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1. Auf dem Gipfel

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„Wir waren kurz vor dem Gipfel, wir sahen schon das Kreuz...“

„Das Kreuz, Papa? Welches Kreuz?“

„Auf den Gipfeln der Alpen stehen Kreuze, mein Sohn...“

„Warum Kreuze, Dad? Warum keine Flaggen? Wenn man ein Land erobert, stellt man doch zuerst seine Flagge auf...“

„Du bringst da einiges durcheinander, Benny. Wir haben das Land nicht erobert, sondern befreit. Aber diese Geschichte erzähle ich dir, wenn du älter bist. Na ja, und die Berge kann man ohnehin nicht erobern...“

„Ach ja, bei den Bergen heißt es ‚bezwingen’...“

„So nennen es die Abenteurer, ich sage lieber: besteigen. Oder einfach: betreten...“

Fast wortgenau kamen die Sätze seines Vaters aus der Tiefe der Erinnerung an die Oberfläche des Bewusstseins. Ben blieb kurz stehen und keuchte. Die dünne Luft machte ihm deutlich mehr zu schaffen, als er vermutet hatte. Verdammt, da gingen welche ohne Sauerstoffgeräte auf die Achttausender und er keuchte und schnaufte bei zweieinhalbtausend Metern schon! Endlich hatte er jenes Kreuz vor Augen, jenen Gipfel, von dem ihm sein Vater so oft und so viel erzählt hatte. Er ignorierte seine Erschöpfung und taumelte auf das Gipfelkreuz zu, wie ein Marathonläufer auf die Ziellinie. An die Stimme seines Vaters konnte Ben sich kaum noch erinnern, er fühlte die Worte mehr, als er sie hörte: so, als würden sie mit jedem Schritt durch seinen Körper schwingen. Das war der Sauerstoffmangel, der im Takt seines rasenden Herzens gegen die Schläfen pochte und die Worte seines Vaters halluzinierte:

„Früher hatten die Menschen eine Heidenangst vor den Bergen, weil sie zu wenig über sie wussten. Man blieb lieber in den sicheren Tälern und wer dennoch einen Berg überqueren musste um in das nächste Tal zu gelangen, begab sich in große Gefahr. Viele von ihnen blieben auf der Strecke, blieben im meterhohen Schnee stecken und erfroren, wurden von Lawinen begraben, oder von Steinen erschlagen, die sich aus den Felswänden lösten. Andere wurden zerfleischt von Bären und Wölfen, die damals noch in den Alpen lebten. Manche erreichten ihr Ziel mit Frostbeulen im Gesicht, mit erfrorenen Fingern oder gebrochenen Beinen. Wahrscheinlich kamen die meisten ohne Schrammen an, aber die Menschen erzählten sich schon immer das Schreckliche am liebsten, und so bekamen die Berge ihren üblen Ruf: Wo der Tod in so vielfacher Gestalt lauerte, musste das Böse hausen! Damals sagten die Leute: Wird es dem Teufel in seiner Hölle zu langweilig, treibt er in den Bergen sein Unwesen. Ohne Not ging früher keiner hinauf in das Reich des namenlosen Grauens. Heute tragen die Gipfel Namen und Kreuze und dadurch glaubt man den Schrecken gebannt...“

‚Scheint zu funktionieren,’ dachte Ben und lächelte ‚ich kann nichts Schreckliches erkennen.’ Fünfzehn Meter vor dem Kreuz blieb er abermals stehen. Die Luft reizte Rachen und Lungen. Zu schnelles, gieriges Atmen tat richtig weh. Ben verspürte Durst, unglaublichen Durst. Und Hunger! Und jenes unbändige Gefühl, das ihn manchmal auch beim Lesen überkam: die tiefe Sehnsucht, diesen Augenblick mit jemandem zu teilen.

Helen war mit den anderen bei der Hütte geblieben. Besser gesagt: Ben hatte sich heimlich davon gemacht. Um Helen zu schonen, sagte er sich, und auch weil ihm der Rest der Gruppe gelegentlich auf die Nerven ging. Dies hier war sein Ding, das ging die anderen nichts an, es waren die Spuren seines Vaters, die er verfolgte, seine Geschichte. Die zwei Jahre, die George Kline in Old Austria als Soldat stationiert gewesen war, hatten ihn sein Leben lang nicht mehr losgelassen. Schon früh hatte er in seinem Sohn die Begeisterung für die Alpen geweckt und sich so einen geduldigen Zuhörer geschaffen, einen Kameraden, mit dem er seine Ausflüge in die Berge immer wieder von Neuem erleben konnte. Was George am meisten fasziniert hatte, begann Ben jetzt erst allmählich zu erahnen: „...es liegt ein geheimnisvoller Zauber in der Einsamkeit der Berge. Und die vollkommene Einsamkeit findet man auf dem Silberstein!“ Gab es so was wirklich? Einen Gipfel mit einer besonderen Aura, die man spüren konnte? Konnte sich Einsamkeit hier anders anfühlen, als anderswo? Ein unvorsichtiger Blick in die grelle Sonne schwärzte Ben’s Sicht für eine Weile. Er schloss die Augen und atmete langsam und tief ein. Noch immer hämmerte es in seinen Schläfen und hallte im Kopf wie ein wildes Trommeln nach. Er öffnete die Augen wieder und seine überreizten Sehnerven setzten ihm die Berge nur widerwillig ins Bild. An der Grenze zur Ohnmacht glaubte er genau jene „Einsamkeit“ zu erfahren, von der sein Vater sprach: ein ausschließliches Erleben seiner selbst, ein Moment absoluten Behagens. Ein Behagen, das erkauft war mit Verausgabung bis zur Grenze. Solche Strapazen konnte er Helen wirklich nicht zumuten. Sie wäre mitgekommen, bestimmt sogar. Aber eben nicht mit seiner Begeisterung. Sie wäre mitgekommen, ihm zu Gefallen und hätte vermutlich halb auf dem Wege schlapp gemacht. Es war für alle besser, wenn er solche Ausflüge alleine machte. Was zum Beispiel hätten seine vier Freunde mit den ständig gezückten Videokameras schon von so einer Tour gehabt? Ihnen war ein Reiseziel so recht wie jedes andere, wenn es nur Unterhaltung bot. Einsamkeit lässt sich nicht fotografieren und Ruhe macht sich schlecht in den bewegten Bildern ihrer Videos, wie also hätten sie verstehen sollen, was er hier finden wollte? Und wie hätte er’s mit ihnen finden können? Also besser alleine. Und nun hatte er es geschafft: er stand auf dem Silberstein, dem Lieblingsberg seines Vaters! Ben zog ein Foto aus der Tasche und verglich es mit der Wirklichkeit. Das Gipfelkreuz streckte seine Arme noch genauso trotzig von sich, wie auf dem Foto. Erst als er näher kam, sah er, wie Wind und Wetter am Holz genagt hatten. Das Foto zeigte den Vater mit zwei weiteren US-Soldaten. „Wir hatten dafür zu sorgen, dass nach den Katastrophen „Drittes Reich“ und „Zweiter Weltkrieg“ wieder ein normales Leben möglich wurde.“ Erst als Jugendlicher hatte Ben verstanden, wie das gemeint gewesen war. ‚Wenn ich’s nicht wüsste’, dachte er, ‚käme ich nicht auf die Idee, eine solche Landschaft könne solche Katastrophen gebären!’

Ben hielt das Foto vor die scharfgezackten Konturen der fernen Dreitausender und nannte einen Gipfel nach dem anderen mit seinem Namen, so wie sein Daddy sie ihm genannt hatte: Adlerkofel, Totenkopf, Großer und Kleiner Himmelturm, Schneespitze, Frauenwand, Steinteufel..., Ben hätte sie aus dem Gedächtnis zeichnen können! Nur der Gletscher, der auf George Klines Fotografie noch mächtig zwischen den majestätischen Riesen hervorquoll, sich lang und breit über das Kar wälzte und dann stoppte, wie ein Raubtier, das den Sprung in die bewohnte Gegend scheute – dieser Gletscher hatte sich weit zurückgezogen und streckte Ben bloß noch frech seine kleine weiße Zunge zwischen Schneespitze und Frauenwand heraus. Auch die dünne Luft in 2516 Metern Höhe verriet das Foto nicht.

„Eines Tages werden wir zusammen auf dem Silberstein stehen“ hatte ihm der Vater so oft versprochen. Und als George schon gewusst hatte, dass er sterbenskrank gewesen war, hatte er sein Versprechen immer mit einem Zusatz versehen:

„Eines Tages fahren wir beide in das Land der Berge, in das Land unserer Väter. So Gott will, fahren wir zusammen dahin. Und wenn der Herr es nicht will, fährst du alleine und es wird sein, als wäre ich dabei.“ Nun stand Ben alleine im fernen Land der Berge, deren Stille in seinen Ohren widerhallte und deren Luft auf der Zunge prickelte und so sehr er sich bemühte, er fühlte keine Spur von den Vorvätern, selbst der Vater war nur mühsam zusammen geklaubte, halb halluzinierte Erinnerung.

Ben setzte sich und lehnte sich gegen den Steinsockel in dem das Kreuz verankert war. Bergdohlen umkreisten ihn. Die blauschwarz schimmernden Rabenvögel hatten keinerlei Scheu vor Menschen. Ganz nah bei ihm landeten sie und schienen regelrecht zu betteln. Gut vierzig Meter unter ihm zog ein Rudel Gämsen vorbei, der Wind stand gut, sie kamen ihm näher, ohne ihn zu wittern. Dann schreckten Stimmen sie auf, sie preschten los und verschwanden hinter einer Felsnase. Eine Gruppe von acht jungen Männern näherte sich dem Gipfel. Sie gingen ein für Ben unglaubliches Tempo, ohne zu keuchen, hatten sogar Luft genug zu plaudern. Alle trugen sie dunkelgrüne Hemden, graugrüne Jacken und olivfarbene Hosen mit Taschen an den Seiten und enorme Rucksäcke. Ihr unablässiges Schwatzen widersprach ihrer uniformen Kleidung. Oben angekommen, schüttelten sie einander die Hände mit den Worten: Berg Heil! Seltsamer Brauch, dachte Ben. Das Wort HEIL war ihm aus Vaters Erzählungen in unangenehmer Erinnerung. Auch Ben wurde so begrüßt. Keiner der Männer war älter als fünfundzwanzig und bis auf zwei sprachen alle ein brauchbares Englisch. Sie erklärten ihm, mit „Berg Heil“ äußere man den Respekt vor dem Berg und Dankbarkeit, unversehrt oben angelangt zu sein. Die jungen Männer holten dicke Würste, Käse und Schinken, Brot und Bier aus ihren Rucksäcken. Sie schnitten mit ihren Taschenmessern große Stücke ab und verschlangen sie mit Appetit. Kleinere Stückchen Brot zerkrümelten sie mit den Fingern und verstreuten sie für die Vögel. Auch mit vollen Mündern quatschten sie munter weiter. Einer drückte Ben eine Scheibe Schinken und ein Stück Brot in die Hand, ein anderer eine Flasche Bier.

„Danke, keinen Alkohol.“ sagte Ben, „Die Luft macht mir genug zu schaffen.“ Ein hagerer Blonder mit Brille reichte ihm seine Feldflasche mit Wasser und sagte in erstklassigem Englisch:

„Von deiner Sorte holen sie jedes Jahr mehr als ein Dutzend aus den Bergen.“ Er musterte Ben von oben bis unten und schmunzelte. Mit schlechter Ausrüstung gingen leider zu viele los, dass aber einer so gar nichts dabei habe, hätten sie noch nicht erlebt.

„In solchen Schuhen geht man tanzen, aber nicht auf die Berge, mein Freund!“ Sie fragten ihn, woher er komme. Ah! Ein Ami, kein Wunder also. Ben erzählte ihnen von seinem Vater.

„Dad hatte sich 1953 freiwillig gemeldet, er wollte unbedingt in Austria stationiert werden, im Land seiner Vorfahren. Er war in Vienna und ging in die Berge so oft er konnte. Seine Großeltern stammten aus diesem Tal. Mehr hatte er leider nicht herausbekommen. Dad sagte immer: »Man kann seine Wurzeln nicht abschneiden«. Und manchmal sagte er: »Vielleicht hätte ich in den Bergen bleiben sollen«“. Bens Verbundenheit ging noch nicht so weit, dass er gleich bleiben wollte, doch die Stille der Berge und die würzige Luft bekamen ihm ausgesprochen gut. Selbst die schneidende Schärfe, die er mit jedem Atemzug spürte, empfand er nicht mehr als unangenehm.

„Ich verstehe ihn von Tag zu Tag besser.“ sagte Ben, „Was für ein Ausblick! So muss sich ein Gläubiger in seinem Tempel fühlen.“

„Da schau her!“ sagte der Blonde mit der Brille, „Einen Romantiker hat’s selten unter den Amerikanern.“ Ruhe und Beschaulichkeit war es wohl nicht, was die jungen Männer hierher lockte, denn sie vertrieben die Stille ständig mit Witzen. Irgendeinem fiel immer etwas ein, eine kurze Bemerkung, und alle lachten. Der Blonde mit der Brille suchte die Gegend mit dem Feldstecher ab.

„Was suckst du?“ fragte Ben in schwerfälligem Deutsch.

„Ich schau, ob alles in Ordnung ist.“

„Und? Ist alles in Ordnung?“

„Na ja, wie man’s nimmt. Magst’ selber schauen?“

„Danke.“ sagte Ben, nun wieder in Englisch, „das verfälscht nur. Wenn ich was aus der Nähe sehen will, gehe ich dort hin.“

„Aber wenn du Tiere sehen willst, die dich nicht nah genug heranlassen: Murmeltiere zum Beispiel oder Gämsen....“

„Ich habe sie gesehen, ganz nah. Ihr hattet sie aufgescheucht.“

„Na gut. Wenn du nicht magst.“

Am Kreuz hing eine briefkastenähnliche Blechbox. Einer zog ein Buch heraus, trug seinen Namen, Datum und Uhrzeit ein und reichte es weiter. Der Blonde mit der Brille als Letzter drückte Ben das Buch in die Hand. Ben sah ihn verwundert an.

„Ja, du auch!“ Das sei nicht nur ein interessantes Dokument für die Nachwelt, sagte er, es diene auch statistischen Erhebungen und hätte so nebenbei schon manch Verunglückten das Leben gerettet.

„Wie das?“

„So eine Eintragung kann der Rettungsmannschaft die Suche enorm verkürzen.“ Da war sie wieder, die Gefahr der Berge! Eine Gefahr, die sich ihm nicht so recht erschließen wollte. Er fand einfach nur schön, was andere vor allem gefährlich fanden.

„Sie tragen die selbe Name wie ich.“ radebrechte Ben auf Deutsch zu dem Blonden, der sich mit dem Namen Hans Klein eingetragen hatte. „Allerdings, man hat meine Name unsere Aussprache angepasst.“ Dann schrieb er: Ben Kline, Fredericksburg, Texas, USA und gab das Buch an Hans zurück. Hans überflog Namen und Adresse und steckte das Buch wieder in die Blechbox.

„May be, wir sind verwandt.“ sagte Ben.

„Schon möglich.“ lachte Hans Klein, „Aber eher unwahrscheinlich. Der Name Klein ist hier sehr verbreitet.“ Seine Kameraden wussten gleich einige Wortspiele darauf zu machen.

- „Klein und Kline, ach wie fein, geben sich ein Stelldichein!“ -

- „Klein und Kline am Silberstein, kann das denn ein Zufall sein?“ -

Lachend nahmen sie ihre Rucksäcke auf und verabschiedeten sich. ‚Sie kamen gar nicht hierher, um hier zu sein,’ dachte Ben, ‚sie kamen, um weiter zu gehen.’ Den kurzen Aufenthalt hielten sie in Bewegung mit Plaudereien und Witzchen, als wäre es ihre verdammte Pflicht, damit die Zeit am Laufen zu halten. Jugendliche Unruhe? ‚War ich auch so unstet?’ fragte sich Ben. ‚Oh God! Die Jungs sind fünf bis zehn Jahre jünger als ich, und ich fühl mich vor ihnen wie ein alter Mann, nur weil ich die Ruhe suche, die sie verscheuchen.’

„Wir müssen weiter.“ sagte Hans Klein. „Kommst du allein zurecht, Bruder?“

„Thanks, guys“ sagte Ben, „I’ll take my rest and enjoy the atmosphere.“ Hans nahm den Rucksack wieder ab, löste seine Feldflasche, die an einem Lederriemen baumelte und reichte sie Ben. „Kannst mir später wieder geben.“

„Thanks a lot.“ sagte er, „Und wo finde ich dich?“

„Ich finde dich. So viele Amis sind ja nicht hier. Du bist sicher einer von der Gruppe aus der Pension Bergblick, oder?“

„That’s right.“

„So, take care, pass gut auf dich auf, Bruder!”

„Don’t worry, die Berge mögen mich. I feel it!“

„Na dann: Pfüati Gott.“ sagte Hans Klein.

„God – what?“

„Das heißt soviel wie: Behüt’ dich Gott, means: God save you.“ Als Hans seine Kameraden eingeholt hatte, lachten sie. „Nett is er ja, aber a komischer Vogel is er schon, der Ami.“

„Berg Heil.“ rief Ben ihnen nach, „Und vielen Dank!“ Sie liefen die steile Westseite des Berges hinunter, flink, wie vor ihnen die Gämsen. Was sie von den Tieren unterschied? Die Gämsen waren auf der Flucht, die Jungs schienen von etwas angezogen, in etwas hineingezogen. Die steile Rinne, die sie hinunterliefen, war voller Geröll, mit jedem ihrer Schritte gaben die Steine nach und trugen sie einige Meter nach unten. Sie surften regelrecht auf dem Geröll. Das Klacken der Steine absorbierte ihr albernes Gemurmel, wie Fremdkörper in einer Sanduhr zog es sie nach unten. Ben sah ihnen eine Weile nach, dann suchte er wieder die Einsamkeit, die von den Jungs verscheucht worden war und es brauchte eine Weile, bis sie sich wieder einfand. Die Dohlen stritten um Brotkrümel. Kaum spürbarer Wind. Am Himmel keine Wolke, Luft wie aus Glas. Unter ihm lagen die Täler zartgrün. Er spürte seinen müden Körper nicht mehr. So konnte es eine Weile bleiben. Aber von Osten her, der weniger steilen Seite, von der auch er aufgestiegen war, näherte sich schon wieder jemand, noch weit weg und klein wie eine Ameise. Wenn sein Vater von den Bergen gesprochen hatte, tat er dies als eine Empfehlung an alle, dorthin zu gehen, um dies Wunder zu erleben. Eine Empfehlung, die nicht ernst gemeint sein konnte, dachte Ben, denn das Wunder ist scheu, es mag keine Massen. Dann zog er seinen linken Schuh aus, streifte die Socke vom Fuß und sah, was er fühlte: Knapp unter dem Knöchel hatte die Oberkante des Schuhs die Haut gescheuert. „Tanzschuhe!“ hatten die Jungs gerade noch gespottet, „Der Ami geht in Tanzschuhen auf den Berg!“ Nun musste Ben selber lachen. Es stimmte ja, seine Halbschuhe taugten für so einen Aufstieg nicht. Seine Fußsohlen brannten. Er benetzte sein Taschentuch mit Wasser aus der Feldflasche und kühlte die gerötete Stelle. Dann zog er auch den rechten Schuh samt Socke aus, streckte seine Füße in die Luft und ließ sie vom Windhauch kühlen. Das grelle Licht zog seine Augenlider zu kleinen Schlitzen zusammen. Ben legte sich auf den Rücken und hörte nur noch, wie ab und zu das Flügelrauschen einer landenden Dohle die Stille zerschnitt. Hatte er geschlafen? Plötzlich hörte er Schritte, er fuhr hoch.

„Bette, was machst du denn hier?“

„Gute Frage, Ben!“ schnaufte Babette, „Was macht man wohl hier oben?“ Sie war außer Atem, ihr Puppengesicht glühte.

„Dir hätte was zustoßen können.“

„Und? Ist mir was zugestoßen? Es kann einem immer etwas zustoßen. Was redest du da überhaupt.“

„Entschuldigung. Ich habe gerade eine Lektion bekommen über Gefahr und Leichtsinn in den Bergen. Es muss einem viel zustoßen können, hier oben. Setz dich.“ Babette ließ sich ausgepumpt neben Ben nieder und lehnte sich gegen den Sockel des Kreuzes.

„Du bist erhitzt, hier nimm meine Jacke.“ Er legte ihr seine Jacke über die Schultern und gab ihr die Flasche, „Hier, trink!“

„Danke Ben.“ Schweigend schauten sie über die Täler, auf die bizarren Formen der Felsen. Ben strich mit der flachen Hand über den grauen Fels, der die Gipfelkuppe bildete und spärlich mit Flechten und Moosen überwachsen war. In Ritzen und Mulden trotzten zählebige Gräser und Kräuter dem schroffen Gestein ihren Anspruch auf Leben ab und dankten es mit filigranen Blüten. Ein zierliches Röschen, kaum größer als ein Fingernagel, streckte sein Köpfchen aus einem Spalt. Seine winzigen blutroten Blütenblätter züngelten wie Flämmchen und verströmten einen schweren, süßen Duft. Der Fels strahlte die Sonnenwärme wider.

„Eine heilige Ruhe ist das hier, findest du nicht.“ sagte Ben, „Wie in einem Tempel.“ Die Dohlen hüpften vergeblich um sie herum, sie konnten nicht wissen, dass Amerikaner auch ohne Proviant einen Gipfel besteigen.

„Und diese schwarzen Gesellen hier“, sagte Babette, „sind dann wohl Mönche, die sich ihre Einsamkeit mit Streit vertreiben.“ Ben lachte, ihm gefiel der Vergleich.

„Weshalb sind wir hier, Ben?“

„Das weißt du doch.“

„Eben. Helen hat dir die Reise zum Geburtstag geschenkt. Warum bist du nicht mit ihr allein gefahren?“

„Du kennst doch Mitch! Hätte ich meinem besten Freund sagen sollen, du darfst nicht mitkommen?“

„Warum nicht, er hätte das verstanden, glaub ich. Aber nun hast du uns beide und auch noch die vier anderen am Hals. Du hast ein zu gutes Herz, Ben. Und jetzt musst du dich davonstehlen um allein zu sein. Das war ja nicht dein erster Alleingang, ich merke doch, wir stören dich. Ich bin dir gefolgt, auch um darüber mit dir zu reden. Wenn du willst, reisen wir ab...“

„Unsinn! Ihr stört doch nicht.“

„Nun sag ehrlich, Ben, du wärst lieber allein.“

„Ich war allein, Babe, vorhin. Und nun bist du da und das ist so gut wie allein.“ Ben legte eine Hand auf Babettes Schulter und sah sie an.

„Verstehst du was ich meine?“

„Ja, Ben, sicher, ich weiß was du meinst.“ Ihr Atem hatte sich etwas beruhigt und die Röte wich aus ihrem Gesicht. Sie lächelte.

„Es ist wunderschön mit dir hier oben“, sagte sie, „es ist mehr als nur gute Luft und gute Aussicht.“ ‚Mitch ist ein Idiot!’ dachte Ben, ‚Der besitzt einen Schatz und prahlt mit der Truhe.’

„Ich werde dich fotografieren.“ sagte Babette. „Stell dich so hin, wie dein Dad auf dem Foto. Du siehst ihm übrigens sehr ähnlich.“

„Kann sein. Ob er hier noch wiederfinden würde, was er anno fünfundfünfzig verlassen hatte? Dad schwärmte so von der geradlinigen Art der Einheimischen. »Sie reden nie mehr als nötig« sagte er. Seine Abneigung gegen alles Überflüssige sah Daddy als sein persönliches Erbe dieser Gegend an.“

Babette suchte exakt den Blickwinkel des Fotos nachzustellen und drückte aus verschiedenen Perspektiven mehrmals den Auslöser. Dann stellte sie die Kamera auf einen Stein. Kniend richtete sie den Apparat aus, drückte auf den Selbstauslöser und lief zu Ben. Einander umarmend lächelten sie durch die Linse künftigen Betrachtern des Fotos entgegen.

„Dad sagte, die harten Lebensbedingungen hätten die Bewohner der Berge wortkarg gemacht und diesen derben Dialekt geformt. Heute quasseln sie ohne Pause, vor lauter neuen Häusern stehen deutsche und japanische Autos, die Kids hören Südstaatenrock, essen Hamburger und trinken Whisky und...“

„Wirst du jetzt nostalgisch, Ben?“

„Nein, ich vergleiche nur. Ich bin mit dem Bild meines Vaters hierher gefahren, und das ist nur hier oben noch so wie er es sah. Veränderungen versteht man nur, wenn man weiß, wie es vorher war. Ich will herausfinden, was meinen Vater so an dieser Gegend fasziniert hat. Ich hab jetzt schon mehr gefunden, als ich mir vorstellen konnte und doch spür’ ich, es gibt noch eine Menge zu entdecken.“

„Zum Beispiel das, was wir gerade erleben!“ sagte Babette. „Er wird eben seinen Frieden gefunden haben.“

„Genau!“ sagte Ben. „Frieden kommt dem schon sehr nahe! Er hatte immer so viele Fragen und in den Bergen vermutete er Antworten darauf finden zu können. Vielleicht hatte er sie gefunden und sie sind ihm zu Hause wieder abhanden- gekommen. Vielleicht sollte ich sie auch suchen.“

„Diese Ruhe, dieser Blick und diese Luft – ist das nicht schon Antwort genug? Und nun lass uns gehen, Benny, ehe die anderen sich Sorgen machen. Wo es doch soo gefährlich ist hier oben.“

Texas - Austria

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