein paar Sekunden. So lange, bis Mia ihre Hände einen Spalt öffnete und aus ihrem Versteck hervorlugte, um Julie einen überzogen verzweifelten Blick zuzuwerfen.

„Na, das fängt ja schon super an“, spöttelte Julie mit einem sarkastischen Grinsen. Mia musste unwillkürlich zurückgrinsen. Sie wusste ja selber, dass sie ein Rad ab hatte.

Eine Stunde später war die erste Etage von Mias Haus, oder besser gesagt von dem Haus ihrer Eltern, rappelvoll. Ein paar Grüppchen hatten sich schon auf die anderen Etagen verteilt. Die Älteren hatten hartes Zeug mitgebracht. Mia wusste nicht so recht. Aber sie blieb cool und bedankte sich höflich. Es waren sogar Leute gekommen, die Mia gar nicht eingeladen hatte. Sie hoffte, dass sich auch ein paar Pärchen auf die privaten Zimmer zurückziehen würden. Sie hatte eindeutig zu oft American Pie gesehen. Alle waren gekommen. Fast ihre ganze Stufe war da und auch viele aus Vanjas Stufe. Nur Vanja selbst war immer noch nicht aufgekreuzt. Mia merkte, wie sie von Minute zu Minute nervöser wurde. Sie hatte ihr iPhone möglichst unauffällig aus der Schublade des Fernsehschranks hervor geholt und sich in eine ruhigere Ecke verkrochen. „Wo bist du??“, tippte sie. Sie musste einfach wissen, ob er noch kommen würde. Sie wollte die What’s-App-Nachricht gerade abschicken, da schaltete sich Valeskas näselnde Stimme ein:

„Mia, tu’s besser nicht. Sowas nervt Vanja total.“

Valeska trug tiefroten Lippenstift, den sie mit einem bräunlichen Lipliner umrandet hatte. Ihre Augenbrauen hatte sie nach Mias Geschmack zu deutlich nachgezogen. Darüber hinaus trug sie ein hautenges, tief ausgeschnittenes Top im Leoparden-Muster. Valeskas E-Körbchen war nun mal ihr Markenzeichen. So, so, du musst es ja wissen, dachte sich Mia. Sie wollte gar nicht wissen, was Valeska noch zu sagen hatte. Am liebsten wäre sie einfach weggegangen und hätte sich ein V+ geholt. Jetzt war eindeutig der richtige Zeitpunkt für ihr erstes Mischbier. Doch anstatt ihr den Rücken zuzukehren, starrte Mia Valeska erwartungsvoll an. Valeska legte genüsslich eine lange Sprechpause ein.

„Er hat mir grad noch geschrieben. Er ist gleich da, Mia. Bleib mal cool“, fügte Valeska schließlich hinzu.

Mia wollte unwillkürlich in eine von Valeskas dicken Brüsten boxen. Die waren bestimmt unheimlich empfindlich, weil sie noch immer am Wachsen waren. Pah, dafür würde sie irgendwann vor lauter Rückenschmerzen nicht mehr schlafen können.

Mia boxte Valeska nicht in ihre überdurchschnittlich große Titten – sie setzte ihr schlechtestes gekünsteltes Lächeln auf und entfernte sich von ihr. Das hätte sie eigentlich schon tun sollen, bevor Valeska überhaupt angefangen hatte zu sprechen. Er hat mir grad noch geschrieben. Valeska würde jetzt die ganze Nacht in Mias Kopf rumnäseln. Was, verdammte scheiße, hatte er ihr geschrieben? Und wieso hatte er ihr überhaupt geschrieben? Warum nicht ihr? Sie war doch diejenige, die die Party schmiss. Sie war doch diejenige, die er süß fand. Angeblich. So direkt gesagt hatte er das ja nie. Aber seine Andeutungen… Oder schrieb er genauso mit Valeska? Schickte er ihr auch immer zwei Kusssmileys vor dem Schlafengehen? Die ganzen Fragen machten Mia ganz bekloppt. Sie hatte das Gefühl, dass sie von einem eigenartigen Nebel umgeben war. Die Welt um sie herum verschwamm, als hätte sie bereits ein Mischbier geext. Die Ungewissheit verursachte ihr Bauchkribbeln. Aber unangenehmes. So ähnlich wie beim Free Fall. Kurz bevor es losgeht. Kurz bevor du mit tausend Sachen in die Tiefe, ins Nichts, fällst. Mia wankte in die Küche. Ein paar Leute grinsten oder sprachen sie an, aber Mia ignorierte jeden. Konnten die nicht sehen, dass sie mit ernsthaften Problemen zu kämpfen hatte? Sie brauchte ein Bier. Ihr erstes Bier. Sie hatte nie das Bedürfnis danach gehabt, sich zu betrinken. Doch in diesem Moment schien es ihr auf einmal einleuchtend. Mit einem Mal war sie anfällig für alle Gerüchte und Sagen, die sie je über Alkohol gehört hatte. Zum aller ersten Mal setzte Mia all ihre Hoffnungen in den Alkohol. Stellte ihn mit Medizin gleich, ja, sprach ihn fast schon heilig. Ohne noch irgendetwas um sie herum wahrzunehmen, öffnete sie ein V+ Curuba mit dem Holz-Flaschenöffner ihres Vaters und nahm zügig mehrere große Schlucke. Es schmeckte scheußlich. Am liebsten hätte sie alles wieder ausgespuckt. Sie hustete. Wie furchtbar peinlich. Hoffentlich war es niemandem aufgefallen. Mia spürte eine Hand auf ihrer Schulter. Ihr Herz rutschte aus ihrem Push-Up-BH, weil ihr sofort klar war, um wessen Hand es sich handelte. Es konnte ja auch gar nicht anders sein. Sie stellte die Flasche behutsam wieder auf dem Esstisch ab und drehte sich in Slow-Motion zu Vanja um. Sie hoffte, die Konfrontation so noch eine halbe Ewigkeit hinauszögern zu können. Doch da stand er nun. Auf gleicher Höhe. Vanja. Dunkel gefärbte Pony-Frisur, vereinzelte, aber markante Pickel auf der Stirn, schmale, undurchdringbare, graue Augen. Eine kleine Knollnase. Ein leichter Flaum auf der Oberlippe. Und die dicken Schmolllippen, sein Wiedererkennungszeichen, das rein gar nicht zu dem Rest seines Gesichtes passte. Jahre später würde sich Mia noch darüber den Kopf zerbrechen, warum sie sich in diesen Justin-Bieber-Abklatsch verguckt hatte. Aber in diesem Moment – sie meinte bereits eine positive Wirkung des Alkohols zu spüren – fand sie ihn einfach nur toll.

„Hi.“

Eigentlich hatte sie sich eben noch – bevor sie das Bier angeext und bevor er ihr in den Weg getreten war – vorgenommen, ihn den ganzen Abend nicht zu beachten. Sich stattdessen nach einer Alternative umzusehen. Eine Alternative, die 1. sie ablenken und 2. ihn eifersüchtig machen würde.

„Heeey. Voll schön, dass du gekommen bist! Kannst dir alles nehmen, was du willst.“

Aaach, du scheiße, dachte Mia. Ich habe ja gar keine Selbstachtung. Du kannst alles von mir haben. Für immer. Du brauchst gar nichts dafür tun.

„Eh, danke. Ich wollt nur ‚Hi‘ sagen. Ich geh dann mal zu den anderen.“

Ich geh dann mal zu den anderen??? Okay, er war eindeutig nicht ihretwegen hier. Sondern nur, weil sie eine coole Party schmiss, auf der alle eingeladen waren. Aber war ja klar. Warum war sie denn schon wieder so naiv gewesen? Aber er war ja doch nett gewesen. War extra zu ihr gekommen, um ihr ‚Hallo‘ zu sagen. Das war doch nett. Das machte er bestimmt nicht bei jedem. (Bei jedem Mädchen aber ganz sicher. Jedem gutaussehenden.) Mia fühlte sich elend. Sie wünschte, sie hätte das enge Pailletten-Kleid nicht angezogen. Es war der visuelle Beweis dafür, wie sehr sie sich für Vanja zum Affen machte. Mit ihren nackten Schimpansen-Beinen. Und überhaupt. Es hatte gar nichts gebracht. Gar keine magische Wirkung gezeigt. Was hatte sie denn schon wieder erwartet? Sie war ja nicht Cinderella. Und Vanja erst recht nicht der Märchenprinz. Dieser arrogante, schizophrene Sack. Dieser kleine, arrogante und, auf eine verdrehte Art und Weise, furchtbar attraktive Sack.

Mia versuchte mit ein paar Gästen Smalltalk zu betreiben, um sich innerlich zu zerstreuen. Sie redete mit ein paar Jungs aus ihrer ehemaligen Klasse über den neuen Star-Wars-Teil. Mit dem einen hatte sie mal Händchen gehalten. Aber das war schon ewig her. Siebte Klasse oder so. Trotzdem versuchte sie sich einzubilden, dass er ihr noch immer vieldeutige Blicke zuwarf. Dem war eher nicht so, er starrte eigentlich durchgehend auf seine Nikes, aber sie brauchte das jetzt. Sie brauchte jetzt die Bestätigung. Eigentlich sollte Vanja ihr ja die Bestätigung geben. Vanja war es doch, der was von ihr wollte. In erster Linie. Und nicht andersrum. Oder wie war das jetzt? Hatte sich die Situation in den letzten 24 Stunden um 180° gedreht? Sie hatte irgendwie nicht das Gefühl, dass er sich wirklich für sie interessierte. Also, heute benahm er sich sogar so, als würde er sie noch nicht einmal besonders mögen. Sie hatte Kopfschmerzen. War das schon der Kater? Nach einer halben Stunde setzte schon der Kater ein?! Das hatte sie sich aber anders vorgestellt. Wer war eigentlich auf die völlig hirnrissige Idee gekommen, dass Vanja sie gut fand? Wer hatte ihr das eingeredet? Sie war doch sicher nicht selbst auf die Idee gekommen. Klar, sie hatte eine blühende Fantasie, aber sie bildete sich ja generell eher Tornados und Tsunamis und den ganzen Scheiß ein und nicht heitere, wolkenlose Sommertage. Julie. Julie hatte es zuerst behauptet. Natürlich Julie. Wer sonst. Sie musste sie suchen. Sie musste sie finden. Mia musste ihre beste Freundin zur Rede stellen.

„Wie zu Hölle bist du darauf gekommen, dass Vanja mich gut findet?“

Mia war sich sicher, dass sie bereits lallte. Außerdem klang ihre Stimme viel zu wütend und dramatisch. Eigentlich hatte Julie ja gar nichts… Aber sie war gerade einfach unfassbar sauer.

„Ganz ruhig, Mia. Atme jetzt mal tief ein und wieder aus. Hattest du etwa ein Bier?“

„Woher weißt du das? Und überhaupt. Ich darf doch trinken, was ich will. Du bist ja nicht meine Mutter. Außerdem hast du auch schon mal etwas getrunken. Auf dem Geburtstag von deiner Mom. Hast du mir selbst erzählt. Zwei Gläser Wein. Das ist im Prinzip viel schlimmer als ein Mischbier. Und überhaupt. Ich bin doch gar nicht betrunken. Glaub ich zumindest. Also mir ist schon ein bisschen schummerig. Aber ich glaube, nur weil Vanja so ein Arsch ist. Und ich so eine dumme, naive Kuh.“

„Mia! Jetzt komm mal bitte runter. Ich mach dir doch überhaupt keine Vorwürfe. Du wirst gleich sechzehn. Du bist alt genug. Ich bin nur verwundert. Du hast mir doch das ganze letzte Jahr gepredigt, dass Alkohol ein Werk des Teufels ist. Dass du nie einen Tropfen anrühren, dich nicht vom Mainstream mitreißen lassen würdest. Dass du nicht so schwach wärst.“

„Aha. Sehr interessant. Ja, kann sein. Hab meine Meinung halt geändert. Alkohol ist super. Bier ist die beste Medizin. Menschen ändern sich halt. Bestimmte Situationen zwingen sie zur Veränderung, zur Anpassung.“

„Innerhalb von wenigen Stunden? Mia, was ist denn los? Du wirkst nicht so, als hätte dich das Bier runtergebracht.“

„Du hast gesagt, er steht auf mich.“

Mias Stimme klang so trotzig wie die eines Kleinkindes, dem man sein Spielzeug entrissen hatte. Sie merkte, wie ihr unfreiwillig Tränen in die Augen stiegen. Sie musste das unterbinden. Um jeden Preis musste sie diese behinderten Tränen aufhalten. Ihre ganze Schminke würde zerlaufen. Vanja würde sie dann gar nicht mehr attraktiv finden. Aber hatte er ja anscheinend eh nie.

„Mia, er steht ja auch auf dich. Was hat er gemacht? Das ist doch bloß seine Masche. So will er dich rumkriegen. Und du fällst auch noch total drauf rein. Oh Mann, Mia. Vanja hat dich ja schon total in seiner Hand. Er zieht die Fäden und du tanzt.“

„Gar nicht wahr.“

„Was hat er gemacht?“

„Ach, keine Ahnung. Er ist jetzt erst gekommen und hat gar nicht richtig mit mir geredet.“

„Ja, und??“

„Ich hab mir irgendwie mehr erhofft.“

„MIA. Der Abend hat doch grade erst angefangen. Chill doch erstmal.“

„Aber er hat davor die ganze Zeit mir Valeska geschrieben. Und mir seit heute Morgen schon nicht mehr. Irgendwie fühl ich mich voll verarscht.“

„Dann lass es. Wenn dir sein Verhalten jetzt schon auf den Sack geht, dann lass es. Du hast sowas doch gar nicht nötig. Du könntest jemanden viel besseren haben. Und das weißt du auch.“

„Ja, vielleicht.“

„Dann verhalt dich auch so! Mach dich nicht kleiner als du bist.“

„Und was heißt das genau?“

„Mia, versuch einfach die Party, DEINE Party zu genießen. Kümmer dich um deine Gäste, amüsier dich, rede mit den Leuten, die dich interessieren. Und verkrampf dich nicht so auf Vanja. Und dann wird er schon von alleine auf dich zukommen.“

„Meinst du wirklich?“

„Na, klar!“

„Amüsierst du dich denn?“

„Du weiß doch, ich steh nicht so auf die Leute aus unserer Stufe.“

„Jaaa… Aber hier sind doch auch ein paar Ältere.“

„Hm… Ja, ich finde schon nen netten Gesprächspartner. Mach dir um mich keine Sorgen. Zur Not muss ich mich halt gleich zu Valeska stellen.“

Julie grinste frech.

„Ja, aber dann find wenigstens raus, was da abgeht.“

„Mia! Jetzt hör auf so paranoid und eifersüchtig zu sein. Das hält ja kein Mensch aus. Wie soll das denn werden, wenn du richtig mit ihm zusammen bist?“

„Wunderschön“, seufzte Mia mit einem aufgesetzt schmachtenden Blick.

„Oh, Gott.“

Die beiden mussten lachen. Als Dankeschön drückte Mia Julie einen Kuss auf die Wange, bevor sie wieder in der Menge verschwand. Sie fühlte sich schon wieder leichter. Julies Worte hatten definitiv eine magische Wirkung. Viel magischer und zudem gesünder als Alkohol. Mia bekam Lust zu tanzen.

Nach ein paar oberflächlichen Gesprächen, einer etwas zurückhaltenden Tanzeinlage mit drei Mädchen aus ihrer Stufe und einem zweiten V+ – dieses Mal von der Sorte ‚Energy‘ – stand Mia wieder kurz davor sich wegen Vanja elend zu fühlen. Er hatte sie immer noch nicht beachtet. Mittlerweile sehnte sich Mia zu dem flüchtigen Moment mit Vanja vor ein paar Stunden zurück: In ihren Gedanken spielte sie sein nüchternes ‚Hi‘ immer wieder ab. Im Vergleich zu seinem Verhalten jetzt, schien sein Verhalten von vorhin auf einmal sehr zuvorkommend und interessiert. Sie wollte nicht die ganze Nacht auf ihn warten. Sie wollte die Regie wieder übernehmen. Obwohl sie die ja eigentlich nie gehabt hatte. Es war kurz vor zwölf. In wenigen Minuten würde sie Geburtstag haben. Von Vanja keine Spur. Wahrscheinlich stand er mit Valeska vor der Tür und… Obwohl. Sie erblickte Valeska, die sich mit Julie unterhielt und dabei wild gestikulierte. Vielleicht war Vanja mit ein paar von den Älteren draußen. Rauchte Vanja? Sie war sich nicht sicher. Sie fänd es nicht gut, wenn er rauchen würde. Sie wollte keinen rauchenden Freund. Vielleicht war das ein Grund, ihn abzuschießen. (Mia: Vanja, es tut mir leid. Dass mit uns beiden, das wird leider nichts. Tut mir leid, wenn ich all deine großen Hoffnungen enttäuschen muss. Aber ich habe meine Prinzipien. Ich kann nicht mit einem Raucher…)

„Mia?“

Sie hatte ihn gar nicht bemerkt, dabei stand er direkt vor ihr. Sie blinzelte einige Male, damit sich ihr Blick wieder aufklärte. Sie war voll weg gewesen. Obwohl er nur wenige Zentimeter vor ihr stand, winkte Vanja ihr zu. So nah.

„Alles in Ordnung? Du siehst so abwesend aus.“

„Eh…ja. Alles super. Klar. Bin nur… bin ein bisschen betrunken.“

„Betrunken? Ich dachte, du trinkst nichts.“

„Ja, tue ich auch nicht. Eigentlich. Heute ist eine Ausnahme.“

Vanja grinste sie unverhohlen an. Und sah dabei natürlich unverschämt gut aus. Mia hingegen sah bestimmt völlig verwirrt aus. War sie ja auch. Hauptsache sie lief nicht rot an. Das wäre die Krönung. Was wollte Vanja von ihr? Und wieso redete er auf einmal mit so einem liebenswürdigen Unterton? Fast schon schüchtern. Seine Hände hatte er in der Tasche seines Hoodies versteckt. Er schaute sich um. Wurden sie beobachtet? War es ihm peinlich, mit ihr zu reden? Wollte er nicht mit ihr gesehen werden?

„Du hast ja gleich Geburtstag…“

„Ja, genau. Deswegen diese Party.“

Ihre Stimme war ungewollt schnippisch. Plötzlich hatte sie Angst, sie könnte ihn verschrecken. Dabei wollte sie nichts mehr als dass er bei ihr blieb. Ganz nah.

„Ja… Also. Würde es dir etwas ausmachen, um zwölf nicht bei den anderen zu sein? Also, wenn du das möchtest, ist das natürlich auch kein Problem… Aber ehrlich gesagt… Also, ich hatte gehofft… Dass wir vielleicht um zwölf kurz für uns sein könnten. Damit ich dir dein Geschenk geben kann. Aber wie du magst.“

Mia war geschockt. Ernsthaft geschockt. Was war jetzt los? Vanja war ein Rätsel für sie. Sie versuchte, die Hoffnung, die in ihr aufstieg, zu unterdrücken. Sie wollte cool wirken. Sie wollte, dass er dachte, das mit ihnen wäre ihr gleichgültig.

„Ja. Bitte. Lass uns weg von hier“, krächzte Mia.

Bitte? Hatte sie ihn gerade tatsächlich angefleht? Jetzt würde er es sich anders überlegen, dachte Mia. Fliehen, bevor es zu spät war. Fliehen wie Katerina Petrova vor Klaus. Aber sein schüchternes Grinsen wurde breiter. Selbstsicherer. Er nahm ihre Hand und zog sie durch die Menge und die Treppe hinauf. Als würde er hier wohnen und nicht sie. Als sie in der zweiten Etage angekommen waren, drehte er sich zu ihr um und fragte:

„In welches Zimmer?“

Schlafzimmer, schoss es Mia durch den Kopf.

„In das Zimmer da drüben. Das rechte.“

Sie betraten das Arbeitszimmer ihres Vaters. Mia dachte über ihre Hände nach. Wie verschwitzt sie waren. Und ob er sich wohl ekelte. Vanja ließ ihre Hand los und setzte sich auf den Schreibtisch. Sie setzte sich gegenüber von ihm. Auf den Bürostuhl. Man hörte die Musik von unten. Und dennoch war es schrecklich still. Unangenehm. Mia räusperte sich. Das zerfetzende Gefühl in ihrem Unterbauch. Die verschwitzten Hände. Sie traute sich nicht, Vanja in die Augen zu schauen. Sie starrte auf den Justin-Bieber-Pony. Hoffentlich zuckte nicht irgendeiner ihrer Gesichtsmuskel.

„Hier, das ist für dich.“

Vanja holte ein schlecht verpacktes Geschenk aus seinem viel zu großen Kapuzenpulli hervor. Bei der Übergabe berührten sich ihre Finger flüchtig. Ihr Herz pochte. Sie hatte Angst, er könnte es hören. Mit zitternden Händen packte sie das Geschenk aus. Es war ein Hörbuch. P.S. Ich liebe dich. Hinten war noch der Preis dran. Superangebot. Vier Euro und neunundneunzig Cent. Mia musste schlucken. P.S. Ich liebe dich? Was sollte das heißen? War das ernst gemeint? Das wäre doch viel zu früh. Völlig unpassend. Aber sie war auch gerührt. Irgendwie angetan. Verwirrt. Wieso musste Vanja sie so verwirren? Unten begannen die Leute mit dem Countdown. Zehn. Julie und Valeska suchten bestimmt gerade nach ihr. Oder suchte Valeska Vanja? Aber Vanja war mit ihr hier. Um Mitternacht. Neun.

„Das richtige Geschenk kommt eigentlich jetzt erst“, flüsterte Vanja mit brechender Stimme. Er war nervös. Ganz offensichtlich war er schrecklich nervös. Er zögerte. Acht. Sieben. Sechs. Er sprang vom Schreibtisch und beugte sich zu ihr. Er kam immer näher. Fünf. Vier. Drei.

„Alles Liebe zum Geburtstag, Mia.“

Noch näher. Zwei. Eins. Vanja drückte seine dicken Lippen auf ihre. Es war nur ein ganz kurzer Moment. Eigentlich ein Kindergartenkuss. Aber Mia war überwältigt. Das war das beste Geschenk aller Zeiten. Der beste Geburtstag aller Zeiten. So fühlt es sich also an, sechzehn zu werden. Wenige Sekunden später hatte Vanja ohne ein Wort den Raum verlassen. Dieser Kerl würde sie noch in den Wahnsinn treiben.

Endlich sechzehn

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