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4. Beichte eines heißen Herzens (in Prosa)

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»Ich habe ein ausschweifendes Leben geführt. Vorhin hat der Vater gesagt, ich hätte mehrere tausend Rubel, für die Verführung von Mädchen ausgegeben. Das ist eine gemeine Lüge, das ist nie geschehen. Doch was geschehen ist, dafür war eigentlich kein Geld erforderlich. Bei mir ist das Geld nur etwas Nebensächliches, etwas Dekoratives. Heute ist eine vornehme Dame mein Liebchen, morgen an ihrer Stelle eine Straßendirne. Ich amüsiere die eine wie die andere, werfe das Geld mit vollen Händen weg, da muß Musik her, Lärm, Zigeunerinnen. Notfalls gebe ich auch meinen Liebsten etwas, denn sie nehmen es, nehmen es begierig, das muß man zugeben, dann sind sie zufrieden und dankbar. Vornehme Damen haben mich geliebt, nicht alle, aber vorgekommen ist es, vorgekommen ist es. Doch besonders habe ich immer die Gäßchen gemocht, die stillen, dunklen Sackgäßchen, abseits von den großen Plätzen. Da gibt es Abenteuer, da gibt es unerwartete Erlebnisse, da liegt Gold im Schmutz. Ich rede nur bildlich, Bruder. In unserem Städtchen gab es solche Gassen eigentlich nicht, nur im übertragenen Sinn gab es welche. Wenn du so ein Mensch wärst wie ich, würdest du verstehen, was ich damit meine. Ich liebte die Ausschweifungen, ich liebte auch den Skandal der Ausschweifungen. Ich liebte die Grausamkeit, ich bin ja eine Wanze, ein boshaftes Insekt, eben ein Karamasow! Einmal wurde von der ganzen Stadt ein Picknick veranstaltet, wir fuhren in sieben Troikas. Es war Winter und dunkel, und ich begann im Schlitten eine nahe Mädchenhand zu drücken. Dann nötigte ich dieses Mädchen, die Tochter eines Beamten, ein armes, liebes, sanftes stilles Geschöpf, sich küssen zu lassen. Sie gestattete es; sie gestattete mir viel in der Dunkelheit. Das arme Kind dachte, ich würde am nächsten Tag kommen und ihr einen Antrag machen, man betrachtete mich nämlich als schätzbaren Heiratskandidaten. Ich aber sprach danach kein Wort mit ihr, fünf Monate lang keine Silbe. Wenn getanzt wurde, und bei uns wurde fortwährend getanzt, sah ich, wie mir aus einer Ecke des Saales ihre Augen folgten. Ich sah, wie in ihnen ein Fünkchen glühte, ein Fünkchen sanften Unwillens. Dieses Spiel amüsierte die Wollust des Wurmes in mir. Fünf Monate darauf heiratete sie einen Beamten und zog fort – zürnend und vielleicht immer noch liebend. Jetzt leben sie glücklich. Beachte, daß ich niemand etwas davon gesagt, es nicht ausposaunt habe! Also – wenn ich auch gemeine Gelüste habe und die Gemeinheit liebe, bin ich doch kein ehrloser Mensch. Du errötest, und deine Augen glänzen. Ich will dich nicht weiter mit diesem Schmutz behelligen. Und doch sind das alles nur so kleine Blüten im Stil von Paul de Kock1, während der grau arme Wurm in meiner Seele wuchs und immer größer wurde. Ich habe da ein ganzes Album voll solcher Erinnerungen. Möge Gott diesen lieben weiblichen Wesen Gesundheit schenken! Wenn ich mit einer Schluß machte, dann am liebsten ohne Streit und Zank. Und nie habe ich eine verraten, nie eine in üblen Ruf gebracht. Aber genug davon! Hast du wirklich geglaubt, daß ich dich wegen solcher Lappalien gerufen habe? Nein, ich werde dir eine interessantere Geschichte erzählen! Wundere dich aber nicht, daß ich mich nicht vor dir schäme, sondern darüber sogar froh erscheine.«

»Das sagst du, weil ich rot geworden bin«, bemerkte Aljoscha plötzlich. »Aber ich bin nicht wegen deiner Reden und deiner Taten rot geworden, sondern weil ich genau so ein Mensch bin wie du.«

»Du? Na, das dürfte übertrieben sein.«

»Nein, durchaus nicht«, erwiderte Aljoscha eifrig; offenbar hatte er diesen Gedanken schon lange mit sich herumgetragen. »Das ist alles ein und dieselbe Treppe. Ich stehe auf der untersten Stufe und du oben, so etwa auf der dreißigsten. So sehe ich die Sache. Wer die unterste Stufe betreten hat, wird mit Sicherheit auch die oberste erreichen.«

»Also sollte man die Treppe gar nicht erst betreten?«

»Wer es schafft, sollte sie gar nicht erst betreten.«

»Und du – schaffst du es?«

»Ich glaube, nein.«

»Schweig, Aljoscha. Schweig, mein Lieber, ich möchte dir die Hand küssen vor Rührung. Diese schlaue Gruschenka ist doch eine Menschenkennerin! Sie hat zu mir gesagt, einmal würde sie auch dich in ihren Bann ziehen. Aber ich bin schon still! Lassen wir die Schandtaten, dieses mit Fliegenschmutz besudelte Blatt Papier. Gehen wir zu meiner Tragödie über, die ebenfalls so ein mit Fliegenschmutz, das heißt mit allen möglichen Gemeinheiten, besudeltes Blatt Papier ist. Die Sache ist nämlich die: Mag das von der Verführung unschuldiger Mädchen auch von dem Alten erlogen sein, im Grunde ist es in meiner Tragödie so und nicht anders gewesen, wenn auch nur einmal, und dann auch bloß halb. Der Alte, der mir Ungeschehenes zum Vorwurf macht, hat davon keine Kenntnis. Ich habe niemand davon erzählt, du bist der erste, dem ich jetzt davon erzähle. Natürlich außer Iwan. Iwan weiß alles, schon längst. Aber Iwan schweigt wie das Grab.«

»Iwan schweigt wie das Grab?«

»Ja.«

Aljoscha hörte mit höchster Aufmerksamkeit zu.

»Wenn ich auch in diesem Linienbataillon den Rang eines Fähnrichs hatte, stand ich doch gewissermaßen unter Aufsicht, ähnlich wie ein Verbannter. Das Städtchen aber hatte mich außerordentlich gut aufgenommen. Mit dem Geld warf ich nur so um mich; man hielt mich für reich und ich mich selber auch. Ich muß den Leuten noch durch etwas anderes gefallen haben. Sie schüttelten zwar die Köpfe über mich, doch sie hatten mich wirklich gern. Mein Oberstleutnant, ein älterer Mann, mochte mich plötzlich nicht mehr. Er suchte mir etwas am Zeug zu flicken, aber ich verstand meinen Dienst; außerdem stand die ganze Stadt auf meiner Seite, so konnte er mir nicht allzuviel anhaben. Schuld war ich selbst, ich verweigerte ihm absichtlich den gebührenden Respekt. Ich war stolz. Dieser alte Starrkopf, übrigens ein braver Mensch und großzügiger Gastgeber, hatte zwei Frauen gehabt; beide waren gestorben. Die erste, aus einfachem Stand, hatte ihm eine Tochter hinterlassen, die ebenfalls sehr einfach wirkte. Sie war damals etwa vierundzwanzig und lebte bei ihrem Vater, zusammen mit einer Tante, der Schwester ihrer verstorbenen Mütter. Die Tante strahlte eine stille Einfachheit aus. Die Nichte hingegen, die älteste Tochter des Oberstleutnants, eher eine frische, energische Einfachheit. Wenn ich mich in meinen Erinnerungen ergehe, wage ich gern über jemand ein gutes Wort: Niemals, mein Täubchen, habe ich einen prächtigeren Frauencharakter kennengelernt als dieses Mädchen, Agafja hieß sie, Agafja Iwanowna. Sie war auch ziemlich hübsch, richtig nach russischem Geschmack, groß, kräftig, nicht so dünn, mit schönen Augen, das Gesicht allerdings etwas grob. Sie hatte nicht geheiratet, obwohl ihr zwei Anträge gemacht worden waren. Sie hatte sie abgelehnt, ohne jedoch ihre Heiterkeit zu verlieren. Ich war mit ihr näher zusammengekommen – nicht auf diese Art, nein, es war alles sauber, wir verkehrten freundschaftlich miteinander. Ich habe mit Frauen oft nur so verkehrt, ganz freundschaftlich, ohne Sünde. Ich konnte mit ihr erstaunlich offenherzig plaudern, und sie lachte nur immer. Viele Frauen lieben die Offenherzigkeit, merk dir das. Sie war noch dazu ein junges Mädchen, und das machte mir besonderen Spaß. Und noch eins: Ich konnte sie unmöglich als ›Gnädiges Fräulein‹ anreden. Sie wohnte mit ihrer Tante bei dem Vater, und beide Frauen stellten sich in einer Art freiwilliger Selbsterniedrigung niemals mit der übrigen Gesellschaft auf eine Stufe. Alle hatten Agafja Iwanowna gern und brauchten sie, denn sie war als Schneiderin geradezu ein Talent, Geld verlangte sie für ihre Dienste nicht, sie tat es aus Freundlichkeit. Wenn man ihr etwas gab, lehnte sie es nicht ab. Der Oberstleutnant, zugegeben, der Oberstleutnant war eine der ersten Personen in unserer Stadt. Er lebte auf großem Fuß, empfing die ganze Stadt, gab Soupers und Tanzgesellschaften. Als ich in das Bataillon eintrat, redete das ganze Städtchen davon, die zweite Tochter des Oberstleutnants, ein sehr schönes Mädchen, hätte den Kursus in einem aristokratischen Erziehungsinstitut in der Hauptstadt beendet und käme nun bald zurück. Diese zweite Tochter, die schon aus der zweiten Ehe des Oberstleutnants stammt, das ist Katerina Iwanowna. Die zweite, schon verstorbene Frau des Oberstleutnants kam aus einer vornehmen Generalsfamilie, obgleich sie, wie ich glaubwürdig erfuhr, ihrem Mann ebenfalls kein Geld mitbrachte. Sie hatte eben nur ihre Verwandtschaft, weiter nichts, höchstens noch irgendwelche Aussichten auf Erbschaften, aber nichts Bares. Trotzdem geriet unser ganzes Städtchen in Bewegung, als das Fräulein ankam – nur zu Besuch, nicht für immer. Unsere vornehmsten Damen, zwei Exzellenzen, die Frau eines Obersten und nach ihrem Beispiel auch alle anderen interessierten sich sogleich für sie, rissen sich förmlich um sie und suchten ihr Vergnügungen zu verschaffen. Sie war die Königin der Bälle. Picknicks wurden arrangiert und lebende Bilder2 zugunsten irgendwelcher Gouvernanten. Ich schwieg, setzte mein liederliches Leben fort und leistete mir zu eben diesem Zeitpunkt einen Streich, über den die ganze Stadt aus dem Häuschen geriet. Ich sah, wie sie mich einmal mit ihrem Blick maß, das war beim Batteriechef. Ich ließ mich ihr damals nicht vorstellen: ›Ich mache mir nichts aus deiner Bekanntschaft!‹ sollte das heißen. Erst einige Zeit später ließ ich mich vorstellen, ebenfalls auf einer Abendgesellschaft. Ich wollte ein Gespräch mit ihr anknüpfen, sie sah mich kaum an und preßte verächtlich die Lippen zusammen. ›Warte nur‹ dachte ich, ›ich werde mich rächen!‹ Ich war damals in solchen Fällen meist furchtbar flegelhaft und fühlte das selbst. Die Hauptsache war, ich fühlte, Katenka war kein harmloses Institutsdämchen, sondern eine charakterfeste Persönlichkeit, stolz und tatsächlich tugendhaft und vor allem klug und gebildet – und ich war weder das eine noch das andere. Du glaubst, ich wollte ihr einen Heiratsantrag machen? Keineswegs. Ich wollte mich einfach dafür rächen, daß ich so ein toller Kerl war und sie das nicht fühlte. Einstweilen aber fuhr ich in meinem Treiben fort. Schließlich steckte mich der Oberstleutnant drei Tage in Arrest. Ausgerechnet da schickte mir der Vater sechstausend Rubel, nachdem ich formell auf alles verzichtet hatte, das heißt, ich hatte erklärt, wir seien quitt, ich würde nichts mehr fordern. Ich verstand damals von der ganzen Geschichte nichts, Bruder! Bis zu meiner Ankunft in dieser Stadt, ja vielleicht bis heute habe ich von allen meinen Geldstreitigkeiten mit dem Vater nichts begriffen. Aber hol's der Teufel, davon nachher. Nachdem ich diese sechstausend Rubel erhalten hatte, erfuhr ich plötzlich durch den Brief eines Freundes etwas höchst Interessantes, nämlich daß man höheren Ortes mit unserem Oberstleutnant unzufrieden sei, daß man vermute, seine Kasse sei nicht in Ordnung, kurz, daß seine Feinde dabei seien, ihm einen Strick zu drehen. Und der Divisionskommandeur kam auch wirklich angereist und wusch ihm ganz gehörig den Kopf. Bald darauf legte man ihm nahe, sein Abschiedsgesuch einzureichen. Ich will dir nicht erzählen, wie sich das alles im einzelnen zugetragen hat – er hatte eben tatsächlich seine Feinde. In der Stadt trat jedenfalls plötzlich eine außerordentliche Abkühlung gegen ihn und seine ganze Familie ein, alle zogen sich auf einmal von ihnen zurück. Da führte ich meinen ersten Streich aus. Ich sagte zu Agafja Iwanowna, mit der ich immer ein freundschaftliches Verhältnis unterhalten hatte: ›Ihrem Papa fehlen also viertausendfünfhundert Rubel Staatsgelder?‹ – ›Was sagen Sie da? Wie kommen Sie zu einer solchen Behauptung? Vor kurzem war der General hier, da war doch alles Geld vorhanden.‹ – ›Damals ja, aber jetzt nicht!‹ Sie bekam einen furchtbaren Schreck. ›Machen Sie mir nicht Angst! Ich bitte Sie, von wem haben Sie das gehört?‹ – ›Beunruhigen Sie sich nicht‹, erwiderte ich. ›Ich werde es niemandem sagen. Sie wissen ja, daß ich in solchen Dingen stumm wie ein Grab bin. Aber ich wollte Ihnen sozusagen für alle Fälle nur noch eines sagen: Wenn Ihrem Papa die viertausendfünfhundert Rubel abverlangt werden und sich herausstellt, daß er sie nicht hat, dann lassen Sie es, bitte, nicht dazu kommen, daß er vor Gericht gestellt und auf seine alten Tage zum Gemeinen degradiert wird, schicken Sie lieber Ihr Institutsfräulein heimlich zu mir! Ich habe gerade Geld bekommen, ich werde gern viertausend Rubel geben und das Geheimnis wie ein Heiligtum hüten ...‹ – ›Ach, was sind Sie für ein Schuft!‹ So drückte sie sich aus. ›Was sind Sie für ein dreckiger Schuft! Wie können Sie sich unterstehen, so etwas zu sagen!‹ Sie ging empört weg, und ich rief ihr noch einmal nach, das Geheimnis würde heilig und unverletzlich bewahrt. Die beiden Frauen, Agafja und ihre Tante, zeigten sich, wie ich im voraus bemerken will, in dieser ganzen Geschichte als wahre Engel. Nur vergötterten sie geradezu die stolze Schwester Katja. Sie erniedrigten sich vor ihr und waren ihre Dienstboten. Agafja erzählte ihr trotzdem von unserem Gespräch. Ich erfuhr das später ganz genau. Sie verheimlichte es nicht, und so hatte ich es auch gewollt.

Auf einmal traf der neue Major ein, um das Bataillon zu übernehmen. Er übernahm es. Der alte Oberstleutnant wurde plötzlich krank, konnte sich nicht bewegen, saß zwei Tage lang zu Hause und gab die Staatsgelder nicht ab. Unser Arzt Krawtschenko versicherte, er sei tatsächlich krank. Ich wußte jedoch insgeheim schon lange aus guter Quelle, daß das Geld nach einer Revision seitens der vorgesetzten Dienststelle jedesmal für gewisse Zeit verschwand und so schon seit vier Jahren. Der Oberstleutnant lieh es einem zuverlässigen Mann, einem hiesigen Kaufmann mit goldener Brille und Bart, einem alten Witwer, namens Trifonow. Dieser fuhr damit auf den Jahrmarkt, setzte es dort um, wie es ihm paßte, und erstattete das Geld dem Oberstleutnant wenig später wieder zurück; zugleich brachte er ihm ein hübsches Geschenk mit und auch Prozente. Diesmal gab Trifonow nach seiner Rückkehr vom Jahrmarkt nichts zurück; das erfuhr ich zufällig von einem halbwüchsigen Bengel, dem widerwärtigen Söhnchen Trifonows, dem liederlichsten Bürschchen, das die Welt je hervorgebracht hat. Der Oberstleutnant stürzte zu ihm. ›Ich habe nie etwas von Ihnen erhalten und durfte auch gar nichts erhalten!‹ war die Antwort. Na, so saß denn unser Oberstleutnant zu Hause, ein Handtuch um den Kopf gewickelt, und alle drei Frauen legten ihm Eis an die Schläfen. Auf einmal erschien eine Ordonnanz mit dem Befehlsbuch: Das Staatsgeld sei sofort abzuliefern, unverzüglich, innerhalb von zwei Stunden! Er unterschrieb (ich habe die Unterschrift später gesehen), stand auf, angeblich um sich seine Uniform anzuziehen, lief in sein Schlafzimmer, nahm sein doppelläufiges Jagdgewehr, lud es, zog den Stiefel vorn rechten Fuß, stemmte das Gewehr gegen die Brust und suchte mit dem Zeh nach dem Hahn. Agafja jedoch erinnerte sich an meine Worte, schöpfte Verdacht, schlich ihm nach, sah alles noch rechtzeitig. Sie stürzte hinein, warf sich von hinten auf ihn, umschlang ihn, und das Gewehr entlud sich nach oben, in die Decke, ohne jemand zu verwunden. Die übrigen kamen herbeigelaufen, nahmen ihm das Gewehr weg und hielten ihm die Hände fest. Dies habe ich später in allen Einzelheiten erfahren ...

Ich befand mich gerade zu Hause. Es war gegen Abend, und ich wollte gerade ausgehen. Ich hatte mich angezogen, frisiert und parfümiert und griff nach meiner Mütze, als sich plötzlich die Tür öffnete und Katerina Iwanowna vor mir, in meiner Wohnung, stand.

Es passieren manchmal sonderbare Dinge. Niemand auf der Straße hatte damals bemerkt, daß sie zu mir ging, so daß dies in der Stadt völlig unbekannt blieb. Ich wohnte bei zwei steinalten Beamtenwitwen, die auch die Aufwartung bei mir verrichteten. Sie hatten vor mir großen Respekt, gehorchten mir in allem und schwiegen, wenn ich es befahl, wie Bordsteinkanten ...

Ich begriff natürlich sofort. Sie kam herein und sah mir ins Gesicht; ihre dunklen Augen blickten entschlossen, ja sogar kühn, aber auf den Lippen und um sie herum lag ein Ausdruck von Unentschlossenheit, das sah ich.

›Meine Schwester hat mir gesagt, Sie würden viertausendfünfhundert Rubel geben, wenn ich sie ... selber abhole. Ich bin gekommen ... Geben Sie das Geld!‹ Sie konnte es nicht länger ertragen, die Luft blieb ihr weg, ihre Angst wuchs, die Stimme versagte ihr, und die Mundwinkel und die Linien um die Lippen zuckten ... Aljoscha, hörst du zu, oder schläfst du?«

»Mitja, ich weiß, daß du die ganze Wahrheit sagen wirst«, sagte Aljoscha erregt.

»Die werde ich sagen. Ich werde die ganze Wahrheit sagen, ich werde mich selbst nicht schonen. Mein erster Gedanke war ein Karamasowscher. Mich hat einmal eine Tarantel gestochen, Bruder, zwei Wochen lag ich damals im Fieber – genauso fühlte ich in jenem Augenblick! Als ob mich eine Tarantel ins Herz stach, so ein böses Insekt, verstehst du? Ich maß Katerina Iwanowna mit den Augen. Hast du sie gesehen? Sie ist eine Schönheit. Aber nicht dadurch war sie damals so schön. Schön war sie in jenem Augenblick dadurch, daß sie edel war – und ich ein Schuft. Dadurch, daß sie großmütig und bereit war, für den Vater ein Opfer zu bringen, während ich eine Wanze war. Und sie hing von mir ab, von der Wanze und dem Schuft, vollständig, mit Seele und Leib. Sie kam mir vor wie ein zum Fällen bezeichneter Baum. Ich sage dir geradeheraus: Dieser Tarantelgedanke packte mein Herz dermaßen, daß es vor Qual fast verging. Ein innerer Kampf schien gar nicht mehr stattfinden zu können, es trieb mich, zu handeln wie eine Wanze, wie eine böse Tarantel, ohne jedes Mitleid. Es verschlug mir sogar den Atem. Paß auf, ich wäre selbstverständlich gleich am folgenden Tag hingegangen und hätte um ihre Hand angehalten, um alles sozusagen auf die anständigste Weise zum Abschluß zu bringen. Denn ich bin zwar ein Mensch mit niederen Trieben, aber doch ein ehrenhafter Mensch. Und da schien mir in derselben Sekunde plötzlich jemand ins Ohr zu flüstern: Und wenn du morgen mit deinem Heiratsantrag kommst, wird ein solches Mädchen dich nicht einmal empfangen, sondern dem Kutscher befehlen, dich vom Hof zu jagen. Das würde bedeuten: Magst du mich auch in der ganzen Stadt in üblen Ruf bringen – ich fürchte dich nicht! Ich sah das Mädchen an. Meine innere Stimme hatte nicht gelogen: so würde die Sache sicherlich verlaufen. Man würde mich mit Schlägen fortjagen, das konnte man schon aus dem Ausdruck ihres Gesichts schließen. Die Wut kochte in mir, ich hatte Lust zu einem grundgemeinen, abscheulichen Streich. Sie mit spöttischer Miene anzusehen und ihr, während sie so vor mir stand, mit dem Tonfall eines Kaufmanns mitten ins Gesicht zu sagen: Viertausend Rubel! Was sagen Sie da! Ich habe doch nur gescherzt! Sie sind zu leichtgläubig, gnädiges Fräulein. Zweihundert Rubel könnte ich gut und gern lockermachen, aber viertausend Rubel sind eine Summe, gnädiges Fräulein, die man für einen solchen Leichtsinn nicht wegwirft. Sie haben sich vergebens bemüht ...

Siehst du, ich hätte natürlich alles verloren, sie wäre weggelaufen, aber dafür hätte ich eine teuflische Rache genommen, die mich für alles übrige entschädigt hätte. Mag ich später mein ganzes Leben vor Reue heulen, wenn ich nur jetzt diesen Streich verübe! Glaub mir, noch nie war es mir begegnet, mit keiner einzigen Frau, daß ich sie in so einem Augenblick haßte. Sie habe ich damals drei oder fünf Sekunden lang furchtbar gehaßt – mit jenem Haß, der von der wahnsinnigsten Liebe nur ein Haar breit entfernt ist! Ich trat ans Fenster, legte die Stirn an die gefrorene Scheibe, und ich erinnere mich, daß das Eis mir an der Stirn wie Feuer brannte. Lange hielt ich sie nicht auf, beunruhige dich nicht! Ich wandte mich wieder um, ging zum Tisch, öffnete den Schubkasten und nahm ein Wertpapier über fünftausend Rubel, fünfprozentiges, nicht auf den Namen ausgestelltes heraus, das in meinem französischen Lexikon lag. Das zeigte ich ihr schweigend, faltete es zusammen, reichte es ihr, öffnete ihr selbst die Tür zum Flur und verbeugte mich vor ihr, ganz tief in der respektvollsten Weise. Ich war tief ergriffen, glaub mir! Sie zitterte am ganzen Körper, sah mich eine Sekunde lang starr an und wurde furchtbar blaß wie ein Tischtuch. Und auf einmal, ebenfalls ohne ein Wort zu sagen, verbeugte sie sich ganz tief und sank mit geradezu zu Füßen, so daß sie mit der Stirn den Boden berührte, nicht mit einer heftigen Bewegung, sondern ganz weich, nicht so wie es im Institut gelehrt wird, sondern auf echt russische Art. Sie sprang auf und lief hinaus. Als sie weg war, zog ich den Degen und wollte mich durchbohren – warum, weiß ich nicht. Es wäre natürlich eine furchtbare Dummheit gewesen. Sicher wohl vor Entzücken. Hast du Verständnis dafür, daß man sich auch vor Entzücken das Leben nehmen kann? Aber ich durchbohrte mich nicht, ich küßte nur den Degen und steckte ihn wieder in die Scheide was ich dir übrigens gar nicht zu erzählen brauchte. Ich bin eben bei der Erzählung meiner Seelenkämpfe wohl ein bißchen weitschweifig geworden, um mich selbst zu loben. Aber meinetwegen, mag es so sein! Hole der Teufel alle Spione des Menschenherzens! Das ist alles, was ich damals mit Katerina Iwanowna gehabt habe. Bruder Iwan weiß davon und du – sonst niemand.«

Dmitri Fjodorowitsch stand auf, machte in starker Erregung ein paar Schritte, zog das Taschentuch heraus, wischte sich den Schweiß von der Stirn und setzte sich wieder, aber nicht auf den vorigen Platz, sondern auf die Bank an der Wand gegenüber, so daß sich Aljoscha zu ihm umdrehen mußte.

1 Paul de Kock: franz. Schriftsteller und Maler, † 1871

2 Lebende Bilder – eine Mode des 18. Jahrhunderts: ein populäres Bild durch lebende Menschen mit Dekoration darstellen. Vgl Goethes Wahlverwandtschaften.

Die Brüder Karamasow

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