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II. Überblick

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Internationale Scientific Community

Die Forschungs- und Literaturlage zur Geschichte der Industrialisierung ist nahezu unüberschaubar. Selbst wer sich radikal auf die deutsche Industrialisierung beschränken möchte, wird von der Menge der vorhandenen Literatur sofort überfordert. Diese Überforderung nimmt schon beinahe komische Züge an, wenn auch noch die vergleichende Perspektive berücksichtigt werden soll. Aber das liegt in der Natur der Sache, denn nicht nur die wirtschaftshistorisch nachgewiesenen internationalen Verhältnisse sind hier mit zu bedenken. Vielmehr ist es eine im Vergleich zu anderen historischen Spezialdisziplinen herausragende Eigenschaft der deutschen Wirtschaftsgeschichte, dass eine vergleichsweise internationale scientific community ihre Forschungsfragen, aber auch ihre empirischen Ergebnisse in der Regel international diskutiert. Es reicht deshalb nicht, sich auf die deutschsprachige Literatur zu beschränken, obwohl die Materialflut dann schnell nicht mehr zu bewältigen ist. Ein Blick in die einschlägigen Handbücher und Überblicksdarstellungen bestätigt das eindrücklich (31). Aber die Explosion der Forschungsliteratur durch Internationalisierung ist nicht das einzige grundsätzliche Problem. Ein Weiteres besteht in der Vielzahl der historischen Perspektiven, die sich einerseits aus der Interdisziplinarität des Projekts ergeben, andererseits unterliegen sowohl die systematischen Bezugsdiziplinen als auch die Geschichtswissenschaft selbst einem stetigen Wandel.

Perspektiven der Industrialisierung

Welche Geschichte der Industrialisierung erzählt werden kann, hängt zweifellos von der gewählten Perspektive ab. Es ist deshalb wichtig, den Band mit der Diskussion grundsätzlicher und konzeptioneller Fragen zur Geschichte der Industrialisierung zu beginnen. Dabei stellt sich im Kontext der Problematik, ob die Industrialisierung mehr Evolution als Revolution gewesen sei, auch die Frage nach der chronologischen Periodisierung der Industrialisierung. Die Debatte zur englischen Industrialisierung ist dabei von grundsätzlicher Wichtigkeit; sie beschäftigt sich auch mit der interessanten Frage, ob man überhaupt für die englische Industrialisierung spezifische Gründe nennen kann. Es besteht ein weitgehender Konsens darüber, dass die innovationsfreudige Baumwollindustrie Englands eine besondere Rolle als Leitindustrie einnahm. Aber dass sich daraus bereits zwangsläufig eine Industrialisierung ergäbe, ist nicht gesagt. Vielmehr basieren verschiedene Erklärungsmodelle auf dem genannten Konsens: Crafts spricht von günstigen Bedingungen, die aber erst durch Zufall zur Industrialisierung wurden (94). Blaut nennt in entwicklungskritischer Perspektive den Übergang zur Industrialisierung einen Unfall der Geschichte (85), während Landes in der Industrialisierung eine logische Folge des Erfolgs der Baumwollindustrie erkennt (117). Aber wie ist dann die deutsche Industrialisierung zu erklären, die bekanntlich erst in den 1840er Jahren den Übergang zum dauerhaften, industriellen Wachstum schaffte? Im Verlauf des Buches werden verschiedene Antworten besprochen.

Konzepte der Industrialisierungsgeschichte

Im konzeptionell gehaltenen Kapitel stehen dabei der Take-Off der deutschen Wirtschaft nach Rostow sowie der erste industrielle Kondratjeff-Zyklus im Rahmen der Lange-Wellen-Forschung im Vordergrund. Schließlich werden auch die neuen institutionenökonomischen Ansätze zu berücksichtigen sein. Sie gehen von einem neo-klassichen Modell vollständiger Märkte aus, machen aber historisch gewachsene Institutionen für die Regulierung der Märkte verantwortlich. Seit den preußischen Reformen ist die deutsche Industrialisierungsgeschichte reich an solchen marktregulierenden Institutionen.

Krisen in Wirtschaft und Gesellschaft

Das zweite Kapitel zu Wirtschaftskrisen behandelt den grundlegenden Prozess des beschleunigten wirtschaftlichen Wachstums und der periodisch auftretenden krisenhaften Wachstumsstörungen und nimmt dabei einiges des im ersten Kapitel analysierten theoretischen Rüstzeugs mit auf. Dabei ist auf den grundsätzlichen Unterschied der industriellen und der vorindustriellen Zeit hinzuweisen, denn wirtschaftliche Krisen in der industriellen Gesellschaft sind prinzipiell marktbezogene Krisen; dabei geraten Produktions-, Güter- oder Arbeitsmärkte aus dem Gleichgewicht und verursachen eine krisenhafte Kontraktion der Wirtschaft. Das unterscheidet die industrielle von der vorindustriellen Welt, denn bis zur Industrialisierung waren die meisten wirtschaftlichen Krisen vor allem Versorgungskrisen, hervorgerufen durch Kriege, Seuchen, Hungersnöte oder Missernten.

Große Depression

Die Große Depression (1873 – 1890) gilt in der neueren Forschung eigentlich als „Bagatellkrise“. Die Wirtschaftskrise im Sinne einer Produktionskrise dauerte nur wenige Jahre und ist mit dem Begriff der Gründerkrise verbunden, weil sie eine direkte Folge auf den Gründerboom im Zusammenhang der Reichsgründung von 1870/71 darstellte. Die Große Depression traf das Kaiserreich zu einem denkbar ungünstigen Moment, denn der vorangegangene wirtschaftliche Aufschwung dürfte maßgeblich an der politischen Vereinigung Deutschlands beteiligt gewesen sein. Die Interpretationen der Krise gehen dabei in letzter Zeit eher davon aus, dass diese Periode gesamtwirtschaftlich nicht besonders dramatisch war, denn fast alle gesamtwirtschaftlichen Indikatoren zeigen wohl eine Verlangsamung, nicht jedoch eine größere Krise der Wirtschaft. Hingegen war der während der Depression eingeleitete Strukturwandel beachtlich. Die Eisenbahn war zu diesem Zeitpunkt weitgehend gebaut und verlor ihren Status als Führungssektor an die aufstrebenden neuen Elektro-, Maschinen- und Chemieindustrie. Die Große Depression war in vielerlei Hinsicht eine industrielle Zeitenwende, denn sie markierte auch den Beginn einer umfassenden Neuorientierung staatlicher Aktivität, zum Beispiel in der Form protektionistischer Zollgesetze oder dem Beginn der staatlichen Sozialpolitik. Die Große Depression der 1870er Jahre stellt damit ein Beispiel für eine Wirtschaftskrise dar, deren Effekte weitgehend auf den wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Bereich beschränkt blieben.

Weltwirtschaftskrise

Aufstieg des Nationalsozialismus

Die Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1934 schlug demgegenüber auf alle Bereiche der Gesellschaft durch und zog katastrophale Folgen nach sich. Unter Historikern dominierte deshalb lange Zeit die Ansicht, dass die Wirtschaftskrise die wichtigste Bedingung für den Aufstieg des Nationalsozialismus war (48, S. 216). Aber neuere Studien betonen den gesellschaftspolitischen Kontext der Krise, indem etwa Hitlers Wahlerfolg im Herbst 1930 als Teil einer umfassenden Gesellschaftskrise und nicht nur als Folge der Wirtschaftskrise im engeren Sinn verstanden wird. Arbeitslosenzahlen von 30 Prozent, die manchenorts auch durchaus höher gelegen haben dürften, haben zum weitgehenden Zusammenbruch des Systems der sozialen Sicherung geführt. Aber genau diese Sozialpolitik galt in den Augen der Arbeiterschaft als die eigentliche Errungenschaft der Weimarer Republik. In überwiegendem Maße dominierte dort sonst Kontinuität der gesellschaftlichen Strukturen aus dem Kaiserreich. Das heißt, dass die Krise bereits vorhandene Probleme der Weimarer Gesellschaft verschärfte und so über einen allgemeinen Vertrauensverlust in die Institutionen Weimars rasch die Legitimation des Staates untergrub.

Rolle Brünings

Die Rolle Brünings, des Kanzlers des ersten Präsidialkabinetts von Hindenburgs Gnaden, und seiner Deflationierungspolitik ist dabei intensiv untersucht worden. Die Meinungen der Historiker über Brüning sind geteilt: Erst jüngst hat Wehler die Bezeichnung „Amokläufer“ und „Totengräber der Republik“ für ihn gewählt (75, IV, S. 516 – 530). Borchardts Urteil über Brüning ist demgegenüber eher positiv, da er dessen Wirtschaftspolitik für die einzig realistisch machbare ansieht, die den Zusammenbruch allerdings weder verursachen noch verhindern konnte (145). Die Person Brünings und seine Rolle in der Krise der Weimarer Republik ist für Historiker besonders faszinierend, weil sie auf bestimmte Sachzwänge in Wirtschaft und Politik verweist, während andererseits die historischen Akteure in historischer Perspektive immer ein gewisses Maß an Entscheidungsfreiheit besitzen.

Staat und Wirtschaft

Das in der Analyse der Weltwirtschaftskrise anklingende Verhältnis von Staat, Politik und Wirtschaft ist eines der großen Themen der Geschichte der Industrialisierung. Anhänger des „Preußenkults“ (Wehler) gingen ursprünglich davon aus, dass die Industrialisierung in Deutschland weitgehend vom preußischen Staat geschaffen worden sei (26, S. 76). An der zeitlichen Kongruenz von preußischen Reformen, Zollverein und Reichsgründung mit der Industrialisierung gibt es wenig zu zweifeln. Aber nach langer wissenschaftlicher Diskussion gilt das Argument des kausalen Zusammenhangs zwischen Politik und Industrialisierung heute letztlich als überholt. Stattdessen wird vor allem die Bedeutung industrieller Regionen hervorgehoben (37). Was schon für die englische Industrie überzeugend nachgewiesen worden ist, gilt auch für Deutschland, denn die Regionalentwicklung war hüben wie drüben von teilweise dramatischen Unterschieden gekennzeichnet. Während sich beispielsweise das Ruhrgebiet rasch industrialisierte, basierte Ostpreußen bis ins 20. Jahrhundert hinein primär auf der Landwirtschaft.

Sozialpolitik

Die Sozialpolitik ist insgesamt eines der Politikfelder, in dem das Kaiserreich die meisten Spuren hinterlassen hat. Ihre Entstehung ist als Teil der „Zuckerbrot-und-Peitsche“-Politik Bismarcks eng an das „Sozialistengesetz“ von 1878 gebunden; sie nimmt aber bereits vorhandene Traditionen wie Haftpflichtbestrebungen oder die freiwilligen Hilfskassen auf und überführt diese in die Zuständigkeit des Reiches (24, S. 29 – 84). Man kann demnach die Sozialpolitik im Kaiserreich auf sehr unterschiedliche Weise interpretieren und sie auch als neue Aufgabe eines Reiches sehen, das ansonsten aufgrund der föderalen Struktur Deutschlands neben der Außenpolitik kaum gesellschaftspolitisch relevante Aufgaben hatte. In der Altersversicherung, von Bismarck als letztes Werk 1889 auf den Weg gebracht, zeigt sich dann die Rolle der Sozialpolitik als gesellschaftsstrukturierende Institution im Sinne Norths, denn mit ihr gelingt es einerseits bereits vorhandene Pensionsregelungen auf staatlicher Basis zusammenzufassen, andererseits aber vor allem, eine arbeitsfreie Altersphase auch denjenigen sozialen Gruppen anzubieten, die zu dieser Zeit eine durchschnittliche Lebenserwartung hatten, die deutlich unterhalb des Rentenalters lag.

Frauen- und Geschlechtergeschichte

In der Geschichte der Sozialpolitik wird stets betont, wie sehr die Sozialpolitik in Deutschland als Arbeiterpolitik zu verstehen ist. Es ist deshalb nicht überraschend, dass die Frauengeschichte die Sozialpolitik neu zu interpretieren sucht, da sie die etablierte Geschichte der Sozialpolitik für weitgehend „geschlechtsblind“ hält. Aber dieses kritische Urteil erscheint in der Geschichte der Industrialisierung insgesamt als zutreffend. Um das Verhältnis von Sozialgeschichte und Frauen-/Geschlechtergeschichte wurde gestritten, indem die Sozialgeschichte typischerweise angab, die Frauen immer mit zu meinen, sie aber als Teil der wichtigeren gesellschaftlichen Strukturen zu betrachten (39, S. 139). Die Frauengeschichte pochte demgegenüber auf eine grundsätzliche Neuorientierung, indem sie die Sozialgeschichte zu einem systematischen Einbezug von Geschlecht als Kategorie neben und nicht unterhalb der sozialen Lage aufforderte (7). In der deutschen Wirtschaftsgeschichte wird mit Ausnahme der Protoindustrialisierungsforschung praktisch gar nicht über Frauen nachgedacht (28; 81). Die einschlägigen, in der Einleitung zitierten Einführungen in die Geschichte der Industrialisierung bestätigen indes das Vorurteil, dass Frauen und Industrialisierung in Deutschland offenbar nicht zusammengehören. Der kürzlich erschienene, für ein breiteres Publikum geschriebene Band zur Geschichte der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert ist ein gutes Beispiel (66).

Frauenarbeit und Industrialisierung

Das ist aber spätestens seit den Beiträgen von Berg und Hudson, die die Bedeutung der Frauen für die Industrialisierung betonen, eine überholte Ansicht (5). Die Frauenarbeit gilt es also im Zusammenhang mit der Industrialisierung näher zu untersuchen. Frauen waren aber auch für den reproduktiven Bereich zuständig. Die „Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben“ (Hausen), die sich mehr oder weniger zeitgleich mit dem Beginn der Industrialisierung durchzusetzen begann, akzentuiert diese Aufgabe der Frauen (Hausen, Polarisierung). Dabei handelt es sich selbstverständlich auch um Arbeit, die aber eben nicht als Marktbeziehung, sondern als unbezahlte Familienarbeit strukturiert ist. Das verschiebt die Analyse auf die Geschichte des Konsums, sicherlich eines der großen Wachstumsfelder der Geschichtswissenschaft der letzten Jahre (62, S. 395 – 410).

Konsum und Lebensstandard

Dabei existieren zahlreiche Berührungspunkte zwischen der Konsumgeschichte und der historischen Entwicklung des Lebensstandards. Die Frage, ob die Industrialisierung breiten Schichten zu einem langfristig besseren Lebensstandard verhalf, oder ob vielmehr das Fabriksystem für eine weitgehende Verelendung der Unterschichten sorgte, ist so alt wie die Industrialisierung selbst. Vor allem im angelsächsischen Raum wird diese Debatte mit einiger Leidenschaft geführt; die beiden Grundpositionen stehen sich allerdings letztlich unversöhnlich gegenüber. Argumentiert die eine Seite, dass die historisch nachweisbare Verelendung und Massenarmut erst durch die unregulierte Industriearbeit verschärft worden ist, betont die andere Seite, dass eben diese Verarmung nur durch die Industrialisierung überwunden wurde (11). Der Lebensstandard ist allerdings eine komplexe Größe, denn er ergibt sich nicht einfach aus den Quellen, sondern muss konzeptionell begründet werden. Da sich die Bewertung des wünschbaren Lebensstandards mit historischem Material selten nachweisen lässt, stellt sich die Frage nach dem materiellen Lebensstandard, vor allem ausgedrückt durch die Reallohnentwicklung (55). Dass überhaupt überregionale Preise und Löhne untersucht werden können, unterstellt bereits eine sich industrialisierende Gesellschaft, da die Entstehung solcher Marktbeziehungen erst durch die Industrialisierung selbst vorangetrieben wurde.

Wandel der Arbeit

Aber die Reallohnentwicklung ist nur ein Element der Analyse, denn seit einiger Zeit wird auch über andere Faktoren nachgedacht. Die Idee besteht darin, dass der biologische Lebensstandard nicht von Löhnen oder materiellen Gütern allein bestimmt wird, sondern hauptsächlich vom Ernährungsstand abhängt, wobei regionale, kulturelle und medizinische Faktoren verschärfend wirken können. Die durchschnittliche Körpergröße nach Geburtskohorten wird in diesem Zusammenhang zum wichtigen Indikator, der analog zu Löhnen eine genaue Messung erlaubt (21). Allerdings handelt es sich um eine sehr spezialisierte Diskussion, die von wenigen Ausnahmen keinen Eingang in die allgemeinen Darstellungen zur Industrialisierung gefunden hat (3). Die Industrialisierung hat aber neben der Verbreitung der Lohnarbeit und einer Veränderung des Lebensstandards auch den Charakter der Arbeit selbst nachhaltig verändert. Diesen Wandel kann man zum Beispiel mit dem sektoralen Wandel der Beschäftigung oder der Arbeitszeit exemplifizieren (18). Aber wie soll man über die Entwicklung des Lebensstandards oder die Veränderung der Arbeit reden? Die Sozialgeschichte zeichnet sich durch ein besonderes Interesse an sozialen Gruppen und ihren Beziehungen untereinander aus (Wehler, Klassen). Es ist deshalb nahe liegend, die Diskussion um soziale Klassen und Schichten genauer darzustellen, denn mit der Konzentration auf den einen oder anderen Begriff wird oft eine Vorentscheidung für eine bestimmte Perspektive der Untersuchung getroffen (40).

Technischer Fortschritt

Zu den am weitesten verbreiteten Erklärungen, weshalb es im 18. Jahrhundert überhaupt zu industriellem Wachstum in England gekommen ist, gehört die technische Entwicklung, insbesondere in der Form der innovationsfreudigen Baumwollindustrie. Aus neoklassischer Sicht verschieben technische Innovationen die Produktionsfunktion und ermöglichen dadurch Produktivitätssprünge, die enorm wachstumsfördernd wirken. Die Technik und ihre Anwendung hat auch zahlreiche Klassiker der Industrialisierungsgeschichte wie zum Beispiel Landes fasziniert (43), der in ihr die Triebfeder der Industrialisierung erkennt. Aber es ist nicht klar, woher die Technik eigentlich kommt und was sie eigentlich tut. Schumpeter modellierte bekanntlich den Unternehmer als Innovator, vermied aber die Erklärung, wie es überhaupt zur technischen Entwicklung kommt. Die Technik entsprach lange Zeit einer „Black Box“, deren Funktion zwar wichtig, ihr genauer Inhalt aber weitgehend ignoriert wurde. Die Historisierung der Technik selbst erfolgt in zwei unterschiedlichen Konzepten. Dem verbreiteten Technikdeterminismus steht der Ansatz der sozialen Konstruktion von Technik gegenüber. Während Ersterer der Technik eine eigenständige Rolle zuschreibt, betont Letzterer den historischen Aushandlungsprozess über Technik.

Elektroindustrie

Als Fallbeispiel für die unterschiedliche Bewertung von Technik ist die Elektroindustrie zu nennen. Die Bedeutung der Elektrizitätswirtschaft nahm seit den 1880er Jahren derartig zu, dass sie zum Leitsektor der zweiten Boomphase in Deutschland nach dem Ende der Großen Depression wurde. Es zeigt sich, wie sehr die Durchsetzung der neuen Technologie von einem komplexen sozialen Prozess gestaltet wird, der verschiedene Gruppen, handfeste ökonomische Interessen und Gedanken zum Prestige einer Technologie umfasst. So konnte die Technik rasch zu einem wesentlichen Bestandteil der Stadtentwicklung gehören, denn für sie war ein umfassendes, kapitalintensives Netzwerk notwendig. Anstatt deshalb die Technik einfach als Black Box zu behandeln, die die Gesellschaft nachhaltig verändert, treten historische Prozesse in den Vordergrund, die eine Technik überhaupt erst akzeptabel erscheinen lassen. Die Industrialisierung wird aus dieser Sicht dann auch zur Periode, in der sich ein positivistisches Technikverständnis durchsetzte, da mehr und teurere Technik als entscheidendes Merkmal der Moderne akzeptiert worden ist.

Bevölkerung und Gesundheit

Den Abschluss machen Überlegungen zu Bevölkerung und Gesundheit im Industrialisierungsprozess. Besondere Aufmerksamkeit gilt dem Bevölkerungswachstum und seinen Bestimmungsgründen, denn die Bevölkerung übernimmt in der Industrialisierung eine entscheidende Funktion für das einsetzende Wirtschaftswachstum, indem sie beispielsweise billigere Arbeitskräfte für die Landwirtschaft stellt, deren Gewinne dann die Kapitalbasis für die Industrialisierung darstellen. McKeown hat den Sterblichkeitsrückgang als wichtigsten Faktor zur Erklärung des Bevölkerungswachstums angegeben, währenddessen Wrigley und Schofield sehr viel stärker auf die Entwicklung der Fruchtbarkeit nach dem Wegfall von Heiratsbeschränkungen gepocht haben (44; 80). Mit dem Rückgang der Sterblichkeit war aber gleichzeitig eine exorbitante Verlängerung der Lebenserwartung verbunden, die zunächst als demographischer Übergang modelliert wird. Die steigende Lebenserwartung ist ein ganz reales Erfolgsmaß der Industrialisierung. Man kann sie als Teil des Lebensstandards oder als eigenständige Größe verstehen, immer jedoch wird die gewaltige Verlängerung der Lebenserwartung als eine der wichtigsten Kenngrößen der Industrialisierung zu gelten haben. Diese Veränderung der Lebenserwartung ging historisch einher mit einer akzentuierten Veränderung der Todesursachen, denn während tödlich verlaufende Krankheiten des jüngeren Erwachsenenalters eher abnahmen, gewannen chronische Krankheiten der höheren Altersgruppen an Bedeutung (67). Zu fragen ist deshalb, ob die industrialisierte Welt bei allem Zugewinn an Lebenserwartung nicht immer kränker wird.

Sterblichkeitsrückgang

Aber weshalb sank die Sterblichkeit im Gefolge der Industrialisierung, und welche Rolle spielte dabei die moderne Medizin? Diese in der so genannten McKeown-Kontroverse behandelte Frage zielt erneut auf die Problematik, ob sich Kausalität aus gleichzeitig ablaufenden Prozessen einfach ableiten lässt (42). Die Zahl der Krankenhausbetten als Indikator für das Ausmaß der medizinischen Versorgung begann seit ungefähr 1800 mit dem modernen Krankenhaus anzusteigen. Nahezu gleichzeitig setzte zuerst im erwerbstätigen Erwachsenenalter, später in allen Altersgruppen ein Rückgang der Sterblichkeit ein, der die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt bis heute mehr als verdoppelt hat. Aber gibt es zwischen diesen beiden historischen Prozessen einen Zusammenhang? McKeown verstand Geschichte als Argument in der tagesaktuellen Diskussion, indem er zu Beginn der 1950er Jahre anfing, die Hypothese des Zusammenhangs von kurativer Medizin und Verlängerung des Lebens an historischen Daten zu messen. Er vertrat die Meinung, dass weder die moderne Medizin noch das öffentliche Gesundheitswesen eine besondere Rolle für den Sterblichkeitsrückgang gespielt haben. Vielmehr betont er die Zunahme des allgemeinen Lebensstandards und hier wiederum die Bedeutung der Ernährung. Zu dieser provokativen Hypothese hat sich eine kontrovers geführte Debatte entwickelt, die wie so oft die besondere „Weichheit“ der Daten betont (68). Aber im Kern verhilft McKeown den Themen Gesundheit und Krankheit zu einer wichtigen Stellung in der Geschichte der Industrialisierung: Ohne die Verlängerung des Lebens und das Bevölkerungswachstum wären die bevölkerungsökonomischen Grundlagen für die Industrialisierung nicht gegeben gewesen. Wenn die Industrialisierung darüber hinaus tatsächlich langfristig den Lebensstandard anhob, dann wäre sie auch für den Rückgang der Sterblichkeit direkt verantwortlich.

Die Industrialisierung in Deutschland

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