Читать книгу Der Trotzkopf - Alle vier Bände - Emmy von Rhoden, Else Wildhagen - Страница 5

I.

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»Papa, Diana hat Junge!«

Mit diesen Worten trat ungestüm ein junges, schlankes Mädchen von fünfzehn Jahren in das Zimmer, in welchem sich außer dem Angeredeten, dessen Frau und dem Prediger des Ortes, noch Besuch aus der Nachbarschaft – ein Herr von Schäffer mit Frau und seinem erwachsenen Sohne – befand.

Alles lachte und wandte sich dem kleinen Backfisch zu, der ohne jede Verlegenheit auf den Papa zueilte und ausführlich über das wichtige Ereignis berichtete.

»Es sind vier Stück, Papa,« erzählte sie lebhaft, »und braun sehen sie aus, wie Diana. Komm sieh dir sie an, es sind zu reizende Tierchen! Vorn an den Pfötchen haben sie weiße Spitzen. Ich habe gleich einen Korb geholt und mein Kopfkissen hineingelegt, sie müssen doch warm liegen, die kleinen Dinger.«

Herr Oberamtmann Macket hatte den Arm um die Schulter seines Lieblings gelegt und strich ihm das wirre Lockenhaar aus dem erhitzten Gesicht, dabei sah er sein Kind mit wohlgefälligen Blicken an, was eigentlich zu verwundern war, da Ilse in einem Aufzuge hereingekommen, der durchaus nicht geeignet war, Wohlgefallen zu erregen, besonders in diesem Augenblicke, wo fremde Augen denselben musterten. Das verwaschene, dunkelblaue Kattunkleid, blusenartig gemacht und mit einem Ledergürtel gehalten, mochte wohl recht bequem sein, aber kleidsam war es nicht, und einige Flecken und Risse darin dienten ebenfalls nicht dazu, die Eleganz desselben zu heben. Die hohen, plumpen Lederstiefel, die unter dem kurzen Kleide hervorblickten, waren tüchtig bestaubt und sahen eher grau als schwarz aus. Aber wie gesagt, Herrn Macket genierte dieser Aufzug gar nicht, er sah in die fröhlichen, braunen Augen seines Lieblings, um dessen Kleider kümmerte er sich nicht.

Er war im Begriffe, sich zu erheben, um seines Kindes Wunsch zu erfüllen, als seine Gattin, eine vornehme Erscheinung mit sanften und doch bestimmten Zügen, ihm zuvorkam. Sie hatte sich erhoben und trat auf Ilse zu.

»Liebe Ilse,« sagte sie in freundlichem Tone und nahm dieselbe bei der Hand, »ich möchte dir etwas sagen, Kind. Willst du mir auf einen Augenblick in mein Zimmer folgen?«

Sehr ruhig, aber sehr bestimmt waren die Worte gesprochen und Ilse fühlte, daß ein Widerstand dagegen vergeblich sein würde. Ungern und gezwungen folgte sie der Mutter in das anstoßende Gemach.

»Was willst du mir sagen, Mama?« fragte sie und sah Frau Macket trotzig an.

»Nichts weiter, mein Kind, als daß du sogleich auf dein Zimmer gehst und dich umkleidest. Du wußtest wohl nicht, daß Gäste bei uns waren?«

»Doch, ich wußte es, aber ich mache mir nichts daraus,« gab Ilse kurz zur Antwort.

»Aber ich, Ilse. Ich kann nicht gleichgültig dabei sein, wenn du in einem so unordentlichen Kostüme dich blicken läßt. Du bist kein Kind mehr mit deinen fünfzehn Jahren; bedenke, daß du seit Ostern konfirmiert bist, eine angehende junge Dame aber muß den Anstand wahren. Was soll der junge Schäffer von dir denken, er wird dich auslachen und dich verspotten.«

»Der dumme Mensch!« fuhr Ilse auf. »Ob der über mich lacht oder spottet, ist mir ganz gleichgültig. Ich lache auch über ihn! Tut, als ob er ein Herr wäre mit seinem Klemmer und geht doch noch in die Schule.«

»Er ist in Prima auf dem Gymnasium und zählt neunzehn Jahre. Nun sei vernünftig und kleide dich um, Kind, hörst du?«

»Nein, – ich ziehe kein anderes Kleid an, ich will mich nicht putzen!«

»Wie du willst, aber dann bitte ich dich, ja ich wünsche es entschieden, daß du in deinem Zimmer bleibst und dein Abendbrot dort verzehrst,« gab Frau Macket mit großer Ruhe zur Antwort.

Ilse biß auf die Unterlippe und trat mit dem Fuße heftig auf die Erde, aber sie sagte nichts. Mit einer schnellen Wendung ging sie zur Tür hinaus und warf dieselbe unsanft hinter sich zu. Oben in ihrem Zimmer ließ sie sich auf einen Stuhl fallen, stützte die Ellbogen auf das Fensterbrett und weinte Tränen des bittersten Unmutes.

»O wie schrecklich ist es jetzt!« stieß sie schluchzend heraus. »Warum hat auch der Papa wieder eine Frau genommen, – es war so viel, viel hübscher, als wir beide allein waren! Alle Tage muß ich lange Reden hören über Sitte und Anstand und ich will doch keine Dame sein, ich will es nicht – und wenn sie es zehnmal sagt!« – –

Als sie mit ihrem Vater noch allein war, führte sie freilich ein ungebundeneres und lustigeres Leben. Niemand hatte ihr Vorschriften zu machen oder durfte ihre dummen Streiche hindern; was sie auch ausführte, es galt alles als unübertrefflich. Das Lernen wurde nur als langweilige Nebensache betrachtet und die Gouvernanten fügten sich entweder dem Willen ihrer Schülerin oder sie gingen davon. Beklagte sich ja einmal diese oder jene bei dem Vater und hatte derselbe auch wirklich den festen Entschluß gefaßt, ein Machtwort zu sprechen gegen sein unbändiges Kind, er kam nicht dazu, es auszuführen. Sobald er mit ernster Miene ihr gegenüber trat, fiel Ilse ihm um den Hals, nannte ihn ihren »einzigen, kleinen Papa«, trotzdem er ein sehr großer, kräftiger Mann war, und küßte ihm Mund und Wangen. Versuchte er, ihr ernste Vorstellungen zu machen, hielt sie ihm den Mund zu.

»Ich weiß ja alles, was du mir sagen willst, und ich will mich ganz gewiß bessern!« mit solchen und ähnlichen Worten und Versprechungen tröstete sie den Papa – ach und wie gern ließ er sich also trösten! Er konnte dem Kinde nie ernstlich zürnen, es war sein alles.

Als Ilses Mutter starb, legte sie ihm das kleine hilflose Ding in den Arm. Es hatte die schönen, frohen Augen der früh Geschiedenen geerbt, und blickte sie ihn an, war es ihm, als ob die Gattin, die er so sehr geliebt hatte, ihn anlächle.

Lange Jahre war er einsam geblieben und hatte nur für sein Kind gelebt. Da lernte er seine zweite Frau kennen. Ihr kluges, sanftes Wesen fesselte ihn so, daß er sie heimführte.

Frau Anne betrat das Haus ihres Mannes mit dem festen Vorsatze, seinem Kinde die treueste, liebevollste Mutter zu sein und alles aufzubieten, um ihr die früh Verlorene zu ersetzen; indes jede herzliche Annäherung von ihrer Seite scheiterte an Ilses trotzigem Widerstande. Bald ein Jahr waltete sie nun schon als Frau und Stiefmutter und noch immer hatte sie es nicht vermocht, Ilses Liebe zu gewinnen. – – –

Die Gäste blieben zum Abendessen auf Moosdorf, so hieß das große Gut des Oberamtmann Macket. Als der Tisch gedeckt war und alle sich an demselben niedergesetzt hatten, fragte Herr Macket, warum Ilse noch nicht anwesend sei.

Frau Anne erhob sich und zog an der Klingelschnur. Der eintretenden Dienstmagd befahl sie, das Fräulein zu Tisch zu rufen. – – – –

Ilse saß noch in derselben Stellung am Fenster. Sie hatte sich eingeschlossen und die Magd mußte erst tüchtig pochen und rufen, bevor sie sich bequemte, die Tür zu öffnen.

»Sie sollen herunterkommen, Fräulein, die gnädige Mama hat es befohlen,« sagte Kathrine und betonte das »sollen« und »befohlen« so recht auffallend.

»Ich soll!« rief Ilse und wandte den Kopf hastig herum, »aber ich will nicht! Sag’ das der gnädigen Frau Mama!«

»Ja,« sagte Kathrine, so recht befriedigt von dieser Antwort, denn auch sie war durchaus nicht damit einverstanden gewesen, daß wieder eine Frau in das Haus gekommen war, welche der schönen Freiheit ein Ende gemacht hatte, »ja, ich werd’s bestellen. Gnädiges Fräulein haben ganz recht, das ewige Befehlen, wenn man selbst alt genug ist, ist höchst unpassend, noch dazu, wenn fremde Leute dabei sind.«

Und sie ging hinunter in das Speisezimmer und führte wörtlich Ilses Bestellung aus.

Herr Macket blickte seine Frau verlegen an, er wußte gar nicht, was diese Antwort bedeuten sollte. Sie verstand seine stumme Frage und ohne im geringsten den Unmut merken zu lassen, den sie in ihrem Innern empfand, sagte sie gelassen: »Ilse ist nicht ganz wohl, lieber Mann, sie klagte etwas über Kopfschmerzen. Kathrine hat ihre Bestellung ungeschickt ausgerichtet.«

Alle Anwesenden errieten sofort, daß Frau Anne eine Ausrede machte, nur Herr Macket glaubte, daß es sich in Wahrheit so verhielt.

»Wollen wir nicht lieber einen Boten zum Arzt schicken?« fragte er besorgt.

Die Antwort hierauf gab ihm sein Kind selbst, das heißt, sie bewies ihm, daß ihr kein Finger weh tat. Laut jubelnd und lachend trieb sie einen Reif mit einem Stock über den großen Rasenplatz, und der Jagdhund, Tyras, sprang demselben nach, und wenn er mit seinen Pfoten den Reif beinahe erhascht hatte und ihn doch nicht halten konnte, stieß er ein ärgerliches Geheul aus, worüber Ilse sich totlachen wollte.

Herrn Mackets Gesicht verklärte sich ordentlich bei diesem Anblicke. Er stand auf, trat in die offenstehende Flügeltür des Zimmers und eben im Begriffe, Ilse zu rufen, hielt ihn Frau Anne davon zurück.

»Laß sie – ich bitte dich, – lieber Mann,« bat sie, vor Unwillen leicht errötend, und zu den Gästen gewendet setzte sie hinzu: »Es tut mir leid, nun doch die Wahrheit sagen zu müssen, indes Ilses Benehmen zwingt mich dazu.«

Und sie erzählte so mildernd als möglich den kleinen Vorfall. Es wurde darüber gelacht, ja Herr von Schäffer behauptete, die kleine habe Temperament und es sei schade, daß sie kein Knabe sei. Seine hochgebildete Frau konnte ihm nicht beistimmen, sie fand das wilde Mädchen geradezu entsetzlich und nannte es auf dem Heimwege ein enfant terrible.

Als die Gäste fortgefahren waren, blieb der Prediger noch zurück. Derselbe war ein wohlwollender, nachsichtiger Mann, der Ilsen väterlich zugetan war. Er hatte sie getauft und eingesegnet, unter seinen Augen war sie herangewachsen. Seit kurzer Zeit, seitdem die letzte Gouvernante ihren Abschied genommen hatte, leitete er auch ihren Unterricht.

Es trat ein augenblickliches, beinahe peinliches Stillschweigen ein. Ein jeder der drei Anwesenden hatte etwas auf dem Herzen und scheute sich doch, das erste Wort zu sprechen. Herr und Frau Macket saßen am Tische, er rauchend, sie eifrig mit einer Handarbeit beschäftigt. Prediger Wollert ging im Zimmer auf und ab und sah recht ernst und nachdenklich aus. Endlich blieb er vor dem Oberamtmann stehen.

»Es kann nichts helfen, lieber Freund,« redete er denselben an, »das Wort muß heraus. Es geht nicht mehr so weiter, wir können das unbändige Kind nicht zügeln, es ist uns über den Kopf gewachsen.«

Der Oberamtmann sah den Prediger verwundert an. »Wie meinen Sie das?« fragte er, »ich verstehe Sie nicht.«

»Meine Meinung ist, geradeheraus gesagt, die,« fuhr der erstere fort, »das Kind muß fort von hier, in eine Pension.«

»Ilse? In eine Pension? Aber warum, sie hat doch nichts verbrochen!« rief Herr Macket ganz erschreckt.

»Verbrochen!« wiederholte lächelnd der Prediger. »Nein, nein, das hat sie nicht! Aber muß denn ein Kind erst etwas Böses getan haben, um in ein Institut zu kommen? Es ist doch keine Strafanstalt. Hören Sie mich ruhig an, lieber Freund,« fuhr er besänftigend fort und legte die Hand auf Mackets Schulter, als er sah, daß dieser heftig auffahren wollte. »Sie wissen, wie ich Ilse liebe, und wissen auch, daß ich nur das Beste für sie im Auge habe; nun wohl, ich habe reiflich überlegt und bin zu dem Resultate gekommen, daß Sie, Ihre Frau und ich nicht Macht genug besitzen, sie zu erziehen. Sie trotzt uns allen dreien, was soll daraus werden? Sie hat soeben ein glänzendes Beispiel ihrer widerspenstigen Natur gegeben.«

Der Oberamtmann trommelte auf dem Tische. »Das war eine Ungezogenheit, die ich bestrafen werde,« sagte er. »Etwas Schlimmes kann ich nicht darin finden. Mein Gott, Ilse ist jung, halb noch ein Kind, und Jugend muß austoben. Weshalb soll man einem übermütigen Mädchen so strenge Fesseln anlegen und es Knall und Fall in eine Pension bringen? Was ist dabei, wenn es einmal über den Strang schlägt? Verstand kommt nicht vor den Jahren! Was sagst du dazu, Anne,« wandte er sich an seine Frau, »du denkst wie ich, nicht wahr?«

»Ich dachte wie du,« entgegnete Frau Anne, »vor einem Jahre, als ich dieses Haus betrat. Heute urteile ich anders, heute muß ich dem Herrn Prediger recht geben. Ilse ist schwer zu erziehen, trotz aller Herzensgüte, die sie besitzt. Ich weiß nichts mit ihr anzufangen, soviel Mühe ich mir auch gebe. Gewöhnlich tut sie das Gegenteil von dem, was ich ihr sage. Bitte ich sie, ihre Aufgaben zu machen, so tut sie entweder, als ob sie mich nicht verstanden hat, oder sie nimmt höchst unwillig ihre Bücher, wirft sie auf den Tisch, setzt sich davor und treibt allerhand Nebendinge. Nach kurzer Zeit erhebt sie sich wieder und fort ist sie! Da hilft kein gütiges Zureden, keine Strenge, sie will nicht! Frage den Herrn Prediger, wie ungleichmäßig Ilses wissenschaftliche Bildung ist, wie sie zuweilen sogar noch orthographische Fehler macht.«

»Was kommt bei einem Mädchen darauf an,« entgegnete Herr Macket und erhob sich. »Eine Gelehrte soll sie nicht werden; wenn sie einen Brief schreiben kann und das Einmaleins gelernt hat, weiß sie genug.«

Der Prediger lächelte. »Das ist Ihr Ernst nicht, lieber Freund. Oder würde es Ihnen Freude machen, wenn man von Ihrer Tochter sagte, daß sie dumm sei und nichts gelernt habe! Ilse hat gute Anlagen, es fehlt ihr nur der Trieb, die Lust zum Lernen. Beides wird sich einstellen, sobald sie unter junge Mädchen ihres Alters kommt. Das Streben derselben wird ihren Ehrgeiz wecken und ihr bester Lehrmeister sein.«

Die Wahrheit dieser Worte leuchtete Herrn Macket ein, aber die Liebe zu seinem Kinde ließ es ihn nicht laut eingestehen. Der Gedanke, dasselbe von sich zu geben, war ihm furchtbar. Nicht täglich es sehen und hören zu können, – ihm war als ob die Sonne plötzlich aufhören müsse zu scheinen, als solle ihm Licht und Leben genommen werden.

Frau Anne empfand, was in ihres Mannes Herzen vorging, liebevoll trat sie zu ihm und ergriff seine Hand.

»Denke nicht, daß ich hart bin, Richard, wenn ich für den Vorschlag unsres Freundes stimme,« sagte sie. »Ilse steht jetzt auf der Grenze zwischen Kind und Jungfrau, noch hat sie Zeit, das Versäumte nachzuholen und ihre unbändige Natur zu zügeln. Geschieht das nicht, so könnte man eines Tages unser Kind als unweiblich bezeichnen, wäre das nicht furchtbar?«

Er hörte kaum, was sie sprach. »Ihr wollt sie einsperren,« sagte er erregt, »aber das hält sie nicht aus. Laßt sie erst älter werden, es ist dann immer noch Zeit genug, sie fortzugeben.«

Dagegen protestierten Frau Anne und der Prediger auf das entschiedenste; sie bewiesen, daß jetzt die höchste Zeit sei, wenn die Pension noch etwas nützen solle.

»Ich wüßte ein Institut in W., das ich für Ilse ausgezeichnet empfehlen könnte,« erklärte der Prediger. »Die Vorsteherin desselben ist mir genau bekannt, sie ist eine vorzügliche Dame. Neben der Pension, die unter ihrer Leitung herrlich gediehen ist, hat sie eine Tagesschule in das Leben gerufen, die sich von Jahr zu Jahr vergrößert hat. Ilse würde den besten Unterricht und die liebevollste Pflege vereint finden. Und welch ein Vorzug ist nicht die wunderbare Lage dieses Ortes. Die Berge ringsum, die kostbare Luft – – –«

»Ja ja,« unterbrach ihn Herr Macket unruhig und abwehrend, »ich glaube das alles gern! Aber laßt mir Zeit, bestürmt mich nicht weiter. Ein so wichtiger Entschluß, selbst wenn er notwendig ist, bedarf der Reife.« –

Er kam schneller als er geglaubt hatte. –

Am andern Morgen, es war noch sehr früh, traf der Oberamtmann sein Töchterchen, wie es eben im Begriffe war, hinaus auf die Wiese zu reiten, um das Heu mit einzuholen. Ungeniert hatte Fräulein Ilse sich auf eines der Pferde, das vor dem Leiterwagen gespannt war, von dem Kutscher hinaufheben lassen, derselbe stand auf dem Wagen und hielt die Zügel in der Hand.

»Guten Morgen, Papachen!« rief sie ihm laut schon von weitem entgegen, »wir wollen auf die Wiese fahren, das Heu muß herein; der Hofmeister sagt, wir bekommen gegen Mittag ein Gewitter. Ich will gleich mit aufladen helfen!«

Der Vater hatte heute nicht die unbefangene Freude an dem Wesen seines Kindes, ihm fielen die Worte seiner Frau vom gestrigen Abend ein. Ilse sah wenig weiblich in diesem Augenblicke aus, eher glich sie einem wilden Buben. Wie ein solcher saß sie auf dem Pferde und hatte die Füße an beiden Seiten herunterhängen. Das kurze blaue Kleid deckte dieselben nicht, man sah den plumpen, hohen Lederstiefel und noch ein Stück des bunten Strumpfes. Es war wahrlich kein schöner Anblick.

»Steig’ herab, Ilse,« sagte Herr Macket, dicht zu ihr tretend, um ihr beim Heruntersteigen behilflich zu sein, »du wirst jetzt nicht auf die Wiese reiten, hörst du, sondern deine Aufgaben machen.«

Es war das erste Mal in ihrem Leben, daß der Vater in so bestimmter Weise zu ihr sprach. Im höchsten Grade verwundert blickte sie ihn an, aber sie machte keine Miene, seiner Aufforderung Folge zu leisten. Sie schlug die Arme ineinander und fing an, herzlich zu lachen.

»Hahahaha! Arbeiten soll ich! Du kleiner reizender Papa, wie kommst du denn auf diesen komischen Einfall? Mach’ nur nicht ein so böses Gesicht! Weißt du, wie du jetzt aussiehst? Gerade wie Mademoiselle, die letzte, Papa, von den vielen, – wenn sie böse war! ›Fräulein Ilse, gehen Sie auf Ihr Zimmer mais tout-de-suite. Aben Sie mir compris!‹ Dabei zog sie die Stirn in Falten und riß die Augen auf – so«, und sie versuchte es nachzuahmen. »Oh, es war zu himmlisch! Adieu Papachen, zum Frühstück komm’ ich zurück!«

Sie warf ihm noch eine Kußhand zu, lachte ihn schelmisch an und fort ging’s im lustigen Trabe hinaus auf die Wiese in den taufrischen Sommermorgen hinein.

Herr Macket schüttelte den Kopf, mit einem Male stiegen ernstliche Bedenken wegen Ilses Zukunft in ihm auf. Er fand den Gedanken, sie in eine Pension zu geben, heute weniger schrecklich, als gestern. Sie hatte ihm soeben den Beweis gegeben, daß sie auch ihm Widerstand entgegensetzte. Freilich mußte er sich gestehen, daß er durch seine Nachgiebigkeit denselben in ihr groß gezogen hatte.

Er ging in das Speisezimmer und trat von dort auf die Veranda, die weinumrankt sich an der Vorderseite des Hauses entlang zog. Seine Frau erwartete ihn dort am gedeckten Frühstückstische.

Ganz gegen seine Gewohnheit war er still und einsilbig. »Hattest du Unannehmlichkeiten?« fragte Frau Anne und reichte ihm den Kaffee.

»Nein,« entgegnete er, »das nicht.« Er hielt einen Augenblick inne, als ob es ihm schwer würde, weiter zu sprechen, dann fuhr er fort: »Ich möchte dir eine Mitteilung machen, oder richtiger gesagt, dir meinen Entschluß wegen unsres gestrigen Gespräches verkünden. Zum 1. Juli soll Ilse in die Pension.«

»Du scherzest,« sagte Anne und sah ihn fragend an.

»Es ist mein Ernst,« erwiderte er. »Wirst du im stande sein, bis zu dem Termine alles zu Ilses Abreise einrichten zu können? Wir haben heute den 12. Juni.«

»Ja, das würde ich können, lieber Richard; aber verzeihe, mir kommt dein Entschluß etwas übereilt vor. Wird er dich nicht gereuen? Laß Ilse die schönen Sommermonate noch ihre Freiheit genießen und gib sie erst zum Herbste fort. Der Abschied von der Heimat wird ihr dann weniger schwer werden.«

»Nein, keine Änderung,« sagte er, bei einem längeren Hinausschieben seinen Wankelmut fürchtend, »es bleibt dabei – zum 1. Juli wird sie angemeldet.«

Nach einigen Stunden kehrte Ilse wohlgemut mit erhitzten Wangen und über und über mit Heu bestreut zum zweiten Frühstücke zurück. Wie sie war, ohne den Anzug zu wechseln, trat sie höchst vergnügt auf die Veranda.

»Da bin ich,« rief sie. »Bin ich lange geblieben? Ich sage dir, Papa, das Heu ist kostbar! Nicht einen Tropfen Regen hat es bekommen. Du wirst deine Freude daran haben. Der Hofmeister meint, so gut hätten wir es seit Jahren nicht gehabt.«

»Laß das Heu jetzt, Ilse,« entgegnete Herr Macket, »und höre zu, was ich dir sagen werde.«

Er sagte es ziemlich ernst, es wurde ihm nicht leicht, von seinem Plane zu sprechen – sie war so ahnungslos, ja sie nahm gar keine Notiz von seiner Stimmung. Ihr Augenmerk war auf den wohlbesetzten Frühstückstisch gerichtet, sie war sehr hungrig von der Fahrt.

»Soll ich dir Frühstück schneiden?« fragte Frau Anne freundlich, aber Ilse lehnte es ab.

»Ich will es schon selbst tun,« sagte sie, nahm das Messer und schnitt sich ein tüchtiges Stück Schwarzbrot ab. Die Butter strich sie fast fingerdick darauf. Nachdem sie ein dickes Stück Wurst zugelangt hatte, fing sie an, wohlgemut zu essen. Bald von dem Brote, bald von der Wurst, die sie in der Hand hielt, einen Bissen nehmend. Höchst ungeniert lehnte sie dabei hintenüber in einem Sessel und schlug die Füße übereinander. Es schmeckte ihr köstlich.

»Ich denke, du wolltest mir etwas sagen, Papachen!« rief sie mit vollem Munde, »nun schieß los, ich bin ordentlich neugierig darauf.«

Er zögerte etwas mit der Antwort, noch war es Zeit, noch konnte er seinen Entschluß zurücknehmen – einen Augenblick überlegte er und es fehlte nicht viel, so hätte er es wirklich getan, aber die Schwäche ging vorüber und so ruhig wie es ihm möglich war, teilte er Ilse seinen Beschluß mit.

Wenn er erwartet hatte, daß sie sich stürmisch widersetzen würde, so hatte er geirrt. Zwar blieb ihr buchstäblich der Bissen im Munde stecken vor Überraschung und Schreck, aber ihr Auge flog zur Mutter hinüber und sie unterdrückte den Sturm, der in ihr tobte. Um keinen Preis sollte diese erfahren, wie furchtbar es ihr war, die Heimat, den Vater vor allem, zu verlassen, sie, die doch sicherlich nur allein die Anstifterin dieses Planes war, denn der Papa – nein! Nimmermehr würde er sie von sich gegeben haben!

»Nun, du schweigst?« fragte Herr Macket, »du hast vielleicht selbst schon die Notwendigkeit eingesehen, daß du noch tüchtig lernen mußt, mein Kind, denn mit deinen Kenntnissen hapert es noch überall, nicht wahr?«

»Gar nichts habe ich eingesehen!« platzte Ilse heraus, »du selbst hast mir ja oft genug gesagt, ein Mädchen brauche nicht so viel zu lernen, das allzu viele Studieren mache es erst recht dumm! Ja, das hast du gesagt, Papa, und nun sprichst du mit einemmal anders. Nun soll ich fort, soll auf den Schulbänken sitzen zwischen andern Mädchen und lernen, bis mir der Kopf weh tut. Aber es ist gut, ich will auch fort, ja ich freue mich auf die Abreise. Wenn nur erst der 1. Juli da wäre!«

Und sie erhob sich hastig, warf den Rest ihres Frühstücks auf den Tisch und eilte fort, hinauf in ihr Zimmer, und jetzt brachen die Tränen hervor, die sie bis dahin nur mühsam zurückgehalten hatte.

Frau Anne wäre dem Kinde gar zu gern gefolgt, sie fühlte, was in dem jungen Herzen vorging, aber sie wußte genau, daß Ilse ihre gütigen Worte trotzig zurückweisen würde; so blieb sie zurück und hoffte auf die Zeit, wo Ilses gutes Herz den Weg zu ihrer mütterlichen Liebe finden werde. – –

***

Die wenigen Wochen bis zum festgesetzten Termine vergingen schnell. Frau Anne hatte alle Hände voll zu tun, um Ilses Garderobe in Ordnung zu bringen. Die Vorsteherin der Pension hatte auf Herrn Mackets Anfrage sofort geantwortet und sich gern zu seiner Tochter Aufnahme bereit erklärt. Zugleich hatte sie ein Verzeichnis der Sachen mitgeschickt, die jede Pensionärin bei ihrem Eintritt in das Institut mitzubringen habe.

Ilse lachte spöttisch über die, nach ihrer Meinung vielen unnützen Dinge, besonders die Hausschürzen fand sie geradezu lächerlich. Sie hatte bis dahin niemals eine solche getragen.

»Die dummen Dinger trage ich doch nicht, Mama!« sagte sie, als Frau Anne dabei war, den Koffer zu packen, »die brauchst du gar nicht einzulegen.«

»Du wirst dich doch der allgemeinen Sitte fügen müssen, mein Kind,« entgegnete die Mutter. »Warum wolltest du auch nicht? Sieh’ einmal her, diese blau und weiß gestreifte Schürze mit den gestickten Zacken ringsum, ist sie nicht ein reizender Schmuck für ein kleines Fräulein, das sich im Haushalte nützlich machen wird?«

»Ich werde mich aber im Haushalte nicht nützlich machen!« rief Ilse in ungezogenem Tone, »das fehlte noch! Ihr denkt wohl, ich soll dort in der Küche arbeiten oder die Stuben aufräumen? Die Schürzen trage ich nicht, ich will es nicht!«

»Übertreibe nicht, Ilse,« entgegnete Frau Anne, »du weißt recht gut, daß man dergleichen nie von dir verlangen wird. Wenn du durchaus die Schürzen nicht tragen magst, so kannst du ja deinen Wunsch der Vorsteherin mitteilen, vielleicht erfüllt sie dir denselben.«

»Ich werde sie nicht erst darum fragen! Solche Dinge gehen sie gar nichts an!« war Ilses unartige Antwort.

Sie verließ die Mutter, auf welche sie einen wahren Groll hatte. All die schönen Wäsche- und Kleidungsstücke, die Frau Anne mit Liebe und Sorgfalt für sie ausgewählt hatte, fanden keine Gnade vor ihren Augen, nicht einen Funken Interesse zeigte sie dafür.

Dem Papa erklärte sie, daß sie ein kleines Köfferchen für sich selbst packen werde. Niemand solle ihr dabei helfen, niemand wissen, welche Schätze sie mit in das neue Heim hinüberführen werde.

»Das ist eine prächtige Idee, Ilschen,« stimmte Herr Macket bei, »nimm nur mit, was dir Freude macht.«

Und er ließ sofort einen allerliebsten, kleinen Koffer kommen und überraschte seinen Liebling damit. Als Ilse ihm erfreut und dankend um den Hals fiel, als sie ihn seit längerer Zeit zum erstenmal wieder »mein kleines Pa’chen« nannte, da wurde es ihm so weich ums Herz, daß er sich abwenden mußte, um seine Rührung zu verbergen.

Am Tage vor ihrer Abreise schloß sich Ilse in ihr Zimmer ein und begann zu packen. Aber wie! Bunt durcheinander, wie ihr die Sachen in die Hand kamen. Zuerst das geliebte Blusenkleid nebst Ledergürtel, es wurde nur so in den Koffer hineingeworfen und mit den Händen etwas festgedrückt, dann die hohen Lederstiefel mit Staub und Schmutz, wie sie waren, dann eine alte Ziehharmonika, auf der sie nur ein paar Töne hervorbringen konnte, ein neues Hundehalsband mit einer langen Leine daran, ein ausgestopfter Kanarienvogel, und zuletzt, nachdem die wunderbarsten Dinge in den Koffer gewandert waren, griff sie nach einem Glase, in welchem ein Laubfrosch saß. Es ist kaum zu glauben, indessen auch dieses sollte mitverpackt werden, – sie hatte sich so an das Tierchen gewöhnt. Sie nahm ein gutes, gesticktes Taschentuch aus dem Kommodenkasten, band dasselbe über das Glas, legte auch noch eine Papierhülle darüber, schnitt ganz kleine Löcher in beides und steckte einige Fliegen hindurch.

»So,« sagte sie höchst befriedigt von ihrer Packerei, »nun bist du gut versorgt, mein liebes Tierchen, und wirst nicht verhungern auf der weiten Reise.«

Wie sie das Glas hineinbrachte in den Koffer, war wirklich ein Kunststück, das ihr erst nach vieler Mühe gelang. Aber endlich war sie doch so weit, daß sie den Deckel schließen konnte. Er klemmte etwas und Ilse mußte sich erst darauf knieen, bevor derselbe ins Schloß fiel. Den kleinen Schlüssel zog sie ab, befestigte ihn an einer schwarzen Schnur und band diese sich um den Hals.

Als das Abendbrot verzehrt war und die Eltern noch am Tische saßen, ging Ilse in den Hof und machte eine Runde durch alle Ställe. Von den Hühnern, Tauben, Kühen, Pferden – sie hatte so viele Lieblinge darunter – nahm sie Abschied; morgen sollte sie ja alle auf lange Zeit verlassen. Das Lebewohl von den Hunden wurde ihr am schwersten, sie waren alle ihre guten Freunde. Dianas Sprößlinge, die schon allerliebst herangewachsen waren und sie zärtlich begrüßten, lockten ihr Tränen des tiefsten Leides hervor.

Neben ihr stand Johann. Er hatte das kleine Fräulein vom ersten Tage ihres Lebens an gekannt und liebte sie abgöttisch. Als er ihre Tränen sah, liefen auch ihm einige Tropfen über die Wangen.

»Wenn das kleine Fräulein wiederkommt,« sagte er mit kläglicher Stimme und fuhr mit der verkehrten Hand über die Wange, »dann wird es wohl eine große Dame sein. Ja ja, Fräulein Ilschen, unsre schöne Zeit ist dahin! Ach und die Hunde, wie werden sie das Fräulein vermissen! Die sind gescheit! Menschlichen Verstand hat das dumme Vieh! Wie sie schmeicheln, die kleinen Krobaten, als ob sie wüßten, daß unser kleines Fräulein morgen abreist – –« hier wurde seine Stimme so unsicher, daß er nicht weiter sprechen konnte.

»Johann,« entgegnete Ilse unter Schluchzen, »sorge für die Hunde. Und wenn du mir einen großen – den letzten Gefallen tun willst, so,« hier sah sie sich erst vorsichtig nach allen Seiten um, ob auch niemand in der Nähe war, »so nimm Bob,« diesen Namen hatte sie Dianas kleinem Söhnchen gegeben, »mit auf den Kutscherbock morgen, wenn du mich zur Bahn fährst, aber heimlich. Niemand darf es wissen, ich will ihn mitnehmen. Ein Halsband und eine Leine habe ich schon eingepackt. Aber Johann, heimlich, hörst du?«

Der Kutscher war glücklich über diesen Auftrag und daß er dem lieben, kleinen Fräulein noch einen Liebesdienst erweisen konnte. Er lächelte verschmitzt und versprach, Bob so geschickt unterzubringen, daß keine menschliche Seele von dem Hunde etwas merken solle.

Früh am andern Morgen stand der Wagen vor der Tür, der Ilse fortbringen sollte. Herr Macket begleitete sie bis W., um sie der Vorsteherin, Fräulein Raimar, selbst zu überbringen. Er mußte sich doch persönlich überzeugen, wo und wie sein Liebling aufgehoben sein werde. Frau Anne nahete sich Ilse im letzten Augenblick, um zärtlich und gerührt von ihrem Kinde Abschied zu nehmen, aber diese machte ein finsteres, trotziges Gesicht und entwand sich der Mutter Armen.

»Lebe wohl,« sagte sie kurz und sprang in den Wagen; nicht um die Welt hätte sie der Mutter verraten mögen, wie weh und schmerzlich ihr das Scheiden wurde.

Als der Wagen sich in Bewegung setzte und Diana denselben laut bellend noch eine kurze Strecke begleitete, bog sie sich weit zum Wagen hinaus mit tränenden Augen und nickte ihr zu. Gut war es, daß der Vater nichts von den Tränen merkte, er würde vielleicht augenblicklich Kehrt gemacht haben.

Auf dem Bahnhofe, als alles besorgt und Ilse mit dem Papa in das Koupee gestiegen war, trat Johann hinzu mit Bob unter dem Arme und der Mütze in der Hand.

»Leben Sie recht wohl, Fräulein Ilschen, und kommen Sie gut hin,« sagte er etwas verlegen. »Die Hunde werde ich schon besorgen, dafür haben Sie nur keine Angst nicht. Den hier nehmen Sie wohl mit, es ist doch gut, wenn Sie nicht so allein in der Pension sind.«

Ilse jauchzte vor Freude. Sie nahm den Hund in Empfang, liebkoste und streichelte ihn, dann reichte sie Johann die Hand.

»Leb wohl,« sagte sie, »und habe Dank. Ich freue mich zu sehr, daß ich ein Hündchen mit mir nehmen kann.«

»Ja, aber Ilse, das geht doch nicht,« wandte der erstaunte Oberamtmann ein, »du darfst doch keine Hunde mit in das Institut bringen. Sei vernünftig und gib Bob Johann wieder zurück.«

Doch daran war nicht zu denken. Ilse ließ sich durch keine Vorstellung dazu bewegen.

»Die einzige Freude laß mir, Pa’chen! Willst du mich denn ganz allein unter den fremden Menschen lassen? Wenn Bob bei mir ist, dann habe ich doch einen guten Freund. Nicht wahr, Bobchen, du willst nicht wieder fort von mir,« wandte sie sich an den Hund, der es sich bereits höchst bequem auf ihrem Schoße gemacht hatte, »du bleibst nun immer bei mir!«

Es war dem Oberamtmann unmöglich, ein Machtwort dagegen zu sprechen, zumal ja Ilse so triftige Gründe für ihren Wunsch anführte. Am meisten überzeugte ihn der Gedanke, daß die Kleine doch einen heimatlichen Trost mit in die Fremde brächte.

Es war eine lange und ziemlich langweilige Fahrt, meist durch flaches Land, erst zuletzt kamen die Berge. Für Ilse tat sich eine neue Welt auf, sie hatte noch nie eine so große Reise gemacht. Auf jeder Station schaute sie mit neugierigen Augen hinaus, jedes Bahnwärterhäuschen amüsierte sie. Über all den neuen Eindrücken, die sich ihr aufdrängten, trat der Trennungsschmerz in den Hintergrund.

Spät am Abend, es war zehn Uhr vorbei, langten sie in W. an. Natürlich übernachtete Ilse mit ihrem Vater im Hotel, erst am andern Morgen sollte sie in ihre neue Heimat eingeführt werden.

Als es am nächsten Tage neun Uhr schlug, stand Ilse fertig angezogen vor ihrem Papa. Sie sah in ihrem grauen Reisekleide und den zierlichen Lederstiefeln ganz allerliebst aus. Unter dem runden, weißen Strohhute, der mit einem Feldsträußchen und schwarzen Samtband aufgeputzt war, fielen die braunen Locken herab. Die schönen, großen Augen blickten heute nicht so fröhlich wie sonst, sie hatten einen ängstlich erwartungsvollen Ausdruck, und um den Mund zuckte es in nervöser Aufregung.

»Dir fehlt doch nichts, Ilschen?« fragte Herr Macket und sah sein Kind besorgt an. »Du bist so blaß, hast du schlecht geschlafen?«

Die herzliche Frage des Vaters löste mit einemmal die unnatürliche Spannung in Ilses Wesen. Sie fiel ihm um den Hals, und die bis dahin trotzig zurückgehaltenen Tränen brachen mit aller Macht hervor.

»Aber Kind, Kind,« sagte Herr Macket sehr geängstigt durch ihre Leidenschaftlichkeit, »du wirst ja nicht lange von uns getrennt bleiben. Ein Jahr vergeht schnell, und zu Weihnachten besuchst du uns. Komm, Kleines, trockne die Tränen. Du mußt dir das Herz nicht schwer machen. Du wirst uns fleißig Briefe schreiben und die Mama oder ich werden dir täglich Nachricht geben von uns, von allem, was dich in Moosdorf interessiert.« Und er nahm sein Taschentuch und trocknete damit die immer von neuem hervorbrechenden Tränen seines Kindes.

Der Oberamtmann befand sich in einer gleich aufgeregten Stimmung wie sein Kind, es wurde ihm nicht leicht zu trösten, wo er selbst des Trostes bedürftig war. So schwer hatte er sich die Trennung nicht gedacht, er würde sonst nicht darein gewilligt haben; aber da er das einmal getan hatte, wollte er sich in die Notwendigkeit fügen.

Er strich Ilse das Haar aus der Stirn und setzte ihr den herabgesunkenen Hut wieder auf. »Komm,« sagte er, »jetzt wollen wir gehen. Nun sei ein verständiges Kind.«

»Die Mama soll mir nicht schreiben!« stieß Ilse schluchzend heraus, »nur deine Briefe will ich haben! Meine Briefe an dich soll sie auch nicht lesen!«

»Ilse!« verwies Herr Macket, »so darfst du nicht sprechen. Die Mama hat dich lieb und meint es sehr gut mit dir.«

»Sehr gut!« wiederholte sie in kindischem Zorne, »wenn sie mich lieb hätte, würde sie mich nicht verstoßen haben!«

»Verstoßen! Du weißt nicht, was du sprichst, Ilse! Werde erst älter, dann wirst du das große Unrecht einsehen, das du heute deiner Mutter antust, und deine bösen Worte bereuen.«

»Sie ist nicht meine Mutter, – sie ist meine Stiefmutter!«

»Du bist kindisch!« sagte der Oberamtmann, »aber merke dir, niemals wieder will ich dergleichen Äußerungen von dir hören. Du kränkst mich damit!«

Ilse sah schmollend zur Erde nieder und konnte nicht begreifen, wie es kam, daß der Papa sie nicht verstand, er mußte doch einsehen, wie unrecht ihr geschah.

»Komm jetzt,« fuhr er in mildem Tone fort, »wir wollen gehen, mein Kind.« Sie ergriff den Hund, nahm ihn auf den Arm und wollte so ausgerüstet dem Vater folgen.

»Laß ihn zurück,« gebot derselbe, »wir wollen die Vorsteherin erst fragen, ob du ihn mitbringen darfst.«

Aber Ilse setzte ihren Kopf auf, »dann gehe ich auch nicht,« erklärte sie mit aller Bestimmtheit. »Ohne Bob bleibe ich auf keinen Fall in der Pension!«

Macket tat dem Eigensinne den Willen aus Furcht, von neuem Tränen hervorzulocken. Aber Ilses Widerstand war ihm im höchsten Grade peinlich. Was sollte Fräulein Raimar denken!

Eine Viertelstunde darauf standen Vater und Tochter vor einem stattlichen, zweistöckigen Hause, das vor dem Tore der kleinen Stadt mitten im Grünen lag; es war das Institut des Fräulein Raimar.

Der Oberamtmann blieb überrascht davor stehen. »Sieh Ilse, welch ein schönes Gebäude!« rief er höchst befriedigt. »Der Blick von hier aus in die nahen Berge ist geradezu bezaubernd.«

Was kümmerten sie die Berge! Sie fühlte sich so gedrückt von Kummer, daß ihr die ganze Welt ein Jammertal dünkte.

»Wie kannst du dies Haus schön finden, Papa,« entgegnete sie. »Wie ein Gefängnis sieht es aus.«

Herr Macket lachte. »Betrachte doch die hohen, breiten Fenster, Kind,« sagte er. »Glaubst du, daß in einem Gefängnisse ähnliche zu finden sind? Die armen Gefangenen sitzen hinter kleinen, blinden Scheiben, die außerdem noch mit einem Eisengitter versehen sind.«

»Ich werde jetzt auch eine Gefangene sein, Papa, und du selbst lieferst mich in dem Gefängnisse ab.«

»Du bist eine kleine Närrin!« lachte er und brach das Gespräch, das ihm bedenklich zu werden schien, ab.

Er stieg die breiten, steinernen Stufen, die zu dem Eingange führten, hinauf und zog an der Klingel. Ilse, die ihm langsam gefolgt war, schrak unwillkürlich zusammen, als sie den hellen Schall im Hause vernahm.

Gleich darauf wurde die Tür von einer Magd geöffnet. Nachdem dieselbe die Angekommenen gemeldet hatte, wurden sie in das Empfangszimmer der Vorsteherin geführt.

Bevor sie dasselbe erreichten, mußten sie den Hausflur und einen langen Korridor, von welchem zwei Ausgänge in einen schönen, großen Hof führten, durchschreiten. Es war gerade die Frühstückspause in der Schule und so war es natürlich, daß überall lachend und plaudernd große und kleine Mädchen umherstanden. Sie verstummten, als sie die neue Pensionärin, von der sie wußten, daß sie heute ankommen werde, erblickten, und aller Augen richteten sich auf Ilse, der es plötzlich höchst beklommen zu Mute wurde. Es schien ihr, als höre sie verstecktes Kichern hinter sich und sie war herzlich froh, als die Tür in dem Empfangszimmer sich hinter ihr schloß. Noch war dasselbe leer.

Ilse blickte sich um, und in diesem großen, vornehmen Raume, der künstlerisch und elegant zugleich eingerichtet war, stieg mit einem Male ein etwas banges Gefühl in ihr auf wegen Bob, sie wünschte fast, des Vaters Willen gefolgt zu sein. Hätte sie den Hund in ihrem Arme plötzlich unsichtbar machen können, sie hätte es getan. Nun wollte der Unartige auch noch herunter auf den Boden, und diesen Wunsch konnte sie ihm doch unmöglich erfüllen, wie hätte sie wagen dürfen, ihn auf den kostbaren Teppich, der durch das Zimmer gebreitet lag, herab zu lassen!

Die Tür öffnete sich und Fräulein Raimar trat ein. Sie begrüßte Herrn Macket mit steifer Freundlichkeit, dann blickte sie mit ihren stahlgrauen Augen, die einen zwar strengen, ernsten, trotzdem aber gewinnenden Ausdruck hatten, auf Ilse. Diese war dicht an den Vater getreten und hatte seine Hand ergriffen.

»Sei willkommen, mein Kind!« Mit diesen Worten begrüßte die Vorsteherin Ilse und reichte ihr die Hand. »Ich denke, du wirst dich bald bei uns heimisch fühlen.« Als sie den Hund sah, fragte sie: »Hat dich dein Hund bis hierher begleitet?«

Ilse blickte etwas hilflos den Papa an, der dann auch für sie das Wort nahm. »Sie mochte sich nicht von ihm trennen, Fräulein Raimar,« sagte er etwas verlegen, »sie glaubte, daß Sie die Güte haben würden, ihren kleinen Kameraden mit ihr aufzunehmen.«

Das Fräulein lächelte. Es war das erste Mal, daß man ihr eine solche Zumutung machte. »Es tut mir leid, Herr Oberamtmann,« sagte sie, »daß ich den ersten Wunsch Ilses rücksichtslos abschlagen muß. Sie wird verständig sein und einsehen, daß ich nicht anders handeln kann. Stelle dir einmal vor, liebes Kind, wenn alle meine Pensionärinnen den gleichen Wunsch hätten, dann würden zweiundzwanzig Hunde im Institute sein. Welch ein Spektakel würde das geben! Möchtest du das Tier gern in deiner Nähe behalten, so wüßte ich einen Ausweg. Mein Bruder, der Bürgermeister hier, wird deinen Hund gewiß aufnehmen, wenn ich ihn darum bitte; dann kannst du täglich deinen Liebling sehen.«

Ilse war rot geworden und dicke Tränen perlten in ihren Augen. »Dann bleibe ich auch nicht hier!« – sie wollte es eben aussprechen, aber sie wagte es nicht. Die Dame vor ihr hatte so etwas Unnahbares, Vornehmes in ihrem Wesen. Wie eine Fürstin erschien sie ihr trotz des schlichten, grauen Kleides, dessen kleiner Stehkragen am Halse mit einer einfachen goldenen Nadel zusammengehalten wurde. Ilse senkte den Blick und schwieg.

Der Oberamtmann lachte. »Sie haben recht, Fräulein,« sagte er, »und wir hätten das selbst vorher bedenken können. Ihre große Güte, den Hund bei Ihrem Herrn Bruder unterzubringen, wird Ilse mit vielem Danke annehmen, nicht wahr?«

Sie schüttelte den Kopf. »Fremde Leute sollen Bob nicht haben, Papa, du nimmst ihn wieder mit nach Moosdorf.«

Herr Macket schämte sich der Antwort seines Kindes, aber Fräulein Raimar überhob ihn geschickt seiner Verlegenheit. Mit ihrem erfahrenen Sinne hatte sie sofort das Trotzköpfchen vor sich erkannt. Sie tat, als merkte sie Ilses Unart nicht.

»Du hast ganz recht,« sagte sie freundlich, »es ist das beste, der Papa nimmt das Tier wieder mit in die Heimat. Du würdest durch dasselbe vielleicht doch mehr zerstreut, als mir lieb wäre. Soll die Magd den Hund in das Hotel zurücktragen, wo Sie abgestiegen sind, Herr Oberamtmann?«

»Ich will ihn selbst dorthin tragen, nicht wahr, Papachen?« fragte Ilse und hielt Bob ängstlich fest.

»Ich wünsche nicht, daß du es tust, liebe Ilse,« wandte Fräulein Raimar ein. »Ich möchte dich gleich zu Mittag hier behalten, um dich den übrigen Pensionärinnen vorzustellen. Ich halte es so für das beste. Es tut nicht gut, Herr Oberamtmann, wenn ein Kind, sobald der Vater oder die Mutter es mir übergeben haben, noch einmal mit ihnen zurückkehrt in das Hotel. Der Abschied wird ihm weit schwerer gemacht.«

»Nein, nein!« rief Ilse zitternd vor Aufregung, »ich bleibe nicht gleich hier! Ich will mit meinem Papa so lange zusammen sein, bis er abreist. Du nimmst mich mit dir, nicht, Papa?«

Es wurde Herrn Macket heiß und kalt bei ihrem Ungestüm, indes auch diesmal half ihm Fräulein Raimar über die peinliche Lage hinweg.

»Gewiß, mein Kind,« entgegnete sie mit Ruhe, »dein Wunsch soll dir erfüllt werden. Darf ich Sie bitten, Herr Oberamtmann, heute mittag mein Gast zu sein? Sie würden mich sehr erfreuen.«

Ilse warf ihrem Papa einen flehenden Blick zu, der ungefähr ausdrücken sollte: »Bleib’ nicht hier, nimm mich mit fort! Ich mag nicht hier bleiben bei dem bösen Fräulein, das mich schlecht behandeln wird!« Leider verstand er den Blick anders, er hielt ihn für eine stumme Bitte, die Einladung anzunehmen und sagte zu.

Die Vorsteherin erhob sich und zog an einer Klingelschnur. Der eintretenden Magd trug sie auf, Fräulein Güssow zu rufen. Wenige Augenblicke darauf trat dieselbe in das Zimmer.

Die Gerufene war die erste Lehrerin im Institute und wohnte daselbst. Weit jünger als die Vorsteherin, war sie eine höchst anmutige, liebenswürdige Erscheinung von sechsundzwanzig Jahren. Sämtliche Tagesschülerinnen und besonders die Pensionärinnen schwärmten für sie, sie verstand es, durch gleichmäßige Güte sich die jungen Herzen zu gewinnen.

»Wollen Sie die Güte haben, Ilse auf ihr Zimmer zu geleiten,« sagte die Vorsteherin, nachdem sie die junge Lehrerin vorgestellt hatte, »damit sie dort ihren Hut ablegen kann.«

»Gern,« erwiderte die Angeredete und trat auf Ilse zu. »Komm, liebes Kind,« sagte sie freundlich und ergriff sie bei der Hand, »jetzt werde ich dir zeigen, wo du schläfst. O, du hast ein schönes, großes Zimmer; aber du wohnst nicht allein dort. Ellinor Grey wird deine Stubengenossin sein. Sie ist ein liebes Mädchen. Du möchtest gern gleich mit ihr bekannt werden, nicht wahr?«

Ilse überhörte die Frage. Mit scheuen, ängstlichen Augen sah sie den Vater an und fragte: »Du gehst doch nicht fort, Papa?« Als er sie darüber beruhigte, folgte sie Fräulein Güssow.

»Aber den Hund mußt du wohl hier lassen, du kannst ihn doch nicht mit hinauf in dein Zimmer nehmen,« sagte Fräulein Raimar. »Du kannst ihn draußen der Magd übergeben, damit sie ihn so lange in Verwahrung nimmt.«

Fräulein Güssow dachte weniger streng als die Vorsteherin. Sie fand es nicht so schlimm, wenn Ilse ihren Hund im Arme behielt.

»Hast du ihn so sehr gern?« fragte sie, als sie mit dem jungen Mädchen den Korridor entlangging.

»Ja,« entgegnete Ilse, »sehr, sehr lieb habe ich Bob. Und ich darf ihn nicht hier behalten.«

Sie legte ihre Wange auf des Hundes Kopf und kämpfte mit dem Weinen.

»Gräme dich nicht darum, Kind,« tröstete Fräulein Güssow, »das ist nicht so schlimm. Du findest hier viel etwas Besseres. Du sollst einmal sehen, wie bald du den Bob vergessen haben wirst. Wir haben zweiundzwanzig Pensionärinnen jetzt im Institute, du wirst manche liebe Freundin unter ihnen finden. Hast du Geschwister?«

»Nein,« sagte Ilse, die ganz zutraulich gegen Fräulein Güssow wurde, »ich bin allein.«

»Nun, siehst du! Da kann ich mir deine Liebe zu dem unvernünftigen Tiere erklären, dir fehlten die Gespielinnen. Gib deinen Hund getrost dem Papa wieder mit zurück, du wirst ihn nicht vermissen.«

Sie stiegen eine Treppe hinauf und kamen auf einen großen, hellen Vorsaal, auf welchem eine Anzahl Türen mündeten. Eine derselben öffnete die Lehrerin, und sie traten in ein geräumiges Zimmer ein, das nach dem Garten führte. Die Fenster waren geöffnet und ein mächtiger Apfelbaum streckte seine Zweige fast zum Fenster hinein.

Die Einrichtung war nicht elegant, nur das Notwendigste befand sich in dem Zimmer. Zwei Betten, zwei Kommoden und zwei Kleiderschränke, dann noch ein großer Waschtisch und einige Stühle.

Als Fräulein Güssow mit Ilse eintrat, erhob sich schnell ein junges Mädchen von ungefähr siebzehn Jahren, das mit einem Buche in der Hand am Fenster gesessen hatte. Es war ein schlankes, zartgebautes Wesen, mit goldblondem Haar, das sie in einem Knoten aufgesteckt trug, mit blauen Augen und mit schelmischen Grübchen in den Wangen, sobald sie lachte. Es war Ellinor Grey, eine Engländerin.

»Hier bringe ich dir Ilse Macket, Nellie,« so wurde der Engländerin Namen allgemein abgekürzt. »Ich denke, du wirst dich ihrer liebreich annehmen.«

»O ja, ich werde ihr sehr lieben,« antwortete Nellie und reichte der Neuangekommenen die Hand. »Bleibt die Hund auch hier?« fragte sie.

»Nein,« sagte Fräulein Güssow.

»O wie schade! Es ist ein so süßes Tier!« Und sie streichelte Bob.

Es klang so drollig und sie sah so schelmisch aus, daß Ilse sofort sich von ihr angezogen fühlte. Gern hätte sie noch ein Weilchen dem komischen Geplauder Nellies zugehört, aber sie mußte dem Fräulein folgen, die sich vorgenommen hatte, ihr einige Schulräume zu zeigen. Zuerst öffnete sie die Tür zu dem Musikzimmer, dann gingen sie in den Zeichensaal und zuletzt wurde Ilse in den sogenannten großen Saal geführt. Die junge Lehrerin erzählte ihr, daß in demselben alle Examen und zuweilen auch Festlichkeiten stattfänden. Ilse hörte mit halbem Ohre, sie hatte nämlich durch eine offenstehende Tür einen Blick in eine leerstehende Klasse getan und Schulbänke darin entdeckt. Dort eingeklemmt sollte sie von jetzt an sitzen, nicht aufstehen dürfen, wenn es ihr beliebte – o, es war entsetzlich! Ein Grauen überkam sie plötzlich, ihr war, als würde ihr die Brust zusammengeschnürt.

»In welche Klasse meinst du, daß du kommen wirst?« fragte das Fräulein, »deinem Alter nach müßtest du wohl in die erste versetzt werden. Hast du deine Arbeitsbücher mitgebracht? Wie steht es mit den Sprachen? Französisch und Englisch sind dir wohl geläufig, da du stets, wie dein Papa schrieb, eine englische oder französische Gouvernante hattest.«

Von unten herauf tönte eine Glocke. Dies war eine sehr gelegene Unterbrechung für Ilse, der es unheimlich bei dem Examen wurde. Sie sagte, daß sie nicht wisse, wie weit sie sei, französisch glaube sie sprechen zu können.

»Nun laß nur, mein Kind,« meinte das Fräulein, »heute wollen wir noch nicht an das Lernen denken, bei deiner Prüfung morgen werden wir ja sehen, welch kleine Gelehrte du bist. – Wir wollen jetzt hinunter in den Speisesaal gehen, die Glocke hat uns zu Tisch gerufen.«

Als sie in denselben eintraten, fanden sie die Vorsteherin mit dem Oberamtmann bereits dort. Erstere machte ihn mit der herkömmlichen Einrichtung während des Essens bekannt. Zum Beispiel, daß die zuletzt angekommene Pensionärin stets ihren Platz neben der Vorsteherin angewiesen erhalte. Dann, daß zwei junge Mädchen wöchentlich den Tisch zu besorgen hatten. Dieselben mußten denselben decken und genau acht geben, daß nichts fehlte und sämtliche Gegenstände sauber und blank waren. Die Jüngste der Pensionärinnen sprach stets das Tischgebet.

Dem Oberamtmann gefielen die Anordnungen vortrefflich und als er seinen Blick über die junge Mädchenschar hingleiten ließ, mußte er seine Freude aussprechen, wie gesund und fröhlich fast alle aussahen.

Ilse sah auch umher, aber es waren nicht die fröhlichen und gesunden Gesichter, die sie interessierten, sondern die Schürzen. Jede Einzelne trug ein solches von ihr verachtetes Ding, und Fräulein Raimar sah nicht aus, als ob sie eine Ausnahme bei ihr gelten lassen würde.

Nach dem Gebete wurden die Speisen aufgetragen. Dieselben waren kräftig und gut gekocht, und Herr Macket konnte sich überzeugen, daß sein Kind auch in dieser Hinsicht gut versorgt sein werde.

Nach dem Essen verabschiedete er sich bald, und Ilse durfte ihn begleiten. Nellie hatte kaum davon gehört, als sie wie der Wind die Treppe hinaufflog, um gleich darauf mit Ilses Hut und Handschuhen zurückzukommen.

Diese dankte ihr dafür, und Herr Macket reichte ihr die Hand.

»Leben Sie wohl, mein Fräulein,« sagte er herzlich, denn Nellie hatte durch diese kleine Aufmerksamkeit ihn sofort für sich eingenommen, »und haben Sie Geduld mit meinem kleinen Wildfang.«

»O ja,« entgegnete Nellie, »ich werde mir schon gern von sie annehmen.«

»Nun, Ilse, wie gefällt dir das Institut?« fragte der Oberamtmann, als sie auf der Straße gingen, »ich gestehe, daß ich sehr befriedigt von hier abreise, ich weiß, ich lasse dich in guten Händen.«

»Mir gefällt es gar nicht hier!« erklärte Ilse höchst verstimmt. »Es ist mir alles so fremd, und vor dem grauen Fräulein mit dem blonden, glatten Scheitel fürchte ich mich. Sie ist so hart, so ungefällig! Du sollst sehen, Papa, sie ist nicht gut gegen mich. Warum soll ich Bob nicht behalten?«

»Du hast gehört, weshalb nicht, nun mußt du auch nicht mehr so hartnäckig auf deinen Wunsch zurückkommen,« verwies er sie leicht.

»Nun fängst auch du an, mit mir zu zanken! Niemals hast du so böse mit mir gesprochen,« rief Ilse schmerzlich beleidigt. Und sie fühlte sich in dem Gedanken, daß kein Mensch, selbst der Papa nicht, sie leiden möge, so unglücklich, daß das große Mädchen auf offner Straße zu weinen anfing.

Der Oberamtmann nahm ihren Arm und legte ihn in den seinigen. Des Kindes Tränen machten ihn so weich.

»Aber Kleines,« sagte er zärtlich und versuchte zu scherzen, »was machst du denn? Sollen dich die Leute auslachen, wenn das große, kleine Mädchen weint?«

Er führte sie zurück in das Hotel und dort fanden sie bereits Bob. Freudig bellend begrüßte er Ilse, und diese nahm ihn hoch und liebkoste ihn unter lautem Schluchzen.

Um fünf Uhr reiste der Oberamtmann wieder zurück in die Heimat. Die wenigen Stunden bis dahin vergingen schnell und stürmisch. Je näher der Abschied rückte, desto aufgeregter wurde Ilse, und es bedurfte seiner ganzen Festigkeit, um ihrem Wunsche, sie wieder mit nach Moosdorf zu nehmen, entgegenzutreten.

»Sei doch verständig!« Wie oft bat er sie in dringendem Tone darum, wenn sie in leidenschaftlicher Erregung allerhand Drohungen ausstieß, wie:

»Ich laufe heimlich davon,« oder »ich werde so ungezogen sein, daß mich das böse Fräulein wieder fortschickt!« Er wußte, sie werde beides nicht tun, aber es machte ihm doch Kummer, seinen Liebling so trostlos zu sehen.

Sie wollte ihn wenigstens zur Bahn begleiten, auch das litt Herr Macket nicht.

»Ich fahre dich zurück in das Institut und dann allein zur Bahn. So ist es am besten. Nun komm, Ilschen,« fuhr er fort, als der Wagen unten vorfuhr, und nahm sie zärtlich in den Arm, »und versprich mir ein gutes, folgsames Kind zu sein. Du sollst einmal sehen, wie bald du dich eingewöhnt haben wirst.«

Sie hing sich an seinen Hals und mochte sich nicht von ihm trennen. Es fiel ihr mit einemmal schwer auf das Herz, wie sehr sie den Papa gequält hatte in den letzten Stunden.

»Sei mir gut, mein lieber, lieber Papa!« bat sie, »sei mir gut! Du bist ja der einzige Mensch auf der Welt, der mich lieb hat!«

Als der Wagen vor der Anstalt hielt, trennte sich Ilse lautschluchzend von ihrem Vater, und als sie denselben davonfahren sah, war es ihr zu Mute, als ob sie auf einer wüsten Insel allein zurückgelassen, elendiglich untergehen müsse.

***


Noch eine Weile stand sie vor der verschlossenen Pforte, sie konnte sich nicht entschließen, an der Klingel zu ziehen. Da wurde die Tür von selbst geöffnet und Fräulein Güssow stand in derselben. Sie hatte von einem Fenster in der oberen Etage den Wagen kommen sehen und war hinuntergeeilt, um Ilse zu empfangen.

»Jetzt gehörst du zu uns, liebes Kind,« sagte sie mit warmer Herzlichkeit und nahm sie in den Arm. »Weine nicht mehr, wir werden dich alle lieb haben.«

Ilse gab keine Antwort, sie fühlte sich so unglücklich, daß selbst der liebevolle Empfang der jungen Lehrerin kein Echo in ihrem Herzen fand.

»Möchtest du auf dein Zimmer gehen?« fragte diese.

Ilse nickte stumm, sie hielt noch immer das Tuch gegen die Augen gedrückt.

»Nellie!« rief Fräulein Güssow, »gehe mit Ilse hinauf und sei ihr beim Auspacken ihrer Sachen behilflich. Du möchtest doch sicher gern deine Sachen in Ordnung haben, liebe Ilse.«

Sie wußte sehr wohl, daß Ilse durchaus nicht diesen Wunsch hatte, aber sie wußte auch, daß die Thätigkeit das beste Heilmittel gegen Kummer und Herzeleid ist.

Die beiden Mädchen begaben sich auf ihr Zimmer. Ilse setzte sich auf einen Stuhl, behielt den Hut auf dem Kopfe und starrte zum Fenster hinaus. Es fiel ihr nicht ein, ihre Sachen auszupacken, und sie war geradezu empört, daß man Dinge von ihr verlangte, die den Dienstboten zukämen. Nellie hatte schweigend den Schrank geöffnet und die Schubladen der Kommode aufgezogen, dann sah sie Ilse an, ob diese sich nicht erheben werde.

»Gib mich deiner Schlüssel, ich werde aufschließen die Koffers,« sagte sie, »wir müssen auspacken.«

Unlustig verließ Ilse ihren Platz und da sie an irgend etwas ihren augenblicklichen Unmut auslassen mußte, nahm sie ihren Hut vom Kopfe und warf ihn mitten in das Zimmer.

»Warum soll ich alles auspacken? Ich weiß gar nicht, ob ich hier bleiben werde,« sagte sie. »Mir gefällt es hier nicht!«

Nellie hatte den Hut aufgenommen und ihn auf ein Bett gelegt. »O,« sagte sie sanft, »du gewöhnst dir schon. Es geht uns alle wie dich, wenn wir kommen. Du mußt nur deiner Kopf nicht hängen lassen. Nun gib die Schlüssels, daß ich öffnen kann.«

Ilses Trotz konnte durch keine Waffe besser geschlagen werden, als durch Nellies Sanftmut. Sie gab den Schlüssel und jene schloß auf und begann auszuräumen. Ilse stand dabei und sah zu.

»O, du mußt dich dein Sachen selbst aufräumen in dein Kommode,« sagte Nellie. »Ich werde dich alles zureichen.«

Ilse hatte wenig Lust dazu, Ordnung kannte sie nur dem Namen nach. Sie nahm die sauber, mit roten Bändern gebundene Wäsche und warf sie achtlos in die Schubkasten, es war ihr gleich, wie alles zu liegen kam. Nellie sah diesem Treiben einige Augenblicke zu, dann fing sie an zu lachen.

»Was machst du?« fragte sie. »Weißt du nicht, wie Ordnung ist? Taschentücher, Kragen, Schürzen – alles wirfst du durcheinander. Das sieht sehr bunt aus. Hübsch nebeneinander mußt du es machen, so –,« und sie zog einen Kasten nach dem andern in ihrer Kommode auf und zeigte Ilse, wie sauber dort alles geordnet lag.

»Das kann ich nicht!« entgegnete Ilse. »Übrigens fällt es mir auch gar nicht ein, so viel Umstände um die dummen Sachen zu machen!«

»Dumme Sachen!« wiederholte Nellie. »O Ilse, wie kannst du so sagen! Sieh diesen feinen Taschentücher, wie sie schön gestickt, – o und diese süße Schürzen! Und du hast die schwere Bücher daraufgetan – wie hast du sie zerdrückt! – Laß nur sein,« fuhr sie fort, als Ilse im Begriffe war, Schuhe und Stiefel auf die Wäsche zu werfen, »ich werde ohne dir machen – du verstehst nix!«

Ilse ließ sich das nicht zweimal sagen. Ruhig sah sie zu, wie Nellie das Schuhzeug nahm und es unten in den Kleiderschrank stellte, wie sie überhaupt jedem Dinge den rechten Platz gab.

»O, ein schönes Buch!« rief diese plötzlich und nahm ein Buch aus dem Koffer, das höchst elegant in braunen Samt gebunden und mit silbernen Beschlägen verziert war. In der Mitte des Deckels befand sich ein kleines Schild, auf welchem eingraviert war: Ilses Tagebuch.

Ilse nahm dasselbe Nellie aus der Hand und sah es verwundert an. Was war das für ein Buch? Sie wußte nichts davon. Ein kleiner Schlüssel steckte in dem Schlosse desselben und als sie es aufgeschlossen hatte, fiel ein beschriebenes Blatt ihr gerade vor die Füße. Sie hob es auf und las:

Mein liebes Kind!

Möge dieses Buch Dein treuer Freund in der Fremde sein. Wenn Dein Herz schwer ist, flüchte zu ihm und teile ihm mit, was Dich bedrückt. Es wird verschwiegen sein und Dein Vertrauen nie mißbrauchen.

Gedenke in Liebe

Deiner

Mama.

Ohne ein Wort zu sagen, legte Ilse das Buch beiseite. Sie empfand keinen Funken Freude über die reizende Überraschung, auch blieben die liebevollen Worte der Mutter ohne Eindruck auf sie.

»Freut dir das Buch nicht?« fragte Nellie, die sich über diese Gleichgültigkeit wunderte.

Ilse schüttelte den Kopf. »Was soll ich damit?« fragte sie und ihr hübscher, frischer Mund zog sich trotzig in die Höhe, »ich schreibe niemals etwas hinein. Ich werde froh sein, wenn ich meine Aufgaben gemacht habe. Zu langen, unnützen Geschichten habe ich keine Zeit und keine Lust.«

»Ich würde viel Freude haben, wenn ich ein Mutter hätte, die mir so beschenkte,« sagte Nellie traurig.

»Ist deine Mutter tot?« fragte Ilse teilnehmend.

»O sie ist lange, lange tot,« entgegnete Nellie. »Sie starb, als ich noch eines klein Baby war. Meine Vater ist auch tot – ich bin ganz allein. Niemand hat mir recht von Herzen lieb.«

»Arme Nellie,« sagte Ilse und ergriff ihre Hand. »Aber du hast Geschwister?«

»O nein! keine Schwester – ganz allein! Ein alte Onkel laßt mir in Deutschland ausbilden, und wenn ich gutes Deutsch gelernt habe, muß ich ein Gouvernante sein.«

»Gouvernante!« rief Ilse erstaunt. »Du bist doch viel zu jung dazu! Alte Mädchen können doch erst Gouvernanten werden!«

Über diese naive Anschauung mußte Nellie herzlich lachen, und nun war ihre traurige Stimmung wieder verschwunden und ihre angeborene Heiterkeit brach hervor, wie der Sonnenstrahl durch graue Wolken. Auf Ilse aber hatte Nellies Verlassensein einen tiefen Eindruck gemacht.

»Laß mich deine Freundin sein,« bat sie in ihrer kindlich offnen Weise, »ich will dich auch sehr lieb haben.«

»Gern sollst du meine Freundin sein,« entgegnete Nellie und reichte Ilse die Hand. »Du hast mich von der erste Augenblick so nett gefallen.«

Der große Koffer war nun leer, und Nellie ergriff den kleinen und war eben im Begriffe die Riemen desselben loszuschnallen, als Ilse ihr ihn unsanft aus der Hand nahm.

»Der bleibt geschlossen!« sagte sie, »du darfst nicht sehen, was darin ist!«

»O je! Was du machst so böse Augen!« rief Nellie und stellte sich höchst erschrocken. »Hast du Heimlichkeiten in der kleine Koffer? Ist wohl Kuchen und Wurst darin?«

Nellie begleitete ihre Worte mit so komischen Gebärden, daß Ilse lachen mußte. Sie bereute auch schon ihre Heftigkeit.

»Ich war recht heftig, Nellie, sei mir nicht böse,« bat sie. »Wenn du mich nicht verraten willst, dann werde ich dir zeigen, was darin ist; aber gib mir die Hand darauf, daß du schweigen wirst.«

Nellie legte den Zeigefinger auf den Mund und besiegelte mit einem Händedrucke ihre Verschwiegenheit.

Jetzt nahm Ilse den Schlüssel, den sie am schwarzen Bande um den Hals trug, und als sie eben im Begriffe war aufzuschließen, wurde zum Abendessen geläutet.

»O wie schade!« rief Nellie, die vor Neugierde brannte, die geheimnisvollen Schätze zu sehen. »Nun müssen wir hinunter und erst nach die Schlafgehen können wir auspacken!«

»Nach dem Schlafengehen?« fragte Ilse erstaunt. »Da liegen wir ja doch in unsren Betten.«

»Schweig!« entgegnete Nellie und legte abermals den Finger auf den Mund. »Das ist meines Geheimnis.« – –

Ilse erhielt ihren Platz neben der Vorsteherin. An ihrer andern Seite saß eine junge Russin, Orla Sassuwitsch. Dieselbe war eine pikante, elegante Erscheinung mit kurzgeschnittenem, schwarzen Haar, sehr lebhaften, dunklen Augen und einem Stumpfnäschen. Sie zählte siebzehn Jahre, sah aber älter aus. Übrigens sprach sie fließend deutsch.

Ilse hätte gern neben Nellie gesessen, mit der sie in den wenigen Stunden so vertraut geworden war, die aber saß weit entfernt von ihr. Augenblicklich hatte sie ihren Platz noch gar nicht eingenommen, sondern sie stand mit noch einem Mädchen an einem Nebentische und war der Wirtschafterin behilflich, den Tee zu servieren.

Es war ein allerliebster Anblick, die jungen Mädchen mit ihren sauberen Latzschürzen so häuslich geschäftig zu sehen. Geschickt gingen sie an den Tafeln entlang und reichten die Tassen herum.

Verschiedene Schüsseln mit Butterbrötchen, die reichlich mit Wurst und Braten belegt waren, standen verteilt auf den Tischen.

Fräulein Raimar ergriff die vor ihr stehende und reichte sie Ilse.

»Nimm dir,« sagte sie, »und gib dann weiter an deine Nachbarin.«

Ilse war hungrig. Am Mittag hatte sie fast keinen Bissen genießen können, jetzt aber machte die Natur ihre Rechte geltend. Sie nahm sich vier Schnitten auf einmal, legte zwei und zwei aufeinander und verschlang den ganzen Vorrat in drei bis vier Bissen. Freilich hatte sie den Mund recht voll, die Backen traten wie geschwollen heraus, das kümmerte sie indes wenig, sie war gewohnt, von einem ländlichen Butterbrote tüchtig abzubeißen, so zarte Teebrötchen hatte sie daheim stets verschmäht. Als sie trank, hielt sie ihre Tasse mit beiden Händen und stützte die Ellbogen dabei auf den Tisch.

Fräulein Raimar hatte nicht acht auf Ilse gegeben und wurde erst aufmerksam, als sie in ihrer Nähe unterdrücktes Kichern hörte. Melanie und Grete Schwarz, zwei Schwestern aus Frankfurt am Main, die Ilse gerade gegenüber saßen, amüsierten sich köstlich über deren Ungeniertheit, stießen heimlich ihre Nachbarinnen an und zeigten verstohlen auf die nichts ahnende.

Ein strenger Blick der Vorsteherin brachte die Mädchen zur Ruhe. Sie liebte es nicht, daß über anderer Schwächen und Fehler gespottet wurde. Über Ilses unmanierliche Art zu essen sagte sie vorläufig nichts, um sie nicht vor den vielen Mädchen zu beschämen, erst unter vier Augen pflegte sie dergleichen Fehler zu rügen.

»Bist du noch hungrig, Ilse?« fragte sie. Statt einer Antwort nickte diese mit dem Kopfe, sie hatte ja erst angefangen zu essen.

Abermals wurde ihr die Brotschüssel gereicht und abermals nahm sie die gleiche Portion und verzehrte dieselbe genau in der früheren Weise.

»Die ist gefräßig!« flüsterte die fünfzehnjährige Grete ihrer um zwei Jahre älteren Schwester zu. »Sieh nur, wie sie wieder stopft.«

Melanie mußte die Hand vor den Mund halten, sonst hätte sie laut herausgelacht.

Um halb acht Uhr war das Abendessen vorbei und zugleich den Pensionärinnen die Erlaubnis gegeben, frei zu tun, was sie wollten, bis neun Uhr. Dann war Schlafenszeit.

»Komm,« sagte Nellie und trat auf Ilse zu, »ich werde mit dich in die Garten spazieren. Aber du hast ja dein Serviette noch nicht schön gelegt und die Ring drauf gezogen! Das mußt du erst machen.«

»Nein,« entgegnete Ilse, »das werde ich nicht! Wozu sind denn die Dienstmädchen da? Zu Hause hatte ich niemals nötig, solche Dinge zu tun.«

»Ist egal, meine liebe Kind. Hier mußt du solche Dinge tun, wir machen es alle.«

Richtig, da lagen sämtliche Servietten sauber zusammengewickelt, sie war die einzige, die es nicht getan hatte. Ungeduldig nahm sie die ihrige, schlug sie flüchtig zusammen und zog den Ring darüber.

»So nicht,« meinte Nellie, »das ist ungeschickt.«

Und sie faltete die Serviette noch einmal schnell und geschickt mit ihren kleinen Händen. Die junge Engländerin hatte bei allem, was sie tat, Grazie und Anmut, es war eine Lust, ihr zuzusehen.

»Nun schnell in der Garten!« sagte sie, nahm Ilses Arm und führte sie dorthin.

Es war ein hübscher Garten, den Ilse jetzt kennen lernte. Nicht so groß und parkartig wie der heimatliche, aber wohl gepflegt. Schöne, hohe Bäume standen darin, auch fehlte es nicht an lauschigen Plätzen. Von allen Seiten sah man auf die grünbewaldeten Berge.

»Ist es nicht nett hier?« fragte Nellie, habt ihr bei dich auch so schöne Berge?«

»Nein, Berge haben wir nicht,« entgegnete Ilse, »aber es gefällt mir doch besser bei uns. Es ist alles so frei, ich kann das ganze Feld übersehen. Eine Mauer haben wir auch nicht um unsren Park, nur eine grüne Hecke, das ist viel hübscher.«

Nellie zeigte ihr sämtliche Lieblingsplätze. Sie führte sie zur Schaukel, zum Turnplatz und zuletzt zu einer alten Linde, die mit ihren breiten Zweigen und Ästen einen großen, runden Raum beschattete.

»O, es ist süß hier! Nicht wahr?« fragte sie entzückt und sah mit leuchtenden Augen hinauf in das grüne Blätterdach. »Hier machen wir unsre Ruhe zu Mittag. Dieser alter Baum kann viel erzählen, wenn er sprechen will! Er weiß so viel Geheimnisse, die hier verraten sind!«

Bei dem Geplauder Nellies verging die Zeit schnell. Ilse, die am Morgen sich so unglücklich gefühlt hatte, die am Nachmittage geglaubt hatte, daß sie nie die Trennung vom Papa überleben könne, hatte schon verschiedenemal herzlich über Nellie lachen müssen, denn diese hatte eine so drollige Art, sie auf diese oder jene Pensionärin aufmerksam zu machen.

»Wie heißt das junge Mädchen, das bei Tische neben mir sitzt?« fragte Ilse.

»Die mit die kurze Haar und der Klemmer auf die Nase? Das ist Orla Sassuwitsch. Oh sie ist klug! Wir haben alle eine kleine wenig Furcht für sie, weil sie immer die Wahrheit gerade in die Gesicht sagt.«

»Das ist doch hübsch,« meinte Ilse.

»O ja, wenn sie angenehm ist, aber zuweilen tut die Wahrheit weh, das hört keiner Mensch gern. Wenn ich zu sie sagen würde: ›Orla, du hast geraucht!‹ das würde sie gar nicht gefallen, und es ist doch die Wahrheit. Ich habe durch ihr Schlüsselloch geluxt und habe große, rauchige Wolken gesehen. –«

Sie waren jetzt bei einer Trauerweide angelangt, die ihre grünen Zweige bis auf den Boden gesenkt hatte. Nellie blieb stehen und bog einige Zweige auseinander.

»Hier, Ilse, stell ich dich unsre Dichterin vor,« sagte sie lachend.

Die Angeredete blickte hinein und sah ein junges Mädchen auf einer kleinen Bank sitzen, die hochaufgeschossen, blond und blaß, und deren Gesicht mit zahllosen Sommersprossen bedeckt war. Dieselbe hatte auf dem Schoße ein dickes, blaues Heft, in welchem sie eifrig schrieb.

Mit einer gewissen neugierigen Scheu blickte Ilse sie an, es war ihr so neu, daß junge, siebzehnjährige Mädchen schon dichten können.

»Sie schreibt Romane,« fuhr Nellie fort, »aber wie! Es kommen immer zerbrochene Herzen drin vor. – Du wirst dir die Auge schaden, du hast ja keine Licht genug zu deine Romane!«

Bis dahin hatte Flora Hopfstange sich nicht stören lassen in ihrer Arbeit, jetzt aber wurde sie ärgerlich.

»Ich bitte dich, laß mich in Ruhe, Nellie!« rief sie und schlug ihr hellblaues Auge schwärmerisch auf. »Ich hatte eben einen so wundervollen Gedanken, nun habe ich ihn verloren!«

»O, ich will ihn suchen!« neckte Nellie und bückte sich auf die Erde nieder, als ob sie ihn dort finden könne.

»Du bist unausstehlich!« entgegnete Flora aufgebracht. »Du freilich hast keine Ahnung von meiner Poesie, verstehst du doch nicht einmal deutsch zu sprechen!«

»Das ist wahr,« meinte Nellie lachend und verließ mit Ilse die schwerbeleidigte Dichterin.

Melanie und Grete kamen ihnen jetzt entgegen. In ihrer Mitte führten sie ein junges Mädchen, sie mochte in Melanies Alter sein, mit lieben, sanften Gesichtszügen. Das braune Haar trug sie einfach und glatt gescheitelt, kein Härchen sprang widerspenstig hervor. Freundlich lächelte sie Ilse und Nellie an, die beiden Schwestern dagegen musterten im Vorübergehen die Neuangekommene mit spöttischen Blicken.

»Die Schwestern kennst du,« bemerkte Nellie, »sie sitzen dich gradeüber bei Tisch, aber unsre ›Artige‹ ist dich noch unbekannt. O, ich sage dich, Ilse, sie ist so artig wie eines ganz wohlgezogenes Kind. Sie ist immer der erste in alle Stunden und macht nie eine dummer Streich, kurz, Rosi Möller ist eines Musterkind.«

»Was sagst du von unsrem Musterkinde?« rief plötzlich eine fröhliche Mädchenstimme. »Nellie, Nellie, dein böses Zünglein geht sicher mit dir durch!«

»Du irrst dir, liebes Lachtaube,« entgegnete Nellie, »Ilse ist noch so fremd, ich mache ihr bekannt.«

»Wer war das?« fragte Ilse, als die kleine, runde Mädchengestalt, die an Orlas Arme hing, vorüber war.

»Das ist Annemie von Bosse, genannt Lachtaube. Sie lacht sehr viel, eigentlich immer, und sie kann keine Ende davon finden. Man muß mitlachen, sie steckt an. – Nun habe ich dich aber alle Mädchen gezeigt, die in unsre Alter sind, die anderen sind zu jung oder es sind Engländerinnen. Von die ist nicht viel zu sage, sie sind alle langweilig und sie sprechen noch viel weniger gut deutsch als ich.« –

Mit dem Schlage neun begaben sich sämtliche Pensionärinnen zurück in das Haus. Bevor sie zur Ruhe gingen, war es Sitte, daß sich alle erst in das Zimmer der Vorsteherin begaben, um ihr gute Nacht zu wünschen. Dieselbe reichte jeder einzelnen einen Kuß auf die Stirn. Zuweilen ermahnte, lobte oder tadelte sie diese oder jene dabei, wenn sie den Tag über etwas gut oder schlecht gemacht hatten, alles geschah aber in liebevollem Tone, nicht anders als wie eine Mutter zu ihrem Kinde spricht.

»Ich möchte noch mit dir sprechen, liebe Ilse,« sagte Fräulein Raimar, als Ilse ihr gute Nacht bot. »Verweile noch einen Augenblick hier.«

Und als sämtliche Mädchen das Zimmer verlassen hatten, ermahnte sie Ilse, etwas manierlicher zu essen.

»Du darfst die Tasse nicht mit beiden Händen fassen und die Ellbogen dabei aufstützen, Kind, du glaubst nicht, wie unschön das aussieht. Achte auf deine Mitschülerinnen, du wirst sehen, daß keine einzige es wie du macht. Und dann, weißt du, stecke nicht wieder so große Bissen in den Mund. Die kleinen Kinder machen es zuweilen so, aber dann nennt die Mama sie: Nimmersatt!«

Ilse war dunkelrot geworden vor Ärger über die erhaltene Ermahnung. Trotzig biß sie die Lippen aufeinander und unterdrückte eine ungezogene Antwort.

»Geh nun zu Bett, mein Kind, und schlafe gut.«

Sie war im Begriffe, Ilse einen Kuß auf die Stirn zu reichen, als diese mit einer heftigen Bewegung den Kopf zurückbog. Es war ihr unmöglich, sich von der Vorsteherin küssen zu lassen, die sie in diesem Augenblicke geradezu haßte.

Fräulein Raimar wandte sich unwillig von dem Trotzkopfe ab, ohne noch etwas zu sagen, und Ilse verließ das Zimmer.

Sie lief die Treppe hinauf und trat atemlos zu Nellie in das Zimmer. Die Türe warf sie heftig in das Schloß und schob auch noch den Riegel vor, was in der Pension streng untersagt war.

»Mach nicht der Riegel zu,« sagte Nellie, »wir dürfen das nicht tun. Wenn wir in die Bett liegen, kommt Fräulein Güssow bei uns nachsehen.«

Ilse rührte sich natürlich nicht, und Nellie mußte das selbst besorgen. Ungestüm warf sie sich auf ihr Bett und brach in Tränen aus.

»O, was ist dich?« fragte Nellie erschrocken.

»Hier bleibe ich nicht! – Ich reise morgen fort! Wenn das mein Papa wüßte, wie sie mich behandelt hat!« rief Ilse aufgeregt.

Durch viele Fragen bekam Nellie in einzelnen abgerissenen Sätzen von Ilse heraus, was Fräulein Raimar gesagt hatte.

»Ich esse ungeschickt, – ich nehme zu große Bissen – und ich bin ein Nimmersatt! Zu Hause darf ich essen, wie und was ich will! – Ich will wieder fort! Morgen reise ich! –«

»Du mußt dir nicht so viel grämen um so kleine Sach’,« sagte Nellie sanft und strich liebkosend Ilses lockiges Haar. »Fräulein Raimar ist sehr gerecht, sie meint es gut und will dir nicht beleidigen. Mit uns alle macht sie es so. Wir sind doch jung und dumm und müssen noch lernen. – Nun komm, wir legen uns jetzt in die Bett und später, wenn Fräulein Güssow bei uns eingesehen hat, stehen wir ganz leise wie die Mäuschen wieder auf und packen deiner kleine Koffer leer.«

Aber so leicht war Ilse nicht zu beruhigen. »Nein!« rief sie und sprang auf, »der kleine Koffer bleibt verschlossen! Ich reise wieder fort!«

Hastig zog sie sich aus, warf ihre Kleidungsstücke drunter und drüber und legte sich schluchzend in ihr Bett. Schweigend ordnete Nellie die zerstreuten Sachen, sie hing das schöne Kleid an einen Nagel, Ilse hatte dasselbe auf einen Stuhl geworfen, und legte alles übrige glatt und ordentlich zusammen. Dann ging auch sie zur Ruhe.

Bevor sie indes ihr Lager bestieg, kniete sie vor demselben nieder, faltete die Hände und betete leise ein kurzes Gebet.

»Gut’ Nacht, Ilse,« sagte sie dann und gab ihr einen Kuß. »Du mußt nun nicht mehr weinen, – alle Anfang ist schwer.«

Aber Ilse weinte noch lange. Ihre Gedanken kehrten zum Vater zurück und begleiteten ihn auf seiner Rückreise. In wenigen Stunden mußte er die Heimat erreicht haben. Ach, wenn er wüßte, wie sein einziges Kind behandelt wurde! Sie fühlte sich zu unglücklich in der Gefangenschaft! – Wie ein Kind weinte sie sich in den Schlaf, aber böse Träume schreckten sie mehrmals auf. Bald hielt sie eine mächtige Teetasse in der Hand und ließ sie zur Erde fallen, bald hielt ihr die Vorsteherin im grauen Kleide ein heimatliches Butterbrot dicht vor den Mund, wollte sie aber zubeißen, war es verschwunden.


Um sechs Uhr am andern Morgen hieß es: Aufgestanden! Da galt kein langes Besinnen, und wenn die jungen Glieder noch so sehr vom Schlafe befangen waren, es wurde keine Gnade geübt. Ilse pflegte daheim bald früh, bald spät aufzustehen, wie sie gerade Lust hatte. Einer bestimmten Ordnung, wie sie die Mama so sehr gewünscht, hatte sie sich nicht fügen wollen. Es wurde ihr denn auch nicht wenig schwer, so auf Kommandowort sich erheben zu müssen, gerade heute hatte sie den Wunsch, noch einigemal sich im Bette herumzudrehen, sie war so spät erst eingeschlafen. Aber daran war nicht zu denken, Nellie stand schon da und wusch sich. Mit einem Sprunge war sie Schlag sechs Uhr aus dem Bette gewesen.

»Wach auf, Ilse,« sagte sie, »um halb sieben trinken wir Kaffee.«

»Schon aufstehen,« antwortete die Verschlafene, »aber ich bin noch so müde.«

»Tut nix, du darfst nicht mehr schlafrig sein.«

Aber Ilse zögerte noch. Nellie stand schon fertig da, ja hatte schon alles, was sie zur Nacht- und Morgentoilette nötig hatte, beiseite geräumt, als sie sich langsam erhob.

»O Ilse, eile dir, du hast nur zehn Minuten Zeit! Schnell, schnell, ich will dich helfen! Wo sind dein Kamm?«

Ilse zeigte auf ein Papier, das im Fenster lag. »Dort liegen sie eingewickelt,« gab sie zur Antwort.

»Das ist nicht nett, das gefällt mir nicht,« meinte Nellie und rümpfte das Näschen. »Du mußt dich ein Taschen nähen, von grauer Stoff und rote Band, sieh, wie dies da,« und sie zeigte ihre Kammtasche, »siehst du, so ist’s fein.«

Ilse machte nicht viel Umstände mit ihrem Haar. Sie kämmte und bürstete es, damit war alles abgemacht, die natürlichen Locken ringelten sich von selbst ohne weitere Bemühung. Ein hellblaues Band schlang ihr Nellie durch dieselben und band es mit einer Schleife seitwärts zu.

»Nun noch die Schürze,« sagte sie, als Ilse soweit fertig war, »sie darf nicht fehlen.« Sie lachte, als Ilse sich dagegen sträubte.

»Du bist ein klein, albern Ding,« schalt sie und band ihr die Schürze vor, trotz Ilses heftigem Widerstande. »Gleich hältst du still! Ohn’ ein Schürzen gibt es kein Kaffee.«

Die lustige Nellie setzte es wirklich durch, daß Ilse sich ihrem Willen fügte.

»So,« sagte sie, »nun bist du schön! Die blau gestickter Schürze ist sehr nett und du bekommst einer süßer Kuß.«

An langen Tafeln saßen die Mädchen bereits, Nellie und Ilse waren die letzten. Fräulein Raimar war des Morgens niemals zugegen, nur Fräulein Güssow führte die Aufsicht. Ilse mußte sich zu ihr setzen. Als ihr der Kaffee gereicht wurde, nahm sie die Tasse ganz manierlich beim Henkel in die Hand, aß auch wie es sich gehört nicht mit großen Bissen, wie am Abend zuvor; aber sie hatte eine andere Unart, die ebenfalls zu tadeln war, sie schlürfte den Kaffee so laut, daß sie allgemeine Heiterkeit erregte.

Ilse hatte keine Ahnung, daß ihr das Gelächter galt, Orla machte sie damit bekannt.

»Du führst ja ein wahres Konzert auf,« sagte sie. »Machst du das immer so? Schön hört sich diese Tafelmusik nicht an, das kann ich dich versichern.«

Ilse fühlte sich schwer beleidigt über diese Zurechtweisung. Hastig setzte sie die Tasse nieder, erhob sich und eilte hinaus.

»Du durftest sie nicht vor all’ den übrigen so beschämen, Orla,« tadelte Fräulein Güssow, indem sie ebenfalls aufstand, um Ilse zu folgen, »das kränkt sehr.«

Ilse war gerade im Begriff in den Garten zu gehen, als die junge Lehrerin sie zurückrief.

»Wo willst du hin, Ilse?« fragte sie. »Was fällt dir ein, mein Kind, daß du nach deinem Gefallen davonläufst? Es ist nicht Sitte bei uns, daß jemand eine Mahlzeit verläßt, bevor dieselbe beendet ist. Komm gleich zurück und verzehre dein Frühstück.«

»Ich mag nicht mehr frühstücken,« entgegnete Ilse, »und ich gehe nicht wieder hinein! Sie haben mich alle ausgelacht und Orla war ungezogen gegen mich. Es geht niemand etwas an, wie ich esse und trinke, ich mache es, wie ich will! Vorschriften lasse ich mir nicht machen, nein!«

»Ehe ich weiter mit dir spreche, bitte ich dich erst ruhig und vernünftig zu sein, liebe Ilse. Ich kann nicht dulden, daß du in einem so unartigen Tone zu mir sprichst.«

Sehr ernst und nachdrücklich hatte Fräulein Güssow gesprochen, aber es klang doch ein Ton der Liebe hindurch. Ihr schönes, weiches Organ verfehlte selten den Weg zum Herzen, das lernte auch Ilse in diesem Augenblicke kennen. Sie blickte zu Boden, und etwas wie Beschämung stieg in ihr auf.

Die Lehrerin las in Ilses beweglichen Zügen und wußte, was in ihr vorging.

»Gib mir deine Hand, du kleiner Brausekopf!« sagte sie freundlich, »und versprich mir, nicht wieder so stürmisch zu sein und deiner augenblicklichen Laune zu folgen, selbst wenn du glaubst, im Rechte zu sein. Heute warst du es nicht einmal, du trankest wirklich etwas unappetitlich. Orla hat es gut gemeint, daß sie dich darauf aufmerksam machte, du darfst ihr darum nicht böse sein. So eine kleine wohlverdiente Lehre muß sich jede von euch gelegentlich gefallen lassen. Es ist doch besser, jetzt als Kind zurechtgewiesen zu werden, als wenn deine Fehler und Angewohnheiten späterhin zum Spott der Gesellschaft würden.«

Daheim hatte Ilse niemals hören wollen, daß sie eine junge Dame sei, und jetzt berührte es sie gar nicht angenehm, daß man sie gewissermaßen noch zu den Kindern rechnete.

»Nun siehst du das ein, Ilse?« fragte die Lehrerin.

Vielleicht tat sie es, aber sie würde ein Ja nicht über die Lippen gebracht haben. Fräulein Güssow begnügte sich mit ihrem Stillschweigen und nahm dasselbe für eine Zustimmung. Sie meinte, daß eine Natur wie Ilses nicht mit Gewalt zum Nachgeben gezwungen werden dürfe.

»Nun wollen wir zurück in den Speisesaal gehen,« sagte sie, und Ilse wagte keine Widerrede. Sie folgte dem Fräulein mit niedergeschlagenen Augen, sie hatte Furcht vor den vielen peinlichen Blicken, die sich alle auf sie richten würden.

Als sie eintraten, war das Zimmer leer und die Frühstückszeit vorüber. Niemand war froher als Ilse, die sich wie erlöst vorkam.

»Ich habe noch einen Auftrag für dich, Ilse,« sagte die Lehrerin. »Fräulein Raimar wünscht deine Arbeitshefte zu sehen, auch sollst du zugleich mündlich geprüft werden. In einer Stunde finde dich in dem Konferenzzimmer ein, du wirst dort zugleich deine zukünftigen Lehrer und Lehrerinnen zum Teil kennen lernen.«

»Wollen sie mich alle prüfen?« fragte Ilse etwas besorgt.

»Nein,« entgegnete das Fräulein, »aber sie werden zuhören, wenn Fräulein Raimar dich examiniert. Später wirst du dann erfahren, in welche Klasse du gesetzt bist, und morgen nimmst du zum erstenmal an dem Unterricht teil.«

Ilse ging in ihr Zimmer und suchte ihre Hefte zusammen. Sie waren nicht in der besten Verfassung. Das deutsche Aufsatzheft machte besonders keinen Staat. Verschiedene Tintenflecke zierten es, und sogar einige naseweise Fettflecke machten sich darauf breit. Das französische Heft wurde ganz beiseite gelegt. Sie hatte versucht, einige Seiten, die gar zu verschmiert aussahen, herauszureißen und durch diesen Gewaltstreich waren alle andern Blätter gelockert – unmöglich konnte sie das Buch in dieser Verfassung vorzeigen.

Nellie, die gerade eine freie Stunde hatte, sah erstaunt Ilses Treiben zu. »Was tust du?« fragte sie. »Willst du dein Bücher so an Fräulein Raimar vorzeigen? das darfst du nicht. Hat deiner Herr Pastor dir dies erlaubt? Gib schnell, ich will dich blaues Umschläge drum wickeln, das ist nett und man sieht die alte Flecken nicht.«

»Gib her!« rief Ilse gereizt. »Sie sind gut so! Es ist mir ganz egal, ob Fräulein Raimar die Flecken sieht oder nicht!«

»Nicht so zornig, Fräulein Ilse! Sie sind eine kleine, unordentliche junge Dame! Würde es dir vielleicht spaßig sein, wenn Fräulein Raimar deine Buch mit spitze Finger hoch hielt und sie alle Lehrer zeigte? O nein, das wär dich nicht egal und nicht spaßig. Besonders wenn Herr Doktor Althoff, unser deutscher Lehrer, mit seine bekannte, höhnische Lachen dir so von die Seiten ansieht und fragt: Wie alt sind Sie, mein Fräulein?«

Trotzdem Ilse ungeduldig wurde, trotzdem sie entschieden erklärte, es wäre höchst unnütz, daß so viele Umstände wegen der dummen Bücher gemacht würden, setzte Nellie ihren Willen durch.

»So, nun kannst du gehen,« sagte sie, als sie auch dem letzten Hefte ein blaues Kleid gegeben hatte, »nun bedanke dir für mein Mühe.«

»Du bist doch sehr gut, Nellie,« meinte Ilse. »Wie ist es dir nur möglich, stets so sanft und geduldig zu sein? Ich kann das nicht!«

»O, du lernst schon, Kind. Wirst noch eine ganz zahme, kleine Vogel sein!« entgegnete Nellie.

Um elf Uhr ging Ilse hinunter in das Konferenzzimmer. Als sie eintrat, fand sie mehrere Lehrer und einige Lehrerinnen anwesend. Sie saßen um einen Tisch, Fräulein Raimar nahm den Platz obenan ein.

»Tritt näher, Ilse,« sagte sie und machte mit einigen freundlichen Worten die neue Schülerin mit ihren zukünftigen Lehrern bekannt. Darauf ließ sie sich die Schreibhefte reichen. Das Aufsatzbuch fiel ihr zuerst in die Hand. Sie blätterte und las darin, und einigemal schüttelte sie den Kopf.

»Oft recht gute und klare Gedanken,« bemerkte sie zu dem neben ihr sitzenden Lehrer der deutschen Sprache, Doktor Althoff, »und dabei diese oberflächliche, flüchtige Schrift. Sehen Sie einmal, ›uns‹ mit einem ›z‹ geschrieben – ›Land‹ mit einem ›t‹. Da werden wir viel Versäumtes nachzuholen haben. Wie schreibst du ›Land‹, Ilse, buchstabiere einmal.«

Ilse konnte unmöglich diese Frage für ernst halten. War sie denn ein kleines Mädchen aus der A-B-C-Klasse? Sie zögerte mit der Antwort.

Die Vorsteherin indes war nicht gewöhnt zu scherzen, sie sah erstaunt die schweigende Ilse an.

»Wie du Land schreibst, möchte ich von dir wissen,« wiederholte sie noch einmal in bestimmtem Tone, der jeden Zweifel, ob er ernst gemeint sei oder nicht, benahm.

Ilse kräuselte etwas unwillig die Stirn, zog die Lippe in die Höhe und buchstabierte so schnell, daß man ihr kaum folgen konnte: L–a–n–d. Den Blick hatte sie zum Fenster hinausgewandt, um Fräulein Raimar nicht anzusehen.

»Also nur flüchtig, ich dachte es mir,« sagte diese. »Wenn du in Zukunft deine Aufsätze machst, wirst du sehr aufmerksam sein. Fehler, wie ich sie in deinen Aufgaben finde, kommen bei uns nicht mehr in der dritten Klasse vor.«

Es wurden nun Ilse Fragen in den verschiedensten Fächern vorgelegt. Manchmal fielen die Antworten überraschend aus, zuweilen dagegen geradezu einfältig. Doktor Althoff lächelte einigemal, was Ilse das Blut bis hinauf in die braunen Locken trieb. Sie ärgerte sich darüber und drehte ihr Taschentuch wie eine Wurst fest zusammen.

Im Französischen bestand sie gut. Monsieur Michael, der französische Lehrer, ein älterer Herr mit weißem Haar, redete sie gleich in dieser Sprache an, sie antwortete ihm korrekt und fließend.

Miß Lead, die englische Lehrerin, die ebenfalls im Institute wohnte, hatte weniger Glück bei ihrer Anrede. Ilse holperte sehr, als sie die Antwort gab.

»Nun kannst du uns verlassen, Kind,« sagte Fräulein Raimar. »Dein Examen ist zu Ende. Später werde ich dir mitteilen, welche Klasse du besuchen wirst.«

Nachdem Ilse das Zimmer verlassen, wurde nach einigem Hin- und Herberaten der Beschluß gefaßt, sie in die zweite Klasse zu geben, im Französischen solle sie indes die erste besuchen.

»Ich glaube, Ilse wird uns viel Not machen,« äußerte die Vorsteherin besorgt. »Sie ist widerspenstig und trotzig, auch kann sie nicht den geringsten Tadel vertragen.«

»Aber sie hat ein gutes Herz,« fiel Fräulein Güssow lebhaft ein. »Ich habe noch keine Beweise dafür, aber ich lese es in ihrem schönen, offnen Auge. Ich bin überzeugt, daß ich mich nicht täusche. Eins ist mir indes klar, mit Strenge werden wir wenig ausrichten, dagegen hoffe ich, mit Liebe und Energie wird es uns gelingen, ihren Trotz zu zähmen.«

»Das ist ganz meine Ansicht!« stimmte Monsieur Michael bei, »Sie werden sehen, meine Damen und Herren, Mademoiselle Ilse wird eine Zierde der Pension sein! Mit welcher Eleganz spricht sie französisch, wie gewählt setzt sie die Worte! Ah, sie ist ein Genie!« – Der kleine Herr hatte sich ordentlich in Begeisterung gesprochen und seine Worte mit lebhaften Gestikulationen begleitet.

»Ich wünsche von Herzen, daß Sie recht haben mögen,« entgegnete Fräulein Raimar und erhob sich von ihrem Platze. »An Liebe und Nachsicht wollen wir es nicht fehlen lassen, vielleicht gelingt es uns, Ilse verständig und gefügig zu machen.« –

Fürs erste schien noch wenig Aussicht dazu. Beim Mittagessen legte Ilse wieder den Beweis ab, wie recht Fräulein Raimar hatte, wenn sie behauptete, daß Ilse keinen Tadel vertragen könne.

Sie hielt die Gabel schlecht. Die Fingerspitzen berührten fast die Speisen. Das Gemüse verzehrte sie mit dem Messer und so heiß, daß sie manchmal, um sich nicht zu verbrennen, den Bissen wieder aus dem Munde fallen ließ. Auch hielt sie den Kopf sehr tief über den Teller gebeugt, was ihr das Aussehen eines hungrigen Kindes gab.

»Sitze gerade, liebe Ilse,« ermahnte die Vorsteherin, »es ist dir nicht gesund, so krumm zu sitzen.«

»Ich esse immer so,« erwiderte sie ziemlich kurz.

»Ich aß immer so, meinst du wohl, mein Kind, denn hier wirst du dich daran gewöhnen, zu tun, was Sitte ist ... Hast du zu Hause auch stets die Gabel so kurz gefaßt und mit dem Messer gegessen?«

»Ja,« sagte Ilse und warf den Kopf leicht in den Nacken. »Papa hatte nie etwas an mir auszusetzen, er war zufrieden, wenn es mir nur schmeckte.«

»Aber die Mama, hat auch sie deine Art zu essen gutgeheißen?«

Ilse schwieg. Eine Unwahrheit konnte und mochte sie nicht sagen, denn wie oft hatte die Mutter sie ermahnt, und wie oft hatte sie derselben zur Antwort gegeben: »Dann will ich gar nichts essen, wenn du mich immer tadelst.«

Das Fräulein hatte leise, nur für Ilse verständlich gesprochen. Niemand ahnte, was sie sagte, denn ihre Züge sahen mild und freundlich aus. Eine Antwort auf ihre Frage wartete sie nicht ab, aber es gefiel ihr, daß Ilse lieber schwieg, als gegen ihre Überzeugung sprach.

»Nun iß nur, Kind,« fuhr sie fort, »mit der Zeit wirst du dich schon gewöhnen. In wenigen Wochen hast du alle deine kleinen Unebenheiten abgestreift und wir werden niemals nötig haben, etwas an dir zu rügen. Nicht wahr?«

»Ich weiß es nicht,« erwiderte Ilse und sah mit einem ziemlich verdrießlichen Gesicht auf ihren Teller nieder.

»Du mußt dir Mühe geben, dann wird es schon gehen.«

Dazu schwieg Ilse. Natürlich war sie fest davon überzeugt, daß ihr das größte Unrecht geschah. Warum sollte sie nicht natürlich essen? Der Papa hatte stets gesagt, sie solle keine Zierpuppe werden, nun hatte man bei allem, was sie tat und wie sie es tat, etwas auszusetzen. Sie wagte kaum noch etwas zu genießen und wenn das so weiter ging, wollte sie lieber verhungern. –

***

Am Abend, als Nellie und Ilse sich schlafen gelegt hatten, als Fräulein Güssow bereits ihre Runde gemacht, als das Licht gelöscht und alles still im Hause war, rief Nellie, »wachst du, Ilse?«

»Ja,« antwortete diese, »was soll ich?«

»Zieh dir leise an, wir wollen dein kleiner Koffer auspacken.«

»Es ist ja aber dunkel,« meinte Ilse.

»O laß nur, ich habe schon eine Licht.«

Leicht und unhörbar stieg Nellie aus ihrem Bette und ging auf Strümpfen an ihre Kommode. Sie zog den oberen Kasten vorsichtig heraus und nahm einen kleinen Wachsstock aus demselben. Nachdem sie ihn angezündet hatte, stellte sie ein Buch davor, damit kein Lichtschimmer durch das Fenster drang.

»Ist doch fein, nicht?« fragte sie. »Nun eile dich aber,« trieb sie Ilse, die sich flüchtig ankleidete.

»Wo hast du der Schlüssel?«

»Hier habe ich ihn,« entgegnete Ilse und zog ihn unter dem Kopfkissen hervor, »ich werde selbst aufschließen.«

Nellie leuchtete mit dem Wachsstocke und hielt die Hand davor. Vornübergebeugt stand sie in neugieriger Erwartung, der Schätze harrend, die sich vor ihren Augen auftun würden. Recht enttäuscht wurde sie, als Ilse anfing auszupacken. Die erwarteten Delikatessen – Nellie war eine Freundin davon – kamen nicht zum Vorschein.

»O, hast du keine Kuchen?« fragte sie, warf den Plunder heraus und durchsuchte mit der Hand bis auf den Grund.

»Au, au!« rief sie plötzlich und fuhr mit der Hand zurück. »Was ist dies? Ich habe mir gestochen!« Und richtig, ein roter Blutstropfen hing an dem kleinen Finger.

Ilse begriff nicht, woher die Verwundung kam, bis sie selbst in den Koffer griff und die Ursache entdeckte, – – o Schrecken! das Glas mit dem Laubfrosche war zerbrochen, und Nellie hatte sich an einem Glassplitter geritzt.

»Wo nur der Frosch ist,« sagte Ilse ängstlich und räumte die Scherben fort.

»Was? – eine Frosch? Eine lebendige Frosch? O je – hast du ihn verpackt? Wie kannst du so eine arme Tier in die Koffer tun? Ohne Luft muß er tot gehen!«

Ilse hatte soeben den kleinen Laubfrosch gefunden, – natürlich war er tot. Sie legte ihn auf die flache Hand und hauchte ihn an, vielleicht brachte sie ihn wieder zum Leben. Nellie lachte sie aus.

»Du hast die arm, klein Frosch gemordet,« sagte sie und nahm ihn in die Hand. »O, er ist kaput! Er kriegt keine Leben wieder, niemals! Morgen früh wollen wir ihn in ein Schachtel legen und unter die Linde vergraben.«

Ilse sah traurig auf den Frosch und die Tränen traten ihr in die Augen. Sie hatte das Tierchen selbst gefangen, es stets gefüttert und eine große Freude daran gehabt, nun hatte sie es getötet durch eigne Schuld.

»Wie schlecht von mir, daß ich so dumm sein konnte!« klagte sie sich an. »Ich dachte gar nicht daran, als ich meine Sachen packte, daß er ersticken müsse. Es ging so schnell –«

Einigermaßen tröstete sie die Aussicht auf das Begräbnis unter der Linde.

»Wir machen eine kleiner Hügel,« sagte Nellie, »und pflanzen Blumen darauf. Und ein klein Holzkreuz stecken wir in die Erden und schreiben daran: Hier ruht Ilses Frosch. Er mußte sein junge Leben lassen, weil ihm der Luft ausging.«

Dieser komische Einfall trocknete Ilses Tränen, sie mußte darüber lachen.

Als sie den ausgestopften Kanarienvogel ansah, fand sie, daß er sehr gelitten hatte. Das Köpfchen war ganz breit gedrückt und der eine Flügel hing herunter. Nellie gab ihm wieder einige Façon. Sie drückte den Kopf rund und versprach auch, den Flügel wieder gut zu machen. Sie wollte ihn am andern Tage anleimen.

»Laß mir nur machen,« sagte sie, »ich werde ihm schon wieder in die Ordnung bringen.«

»Was ist denn das?« fragte sie plötzlich und hielt Ilses Blusenkleid in die Höhe, »warum hast du diese schmacklose Robe eingepackt, – und die alte schmutzige Stiefel, – was soll damit?«

Warum? Darüber hatte Ilse selbst noch nicht nachgedacht, aber sie war ärgerlich, ihr Lieblingskostüm so verachtet zu sehen.

»Du verstehst nichts davon,« sagte sie und nahm es Nellie fort. »Es ist mein liebster und schönster Anzug! Ich mag die andern Kleider gar nicht leiden, sie sitzen so fest und sehen so geziert aus.«

»O laß mir ihn probieren,« bat Nellie, »ich will ihn anziehen.«

Dagegen hatte Ilse nichts einzuwenden. Sie half Nellie ankleiden und in wenigen Augenblicken stand diese in einem ganz wunderbaren Aufzuge da.

Der Rock war ihr zu kurz, da sie etwas größer als Ilse war, unter demselben sah das lange, weiße Nachtgewand hervor, die Bluse war stellenweise zerrissen und Nellie hatte den Ärmel verfehlt und war durch ein großes Loch dicht daneben herausgefahren, so daß der Ärmel auf dem Rücken hing. Nachdem sie auch noch den schäbigen Ledergürtel um ihre zierliche Taille geschnallt hatte, stand sie fertig da, bis auf die Stiefel, die sie nicht anziehen mochte, weil sie zu schmutzig waren.

»Bequem ist diese Kostüm, das ist wahr,« sagte sie und fing an, allerhand lustige Sprünge auszuführen und sich im Kreise zu drehen. »Man ist so luftig – so leicht!«

Ilse brach plötzlich in ein so herzhaftes Gelächter aus, daß Nellie auf sie zueilte und ihr den Mund mit der Hand verschloß.

»Du darfst nicht so toll lachen,« sagte sie, »du wirst uns verraten!«

»Ich kann nicht anders, du siehst ja zum totlachen aus.«

Nellie trat mit dem Wachsstocke vor den kleinen Spiegel und betrachtete sich.

»O wie abscheulich!« sagte sie und riß die Sachen herunter, »wie kannst du so ein häßlicher Anzug schön finden!«

Ilse verschloß ihre Herrlichkeiten wieder in den Koffer, dann wurde das Licht gelöscht und in wenigen Augenblicken schliefen die beiden Mädchen fest und tief.


***

Vierzehn Tage waren seit Ilses Aufnahme in der Pension vergangen. Manche bittre Träne hatte sie in der kurzen Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit erschien, geweint, und oft, recht oft hatte sie die Feder angesetzt, um dem Vater zu schreiben, daß er sie zurückholen möge. Nur weil sie sich vor der Mutter scheute, tat sie es nicht. Erst zweimal hatte sie die vielen und langen Briefe, die sie aus der Heimat erhalten, beantwortet, nur ganz kurz und mit der Entschuldigung, daß ihr die Zeit zu längeren Briefen fehle.

Endlich, eines Sonntag Nachmittags, den fast alle Pensionärinnen zum Briefschreiben benutzten, setzte auch sie sich dazu nieder. Große Lust hatte sie indessen nicht. Sie wußte gar nicht recht, was sie schreiben sollte; wie es ihr eigentlich um das Herz war, mochte sie ja doch nicht sagen.

Sie schlug die neue Schreibmappe auf, wählte nach langem Suchen einen rosa Bogen mit einer Schwalbe darauf, tauchte eine Feder in das Tintenfaß und – malte allerhand Schnörkeleien auf ein Stückchen Papier. Nachdem sie diese Unterhaltung ein Weilchen getrieben, begann sie endlich den Brief. Nach wenigen Zeilen hörte sie auf und legte das Geschriebene beiseite. Der Anfang gefiel ihr nicht. Es wurde ein neuer Schwalbenbogen geopfert und noch einer. Der vierte endlich hatte mehr Glück. Sie beschrieb denselben von Anfang bis zu Ende, ja, sie nahm noch einen fünften Bogen dazu. Sie war nun einmal in das Plaudern gekommen, immer wieder fiel ihr etwas ein, das sie dem Papa mitteilen mußte.

Als sie zu Ende war, durchlas sie noch einmal ihre lange Epistel und wir blicken ihr über die Schulter und lesen mit.

Der Trotzkopf - Alle vier Bände

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