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Kant

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Vor einer Befassung mit Kants Gedankenwelt sei mit einigen Worten seines Lebenslaufes gedacht, steht er doch in enger Beziehung zum Charakter seiner Arbeit. Kant (1724–1804) hat sich aus schlichtbürgerlichen Verhältnissen unter mannigfachen Hemmungen langsam emporgearbeitet, er hat auch seine geistige Eigentümlichkeit weniger als ein Geschenk der Natur empfangen, als sie sich mühsam durch Zweifel und Kämpfe hindurch errungen; er entspricht insofern der gemeinsamen deutschen Art, deren Größe weniger in leichter und glatter Naturbegabung als in treuer Arbeit und in unermüdlichem Vordringen zu höchsten Höhen liegt. Auch Kants Leben war Arbeit, harte Arbeit, aber eine Arbeit, die in die letzten Tiefen zurückgriff und den Gesamtstand des Lebens verändert hat. Sein tägliches Leben verlief in streng geordneter und vorsichtig abgemessener Weise; so sehr er ein offenes Auge für alle Mitteilung der Zeit und Umgebung hatte, es trieb ihn nicht in die Weite, um neue Eindrücke aufzunehmen – er hat seine ostpreußische Heimat nie verlassen –, noch weniger trieb es ihn zum Eingreifen in das praktische Leben, sondern all sein Mühen ging in höchster Konzentration dahin, die große Umwälzung, die sich seinem Denken erschlossen hatte, zu voller Klarheit herauszuarbeiten und nach allen Hauptrichtungen durchzubilden. Mag vieles in der Einrichtung seines bürgerlichen und häuslichen Lebens dem ersten Anblick klein und pedantisch scheinen, es hebt sich durch die Erwägung, daß es pflichtgemäß einer großen Aufgabe diente, die unermeßliche Arbeit forderte. Beim Eintritt in sein achtzigstes Lebensjahr schrieb Kant in sein Tagebuch das Psalmwort: »Des Menschen Leben währet siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, achtzig Jahre, und wenn es köstlich ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.«

Gewissenhaftigkeit der Arbeit, peinliche Sorgfalt im kleinen, das ist auch ein Hauptzug der Kantischen Philosophie. Der völlige Bruch mit der Vergangenheit und die Eröffnung neuer Bahnen legte die Versuchung nahe, lediglich weite Ausblicke zu entwerfen und sich mit flüchtig hingeworfenen Umrissen zu begnügen. Nichts liegt Kant ferner als das. Die neuen Gedanken werden nicht bloß skizziert, sondern aufs genaueste bis ins einzelne durchgearbeitet und damit zugleich geprüft, alles Schwelgen im Allgemeinen, alles prunkhafte Pathos ist Kant so zuwider wie nur möglich, mit großer Entschiedenheit verbittet er sich eine Bezeichnung seines Systems als eines »höheren« Idealismus. »Beileibe nicht der höhere. Hohe Türme und die ihnen ähnlichen metaphysisch großen Männer, um welche beide gemeiniglich viel Wind ist, sind nicht für mich. Mein Platz ist das fruchtbare Bathos (die fruchtbare Niederung) der Erfahrung.« In dem, was einfach scheint, ein schweres Problem zu entdecken und dem Schlichten eine Größe zu geben, das ist eine besondere Stärke Kants.

Der Pflichtgedanke

Wenn das deutsche Volk heute eines Kant gedenkt und sein Lebenswerk in höchsten Ehren hält, so hebt sich aus der Fülle seiner Leistung ein Gedanke mit überwältigender Kraft und Klarheit hervor, das ist der Gedanke der Pflicht: Kant ist dem deutschen Volke vor allem der Lehrer, der Prophet der Pflicht, es entspricht der allgemeinen Überzeugung, wenn auf seinem Grabe als bezeichnend für sein Leben und Werk die Worte angebracht sind: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.«

Aber war denn der Pflichtgedanke etwas so Großes und Neues, daß seine Verfechtung dem Denker eine so überragende Stellung geben und sein Wirken so eindringlich machen konnte? Der Gedanke der Pflicht ist von jeher tief in die menschliche Seele eingegraben, und weder an wissenschaftlicher Fassung noch an allgemeiner Anerkennung hatte es ihm bis dahin gefehlt. Schon vor Jahrtausenden haben die Stoiker den Begriff wissenschaftlich formuliert, die Aufklärungszeit hatte ihn neu in den Vordergrund gerückt, und eben der Staat, dem Kant angehörte, hatte den Pflichtgedanken durch Gesetz und Übung kräftig verkörpert. Kein Geringerer als Friedrich der Große hat gesagt, die Wissenschaften müßten als Mittel betrachtet werden, um uns fähiger zur Erfüllung unsrer Pflichten zu machen (les sciences doivent être considérées comme des moyens qui nous donnent plus de capacité pour remplir nos devoirs).

Wie kommt es nun, daß uns beim Pflichtgedanken vornehmlich Kant vor Augen tritt, und daß das deutsche Volk den Kern seines Wirkens in der Verfechtung dieses Gedankens findet?

Unsre Antwort darauf ist folgende: Kant hat zunächst den Begriff der Pflicht in vollster Schärfe erfaßt, er hat ferner ein schweres Problem in ihm entdeckt und es klar herausgestellt, er hat endlich dies Problem in durchgreifender Weise gelöst. Dies aber konnte er nicht, ohne ein Ganzes der Gedankenwelt auszubilden und die Pflichtidee als die Höhe einer das ganze Leben umfassenden Bewegung zu verstehen.

Pflicht und Neigung

Kant hat die Pflichtidee in denkbarster Schärfe gefaßt. Die Pflicht ist nur echt, wenn sie völliger Selbstzweck ist, wenn wir sie lediglich ihrer selbst wegen tun, sie darf sich nicht auf unsre Neigungen gründen, nicht als Mittel für unser Glück behandelt werden. Wo immer das geschieht, da ist der Begriff der Pflicht verfälscht, und das Handeln kann aus ihm keine Stärkung ziehen. »Die Ehrwürdigkeit der Pflicht hat nichts mit Lebensgenuß zu schaffen; sie hat ihr eigentümliches Gesetz, auch ihr eigentümliches Gericht, und wenn man beide noch so sehr zusammenschütteln wollte, um sie vermischt, gleichsam als Arzeneimittel, der kranken Seele zuzureichen, so scheiden sie sich doch alsbald von selbst, und tun sie es nicht, so wirkt das erste gar nicht.« Deshalb brauchen wir nicht unsere Neigungen als schlecht zu verwerfen, aber aus ihnen kann nun und nimmer pflichtmäßiges Handeln entspringen, wir müssen auch direkt gegen unsere Neigungen handeln können und dürfen erst, wo das geschieht, vollauf der Pflichtmäßigkeit unseres Handelns gewiß sein. Die Pflicht muß direkt auf unseren Willen wirken, wir aber müssen zu ihr das Verhältnis der Achtung haben: »die einzig sittliche Triebfeder ist die Achtung für das Sittengesetz«.

Menschenwürde

Läßt sich das alles erwägen und in seiner vollen Stärke anerkennen, ohne daß ein schweres Problem darin erscheint? Kant selbst hat es in folgende Worte gefaßt.

»Pflicht! Du erhabener großer Name –, welches ist der deiner würdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt und von welcher Wurzel abzustammen die unnachlaßliche Bedingung desjenigen Wertes ist, den sich Menschen allein selbst geben können?« Was bedeutet die Pflicht, die so gebieterisch zu uns spricht und so gänzliche Hingebung fordert, wie kann sie sich selbst rechtfertigen? Die Pflicht bringt an uns ein Gebot, das keinen Widerspruch duldet, aber dies Gebot kann unmöglich uns von draußen auferlegt sein, kann unmöglich einen Befehl einer außer uns befindlichen Macht bedeuten. Denn ein solcher Befehl könnte nur durch die Vorhaltung eines Lohnes oder die Androhung einer Strafe wirken; eine daraus entspringende Handlung würde aber lediglich durch den Gedanken an ihre Folgen bestimmt sein und damit ihren moralischen Charakter verlieren. Wer an Lohn denkt, der hat seinen Lohn dahin. So kann das verpflichtende Gesetz nur aus unsrem eignen Wesen stammen, wir selbst müssen die Gesetzgeber sein. Aber wenn das möglich sein soll, so müssen wir uns selbst völlig anders verstehen, als wir es bis dahin taten. Wir dürfen nicht bloß Naturwesen sein und den Verkettungen der Natur unterliegen, es muß in uns eine höhere Art, ein selbständiges Leben wirken, das sich selbst seine Gesetze gibt und in ihrer Durchführung das höchste der Ziele findet. Dies aber ist in der Tat der Fall, es erscheint in uns eine praktische Vernunft, nicht als etwas von draußen Herangebrachtes, sondern als die Tiefe unsres eignen Wesens, als unser wahres Wesen. In dieser Vernunft aber liegt die Forderung, daß das Handeln sich ganz unter die Form der Allgemeinheit stelle; das Pflichtgebot, nach Kants Ausdruck der kategorische Imperativ, lautet: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann,« oder auch in der Wendung zum Menschen: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« Der Mensch gewinnt dadurch nicht bloß einen Wert, sondern eine unvergleichliche Würde, daß er in freier Entscheidung jenes Gesetz der Vernunft als sein eignes ergreifen und ganz und gar als selbständiges Glied einer allgemeinen Ordnung handeln kann. Die Freiheit ist die unerläßliche Voraussetzung des Pflichtgebots und aller Moral, wir müssen können, wo wir sollen, »du kannst, denn du sollst«. Als eine Erweisung der Freiheit und als ein völliger Selbstzweck hebt sich damit das moralisch Gute über alle andern Güter unvergleichlich hinaus. Aus solcher Gesinnung fließen die Worte: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden als allein ein guter Wille.« »Alles Gute, das nicht auf moralisch gute Gesinnung gepfropft ist, ist nichts als Schein und schimmerndes Elend.«

Persönlichkeit

So ist es auch das Moralische, das allein den Menschen wesentlich mehr sein läßt als das Tier. Denn »über die bloße Tierheit erhebt ihn das gar nicht, daß er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen dienen soll, was bei Tieren der Instinkt verrichtet«. Wie sich hier von der Moral und der ihr eignen Freiheit her das Gesamtbild des Lebens vertieft, das zeigen Begriffe wie Persönlichkeit und Charakter; sie verdanken die hohe Schätzung, die wir alle ihnen zollen, an erster Stelle Kant. Denn Persönlichkeit hatte im Mittelalter und bis in die Neuzeit hinein nur die allgemeinere Bedeutung eines vernünftigen Einzelwesens (rationalis naturae individua substantia), erst Leibniz suchte dem Begriff eine präzisere Fassung zu geben, er fand sie in dem Vermögen des Menschen, in den verschiedenen Zeitpunkten das Bewußtsein der Identität zu bewahren; nur das schien ihm eine moralische und eine juristische Verantwortlichkeit möglich zu machen, nur daraus schöpfte er die Überzeugung von einer persönlichen Unsterblichkeit. So stand hier beim Begriff der Persönlichkeit das Intellektuelle voran, erst Kant wendet ihn ins Moralische.

Persönlichkeit bedeutet ihm nämlich »Freiheit und Unabhängigkeit vom Mechanismus der ganzen Natur«, das, »was den Menschen über sich selbst (als einen Teil der Sinnenwelt) erhebt, was ihn an eine Ordnung der Dinge knüpft, die nur der Verstand denken kann, und die zugleich die ganze Sinnenwelt, mit ihr das empirisch bestimmbare Dasein des Menschen in der Zeit und das Ganze aller Zwecke, unter sich hat.« Ja, es wird wohl bei ihm von der Tierheit und Menschheit in uns noch die Persönlichkeit unterschieden; der Mensch ist zunächst ein lebendes, dann ein lebendes und zugleich vernünftiges, als Persönlichkeit endlich ein vernünftiges und zugleich der Zurechnung fähiges Wesen.

Eine ähnliche Verschiebung ins Moralische und zugleich ins Freitätige hat der Begriff des Charakters durch Kant erfahren. Im Anschluß an die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes bezeichnete vor ihm Charakter jede ausgeprägte seelische Beschaffenheit; es kann in diesem Sinne verschiedene Charaktere geben, gute sowohl als böse; keinen Charakter haben, das heißt, nicht scharf ausgeprägt sein. Der Charakter erschien hier vorwiegend als eine Gabe der Natur. Kant dagegen unterscheidet deutlich zwischen einem physischen und einem moralischen Charakter. Jener zeigt nach Kant an, was sich aus dem Menschen machen läßt, dieser dagegen, was er aus sich selbst zu machen bereit ist. »Einen Charakter schlechthin zu haben, bedeutet diejenige Eigenschaft des Willens, nach welcher das Subjekt sich selbst an bestimmte praktische Prinzipien bindet, die es sich durch seine eigne Vernunft unabänderlich vorgeschrieben hat.« In diesem Sinne wollte Kant nicht sagen, der Mensch habe diesen oder jenen Charakter, sondern er habe überhaupt einen Charakter, »der nur ein einziger oder gar keiner sein kann«.

Schon allein durch diese Begriffe, die in aller Munde sind, ist Kant tief in das deutsche Leben eingedrungen.

Überall erscheint dabei die engste Verbindung von Freiheit und Gesetz, und zugleich erscheint Kant als ein Durchbildner und Vollender dessen, was im deutschen Wesen angelegt ist.

Freiheit ist uns nicht eine Abwerfung aller Bindung, ein Heraustreten aus allen Zusammenhängen, ein Gestalten des Lebens möglichst nach eignem Belieben, sondern sie ist ein Aufnehmen der Vernunftzwecke und der allgemeinen Ordnung in den eignen Willen, die freie Bindung an ein selbstgewolltes Gesetz; darin liegt eine Selbstverneinung, aber mehr doch eine Selbstbejahung. Der Gehorsam gegen ein solches selbstgewolltes Gesetz kann keinen Druck erzeugen, nicht einengend auf uns wirken, vielmehr wird er unser Wesen erweitern, uns fester auf uns selbst stehen lassen. Daß die Fremden das nicht verstehen und den Gehorsam des freien Mannes blinde Unterwürfigkeit schelten, das ist eine gröbliche Verkennung der Wahrheit, eine Verkennung, die ihrerseits eine klägliche Flachheit bekundet. Kant aber ist es, der den deutschen Begriff der Freiheit aus dem tiefsten Innern unsres Wesens begründet und ihn zum festen Grundstein des menschlichen Lebens gemacht hat.

Freiheit und Kausalgesetz

Aber alle Schätzung der Gesinnung, die in solchen Lehren hervortritt, enthebt uns nicht der Frage, wie es mit der Wirklichkeit der Freiheit steht, ob diese nicht auf den Widerspruch der ganzen Weltordnung stößt, da sie die in ihr waltende Gesetzlichkeit aufs schroffste zu durchbrechen scheint. Dies nun ist das Große an Kant, daß er der Freiheit einen sicheren Platz im Ganzen der Welt erstreitet, ja daß er sie zur Seele der ganzen Wirklichkeit macht. Das aber kann nicht geschehen ohne eine völlige Umwandlung ihres gewöhnlichen Bildes, das verlangt im besonderen eine gründliche Auseinandersetzung mit dem großartigen Bilde, das Spinoza entworfen hatte, und das eben um die Zeit Kants die Gemüter überwältigend fortriß. Bei Spinoza wird die Welt ein lückenloser Kausalzusammenhang, der einfachen und unwandelbaren Gesetzen folgt, jeder einzelne ist hier in seinem Tun und Lassen ganz und gar durch seine Stellung im Ganzen bestimmt, der Mensch ist ebensowenig frei, wie es ein geworfener Stein sein würde, wenn er während des Fliegens ein Bewußtsein erhielte. Wird das konsequent durchgedacht, so verschwindet alles Gut und Böse, so bleibt nur Notwendigkeit; alles Urteilen hat dann einem bloßen Feststellen der Tatsächlichkeit zu weichen. Diese Lehre ist aber nicht private Meinung eines einzelnen Denkers, sie ist die volle Durchbildung einer Überzeugung, die namentlich von der mechanisch-mathematischen Naturwissenschaft vertreten wurde und dadurch zu großem Einfluß in der Neuzeit gelangt war; das Kausalgesetz, das jene beherrscht, ward bei Spinoza zum Weltgesetz erhoben. Nun aber hatte eben an diesem Punkt Kant aus rein wissenschaftlichen Erwägungen eine Gegenbewegung aufgenommen, die der schottische Philosoph Hume (1711–1776) begonnen hatte, die freilich nicht gegen das Kausalitätsgesetz selbst, wohl aber gegen seine Gültigkeit als ein den Dingen innewohnendes und den Weltlauf beherrschendes Gesetz gerichtet war.

Hume und Kant

Hume, ein klarer und kritischer Kopf, untersuchte den Ursprung des Kausalgesetzes und fand dabei das Ergebnis, daß er unmöglich in der Erfahrung, der Wahrnehmung der Dinge liegen kann. Denn der innere Zusammenhang des Geschehens, die Abhängigkeit des einen vom anderen, den jenes Gesetz behauptet, ist unmöglich von draußen her mitzuteilen, die Erfahrung zeigt uns nie mehr als ein Neben- und Nacheinander. So läßt sich die Kausalverknüpfung nur als ein Werk des Menschen verstehen, und zwar denkt sich das Hume in folgender Weise. Oft wiederholen sich bei uns Vorstellungen in gleicher Folge, und wir gewöhnen uns an diese Folge; treten nun wiederum die ersten Glieder der Reihe ein, so erwecken sie in uns mit zwingender Kraft das Bild der späteren; diesen Zusammenhang mit seinem Zwang tragen wir nun fälschlich in die Dinge hinein und glauben sie durch ein inneres Band verbunden, während nur unsre Vorstellungen sich verkettet haben. Bei solcher Fassung verliert die Kausalverknüpfung ihre Geltung als Weltgesetz, sie wird ein Vorgang in der einzelnen Seele, und da die Vorstellungsfolgen sich nur durch Erfahrung bilden, so kann die Kausalbetrachtung den Bereich der Erfahrung nie überschreiten; da ferner die Art der Verkettung ganz und gar eine Sache der einzelnen Individuen ist, so gibt es keine ihnen überlegene sachliche und allgemeine Wahrheit, und Wissenschaft in dem Sinne, wie sie bisher angenommen war, wird schlechterdings aufgehoben. Diese Verschiebung des Kausalgesetzes vom Objekt ins Subjekt, vom Weltall in die Einzelseele, versetzte Kant in gewaltige Aufregung und nachhaltige Bewegung. Daß die Kausalverknüpfung uns nicht von draußen zugehen könne, das schien auch ihm unbestreitbar. Aber wenn er in der Verneinung mit Hume zusammenging, so fand das von diesem gebotene Ja mit seiner Zerstörung strenger Wissenschaft bei Kant den härtesten Widerstand. Die Wirklichkeit einer solchen Wissenschaft als eines Systems allgemeingültiger Wahrheiten galt ihm schon durch die Tatsache der Mathematik als allem Zweifel enthoben, sie dünkte ihm eine unantastbare Wahrheit. Aber wie nun diese Wahrheit mit der Aufhebung der Kausalverknüpfung als eines Weltgesetzes in Einklang bringen? Dieser Widerspruch, dem ein schwächerer Geist erlegen wäre, hat Kant auf einen neuen Weg geführt und ihn in dessen Verfolgung die Höhe seiner wissenschaftlichen Leistung erreichen lassen.

Je mehr sich seiner Arbeit das Problem vertiefte, desto deutlicher wurde ihm, daß die Entscheidung letzthin an der Fassung des Wahrheitsbegriffes hängt. Wie ist Wahrheit, wissenschaftliche Wahrheit zu verstehen? Von alters her wurde sie als eine Übereinstimmung unsres Denkens mit einer unabhängig von ihm vorhandenen Wirklichkeit verstanden, und wenn auch der Lauf der Zeiten die Wege zu diesem Ziele erheblich verändert hatte, das Ziel selbst blieb bestehen und kam somit auch an Kant. Er aber erkannte mit eindringender Schärfe, daß es in dieser Fassung schlechterdings unerreichbar sei, daß also, wenn alle Wahrheit an ihm hänge, auf sie ein für allemal zu verzichten sei. Das vornehmlich aus dem Grunde, weil, wenn unsere Begriffe einer Bestätigung von draußen bedürften, wir nie zu allgemeinen und notwendigen Sätzen gelangen könnten, wie die Wissenschaft sie verlangt, da die Erfahrung uns immer nur Einzelnes und Tatsächliches darbieten kann. Überhaupt aber wäre nie auszumachen, wie weit unsre Begriffe zu dem Tatbestand stimmten, den sie uns übermitteln möchten. Kurz, die Skepsis wäre unüberwindlich, wenn Wahrheit Übereinstimmung unsres Denkens mit den Dingen bedeutet.

Dinge und Begriffe

Um solchen Schiffbruch der Wissenschaft zu vermeiden, gibt es nach Kant nur einen einzigen Weg: es müssen sich nicht unsere Begriffe nach den Dingen, sondern es müssen sich die Dinge nach unsern Begriffen richten, d. h. wir erkennen Dinge nur so weit, als sie in unsere Anschauungs- und Denkformen eingehen. Diese Verlegung des Schwerpunkts aus dem Objekt ins Subjekt, die kopernikanische Wendung, wie Kant selbst sie genannt hat, ergibt aber eine Wissenschaft und eine wissenschaftliche Erfahrung nur, wenn das Subjekt wesentlich anders verstanden wird, als Hume es tat. Vom Stande der Einzelseele greift Kant auf ein geistiges Gefüge zurück, das allen Menschen gemeinsam ist und das aller Arbeit trägt. Er erörtert zunächst, was für Wissenschaft und wissenschaftliche Erfahrung nötig ist, und er zeigt dann Punkt für Punkt, wie dieses geleistet wird; er zeigt, wie jene Leistungen, über deren Tatsächlichkeit ihm kein Zweifel besteht, möglich sind, d. h. was von rein geistiger Tätigkeit, von dem, was er a priori nennt, in ihnen steckt. Es erhellt dabei namentlich, daß alles, was an den Erkenntnissen Form ist, nicht von draußen stammen kann, sondern vom Geiste selbst geliefert werden muß; zu einer gewaltigen Aufgabe wird es damit, die Grundformen aufzusuchen, welche alles Erkennen tragen. In seiner Kritik der reinen Vernunft hat Kant das mit staunenswerter Energie und mit unermüdlicher Sorgfalt getan; das Gesamtergebnis ist ein völlig anderes Bild der Wirklichkeit. Denn nun wird gewiß, daß wir die Ordnung, die wir in der Natur als den Dingen innewohnend vorzufinden glaubten, selbst ihr geliehen haben, daß wir in der wissenschaftlichen Forschung nur unser Eigentum wieder an uns nehmen. So erklärt sich das stolze Wort Kants: »Der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.«

Aber wenn so dem Geist ein hohes Vermögen zuerkannt wird, Kant ist nicht minder darauf bedacht, seine Grenzen sorgfältig zu wahren. Unser menschliches Denken hat nicht das Vermögen zu schaffen, es vermag nicht aus seiner Bewegung eine Wirklichkeit zu erzeugen, sondern die architektonische Tätigkeit der Vernunft bedarf eines Stoffes, den die Gegenstände als Dinge an sich geben müssen, »alles Denken muß sich zuletzt auf Anschauungen, mithin bei uns auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann.« Sinnlichkeit und Denken müssen zusammenwirken, um Erfahrung hervorzubringen. »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.«

Erfahrung und Denken

Ein Denken, das über die Erfahrung hinausstrebt und eigne Wege gehen will, wie es nach Kants Überzeugung die herkömmliche philosophische Spekulation versuchte, fällt unvermeidlich ins Leere. Wie Kant demgegenüber seine Aufgabe faßt, das hat er in mannigfachen Bildern ausgedrückt, die seine Darstellung durchflechten. Er will vor dem Gerichtshof der Vernunft unerbittlich zerstören, was eine ihre Kräfte überspannende Vernunft sich zu Unrecht angemaßt hat; er will das Gebäude der Wissenschaft auf festem Grunde und nach einem klaren architektonischen Riß erbauen; er will der Spekulation die Flügel beschneiden, mit der sie hoffte sich in den leeren Raum aufschwingen zu können.

Seine Aufgabe hat Kant in drei Hauptabschnitten durchgeführt, deren jeder eine eingreifende Umwandlung der überkommenen und eingewurzelten Denkart vollzieht. Der erste zeigt, daß die Formen der sinnlichen Anschauung Raum und Zeit nicht Eigenschaften der Dinge sind, sondern lediglich der menschlichen Seele angehören, welche die Erscheinungen mittels ihrer zusammenfügt. Es wird gezeigt, daß sie unmöglich aus den Eindrücken der Sinne hervorgehen können, daß sie vielmehr von diesen vorausgesetzt werden, auch daß sie sich nicht durch Abstraktion aus ihnen ableiten lassen, sondern als ein Ganzes alle Mannigfaltigkeit in sich fassen; auch die Allgemeingültigkeit und die Notwendigkeit der geometrischen und der arithmetischen Sätze wird als Zeugnis für die Subjektivität von Raum und Zeit verwandt; jene wäre unmöglich, wenn diese unabhängig von uns vorhandene Dinge wären, zu denen uns erst die Erfahrung einen Zugang verschaffen könnte.

Der zweite Hauptabschnitt zeigt, daß unser Bild der Welt eines Zusammenwirkens von Sinnlichkeit und Denken bedarf, daß aber das Denken die Grundformen liefert, die Elemente wie das Gefüge. Hier findet sich auch gegenüber Hume eine neue Behandlung des Kausalitätsproblems; so entschieden Kant die Kausalität den Dingen selbst fernhält, sie ist ihm keine Gewöhnung des bloßen Individuums, sondern ein Grundgesetz unseres Denkens, das nur mit ihrer Hilfe den Verlauf des Geschehens in eine feste Ordnung bringt. Dieser Abschnitt ist über die einzelnen Punkte hinaus darin bedeutend, daß er zeigt, wie auch das Bild der sinnlichen Welt auf logischer Arbeit ruht und an jeder Stelle ihrer bedarf, er gibt damit der Erziehung für die Bildung der Sinne wertvollste Anregung, ferner zerstört er für die Wissenschaft ein für allemal den Materialismus mit seiner plumpen Gleichsetzung von sinnlicher Handgreiflichkeit und echter Tatsächlichkeit, indem er das Hervorgehen unsres Weltbildes aus Gedankenarbeit deutlich vor Augen stellt.

Letzte Wahrheiten

Der letzte Hauptabschnitt zeigt endlich, daß ein unabweisbares Verlangen, zum Bedingten ein Unbedingtes zu suchen, die Mannigfaltigkeit auf eine letzte Einheit zurückzuführen, das Denken über das Gebiet der Erfahrung hinaustreibt, daß es ihm aber schlechterdings unmöglich ist, in dem Jenseitigen festen Fuß zu fassen und zu letzten Wahrheiten vorzudringen. An drei Punkten erfahren wir solchen Widerspruch in unserer eignen Vernunft: bei der Seele, beim Weltall, beim Dasein Gottes. Wohl wird im Leben alle Mannigfaltigkeit seelischer Vorgänge von einer Einheit des Bewußtseins getragen, aber wir dürfen deshalb nicht diese Einheit von jenem Zusammenhang ablösen und von ihr auf das Wesen der Seele oder auf eine Unsterblichkeit schließen; davon auf spekulativem Wege etwas zu erkennen, ist uns schlechthin versagt.

Ein unabweisbares Verlangen unserer Vernunft nach Einheit drängt uns dazu, die mannigfachen Erscheinungen um uns zum Ganzen einer Welt zusammenzuschließen, und wir können dann nicht umhin, über den Ursprung und das Gefüge dieses Ganzen Behauptungen aufzustellen. Aber bei solchem Unternehmen verwickeln wir uns in entgegengesetzte Thesen, deren jede wohl die andere widerlegen, nicht aber die eigene Wahrheit dartun kann. Das spricht zum allgemeinen Bewußtsein am deutlichsten bei der Frage, ob die Welt in Raum und Zeit begrenzt oder ob sie unbegrenzt ist. Eins von beiden scheint notwendig, und doch können wir uns für keins entscheiden. Denken wir nämlich die Welt in Raum und Zeit begrenzt, so wird ihr Bild unerträglich klein; denken wir sie unbegrenzt, so wird es unerträglich groß; solche Unmöglichkeit einer Entscheidung darf als ein sicheres Zeugnis dafür gelten, daß Raum und Zeit nicht von uns unabhängige Größen sind, sondern nur menschliche Anschauungsformen.

Das letzte Problem ist das Dasein Gottes. Ein Verlangen unserer Vernunft nach einem letzten Abschluß macht uns zur Bejahung jener Frage geneigt; aber jede nähere Prüfung zeigt, daß wir damit den eignen Kreis überspringen, subjektive Antriebe in objektive Notwendigkeiten verwandeln, den Gebilden unseres Denkens eine Selbständigkeit gegenüber diesem Denken verleihen.

So gibt uns die reine Wissenschaft keine Antwort auf die Fragen, die unsere Seele zu beschäftigen nimmer aufhören können; auch der Lauf der Zeit kann daran nichts ändern, da alle Fortschritte des Erkennens innerhalb des bezeichneten Rahmens bleiben, ihn weder überschreiten noch verändern können.

Das Ganze unseres intellektuellen Vermögens, wie es sich aus Kants Untersuchung ergibt, stellt sich in zwiefacher Beleuchtung dar: es ist groß innerhalb der Erfahrung, in dem Aufbau ihres weitverzweigten Gefüges, in seiner völligen Durchdringung mit Denkarbeit, es ist klein, sobald es sich über die Erfahrung hinauswagt und letzte Gründe der Wirklichkeit erforschen will.

Das eine wie das andere wirkt aber dahin, dem Reich der Moral freien Platz zu schaffen und ihm einen besonderen Wert zu verleihen. Die ganze sinnliche Welt kann jetzt nicht mehr als letzte Wirklichkeit gelten, deren Gesetze auch unser Handeln beherrschen, sie hat sich in ein Reich der Erscheinungen verwandelt, das vornehmlich von uns selbst gebildet ist. So bedeutet auch die Kausalverkettung nicht mehr ein Weltgesetz, das keine Freiheit des Handelns duldet, für die Freiheit ist jetzt freier Raum gewonnen. Auch das Unvermögen der Spekulation gegenüber den letzten Fragen ist insofern dem Handeln günstig, als es von ihr keine bindenden Ziele empfangen kann, sondern soweit es ihrer bedarf, sie aus eignem Vermögen aufbringen muß.

Das Reich der praktischen Vernunft

Auch die Gesamtstellung der praktischen Vernunft im Lebenswerke Kants wird durch die Erfahrungen der Erkenntniskritik aufs wesentlichste verbessert. Diese Erfahrungen fassen sich zusammen in eine Befreiung des Menschen vom Druck einer ihm entgegenstehenden Welt, er braucht nicht eine Übereinstimmung mit einer solchen Welt zu suchen, er bildet sich seine Welt aus den Kräften und nach den Gesetzen seines eigenen Wesens. Das war ein großer Gewinn an Freiheit und Selbständigkeit, er brachte den Menschen in ein anderes Verhältnis zur Wirklichkeit. Aber es verblieb bei allem Gewinn eine feste Schranke darin, daß das Denken nur in Beziehung auf Sinnlichkeit in fruchtbare Arbeit kam, daß Dinge an sich seiner Tätigkeit den Stoff darbieten mußten. So drängt es notwendig weiter zu dem Gedanken, ob es nicht eine Tätigkeit gibt, die unabhängig von solcher Beschränkung aus sich selbst heraus eine Wirklichkeit bilden könnte; eine solche Tätigkeit müßte als die Vollendung des Lebens gelten, sie würde nichts Dunkles, nichts Unaufhellbares in sich tragen. Nun aber liegt eine solche Tätigkeit, ein solches Wirken aus reiner Selbsttätigkeit vor in der Moral und ihrem Reiche der praktischen Vernunft. So darf diese als die letzte Tiefe der Wirklichkeit gelten, und da bei ihr das Wirken der Vernunft nicht wie beim Erkennen an besondere Bedingungen des Menschen geknüpft ist, so beschränkt sich auch ihre Geltung nicht auf den Menschen, sie muß für alle Vernunftwesen gelten, sie hat eine unbedingte Gültigkeit. Damit rechtfertigt sich vollauf die Hochschätzung, mit der Kant die Moral behandelt, diese hat sich nun wirklich als der Kern des Menschenwesens erwiesen und zugleich zu einer Entwerfung von Weltausblicken fähig gezeigt. Denn in der hier gebotenen Fassung ist die Moral nicht ein besonderes Gebiet innerhalb einer weiteren Welt, sondern sie ist der Ursprung einer neuen Welt, und diese Welt bildet die Tiefe der gesamten Wirklichkeit. Die Moral schafft sich gegenüber der Natur ein eignes Reich, ein Reich der Freiheit, das sein Recht und seinen Wert ganz und gar in sich selbst hat und keiner Bestätigung, keiner Befestigung von außen her bedarf; es ist nunmehr vollauf verständlich, wie sehr der Mensch durch sein selbständiges Teilnehmen an diesem Reich der Freiheit gehoben wird, wie er ganz davon erfüllt sein muß.

Die drei Grundüberzeugungen

Solche Erhebung der Moral zu einer weltschaffenden Größe bringt es mit sich, daß sich aus ihr auch Grundüberzeugungen vom Ganzen der Wirklichkeit entwickeln, Grundüberzeugungen, praktische Ideen, die keine theoretischen Lehrsätze sind und nicht als solche verwandt werden dürfen, die aber dem pflichtmäßig handelnden Menschen unbedingt gewiß sind; sie sind Sache des Glaubens, aber eines Glaubens, an dem aller Wert des Menschen hängt, und der sich von einem dogmatischen Glauben aufs deutlichste unterscheidet. Der erste Punkt dieses moralischen Glaubens ist die Idee der Freiheit, die allein Moral überhaupt möglich macht, Freiheit im Sinne einer Selbstbestimmung des vernünftigen Willens; der zweite die Idee der Unsterblichkeit, da die notwendige Forderung einer vollendeten Heiligkeit des Wandels sich innerhalb des Erdenlebens unmöglich erfüllen läßt, ein schlechthin Unmögliches aber nie die volle Kraft der Seele gewinnen könnte; der dritte die Idee Gottes, als des Trägers einer naturüberlegenen Ordnung, die das Glück zur Glückswürdigkeit in das rechte Verhältnis bringt. Von diesen Ideen ist aber die erste als die grundlegende die weitaus wichtigste, die anderen dienen mehr zur Ausführung und zur Hilfe. Im Grunde ist es der Glaube an das in uns gegenwärtige Wirken einer Welt der Freiheit gegenüber aller bloßen Natur, der Kant eine volle Gewißheit und freudigen Lebensmut gibt. »Die Idee der Freiheit ist die einzige unter allen Ideen der reinen Vernunft, deren Gegenstand Tatsache ist.«

Das moralische Gesetz in uns

Wie sich ihm mit dem allen unser Verhältnis zu den großen Lebensfragen darstellt, darüber spricht er sich an einer Stelle der Praktischen Vernunft aus, die für das Ganze seiner Denkart zu bedeutend und zu bezeichnend ist, als daß wir auf eine Anführung verzichten möchten. Er sucht zu zeigen, daß eine nähere Einsicht in die tiefsten Gründe der Wirklichkeit unserem moralischen Handeln leicht gefährlich werden könnte. »Statt des Streits, den jetzt die moralische Gesinnung mit den Neigungen zu führen hat, in welchem nach einigen Niederlagen doch allmählich moralische Stärke der Seele zu erwerben ist, würden Gott und Ewigkeit mit ihrer furchtbaren Majestät uns unablässig vor Augen liegen. – Die Übertretung des Gesetzes würde freilich vermieden, das Gebotene getan werden; weil aber die Gesinnung, aus welcher Handlungen geschehen sollen, durch kein Gebot mit eingeflößt werden kann, der Stachel der Tätigkeit hier aber sogleich bei Hand und äußerlich ist, die Vernunft also sich nicht allererst emporarbeiten darf, um Kraft zum Widerstande gegen Neigung durch lebendige Vorstellung der Würde des Gesetzes zu sammeln, so würden die mehrsten gesetzmäßigen Handlungen aus Furcht, nur wenige aus Hoffnung und gar keine aus Pflicht geschehen, ein moralischer Wert der Handlungen aber, worauf doch allein der Wert der Person und selbst der der Welt in den Augen der höchsten Weisheit ankommt, würde gar nicht existieren.

Nun, da es mit uns ganz anders beschaffen ist, da wir, mit aller Anstrengung unserer Vernunft, nur eine sehr dunkle und zweideutige Aussicht in die Zukunft haben, der Weltregierer uns sein Dasein und seine Herrlichkeit nur mutmaßen, nicht erblicken oder klar beweisen läßt, dagegen das moralische Gesetz in uns, ohne uns etwas mit Sicherheit zu verheißen oder zu drohen, von uns uneigennützige Achtung fordert, übrigens aber, wenn diese Achtung tätig und herrschend geworden, allererst alsdann und nur dadurch Aussichten ins Reich des Übersinnlichen, aber auch nur mit schwachen Blicken erlaubt; so kann wahrhafte sittliche, dem Gesetze unmittelbar geweihte Gesinnung stattfinden und das vernünftige Geschöpf des Anteils am höchsten Gute würdig werden, das dem moralischen Werte seiner Person und nicht bloß seiner Handlungen angemessen ist. Also möchte es auch hier wohl damit seine Richtigkeit haben, was uns das Studium der Natur und des Menschen sonst hinreichend lehrt, daß die unerforschliche Weisheit, durch die wir existieren, nicht minder verehrungswürdig ist in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zuteil werden ließ.«

Zeigt diese Stelle einmal, wie tief eine religiöse Überzeugung in Kants Gemüte wurzelt, so bekundet sie nicht minder die eigentümliche Art des von ihm entwickelten Idealismus. Bisher suchte die Philosophie aus dem Ganzen der Weltanschauung dem Leben seine Richtung zu geben, es hatte seine Ziele und Güter aus der mit dem All befaßten Wissenschaft zu empfangen. Darin vollzieht nun Kant eine völlige Umkehrung. Ein spekulatives Eindringen in die letzten Gründe ist nach seiner Überzeugung dem Menschen schlechterdings versagt, aber deshalb brauchen wir nicht auf allen Sinn der Wirklichkeit zu verzichten, wir finden ihn und zugleich die Richtung des Lebens vom Handeln her, von einem Handeln, das sich selbst zu einer Welt erweitert, aus seiner Tätigkeit eine Welt der Freiheit hervorbringt.

Ein Idealismus, der daraus hervorgeht, scheint unserem Denker weit kräftiger und lebensvoller als einer, der einer verwickelten Weltanschauung entspringt; auch hat er den Vorteil, sich auf etwas zu gründen, was jedem Menschen nahe und gegenwärtig ist, was daher jeder ohne viel gelehrtes Wissen bei sich beleben kann. Es ist der Mensch als Mensch, den diese Denkweise aufruft.

Nachdem so die Weltmacht der Moral völlig gesichert ist, darf sie ihr Maß an das vorgefundene Dasein legen, darf sie den ganzen Umkreis des Lebens an sich zu ziehen und von sich aus zu gestalten suchen. Sie wird dabei vor allem eine völlige Unabhängigkeit vom Stande der Menschen wahren, nicht ihre Vorschriften danach einrichten und darauf herabstimmen, was im Durchschnitt getan wird; für »höchst verwerflich« wird es erklärt, »die Gesetze über das, was ich tun soll, von demjenigen herzunehmen oder dadurch einschränken zu wollen, was getan wird«. Die Moral hat ihr Gesetz und ihr Gericht in sich selbst, das Tun und Treiben der Menschen ändert daran nicht das mindeste. »Wenn ein jeder löge, wäre deswegen das Wahrreden eine bloße Grille?«

Das radikale Böse

Bei solcher Unabhängigkeit der Moral kann es in keiner Weise erschrecken und niederdrücken, wenn der Mensch sich in weitem Abstande von ihr befindet. Das aber ist nach Kants Überzeugung in der Tat der Fall. Sein Urteil über den moralischen Stand der Menschheit ist wenig günstig. Er beklagt vor allem die Unlauterkeit des Menschen, seinen Mangel an Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit, er findet in ihm einen Hang zum Bösen, der nicht zu vertilgen, sondern nur zu überwiegen ist, er meint, daß das Böse nicht bloß in den Neigungen, sondern im Willen liege, indem man jenen nicht widerstehen wolle. So hat Kant die Lehre von einem »radikalen« Bösen, und er spricht wohl von einer Bösartigkeit der menschlichen Natur; auch seine näheren Ausführungen zeigen ein starkes Mißtrauen gegen die moralische Haltung des Menschen. »Aus so krummem Holz, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.«

Da dies aber seine Hochschätzung des Menschenwesens als eines Trägers sittlicher Freiheit in keiner Weise vermindert, so entsteht eine starke Spannung, und es erklärt sich auch, wie Kant weniger darauf bedacht ist, eine Verständigung zwischen der sittlichen Forderung und dem Menschen der Erfahrung herbeizuführen, als das sittliche Gesetz in seiner vollen Reinheit und Strenge aufrechtzuhalten; alle Laxheit, alle Neigung zu Kompromissen findet bei ihm entschiedenste Ablehnung.

Es bringt ihm daher echte Moral einen fortwährenden Kampf mit sich, einen Kampf zwischen Neigung und Pflicht, zugleich aber eine hohe Schätzung der Tapferkeit, wie er denn die Tugend geradezu als moralische Tapferkeit bezeichnet, deren Fahne es hochzuhalten gilt. So ist das Leben, das hier entsteht, wahrlich nicht leicht und bequem, es verlangt unaufhörliche Anspannung aller Kraft, es verlangt fortwährende Selbstüberwindung, aber es erlangt in dem allen auch eine unvergleichliche Größe und Freude, es hat seinen Lohn in sich selbst, braucht ihn nicht von draußen her zu empfangen, es hebt über das gewöhnliche Glück hinaus und trägt in sich selbst eine hohe Befriedigung.

Wenn Kant von der Moral als der herrschenden Macht alle Lebensgebiete gestaltet, so mag das eine große Gefahr für die Entfaltung der Eigentümlichkeit dieser dünken. In Wahrheit ist eine Verengung nicht zu leugnen, da Kant die Moral lediglich auf das Verhältnis zu Menschen beschränkt, nur Pflichten des Menschen gegen Menschen kennt. Andererseits verhindert die hohe Fassung der Moral als eines Reiches der Freiheit und Selbsttätigkeit mit Sicherheit ein Sinken zu einem bloßen Moralismus, der alles nur daraufhin ansieht, wie weit es der Besserung der Individuen nütze; die Moral greift hier weniger in den näheren Bestand der Gebiete ein, als sie ihrem Ganzen die Richtung auf höchste Zwecke, auf jenes Reich der Freiheit gibt; so wirkt sie konzentrierend, klärend und kräftigend auf den ganzen Umfang des Lebens.

Kant und die Religion

Am wenigsten erlangt wohl ihr volles Recht die Religion, wenn sie als »die Erkenntnis aller unsrer Pflichten als göttlicher Gebote« verstanden wird. Denn streng genommen würde sie damit ein bloßes Mittel zur Verstärkung der Moral, und es wäre dabei nicht einmal gewiß, ob das bloß eine Hilfe für menschliche Schwäche wäre, die ein Starker wohl auch entbehren könnte, oder ob sie eine Wahrheit aus eigenem Rechte besitzt. Was aber den Inhalt betrifft, so liegt nach Kant in der Religion aller Wert am Tun. Dabei läßt sich vollauf anerkennen, daß der eigentümliche Charakter der Religion wenig zur Geltung kommt, und doch die Energie bewundern, mit der die moralische Seite der Religion hervorgekehrt, allem Scheinwesen in ihr widerstanden, ihr Leben vor allem in unmittelbare Gegenwart gestellt wird. Bezeichnend sind hier die Worte: »Alles was außer dem guten Lebenswandel der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes,« und die anderen: »daß ein Geschichtsglaube Pflicht sei und zur Seligkeit gehöre, ist Aberglaube.« Es ist aber »Aberglaube der Hang, in das, was als nicht natürlicherweise zugehend vermeint wird, ein größeres Vertrauen zu setzen, als was sich nach Naturgesetzen erklären läßt, – es sei im Physischen oder Moralischen«. Kant ist darum besorgt, daß die Selbständigkeit der Moral durch ihre Verkettung mit der Religion Schaden leide; so dringt er mit höchstem Eifer darauf, daß nicht die Moral auf die Religion, sondern die Religion auf die Moral gegründet werde. Kants persönliche Religion war ohne Zweifel weit reicher und tiefer als die von ihm in Begriffe gefaßte, ein Bewußtsein der Abhängigkeit von einer höheren Macht und ein Vertrauen auf diese Macht geht durch alle seine Schriften. Ein bloßer Moralist konnte nicht sagen, daß, wenn man von einem letzten Zwecke der Welt sprechen dürfe, er nicht in der Glückseligkeit der vernünftigen Wesen zu suchen sei, sondern in der Ehre Gottes.

Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit

Zu größerem Reichtum entfaltet sich die moralische Grundanschauung Kants in der Gestaltung des menschlichen Zusammenseins. Hier haben sich in allen Verhältnissen die beiden Tugenden zu bewähren, die ihm als die höchsten gelten: Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit. Die Pflicht der Wahrhaftigkeit geht in erster Linie nicht gegen andere, sondern gegen uns selbst, in der Lüge und Unaufrichtigkeit schaden wir vornehmlich uns selbst, indem wir dadurch die Achtung zerstören, die wir uns selbst als einem moralischen Wesen schulden. Zur Pflicht der Wahrhaftigkeit gehört auch, daß wir überall aus selbständiger Entscheidung und eigner Überzeugung handeln, auch uns davor hüten, blinde und äußere Bekenntnisse nachzusprechen. Gewiß schützt auch strenge Gewissenhaftigkeit uns nicht vor Irrung, aber diese trifft dann nicht unsere Gesinnung. »Es kann sein, daß nicht alles wahr ist, was ein Mensch dafür hält (denn er kann irren), aber in allem, was er sagt, muß er wahrhaft sein.«

Das Verhältnis der Menschen untereinander werde aber durch die Idee der Gerechtigkeit bestimmt, sowohl im privaten Verkehr als im Staate als im weltbürgerlichen Verkehr der Völker. Wie hoch Kant von der Gerechtigkeit denkt, das zeigen die Worte: »Wenn die Gerechtigkeit untergeht, hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben«; von der Ungerechtigkeit aber sagt er: »Niemals empört etwas mehr als Ungerechtigkeit, alle anderen Übel, die wir ausstehen, sind nichts dagegen.«

Demnach empfiehlt es sich, das Verhältnis von Mensch zu Mensch mehr auf Gerechtigkeit und gegenseitige Achtung als auf Liebe zu stellen. Liebe kann nicht geboten werden, und Mitleid ist kein großes Gegenmittel gegen den Eigennutz. Es fällt hier stark ins Gewicht, daß Kant wenig von den Neigungen des Menschen hält und sie viel zu veränderlich findet, um auf sie unser Leben zu bauen.

Aus der Selbstachtung aber, die ich als Glied eines Reiches der Freiheit haben darf, geht unmittelbar eine Achtung auch der anderen hervor; umgekehrt läßt sich sagen, daß, wo diese Achtung fehlt, es im Grunde auch an echter Selbstachtung gebricht. »Der Hochmütige ist jederzeit im Grunde seiner Seele niederträchtig.«

Kants Staatsideal

Im Staatswesen aber wirkt die Kantische Grundüberzeugung zur Voranstellung der Ideen Recht und Freiheit. Die hohe Schätzung der Freiheit, welche Kant im Ganzen des Lebens bekundet, muß natürlich auch hierher wirken; vom Recht aber sagt er, daß es der Augapfel Gottes auf Erden sei. Der enge Zusammenhang von Recht und Freiheit erhellt aus der Definition des Rechts als »des Inbegriffs der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann«. Den Staat aber definiert er als eine »Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen«. So ist der Staat hier vor allem Rechtsgemeinschaft, er gilt als von den Individuen her entstanden; mag Kant seine Entstehung aus einem Vertrage als Faktum bekämpfen, als Idee hält er sie fest. So kann hier von einem nationalen Staate, auch von einem Kulturstaate nicht die Rede sein; diese Begriffe blieben einer späteren Entwicklung vorbehalten. In die nähere Ausführung wirken Gedanken ein, welche die Französische Revolution, namentlich ihr Beginn, auch in Deutschland weiten Kreisen zugeführt hatte. Die Forderungen der Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit spielen bei Kant eine große Rolle, aber er hat sie ethisch vertieft und auch in der näheren Ausführung maßvoll gestaltet. Sein politisches Ideal ist eine Repräsentationsverfassung, »alle wahre Republik ist und kann nichts anderes sein als ein repräsentatives System im Volke«. Bei aller Freiheitsliebe hat er wenig Sympathie für die Demokratie, er sieht in ihr eine Gefahr für die Freiheit des einzelnen, die ihm besonders am Herzen liegt, »Volksmajestät« erklärt er für einen »ungereimten Ausdruck«. Eine nahe Verwandtschaft mit den Lehren des englischen Liberalismus ist in diesem Aufbau des Staates von den Individuen her nicht zu verkennen, aber solche Verwandtschaft darf erhebliche innere Unterschiede nicht übersehen lassen. Dort ist es der Mensch, wie er leibt und lebt, dem die Freiheit und mit ihr ein hoher Wert zuerkannt wird, bei Kant ist es die Persönlichkeit als Glied einer sittlichen Welt; dort ist das höchste Ziel das Wohlergehen der Gesellschaft, bei Kant dagegen die Begründung eines Reiches der Freiheit und Gerechtigkeit auf dem eigenen Boden der Menschheit; dort mußte man, um die eigenen Ziele erreichbar zu finden, den Menschen moralisch vortrefflich denken und ihn damit idealisieren, bei Kant verhindert, wie wir sahen, alle Hochschätzung der Vernunft im Menschenwesen nicht die volle Anerkennung schwerer Mängel und Schäden. Es hängt damit eng zusammen, daß seine Art der Freiheit keine Weichheit kennt, vielmehr einen strengen Charakter hat; dafür ist z. B. bezeichnend die entschiedene Verteidigung der Todesstrafe als einer Forderung der Gerechtigkeit.

Das Verlangen einer Ordnung der menschlichen Verhältnisse aus der Idee der Gerechtigkeit hat Kant auch auf das Verhältnis der Völker ausgedehnt und auch für die äußere Politik eine Leitung durch die Idee des Rechts verlangt. Hier stößt er besonders hart mit den Durchschnittsverhältnissen und auch mit den Durchschnittsmeinungen zusammen, aber hier zeigt er auch besonders deutlich die unbeugsame Festigkeit seiner Überzeugung, sein Vermögen, unbeirrt durch allen Widerspruch mit ruhiger Kraft den eigenen Weg zu verfolgen. Mit größter Energie tritt er dafür ein, daß nie das Recht der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Rechte angepaßt werde. Was eine vom Rechte absehende Politik an äußeren Vorteilen etwa gewinnen lassen kann, das wiegt nach seiner Überzeugung weitaus nicht den Schaden auf, der aus der Geringachtung dessen hervorgeht, was dem menschlichen Leben allein einen Wert zu geben vermag. Wohl ist, so meint er, Ehrlichkeit nicht immer die beste Politik, aber sie ist besser als alle Politik. Politiker, die nur auf den Erfolg ausgehen und sich dabei ihrer Menschenkenntnis rühmen, mögen die Menschen kennen, nicht aber kennen sie den Menschen und was aus ihm gemacht werden kann.

Der ewige Friede

Aus solchem Zusammenhange ist auch die Schrift vom ewigen Frieden zu verstehen, der das 18. Jahrhundert von früh an beschäftigt hatte, der aber von Kant mit besonderem Nachdruck vertreten wird. Er entwickelt diesen Gedanken nicht bloß in jener Schrift, er verficht ihn eifrig auch sonst, er erklärt dabei den Krieg als »das größte Hindernis des Moralischen«, er stellt die Forderung, den Krieg erstlich nach und nach menschlicher zu gestalten, ihn darauf seltener zu machen, ihn endlich als Angriffskrieg ganz verschwinden zu lassen.

Sein Ideal ist ein »allgemeiner Staatenverein (analogisch mit dem, wodurch ein Volk Staat wird)«, nur er vermöge einen wahren Friedensstand herbeizuführen. Die Schwierigkeiten dessen entgehen Kant freilich nicht, in seiner Rechtslehre führte ihn ihre Erwägung sogar dahin, den ewigen Frieden eine »unausführbare Idee« zu nennen. Aber er bleibt ihm doch das letzte Ziel des ganzen Völkerrechts, und für ausführbar erklärt er die »politischen Grundsätze, die darauf abzwecken, nämlich solche Verbindungen der Staaten einzugehen, als zur kontinuierlichen Annäherung zu denselben dienen«. An einer anderen Stelle erklärt er, der ewige Friede sei »keine leere Idee, sondern eine Ausgabe, die, nach und nach aufgelöst, ihrem Ziele (weil die Zeiten, in denen gleiche Fortschritte geschehen, hoffentlich immer kürzer werden) beständig näher kommt«.

Beim Fortschrittsgedanken, der uns hier begegnet, ist Kants Stellung eigentümlich genug. Seine Geringschätzung der moralischen Beschaffenheit des Menschen, namentlich seine Überzeugung von der tiefen Wurzel des Übels, macht es ihm schwer, einen Fortschritt anzunehmen, spricht er doch von einem »traurigen Anblick, nicht sowohl der Übel, die das menschliche Geschlecht aus Naturursachen drücken, als vielmehr derjenigen, welche die Menschen sich untereinander selbst antun«. So erklärt er es für unmöglich, daß der Fortschritt zum Besseren »durch den Gang der Dinge von unten hinauf« erfolge. Andererseits kann er nicht auf den Fortschritt gänzlich verzichten, da ohne eine Hoffnung besserer Zeiten »eine ernstliche Begierde, etwas dem allgemeinen Wohl Ersprießliches zu tun, nie das menschliche Herz erwärmt hätte«. So müssen wir notwendig auf einen Fortschritt zum Besseren hoffen, aber er ist nicht sowohl von dem zu erwarten, was wir tun, »sondern von dem, was die menschliche Natur in und mit uns tun wird, um uns in ein Gleis zu nötigen, in welches wir uns von selbst nicht leicht fügen würden. Denn von ihr, oder vielmehr (weil höchste Weisheit zur Vollendung dieses Zweckes erfordert wird) von der Vorsehung allein können wir einen Erfolg erwarten, der aufs Ganze und von da auf die Teile geht.« Ähnlich sagt Kant an einer anderen Stelle, daß die Hoffnung des »Fortschreitens nur in einer Weisheit von oben herab« begründet sei.

So sehen wir Kant auch bei diesen Fragen eigene Wege verfolgen.

Das Reich des Schönen

Die Energie, welche Kant an die moralische Aufgabe setzt, und der schwere Ernst, den er dem menschlichen Leben gibt, könnten erwarten lassen, daß er das Reich des Schönen geringschätzig oder doch nebensächlich behandelt hätte; die stoische Gesinnung, der doch Kant eng verwandt ist, war im allgemeinen der Kunst wenig hold. In Wahrheit steht es bei ihm völlig anders. Er hat nicht nur im einzelnen viel Interesse für künstlerische Leistungen und Probleme, er sucht auch das gesamte Reich des Schönen in seine Gedankenwelt aufzunehmen und es tiefer in der Seele zu begründen. Mag er schließlich das Schöne dem Guten als »Symbol des Sittlichguten« unterordnen und den Geschmack als ein »Beurteilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen« verstehen, in die Erörterung selbst greift das wenig ein, sie behandelt das Schöne als ein eigenes Reich und befreit dies von herkömmlicher Vermengung mit anderen Gebieten. Das Schöne wird weit über das Angenehme der Sinne hinausgehoben und schon dadurch von ihm deutlich geschieden, daß das Angenehme Sache des Einzelnen ist, während das Schöne als Gegenstand eines allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt wird. Gegen das Gute aber grenzt es sich dadurch ab, daß das Gute vermittelst der Vernunft durch den bloßen Begriff gefällt und mit Interesse verknüpft ist, während das Wohlgefallen am Schönen interesselos ist und ohne Begriffe entsteht. Dieser Anspruch des Schönen auf Allgemeingültigkeit wird für Kant ein großes Problem und führt ihn wiederum zu einer Verschiebung von der Außenwelt in die Seele; das Schöne liegt nicht in den Dingen, sondern es hat seinen Ursprung im Geiste, wir erfahren in ihm nicht eine Harmonie der Dinge, sondern eine Harmonie unserer eigenen Geisteskräfte; auch hier ist es die Form, worin die geistige Leistung besteht, auch hier wird damit das Erlebnis über einen niederen Seelenstand hinausgehoben. Wie das Gute eine Überlegenheit gegen alle Neigung besaß, so wird das Geschmacksurteil als völlig unabhängig von Reiz und Rührung erklärt und ganz und gar auf die Form gerichtet; es entspringt nicht aus der Lust, sondern es geht ihr vorher. Auch damit gewinnt das Leben an Selbständigkeit, es befreit sich am Sinnlichen selbst durch die Macht der Form vom Drucke bloßer Sinnlichkeit. So wird dieses Reich ein unentbehrliches Bindeglied zwischen dem erhabenen Reich der Moral und der bunten Fülle des sinnlichen Daseins, und das Ganze gestaltet sich letzthin zu einem Gewinne der Freiheit. »Der Geschmack macht gleichsam den Übergang vom Sinnenreiz zum habituellen moralischen Interesse ohne einen gar zu gewaltsamen Sprung möglich, indem er die Einbildungskraft auch in ihrer Freiheit als zweckmäßig für den Verstand bestimmbar darstellt und sogar an Gegenständen der Sinne auch ohne Sinnenreiz ein freies Wohlgefallen finden lehrt.« Solche Emporhebung des Schönen über alle niedrige Lust, solche Anerkennung seiner Selbständigkeit, solche Verlegung seines Ursprungs in die innere Werkstatt des Geistes wirkten zusammen dahin, unsere großen Dichter mit Kant zu verbinden und sie mit größter Schätzung seiner zu erfüllen; so konnte auch Goethe trotz vielfachen sonstigen Gegensatzes die großen Hauptgedanken der Kritik der Urteilskraft seinem eigenen Schaffen, Tun, Denken »ganz analog« finden. Die Behandlung des ganzen Gebietes empfängt aus solchem Verstehen von innen her den Antrieb, die inneren Bedingungen und das innere Gewebe des Schaffens zu voller Klarheit herauszuarbeiten.

Schön und Erhaben

Wie sich damit der Anblick verwandelt, das zeigt mit besonderer Deutlichkeit die Behandlung des Erhabenen, dem Kant von früh an viel Aufmerksamkeit zugewandt hatte. Das Gefühl des Erhabenen enthält augenscheinlich einen Kontrast. Diesen Kontrast erklärte man bisher als einen Zusammenstoß von menschlichem Vermögen und Außenwelt, Kant aber verlegt ihn ganz und gar in die eigene Seele des Menschen. »Erhaben ist die Natur in denjenigen ihrer Erscheinungen, deren Anschauung die Idee ihrer Unendlichkeit mit sich führt. Dieses letztere kann nun nicht anders geschehen als durch die Unangemessenheit selbst der größten Bestrebung unserer Einbildungskraft in der Größenschätzung eines Gegenstandes.« Wenn aber so das Erhabene daraus entsteht, daß die ganze Macht der Einbildungskraft den Ideen der Vernunft unangemessen befunden wird, so liegt die wahre Erhabenheit nicht im Naturobjekte, sondern im Gemüte des Urteilenden. Damit ist wiederum der Schwerpunkt des Lebens in die Innenwelt verlegt.

Kants einzigartige Größe

Zum Rückblick und Abschluß seien nur einige Worte gestattet. Wie immer man sich zu den einzelnen Problemen stellen mag, eine einzigartige Größe Kants wird kein Unbefangener bestreiten. Eine ungeheure Kraft erweist sich darin, alle Wissensgebiete nicht nur, sondern auch alle Lebensinteressen der Menschheit mit offnem Blick zu umspannen und sie doch zur Einheit zusammenzuzwängen, zugleich aber ihnen den eigenen Stempel aufzuprägen. Kant stand überall auf dem Boden strenger, ja strengster Wissenschaft, aber die Wissenschaft ist ihm, um einen Ausdruck von ihm selbst zu gebrauchen, »die enge Pforte geworden, die zur Weisheitslehre führt«. Das Ganze seines Werkes ist bei aller Ruhe und Gründlichkeit seiner Arbeit voll innerer Bewegung, verschiedene Strömungen entstehen und scheinen zunächst einander zu widerstreiten, aber es gelingt, sie nicht nur miteinander auszugleichen, sondern sie zu gegenseitiger Verstärkung zu verbinden. Ein wunderbares Gleichgewicht der Stimmung entsteht daraus, daß dem Menschen nicht nur sowohl eine Größe als eine Grenze zuerkannt wird, sondern daß beides aufeinander angewiesen wird und sich gegenseitig zu fördern vermag: nur die Grenze unseres Wissens macht die Größe unseres Handelns möglich, und diese Größe selbst gibt der Begrenzung einen Wert. Dem entspricht auch der Ton der Darstellung: durchgängig schlicht, klar bestimmend, scharf scheidend, besonnen abwägend, nicht selten schulmäßig schwerfällig; dann aber auf den Höhepunkten ein Durchbrechen eines reinen und echten Enthusiasmus und zugleich eine ergreifende Wärme und Einfalt der Darstellung. Überall der vollste Ernst, die lauterste Wahrhaftigkeit, das Ganze wie ein offnes Bekenntnis von den höchsten Dingen. Als Gesamtergebnis eine Befreiung des Menschen vom Drucke der Außenwelt, eine unermeßliche Steigerung seiner Tätigkeit, aber nicht in der Richtung nach außen hin, sondern in der gegen sich selbst, eine Vertiefung des Seelenlebens, ja eine Entdeckung und Belebung einer ganzen Welt in der Seele. Zugleich ein gewaltiger Ansporn des Lebens, ein Aufruf zur Erringung seines eigenen Wesens und zum unermüdlichen Kampf gegen alles, was draußen und mehr noch drinnen unseren höchsten Aufgaben widersteht. Kant hat mehr in dem Menschen sehen gelehrt und mehr aus dem Menschen gemacht. Das können nur große Denker, und er ist einer der größten. Uns Deutschen aber hat er, ohne daß er viel vom deutschen Wesen sprach, den eigentümlichen Idealismus ausgebildet, auf den unser Wesen angelegt ist. Das ist ein anderer Idealismus als der indische mit seiner Verflüchtigung der Welt und seinem Ersehnen tatloser Ruhe, ein anderer auch als der griechische mit seiner Schätzung der Welt als eines herrlichen Kunstwerkes und seiner Erfüllung des Lebens durch die lustvolle Anschauung der ewigen Zier. Vielmehr ist es ein herber und kräftiger Idealismus, ein Idealismus der Tat, der die Welt um uns voller Verwicklung findet, der aber in uns das Vermögen entdeckt, eine neue Welt zu entfalten, der in solcher Entfaltung eine schwere Aufgabe findet, aber dabei auch eine innere Erhöhung erfährt und aus ihr stark genug wird, allen Gegnern draußen und drinnen zu trotzen und mutig den Kampf gegen die Unvernunft unseres Daseins aufzunehmen. Dieser Idealismus, der von alters her in uns Deutschen wirkt, hat durch die Befreiungstat Kants auch einen festen wissenschaftlichen Boden erhalten; auf diesem Boden haben die Nachfolger weitergebaut, und auch wir wollen ihn nicht verlassen.

Die Träger des deutschen Idealismus

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