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5 Strudel in der Schleuse

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Als Liebknecht wieder ins Fraktionszimmer kam, entging ihm nicht, dass mehrere Genossen ihre Geschäftigkeit unterbrachen, dann plötzlich von dringenden Verpflichtungen sprachen und geräuschlos verschwanden. Es war Pause nach einer Wahlrechtsdiskussion, alle wussten, als Nächstes sollte über das Krupp-Material entschieden werden. Liebknecht sah, wie sich Legien, Sassenbach und Fischer solcherart aus der Verantwortung schlichen. Ledebour bemerkte es mit Stirnrunzeln, seine buschigen Brauen über den tief liegenden scharfen Augen schienen sich zu sträuben. Demonstrativ rückte er seinen Stuhl zurecht, wartete auf die Beendigung der Pause. Als auch Hugo Haase seine Aktentasche packte, um zu gehen, trat Liebknecht fragend auf ihn zu. Entschuldigend zog der eher untersetzte als schlanke Mann mit der hohen Stirn und den tiefen Geheimratsecken seine Taschenuhr. "Habe heute Abend ein Referat über Wahlrecht und Marokko-Abenteuer in meinem Wahlkreis und noch keinen der neuen Gesichtspunkte ins Konzept eingearbeitet."

Liebknecht hatte ebenfalls einen Blick auf das Zifferblatt geworfen. "Es ist noch nicht vier Uhr."

"Die vier Stunden brauche ich schon, um mich vorzubereiten. Da ist weder eine Ruhepause drin noch die Fahrzeit." Die freundlichen blauen Augen Haases blickten unsicher und schuldbewusst.

Liebknecht verhehlte seine Enttäuschung nicht. "Wie Sie meinen, Genosse Haase."

Hugo Haase hatte mit Vorwürfen gerechnet und war entwaffnet. Beteuernd flüsterte er auf Liebknecht ein. "Sie wissen, dass ich Ihre Auffassung teile, mit Ihrem Verfahrensweg einverstanden bin. Sie können sich jederzeit darauf berufen." Er versuchte zu scherzen, es klang gequält: "Wirklich, Sie haben meinen Segen. Unterschätzen Sie bitte die Fraktionsfreunde nicht. Keiner wird so naiv sein, sich gegen das Material zu exponieren. Die Sache geht kampflos über die Bühne."

"Ich teile Ihren Zweckoptimismus nicht, aber - na ja." Versöhnlich gab Liebknecht Hugo Haase die Hand. "Schenken Sie den Säbelrasslern nichts."

Erleichtert ging Haase hinaus, leise und rasch. Liebknecht sah ihm mit Bedauern nach. Nicht, dass Haases Anwesenheit alles entschieden hätte. Er wirkte eher durch seine Persönlichkeit als durch eine Rede. Haases Stimme war wenig modulationsfähig, er wurde schnell heiser, suchte es durch Anstrengung niederzuhalten, dann kam der harte ostpreußische Akzent zum Durchbruch und bildet keinen glücklichen Gegensatz zu dem milden, menschenfreundlichen Mann. Eifersüchteleien waren ihm fremd. Stets gedachte Liebknecht dankbar der immensen Vorarbeit Haases im Königsberger Prozess, als sie beide gemeinsam die Verteidigung der angeklagten Genossen übernommen hatten. In jenem Jahr 1904 begann ihre Freundschaft, und es war kein Zufall, dass Haase 1907 der Verteidiger Liebknechts im Leipziger Hochverratsprozess wurde. Er war zuverlässig, Freunden gegenüber selbstlos. In der Partei schätzte man Haases forensisches Wissen ebenso wie seine immer wache Hilfsbereitschaft.

Ledebours Finger trommelten fordernd auf die Tischplatte. Molkenbuhr, der den Fraktionsvorsitzenden Haase vertrat, schaute gereizt zu Ledebour hinüber und machte eine Geste, die heißen mochte: so alt und noch so ungeduldig. Er bat die Genossen Platz zu nehmen. Während er in mehreren Mappen nach der Notiz Liebknechts suchte, begann er, als handele es sich um eine der vielen Routinesachen: "Genossen, es geht darum ..., Genosse Liebknecht informierte uns ..., ja, richtig, hier ist es. Er bittet die Fraktion um eine Stellungnahme zu einem, zu gewissen Materialien, die er für äußerst wichtig hält. Es sind ..., bitte, Genosse Liebknecht, würden Sie kurz skizzieren?"

Liebknecht, der einige der markantesten Schriftstücke herumgegeben hatte, stand auf, umriss knapp den Inhalt des Hefters und erklärte, was er damit zu tun gedenke.

"Ein feines Kuckucksei, das man Ihnen da ins Nest gelegt hat, Genosse Liebknecht." David schien von der Wertlosigkeit des Materials fest überzeugt zu sein.

"Ich möchte es aber genau wissen, Genosse David, deshalb mein Vorschlag." Liebknecht sagte es verhältnismäßig gelassen.

"Teure Wissbegierde. Den Fraktionsapparat in Bewegung zu setzen für eine Sache, die neunundneunzig zu eins faul ist."

Er spielt wieder einmal den Erzengel der Fraktion, dachte Liebknecht und lächelte ein wenig boshaft "Wer sieht einem Ei an, dass es faul ist? Um das festzustellen, muss man es anschlagen. Doch ein Kuckucksei gebiert ja einen großen, prächtigen Vogel, Genosse David - falls es entsprechend behandelt wird."

Molkenbuhr klopfte mahnend mit dem Fingerknöchel auf die Tischplatte, als Gemurmel aufkam.

Ledebour meldete sich und erhob sich zugleich. "Ich möchte den Genossen David ersuchen, die Angelegenheit ernsthafter zu behandeln. So etwas lässt sich nicht mit einer schiefen Metapher bagatellisieren."

Molkenbuhr hatte Südekum mit einer Kopfbewegung das Wort erteilt. Der als ehrgeizig bekannte Mann verstaute einen Bleistiftanspitzer im Schreibnecessaire, während er raunzte: "Mir fehlt leider die Zeit für Wortspiele und Poetikastereien. Ich bin überzeugt, es handelt sich um eine abgefeimte Intrige. Es wäre nicht das erste Mal, dass man versucht, die Partei auf diese Weise zu desavouieren, besonders aber den, der auf Derartiges hereinfällt, Genosse Liebknecht."

Plötzlich sorgen sie sich um mein Ansehen, belustigte sich Liebknecht, sonst werden sie nicht müde, mich als Querkopf, Ehrgeizling und noch übler zu verschreien. "Reinfall?", fragte er Südekum, "wenn ich diese Papiere pflichtgemäß dem preußischen Kriegsminister übergebe?"

Südekum widersprach. "Von Heeringen würde nicht zögern, dem Hause Mitteilung davon zu machen, mit welch unseriösen Dingen ihn gewisse Abgeordnete belästigen."

Liebknecht verkniff sich den Spott nicht. "Für so dumm wollen wir ihn bitte nicht halten. Ich würde ihn fragen, ob er jede anonyme Anzeige unter den Tisch wische. Auf eine Bejahung würde ich fragen, auch im Fall eines Landesverrats? Dann säße er schon in der Klemme. Selbst wenn er klipp und klar die Unechtheit beweisen könnte, bliebe uns ein handfestes Indiz, mit welch infamen Mitteln die Gegenseite arbeitet. Glauben Sie mir, verehrter Genosse Südekum, ob echt oder unecht, Heeringen wird alles versuchen, dass nichts davon vor den Reichstag kommt. Unsere Gegner verlören immer dabei."

"Genosse Liebknecht überschätzt wieder mal die Möglichkeit, im Reichstag mit juristischen Kniffen und Pfiffen Erfolg zu haben." Wels sagte es und blieb dabei geruhsam sitzen. "Damit mag man im Gerichtssaal Eindruck schinden, doch Sie wissen sehr gut, wie leer die Bänke oft sind, wie das Haus mit Sach- und Spezialfragen überfordert ist. Von der moralischen Seite her gebe ich Ihnen recht, nur, Politik wird leider nicht im Himmel gemacht. Der Reichstag ist schon bei ganz anderen Sachen zur Tagesordnung übergegangen. Mein Vorschlag: in den Papierkorb damit, Genosse Liebknecht."

Dr. Lensch meldete sich, Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung. Liebknecht war gespannt, was er sagen würde. Etliche Genossen meinten, Lensch bekomme manchmal Angst vor der eigenen Courage. Liebknecht war sich nicht sicher, ob dies nicht ihrer Enttäuschung entsprang. Denn bis 1907, über fünf Jahre, war Franz Mehring Chefredakteur des Blattes gewesen. Und einen Mann dieses Formats gab es nur einmal.

Dr. Lensch wandte sich verbindlich lächelnd an Wels. "Niemand bestreitet das Desinteresse gegenüber dem üblichen Routinekram. Doch wie könnte man die Angelegenheit des Genossen Liebknecht damit verwechseln? Denn hier geht es um die heiligsten Güter der Nation - Lesart der Reaktion, wenn ihr Profit in Gefahr ist ..."

"Das ist einer der Kernpunkte!", rief Liebknecht.

"Wenn das Material kein Schwindel ist!" fauchte Wels. Sein breites, schwammiges Gericht überzog sich mit hektischer Röte.

Molkenbuhr hatte Liebknecht zur Ordnung rufen wollen, auf den folgenden Zwischenruf Wels' schluckte er seinen Unmut.

Dr. Lensch fuhr fort: "Genosse Liebknecht hat bereits betont, ob echt oder unecht, es handelt sich um einen neuralgischen Punkt der Kriegskamarilla, und das ist wichtig. Außerdem scheint mir die Darstellung des Reichstags als einer automatisch schnurrenden Maschine, die durch niemand und nichts zu beeinflussen ist, gelinde gesagt, unzutreffend. Es liegt wohl auch an uns, ob es so ist oder anders. Zumindest vom Genossen Ebert hatte ich erfreute Zustimmung erwartet, leider schweigt er sich aus. Schließlich unterstehen ihm die Jugendausschüsse der Partei. Wer verblutet zuerst auf den Schlachtfeldern? Die Jugend. Hier ist uns womöglich ein aufrüttelnder Beweis gegen ihre Schlächter in die Hand gegeben. Weiteres zum brennenden Thema Jugend und Krieg zu sagen, spare ich mir, die Schrift des Genossen Liebknecht dürfte hinlänglich bekannt sein."

"An Kürze und Zurückhaltung wollte ich eben erinnern, Genossen." Grämlichen Gesichts hatte Molkenbuhr die Zustimmung zu Lenschs Worten in den Mienen mehrerer Fraktionsmitglieder vermerkt, "Unsere Zeit ist schon über Gebühr beansprucht, deshalb bitte keine Generaldebatten."

"Die Angelegenheit könnte längst positiv entschieden sein, versuchten manche Genossen nicht, ein Zentralthema unserer Politik zur Lappalie abzuwerten." Ledebour sagte es zu Molkenbuhr gewandt, seine leicht heisere Stimme ließ an das Wuffen eines gereizten Neufundländers denken.

Schweigend hatte Noske bisher die Debatte verfolgt. Selten war ihm anzumerken, was hinter seiner Stirn vorging. Die hervorstehenden Backenknochen im Verein mit dem Schnauzbart erinnerten an einen Kosakenhetman. Er räusperte sich gegen die allgemeine Unruhe, nachdem ihm Molkenbuhr das Wort erteilt hatte. "Mehrmals wurde hier von sogenanntem Routinekram gesprochen. Darin sehe ich eine der Erbsünden der Partei. Allzu viele Fantasten und Philanthropen gefallen sich in schwungvollen Phrasen, vor der Kleinarbeit in den Ausschüssen drücken sie sich. Das kostet nämlich Arbeit und bringt keinen Ruhm. Aber mit schönen Reden ist nichts getan."

"Mit Schweigen auch nicht!", widersprach ein sonorer Bass, und Molkenbuhr ärgerte sich, dass er den Zwischenrufer nicht zu eruieren vermochte.

Noske hob die Stimme, bei ihm das Höchstmaß dessen, was er an innerer Erregung zeigte. "Was gesagt werden muss, soll heraus. Wenn notwendig, habe ich bewiesen, dass ich mich vorm Sprechen nicht fürchte."

"Das merkten wir bereits neunzehnhundertsieben bei Ihrer berüchtigten Reichstagsrede. Immer wenn es sich um die Verteidigung des Heeresetats oder um die Kolonialpolitik handelt, werden Sie mobil!" Ledebour sagte es scharf skandierend, beherrscht und eisig.

"Tatsächlich, Genosse Noske, der Kriegsminister war damals begeistert von Ihrer Redekunst!"

"Ihre öffentliche Attacke im gleichen Jahr gegen Rosa Luxemburg war echt und ungekünstelt!"

"Als Bebel Sie deswegen zurechtwies, soll in seinem Brief auch etwas von traurigen Gesellen gestanden haben, stimmt das?"

"Man kennt doch den Inhalt des Briefes. Bebel drückte darin auch seine Enttäuschung über Genossen Noske aus, in den er große Hoffnungen gesetzt hatte!"

"Verständlich, hat doch Genosse Noske Bebels Flinte gegen den Zarismus im entgegengesetzten Sinn missbraucht!"

Dicht aufeinander waren die Zwischenrufe erfolgt. Sie zeigten deutlich die Stimmung gegen Noske, der sich selbst beim rechten Flügel der Partei nicht ungeteilter Sympathie erfreute.

Scheidemann, der etwas später ins Fraktionszimmer gekommen war, hatte fast als Einziger schweigend die Turbulenz beobachtet. Seinen Unmut verbarg er hinter einem überlegenen Lächeln. Nervös strichen seine langgliedrigen Finger den Spitzbart, unhörbar murmelte er: "Dieser Elefant im Porzellanladen, so zuverlässig er ist, so plump und ungeschickt ist Gustav oft."

Liebknecht hatte sich Unterlagen über Noske eingesteckt, überzeugt, wenn der anwesend ist, wird er gegen den Plan Stellung nehmen. Obwohl Noske noch nicht zur Sache selbst gesprochen hatte, war er mit Vorwürfen eingedeckt worden. Liebknecht fröstelte stets in Gegenwart dieses unzugänglichen Menschen. Immer die gleiche, fast steinerne Unbewegtheit. Dieser ehemalige Korbmachergeselle ist ein gefährlicher Karrierist. Gefährlich deshalb, weil ihm die üblichen äußeren Merkmale des Karrieristen fehlen, was man von seinem Busenfreund Scheidemann nicht behaupten kann. Noske ist weder geschmeidig noch besonders intelligent. Weder im Ton, in den Manieren, noch in seinem Habitus würde er jemals auf das Niveau Scheidemanns gelangen. Zwei Eigenschaften haben ihn Stufe um Stufe die Treppe der Parteihierarchie hinaufgebracht: immenser Fleiß, eiserne Beharrlichkeit. Stubborn, würden die Engländer sagen, ich weiß kein treffenderes Wort im Deutschen dafür. Neunzehnhundertsieben hat er dicht vor dem Parteiausschluss gestanden, die Partei hat einen großen Fehler gemacht, das nicht bis zu Ende durchzufechten. Wenn ich überhaupt jemals Gefühlsregungen an ihm beobachtet habe, dann die eines widerlichen Geschmeicheltseins beim Lob von der rechten Seite. Für eine Anerkennung des Kriegsministers oder des Kanzlers nimmt er gelassen hundert Vorwürfe der Genossen in Kauf. Die Adligen der Konservativen belächeln seinen beflissenen Diensteifer ebenso wie die Liberalen. Sie können sich kein besseres Trojanisches Pferd in unserem Stall wünschen. Wo die Opportunisten einen brauchen der zupackt, ohne nach rechts oder links zu schauen, da benutzen sie ihn. Ein treuer Stallknecht, der seinen Auftraggebern manchmal über den Kopf zu wachsen droht. Mit wachem Instinkt hat er die schwachen Stellen im Parteiapparat entdeckt. Wer drückt sich nicht gern vor der mühseligen, zeitraubenden Arbeit in den Fachkommissionen, den Etatsausschüssen? So mauserte er sich bald zum Spezialisten in Fragen des Heeresetats und der Kolonialpolitik. Neuerdings stiftet er außerdem Unfug im Marineausschuss. Noske ist Synonym für alles der Partei anhaftende Kleinbürgerliche, Kompromisslerische, Unsozialistische. Jeder marxistische Terminus ist ihm zuwider, und er brüstet sich sogar damit.

Weidlich machte Molkenbuhr seinem Ärger Luft. Je nach Temperament ließen die gerügten Zwischenrufer mit schuldbewusster Miene oder nonchalant lächelnd die Philippika über sich ergehen. Noske saß dabei, als hätte der Tumult wenig mit ihm zu tun. Als Ruhe eingetreten war, wandte er sich abrupt an den letzten Zwischenrufer. "Wenn Sie so genau über meinen Briefwechsel mit Bebel Bescheid wissen, dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass er sich später revidiert hat."

Gelächter erscholl, und Molkenbuhr schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Noske blickte ihn kopfschüttelnd an, als wollte er sagen, schone deine Nerven, ich tue es auch. Unvermittelt ging er dann zum Thema über. "Was jenes Material anbelangt, kann ich mich nur über die Weltfremdheit mancher Genossen wundern. Glauben Sie wirklich, dass es irgendwo eine Gesellschaft gibt, in der keine Bestechungen vorkommen? Die Notwendigkeit der Landesverteidigung steht doch wohl auch bei uns außer Frage. Wer für Landesverteidigung ist, muss für ihre Waffen sein. Waffen kosten Geld, Geld stinkt nicht, und wo gekauft und verkauft wird, da wird versucht zu betrügen. Wieso soll das Material nicht echt sein? Wüssten die Genossen besser Bescheid über die Arbeit in den Ausschüssen, wären sie nicht so erstaunt. Im Grunde stehen wir vor der Wahl, großes Geschrei zu machen und die Aufgaben der Landesverteidigung zu erschweren oder realistisch zu sein und die Gegebenheiten zu nehmen, wie sie sind. Denn im Allgemeinen, das kann ich Ihnen versichern, geht es bei uns einigermaßen ordentlich zu. Auf dem Balkan beispielsweise sind Durchstechereien, besonders im Waffengeschäft, das Übliche. Deshalb schlage ich Ihnen, Genosse Liebknecht, vor, tun Sie das Zeug in Ihr Archiv. Wenn Sie einmal Ihre Memoiren schreiben, haben Sie interessante Details zur Verfügung."

Liebknecht hatte sich rechtzeitig zu Wort gemeldet und das Material über Noske vor sich liegen. Er konnte den Hohn in seiner Stimme nicht unterdrücken. "Werter Herr Genosse Noske, Ihre Stellungnahme wundert mich nicht. Was Sie auszeichnet, ist Konsequenz. Konsequenz vor allem darin, die Geschäfte der preußisch-deutschen Kriegsschürer zu betreiben. Um allen Anwesenden zu beweisen, dass es sich hier nicht um meine subjektiv gefärbte Meinung handelt, Folgendes zur Erinnerung: Im Berliner Tageblatt vom 26. April neunzehnhundertsieben standen die Sätze: Noske ist vermutlich weder ein ausgesprochener Revisionist noch ein ausgesprochener Vertreter der Gewerkschaftspolitik ... Indessen gewinnt man doch aus seiner gestrigen Reichstagsrede den Eindruck, dass er auch eine ganz andere Auffassung von Welt und Menschen hat, als sie sonst in der Sozialdemokratie herkömmlich war. Es ist ein neuer Geist, der aus ihm spricht. '"

Liebknecht akzentuierte schärfer. "Neu in der Sozialdemokratie war das damals auf jeden Fall, ob es Geist war, diese Definition überlasse ich den Menschenkennern vom Berliner Tageblatt. Das Neue, das Sie in die Partei getragen haben, Genosse Noske, ist der unverhüllte Chauvinismus, der sich zur Tradition der Internationale verhält wie Wasser zu Feuer. Auch das ist keine Erfindung von mir, sondern Ihre Freunde von rechts haben Ihnen das poesievoll bescheinigt. Fast zur gleichen Zeit wie im Tageblatt stand dieses Gedicht in den Lustigen Blättern:

Geht es mal in ferner Frist

Ans Kanonenfuttern,

Denkt so mancher Reservist:

Nee - ich bleib' bei Muttern.

Doch das soll uns Kampf und Schlacht

Nimmermehr vergällen,

Denn es ist heut' ausgemacht:

Noske wird sich stellen!

Kommandiert der Herr Major:

"Feuer vorn und hinten!"

Ruft ein arbeitsscheues Korps:

"Schmeiß mer fort die Flinten."

Aber dennoch, Mut, nur Mut!

Lasst's Euch nicht verdrießen,

Denn wir wissen absolut:

Noske, der wird schießen.

Noske schnallt den Säbel um,

Noske geht aufs Ganze,

Noske feuert, bum, bum, bum,

Noske stürmt die Schanze,

Noske schreit Hurra, Hurra!

Noske hält die Wachen,

Noske schießt Viktoria,

Noske wird's schon machen."

Auf der Stirn Molkenbuhrs standen Schweißperlen. Musste Liebknecht diese unangenehmen Dinge wieder aufs Tapet bringen? Er suchte krampfhaft nach einer Handhabe, den Sarkasmus Liebknechts zu bremsen. Der setzte seine Entgegnung fort: "Sie sind von unseren Feinden nicht selten gelobt worden, Genosse Noske. Beinahe ist es mir peinlich, auf das viel zitierte Wort unseres Parteigründers Bebel zurückzukommen: 'Wenn mich der Gegner lobt, habe ich etwas falsch gemacht!' Obwohl es sehr absolut ist, stimmt es meistens. Bei Ihnen stimmt es immer. Denn wenn sogar die Hurrapatrioten den nationalistischen Übereifer eines Sozialdemokraten lächerlich machen können, dann dürfte in dessen Ideologie einiges nicht in Ordnung sein. Sie sind chauvinistischer als unsere Chauvinisten, und Herr Krupp hat auf jeden Fall versäumt, Sie als Geschäftsführer anzustellen!"

Spontan klatschte die Mehrzahl der Anwesenden, eine Minderheit zischte, Molkenbuhr behämmerte die Tischplatte mit dem stumpfen Bleistiftende, doch unbekümmert darum rief Ledebour: "Bravo! - Großartig charakterisiert!"

Noske war aufgesprungen, seine erste unkontrollierte Bewegung dieses Nachmittags. Mit ausgestrecktem Zeigefinger wies er auf Liebknecht. "Sie wollen mich diffamieren! Ich pfeif drauf! Weil ich sicher bin, alles das, was Sie mir als Todsünde ankreiden möchten, wird unser Vaterland einmal vor dem Untergang retten!"

Liebknecht ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. "Schade um das Versäumnis des Kanonenkönigs, Genosse Noske. Denn dort wären Sie an der richtigen Stelle und kein dunkler Punkt auf dem Schild der Partei. Die meisten Arbeiter wissen, was sie von den Erzeugern der Mordwerkzeuge zu halten haben. Wenn sich aber einer die Toga der Sozialdemokraten umwirft, wollen sie nicht gern glauben, dass er die Geschäfte des Krieges besorgt."

Abermals war das Fraktionszimmer erfüllt vom Lärm des Für und Wider. Noske schaute ungnädig zu Molkenbuhr hin, es sollte ausdrücken, wenn du nicht dafür sorgst, dass diese Angriffe aufhören, ziehe ich die Konsequenzen. Molkenbuhr verschaffte sich endlich Gehör. "Genosse Liebknecht, wir sind hier nicht auf einer Massenversammlung. Ich bitte Sie, sachlich zu bleiben."

"Wenn Sie mir eine Unwahrheit nachweisen können, Genosse Molkenbuhr, dann rügen Sie mich. Aber Fragen des Temperaments bitte ich meiner Entscheidung zu überlassen."

"Ich muss noch einmal wiederholen, keine Plenumsdebatte! Tun Sie mir den persönlichen Gefallen, kommen Sie zur Sache."

Liebknecht bekam einen bitteren Zug um den Mund. "Es ist selten so zur Sache gesprochen worden. Wenn ich nur einen Funken Zweifel gehabt hätte, was mit dem Material zu tun sei, jetzt weiß ich es. Die Ausführungen des Genossen Noske haben es mir unmissverständlich bestätigt." Liebknecht setzte sich und verstaute die Notizen in seiner Aktentasche. Er musste sich Mühe geben, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken.

In die aufgekommene Stille fiel die Stimme Scheidemanns. "Liebwerte Genossen! Anscheinend ist es schwierig, eine Gelegenheit vorübergehen zu lassen, ohne Unmut abzublasen. Während des Hauptteils unseres freundlichen Gesprächs konnte man wahrhaftig der Meinung sein, es handle sich wohl um einen Vorschlag Noske und nicht um einen Vorschlag Liebknecht. Wir ..."

"Wer daran schuld war, ist ja wohl klar: Denn wir sind hier nicht zusammengekommen, uns um Genossen Noske politisch und organisatorisch belehren zu lassen. Er ist der Letzte, dem ich das zugestehe. Die kleine Kostprobe eben spricht Bände." Während seines schnellen Sprechens hatte Ledebour das vorwurfsvolle Kopfschütteln Molkenbuhrs ständig mit einem Abwinken begleitet, und das schien dem Sitzungsleiter die Worte verschlagen zu haben.

Nachsichtig lächelnd setzte Scheidemann seinen angefangenen Satz fort: "Wir alle sollten uns an die Tatsache gewöhnen, dass es in jeder Partei nun einmal zwei Pole gibt. Und die werden bei uns halt von den Genossen Liebknecht und Noske verkörpert." Er erntete einiges Schmunzeln und lächelte selbst über seine witzig sein sollende Bemerkung. "Obwohl ich mich nicht zu den engeren Freunden des Genossen Liebknecht zählen darf, muss ich sagen, sein Vorschlag hätte eine ernsthaftere Behandlung verdient. Bitte versetzen Sie sich einmal in seine Lage. Er bekommt - zumindest dem Aussehen nach - hochbrisantes Material in die Hände. Das soll er in den Papierkorb tun? Könnte nicht umgekehrt eine Provokation beabsichtigt sein, die auf den Vorwurf der Unterlassung hinausgeht? In einem halben Jahr haben wir die preußischen Landtagswahlen. Deshalb besteht schon gar kein Grund, unseren Wahlgegnern irgendwelche Sorgen abzunehmen. Jawohl, das Material gehört zum Kriegsminister! Mag sich Herr von Heeringen mit seinen politischen Freunden da herauswursteln. Wennschon ein Kuckucksei, dann aber nicht in unser Nest!"

Über die Hälfte der anwesenden Fraktionsmitglieder zollten Scheidemann Beifall. In den beiden sich befehdenden Gruppen herrschte teils Verblüffung, teils nachdenkliches Überlegen. Ledebour sandte einen Blick hinüber zu Liebknecht, der besagte, dieser Fuchs Scheidemann hat wieder mal das beste Gespür bewiesen.

Liebknecht starrte versonnen vor sich hin. Scheidemann hat großartig den Parteiweisen gespielt musste er dem alten Widersacher zugestehen. Es scheint beinahe die Regel zu sein, dass er flinkhändig Porzellan kittet, das Noske zertöppert hat. Er ist auf das Gleiche aus wie der, doch mit raffinierteren Mitteln. Liebknecht hatte Spaß an Karikaturen und sammelte sie. Von Scheidemann besaß er mehrere, aber er fand keine so treffend wie eine Zeichnung von Oskar Garvens. An die musste er jetzt denken. Ein Mann im Frack reitet auf einem Steckenpferd, einem Schleppsäbel. Doch keck auf die Restlocken der Halbglatze hat er eine Jakobinermütze gestülpt. Starren die Leute auf die Revolutionskostümierung, dann übersehen sie, wohin der Ritt geht.

Die Mienen der Anwesenden entspannten sich. Zwar war noch nicht allen klar, wohin Scheidemann mit seinem überraschenden Manöver zielte, doch es war nicht das erste Mal, dass er die Fraktion aus einem Dilemma hinauslavierte. Zudem waren sie nach der Aufregung abgespannt, des Streits müde, wollten nach Hause. Das Ende der Beratung war in Sicht, und das verdankten sie Scheidemann. Molkenbuhr sprach es aus, nachdem er tief Luft geholt hatte. "Zugegeben, Genossen, so kann man es auch sehen. Wir haben uns nie geweigert, neuen, besseren Einsichten zu folgen. Ich denke in eurem Sinne zu sprechen, wenn ich Genossen Scheidemann für seine Ausführungen danke und dem Genossen Liebknecht empfehle, so zu verfahren, wie eben vorgeschlagen. Noch Wortmeldungen? - Nicht? - Ich danke. - Die Beratung ist geschlossen."

Einzeln, zu zweit, in kleinen Gruppen verließen die Fraktionsmitglieder das Zimmer. Einige der besten Freunde Scheidemanns blieben und drängten sich um den "Retter aus der Krise". Ein wenig eitel, ein wenig selbstgefällig, doch beides verdeckt durch freundschaftlichen Charme, sah er einen nach dem andern an. "Ihr erwartet das Geheimnis meiner Stellungnahme entschleiert. Da gibt's kein Geheimnis. Es ist, wie ich sagte: Ist das Material wertlos, dann ist es blöd, sich für nichts gegen Liebknecht zu exponieren - sein Anhang in der Partei ist unbestritten. Ist es echt, wäre es noch dümmer, dem Kriegsminister die unangenehme Arbeit abzunehmen. Mag der sich damit befassen, ob dem Material ein Begräbnis erster oder zweiter Klasse zuteilwird."

Zustimmendes Augurenlächeln in der kleinen Runde.

Zum Schluss waren nur noch Noske und Scheidemann im Zimmer. Noske malte Merkzeichen neben die Zahlenkolonnen einer hektografierten Etatsliste. Er sah nicht auf vom Papier, als er ohne Erregung sagte: "Zum Schluss kommt es auf das Gleiche hinaus, was ich vorgeschlagen habe: Papierkorb."

Scheidemann stand am Tisch, die Arme verschränkt. "Aber wie es da hineingelangt, bester Gustav, das ist das Entscheidende."

"Ich hasse Umwege."

"Das Leben besteht aus Umwegen."

"Immer dieses Verkleistern, diese Tricks."

Scheidemann entnahm seinem Zigarrenetui eine Importe. Während er sorgsam die Spitze kappte, das Streichholz entzündete, die ersten Züge des aromatischen Dufts in die Luft blies, merkte man ihm an, dass er diese Handlung mit Genuss zelebrierte. "Honig ums Maul schmeckt süß. Die Leute mögen nun einmal das Bittere nicht."

Noske hatte die Liste durchgearbeitet. Ohne Hast schob er den Hefter in die Aktenmappe, legte beide Hände darauf wie auf ein Brevier. "Hier ist meine Arbeit. Das zählt. Ich habe nicht nötig, sie mit Zuckerguss zu glasieren."

"Dein Hochmut hat dir schon manchen Kummer gemacht, Gustav. Man muss nicht dauernd den Atlas spielen, als trüge man alle Last allein. Andere arbeiten auch. Es kommt eben darauf an, wie eines Mannes Arbeit eingeschätzt wird."

Noske lenkte ein. Er wusste gut, dass Scheidemann wieder einmal mit elegantem Damast überdeckte, was er an Zwist auf den Tisch der Fraktion gelegt hatte. "Du bist eben glücklicher veranlagt als ich."

Scheidemann blieb großzügig. Er war schon froh, dass der Störrische ihn nicht mit polternden Vorwürfen überhäufte, er sei ihm in den Rücken gefallen. "Natürlich, den Seinen gibt's der Herr im Schlaf."

Noske bemühte sich um ein versöhnliches Lächeln, es wirkte beinahe wie eine Grimasse. "Lass es gut sein, Philipp, wir beide sind zu alt, um uns noch zu ändern."

Sie gingen zur Reichstagsgarderobe und ließen sich in die Wintermäntel helfen. Der Garderobier sah den beiden nach, als sie sich plaudernd entfernten. Er winkte seinem Kollegen und witzelte hinter vorgehaltener Hand: "Von hinten sieht et aus, als jingen dort Herr Jutsbesitzer und sein Inspektor."

Liebknecht und Ledebour gehörten zu den Ersten, die nach der Beratung das Reichstagsgebäude verlassen hatten. Sie standen in der Nähe der Auffahrt. "Wat sagste nu, Ackermann?", scherzte Ledebour.

Liebknecht schaute nachdenklich hinüber zum winteröden Tiergarten. "Ehrlich gestanden, diese plötzliche Parade kam selbst mir überraschend."

Ein wenig belustigt, ein wenig angewidert, lachte Ledebour sein warmherziges, leicht heiseres Lachen. "Fuchs Philipp steckt sie alle in die Tasche."

"Er hat schon öfter den Retter der Fraktion gespielt. Diesmal dürfte ihm der Ruhm teurer kommen, als er in seinem großen Augenblick überschauen konnte."

Ledebour sah Liebknecht fragend an, und der erläuterte: "Der gute Philipp konnte nicht wissen, dass ich inzwischen die neunzigprozentige Sicherheit für die Echtheit des Materials habe."

Ledebour verbarg seine Freude nicht. "Dann war die ärgerliche Auseinandersetzung nicht umsonst."

"Ich werde ein Kurzprotokoll anfertigen und es morgen Molkenbuhr zur Unterschrift vorlegen. Damit haben wir sie festgenagelt, wenn es ernst wird, vor allem den Schlauberger Scheidemann. Mit seinem Dafür im Rücken kämpft sich die Sache leichter im Reichstag durch, als wenn wir einen Zweifrontenkrieg führen müssten."

"Kompliment, Genosse Liebknecht. Scheidemanns trickreiche Taktik für uns umzumünzen, gelingt uns leider selten."

Der anonyme Brief

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