Читать книгу Bevor der Wecker läutet - Frank Buddrus - Страница 6

Dämmerung

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Heidemann wacht auf

Ein einzelner Sonnenstrahl fand seinen Weg durch die dreckige Fensterscheibe und hob Heidemann sanft aus dem Schlaf. Genau sieben Minuten bevor sein Wecker läutete.

Das war äußerst ungewöhnlich. Heidemann gehörte zu den Eulen. Der verschlafene Kampf gegen das, was den Morgen ausmachte, stand fest in seinem Programm. Wie ein startender Jumbojet dröhnte der Wecker gewöhnlich in seinen Ohren. Zum Aufstehen bedurfte es mehr Überwindung als zur Steuererklärung. Sein eigener Anblick im Spiegel erschreckte ihn mehr als der seines Chefs, wenn dieser ihn beim Faulenzen erwischte. Der morgendliche Kaffee verbrühte regelmäßig seine Zunge und schmeckte zudem wie fauliges Tümpelwasser. Jeden Morgen stellte Heidemann fest, dass er vergessen hatte, ein Hemd zu bügeln. Einmal die Woche stellte er fest, dass er vergessen hatte, eine Hose zu bügeln. Und alle vier Wochen stellte er fest, dass er vergessen hatte, Hosen und Hemden zu waschen. Und wenn es regnete, vergaß er den Schirm. Wenn er den Schirm vergessen hatte, ging er zurück ins Haus und holte ihn. Dann verpasste er den Bus. Wenn er den Bus verpasste, kam er zu spät zur Arbeit. Und wenn er zu spät zur Arbeit kam, erwischte ihn sein Chef. Sein Chef mochte ihn nicht. Und Heidemann mochte seinen Chef nicht. Das lag nicht daran, dass dieser ihn, wenn er ihn beim Zuspätkommen oder Faulenzen erwischte, lautstark und unfreundlich zur Rede stellte. Daran lag es nicht, weil Heidemann Verständnis dafür hatte, angeschrien zu werden, wenn er zu spät kam oder faulenzte. Es lag vor allem daran, dass sein Chef attraktiver, jünger und noch dazu dümmer war als er. So fehlte Heidemann ein Grund, ihn zu respektieren.

Heidemann bekommt einen Anruf

Als Sebastian noch vor dem Klingeln des Weckers wach wurde, wusste er nicht nur, dass der Tag ungewöhnlich begann, sondern auch, dass dieser ungewöhnlich verlaufen würde. Und er war sich auch ziemlich sicher, dass dies auch für die folgenden Tage gelten würde. Er sollte Recht behalten.

Sebastian kontrollierte den Wecker, der in demselben Augenblick zu piepen begann. Er stellte ihn ab und stieg relativ gut gelaunt aus dem Bett. Er erschrak nicht beim Anblick im Spiegel, fand saubere und gebügelte Kleidung und setzte einen ganz passablen Kaffee auf, den er schmerzfrei hinunterkippte. Dann ging das Telefon. Während er sich dem bimmelnden Gerät näherte, überlegte Sebastian, wann er zuletzt zu so früher Stunde einen Anruf bekommen hatte. Ihm fiel keine einzige Gelegenheit ein. Fast schon wollte er wegen des merkwürdigen Morgens ein freundliches Schmunzeln aufsetzen, da erkannte er die Nummer seiner Ex-Frau. Solche Telefongespräche hatten sich selbst in günstigsten Fällen schlimmer erwiesen als der schlimmste Morgen. Fast so schlimm wie die Ehe selbst, die genau vier Jahre, zwei Monate und fünfundzwanzig Tage angedauert hatte, bevor sie vor über zwölf Monate geschieden worden war. Zwölf Monate, die nicht ausgereicht hatten, Sebastian von dem Martyrium der Ehe restlos zu befreien. Einer Ehe als Meilenstein des Lebens, dem er keinen positiven Aspekt abzugewinnen in der Lage war. Er nahm den Hörer ab.

>> Du weißt, was heute für ein Tag ist? << , fragte die quäkige Stimme vorwurfsvoll, noch bevor Sebastian ein Wort sagen konnte. Er überlegte. Er war versucht, zu sagen, dass es bis jetzt ein recht schöner Tag gewesen war, verkniff sich dies aber, weil er wusste, dass sie kein Verständnis und noch weniger Humor für solche Aussagen aus seinem Mund hatte. Er antwortete, bevor die Stille zu lang wurde:

>> Nein, was meinst Du? << Natürlich sagte sie ihm nicht einfach, was sie meinte.

>> Das sieht Dir wieder mal ähnlich. Bin ich froh, dass ich Dich los bin. << Sebastian schoss die Verwunderung darüber durch den Kopf, dass sie ihn anrief, obwohl sie mit ihm nichts zu tun haben wollte. Zum Anfeinden war er noch ganz gut, dachte er. Die Zeit des Streitens war für ihn aber lange vorbei. Freundlich entgegnete er:

>> Mal im Ernst, was meinst Du? <<

>> Du weißt es wirklich nicht? << , fragte sie deutlich aggressiver und deutlich quäkiger.

>> Nein, ich käme nicht auf die Idee, mit Dir Spielchen zu treiben << , entgegnete er ehrlich.

>> Dann bist Du einfach nur zu blöd. Das hätte ich mir denken können! << , schrie sie in den Hörer und beendete das Gespräch. Sebastian überlegte kurz, ob er zurückrufen sollte, entschied sich aber dagegen, da er sicher war, dass es nichts mehr gab, was sie ihm vorwerfen konnte; nichts, was wirklich wichtig war. Zudem hatte sie all sein Geld, all seine Wertsachen und sogar den Großteil seines persönlichen Hab und Guts. Am Anfang hatte es so ausgesehen, dass ihm nur der Schlüssel geblieben war, der plötzlich nicht mehr ins Schloss ihrer bis dahin gemeinsamen Wohnung passte. Sie hatte es zu diesem Zeitpunkt nicht unterlassen, das Bankkonto abzuräumen, den Wagen umzumelden und sich einen neuen Mann anzuschaffen. Einen brutalen Mann, wie Sebastian fand. Als er sich an der Haustür demütig nach seinen Dokumenten, Zeugnisurkunden und Ausweisen erkundigte, schlug ihm sein Nachfolger sehr hart auf die Nase. So hart, dass Sebastian einen Bruch davontrug, der mangels fachkundiger Behandlung für einen leichten Schiefstand seiner Nase sorgte. Die Dokumente erhielt er jedenfalls einige Tage später per Post ins Büro.

Heidemann verpasst den Bus

Heidemann öffnete die Wohnungstür und lauschte ins Treppenhaus, um sich zu vergewissern, dass er niemandem begegnen würde. Diese Maßnahme galt insbesondere Herrn Kramer. Sein Vermieter wohnte im Erdgeschoss, er selbst in der vierten Etage. Ein Aufeinandertreffen bedeutete immer Ungemach. Ausschließlich für Heidemann versteht sich. So leise er konnte, trat er vor die Tür, zog diese zu, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte zweimal um. Mit vorsichtigen Bewegungen schlich er zum Treppengeländer und stütze sich beim Hinabsteigen daran ab, um sein Gewicht von den Füßen zu nehmen und damit die Geräuschkulisse zu minimieren. Wie immer half es nicht. Kramer passte seine Kandidaten systematisch ab. Hinter der eigenen Tür auf Lauer liegend, sprang er wie eine Jagdspinne hervor und erwischte seine Opfer ohne eine Chance zur Flucht oder Gegenwehr.

>> Herr Heidemann! << , begann seine Anklage.

>> Herr Kramer!“ << , wahrte Heidemann die Form. Ein freundlicher Morgengruß, würde er auch noch so ehrlich erfolgen, wäre als Aggression aufgefasst worden.

>> Gut, dass ich Sie treffe << , plänkelte Kramer noch herum.

>> Was kann ich für Sie tun? << , fragte Heidemann und fand Spaß an dem Gefallen, sich vorzustellen, Kramer würde vergessen, welchen Vorwurf er ihm gleich unterbreiten würde. Kramer hatte sich natürlich vorbereitet.

>> Ich wollte Sie fragen, ob Sie die Hausordnung kennen? << Heidemann hatte diesen Satz schon zu oft gehört und war ein wenig enttäuscht.

>> Welchen Teil meinen Sie? << , fragte er ein wenig gelangweilt.

>> Paragraph eins. << Der ging um Lärmbelästigung, das wusste Heidemann. Trotzdem wollte er es Kramer nicht einfach machen.

>> Und der lautet? << Kramer fühlte sich wie ein Schüler behandelt und reagierte gereizt.

>> Verarschen kann ich mich alleine. Es geht natürlich um den Lärm. <<

>> Welchen Lärm? <<

>> Ihren Lärm! <<

>> Meinen Lärm? <<

>> Ja, Ihren Lärm <<

>> Welchen Lärm denn? <<

>> Na, Ihren! <<

>> Ich mache keinen Lärm, das sollten Sie langsam aber wissen. <<

>> Aha, Sie leugnen also? << Heidemann überlegte, wann ihn Kramer das letzte Mal angesprochen hatte. Das war gestern. Nach der Arbeit. Der besagte Lärm muss also nachts stattgefunden haben.

>> Gestern Nacht? << , erwiderte Heidemann fragend.

>> Sie geben es also zu! << Heidemann verlor die Lust. Es war wirklich abwegig, ihm irgendeine Lärmbelästigung vorzuwerfen. Er hörte keine Musik, hatte die Lautstärke seines Fernsehers, wenn er ihn überhaupt einmal anstellte, auf kleinster Stufe, bekam so gut wie keinen Besuch. Aus seiner Wohnung drang allenfalls eine gleichmäßige Stille. Kramer musste sich geirrt oder die Sache ausgedacht haben, um seiner Neigung zur Schikane Beschäftigung zu verschaffen. Heidemann schaute provokativ auf seine Uhr, drängte sich an Kramer vorbei und sagte:

>> Das muss sich um eine Verwechslung handeln. Ich habe leider wenig Zeit. Ich muss zur Arbeit. << Kramer rief ihm hinterher:

>> Das wird noch ein Nachspiel haben, glauben Sie mir! <<

Heidemann fragte sich, welche Art von Drohung sein Vermieter eigentlich im Sinn führte. Sollte er die Wohnung verlassen müssen, konnte ihm kein größerer Gefallen getan werden. Planspiele eines Umzugs schwirrten in seinem Kopf herum, als er erst nach einigen Metern bemerkte, dass es regnete. Er hielt an und erwog, umzukehren und einen Schirm zu besorgen. Das würde ihn aber aufhalten und erneut in die Arme Kramers treiben. Er entschied sich dagegen und setzte seinen Weg fort. Als er zur Haltestelle kam, hörte er noch das Zischen der sich schließenden Türen, bevor sich der Bus schleunigst einige Zentimeter nach vorn bewegte, was ausreichte, nicht noch einmal anhalten und den Transportwilligen aufnehmen zu müssen. Heidemanns Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass der Fahrer wieder einmal zu früh abfuhr. Dessen Grinsen im Spiegel konnte der Zurückgelassene nicht erkennen. Er tröstete sich mit dem Wissen, dass es aus reiner Schadenfreude passierte und nicht nur im Regen, auch wenn die Freude dabei besonders groß sein dürfte, womit er richtig lag.

Die Haltestelle bot keine Möglichkeit, sich unterzustellen. Die Haare klebten an Heidemanns Gesicht, und ein stetes Rinnsal lief an der Nase vorbei auf seine Jacke, die inzwischen völlig durchnässt war. Es dauerte eine knappe halbe Stunde, da fuhr der nächste Bus vor. Der war alles andere als leer. Aussteigen wollte niemand. Gesichter und Körperhaltung der Fahrgäste versuchten eine bevorstehende Vergrößerung der Enge abzuwehren. Erst der traurige Anblick Sebastians veranlasste die Menge, Platz zu machen. Nicht aus Mitleid, sondern aus Furcht, nass zu werden oder einer ansteckenden Krankheit ausgesetzt zu werden. Lediglich ein kleiner drahtiger Typ Ende fünfzig zeigte sich unbeeindruckt und baute sich bedrohlich vor Sebastian auf.

>> Sebastian, wer auch sonst! << , bemerkte er abfällig. Wäre er nicht kleiner als Sebastian gewesen, er hätte abfällig auf ihn hinabgeschaut. Als Lehrer verstand er natürlich auch die Kunst, abfällig hinaufzuschauen.

>> Guten Morgen, Herr Probst << , entgegnete Sebastian mechanisch und suchte nach einer Stelle, um sich festzuhalten. Es war nicht das erste Mal, dass er seinem alten Lehrer im Bus begegnete. Probst war - wie Kramer - nie um eine Frotzelei verlegen. Sebastian fragte sich, mit welchem seiner Lieblingsfeinde er heute eigentlich keinen Kontakt haben würde. Stukenbrok stand ihm sicher noch bevor, schließlich würde er zu spät zur Arbeit kommen. Probst unterbrach seine Gedankengänge:

>> Es regnet draußen! << Sebastian verspürte ein wenig Aggression und war entgegen seiner Natur plötzlich nicht bereit, die Kraft, die es bedeuten würde, einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen, aufzubringen.

>> Sehr scharfsinnig, Herr Probst, das habe ich Ihnen gar nicht zugetraut. << Probst war natürlich über die Reaktion erstaunt, ließ es sich aber nicht anmerken und konterte:

>> Das glaube ich gerne. Es beweist Deine Unfähigkeit, die Dinge richtig einzuschätzen. << Die Schlagfertigkeit beeindruckte Sebastian. Seine ausgezeichnete Logik versicherte ihm, dass man das Spielchen eine ganze Weile weitertreiben konnte. Deshalb unterließ er es, darauf einzugehen, sondern suchte einen anderen Weg, das ehemalige Abhängigkeitsverhältnis für beendet zu erklären.

>> Wie läuft’s auf der Arbeit? << Probst ärgerte sich über den Themenwechsel. Sein sportlicher Ehrgeiz hatte gehofft, schnell zu punkten und musste jetzt überlegen, ob das Unentschieden nicht doch akzeptabel war.

>> Gut, und selbst? <<

>> Auch gut. Danke der Nachfrage << , erwiderte Sebastian und freute sich, dass der erste Angriff seines ehemaligen Lehrers verpufft war. Er wollte das Niveau halten, zögerte einige Augenblicke und fragte ruhig:

>> Ist Frau Senkbiehl eigentlich noch im Dienst? << Probst verlor tatsächlich den Antrieb, das Spiel für sich entscheiden zu wollen. Während er auf den Knopf zum Aussteigen drückte, antwortete er:

>> Nein, in Pension. Seit letzten Sommer. <<

>> Ach ja, Sie müssen ja hier raus << , sagte Sebastian gespielt überrascht und ergänzte: >> Auf bald!“ <<

>> Ja, ja << , konnte Probst noch hervorbringen, war sich aber nicht sicher, ob es ihm im Tonfall der Überlegenheit oder der Resignation herausrutschte. Sebastian setzte sich auf einen freien Platz, schmiegte sich in die Rückenlehne und lächelte.

Heidemanns Lehrer

Als Peter Probst im Alter von fünf Jahren von seinem Onkel gefragt wurde, was er denn einmal werden wollte, antwortete er wie aus der Pistole geschossen:

>> Ich werde Polizist! <<

Seine Eltern klatschten in die Hände und freuten sich, dass ihr Kind kein Verbrecher werden wollte. Es lag schlicht und einfach an seiner Körpergröße, dass er am Ende auch kein Polizist wurde. Wenn Sebastian gewusst hätte, wie viel seinem Lehrer dieser Traum bedeutet hatte, er hätte sogar Mitleid mit ihm gehabt. Probst wollte aber nicht, dass es jemand wusste. Zur Aufnahmeprüfung wurde er nicht eingeladen, weil er die Mindestgröße um vier Zentimeter verfehlte. Er versuchte es im nächsten Jahr erneut, addierte auf dem Formular persönlicher Daten frech gleich sechs Zentimeter hinzu und hoffte, dass man es nicht ganz genau nehmen würde. Man nahm es ganz genau und stellte gleich noch fest, dass seine Wirbelsäule verkrümmt war und einer seiner Hoden unauffindbar im Bauchraum herumirrte. So erfuhr er gleichzeitig mit der Untauglichkeitsbescheinigung zum Polizisten auch von seiner Unfruchtbarkeit. P.P., wie er von seinen wenigen Freunden genannt und von seinen wenigen Feinden verspottet wurde, durfte als Belohnung für seine Ablehnung gleich zum Militär. Dort hatte man nichts gegen fast kleinwüchsige, krummrückige ewig Kinderlose.

>> Sehen Sie es mal so << , erläuterte ihm der Musterungsarzt trocken, dem er seine schicksalhaften Leiden anvertraute, >> wenn Sie kleiner sind, ist die Wahrscheinlichkeit auch kleiner, dass Sie getroffen werden. Wenn doch, dann hinterlassen sie wenigstens keine Waisen. << Der Arzt rechnete nicht damit, dass seine Worte tröstlich waren; im Grund rechnete er mit gar nichts und konnte sich nicht einmal an seiner Herzlosigkeit erfreuen. Probst absolvierte den Wehrdienst als Mustersoldat, erhielt etliche Belobigungen und wäre sogar dabeigeblieben, hätte man sich bei seiner Bewerbung zum Berufssoldaten mit der Interpretation seiner körperlichen Schwächen nicht doch eines anderen besonnen. Die Auswahlkommission, die von ihren Worten kein Protokoll anfertigte, sprach in einem Plädoyer über Abweichungen vom Gardemaß, von potentiellen Blößen gegenüber dem Feind und von einer eingeschränkten Vorbildfunktion, wenn man der Nation keine Nachkommen schenken konnte. Wenn er schon nicht das Böse bekämpfen durfte, so entschied Peter Probst, so würde er wenigstens das Gute hervorbringen und den kommenden Generationen Werte vermitteln.

Das Lehramtsstudium ging ihm flüssig von der Hand. Wären seine Größe und seine Initialen nicht immer wieder für einen Lacher gut gewesen, den nicht als Verletzung aufzufassen er nicht imstande war, und wäre er, ohne es bemerkt zu haben, nicht längst schon ein Menschenhasser geworden, vielleicht wäre er ein guter Lehrer geworden.

Heidemann kommt zu spät zur Arbeit

Heidemann arbeitete in der siebten Etage eines modernen Bürokomplexes. Der Weg zu seinem Schreibtisch führte durch eine Drehtür in die Lobby, wo Herr Gabel, der Pförtner, den Einlass überwachte, zum Fahrstuhl mit einer Tafel stets polierter Firmenschilder.

>> Sie sind wieder zu spät << , brüllte Herr Gabel, nachdem er sich versichert hatte, dass außer Heidemann und ihm niemand in der Lobby war.

>> Glauben Sie mir, das weiß ich, Herr Gabel << , entgegnete Heidemann in einer Mischung aus Freundlichkeit und Nervosität. Sollte die Chance bestehen, die Arbeit aufzunehmen, ohne dass seine Unpünktlichkeit bemerkt werden würde, so musste nun eine kleine Reihe von glücklichen Fügungen ihren Lauf nehmen. Am allerwichtigsten war, dass er Frau Schneider aus dem Weg gehen konnte. Das war praktisch nur möglich, wenn sie tot, in Urlaub oder gerade bei Stukenbrok im Büro war, um ihm einen seiner Wünsche von den Lippen abzulesen. So wenig, wie sie jemals krank war, so wenig würde sie tot sein, das wusste Heidemann. Urlaub stand seiner Erinnerung nach auch nicht an, obwohl sie ihm das nicht unbedingt auf den Bauch gebunden hätte. Als er den Fahrstuhl verließ und die Glastür durchschritt, die den Empfangsbereich der Firma eröffnete, da erkannte er mit geschultem Blick, dass Frau Schneider, die ihr Reich von einem der seitlich gelegenen Büros aus regierte, nicht am Platz war. Heidemann beschleunigte seine Schritte. Noch galt es, auch anderen Kollegen nicht zu begegnen, die weniger Taktgefühl als Gabel aufbrachten, wenn sie ihn unnötigerweise darauf aufmerksam machen wollten, dass er zu spät war. Glücklich erreichte er sein Büro, warf sich auf seinen Bürostuhl und startete den Rechner. Jetzt trennte ihn nur eine Sache davon, die Situation glücklich meistern zu können. Es durfte noch niemand an diesem Morgen seine Abwesenheit bemerkt haben. Das konnte nur auf drei Wegen erfolgen. Jemand wäre in seinem Büro gewesen; für den Fall würde er sagen, dass er, bevor er seinen Rechner gestartet habe, die Toilette aufgesucht hatte. Einen Anruf würde sein Telefon signalisieren. Das war nicht der Fall. Und auch der Rechner zeigte in seinem Postfach keine Nachricht, die darauf schließen ließ, dass jemand in der vergangenen Stunde vergeblich versucht hatte, ihn zu kontaktieren. Gerade wollte er sich entspannt zurücklehnen, da ging das Telefon. Stukenbrok persönlich. Heidemann fluchte laut. Wie hatte sein Chef bemerkt, dass er zu spät gekommen war? Hatte ihn doch ein Kollege erwischt und dann gepetzt? War es etwa Gabel gewesen? Nein, diese Gedanken waren abwegig. Heidemann nahm ab. Das Gespräch war sehr kurz.

>> In mein Büro! Sofort! <<

Noch ehe Heidemann reagieren konnte, hatte Stukenbrok schon aufgelegt. Auf dem Weg in Stukenbroks Büro rätselte Heidemann weiter, was um alles in der Welt schiefgelaufen war. Er machte sich darauf gefasst, angebrüllt zu werden und legte sich schon einmal ein paar Entschuldigungen zurecht.

Heidemanns Chef

Walter Stukenbrok war das einzige Kind eines reichen, alkoholkranken Unternehmers und einer ebenfalls alkoholkranken Frau. Der alkoholkranke Unternehmer hatte seine Alkoholkrankheit durch eine Abfolge von Lebensabschnitten erworben, die jeweils von Sauferei geprägt war. Sein frühes Erwachsenenleben wollte er sich auf trinkfeste Weise gegen Gleichaltrige behaupten und den Älteren imponieren. Als junger Unternehmer wickelte er die wichtigsten Geschäfte über die Flasche ab. Als älterer Unternehmer gönnte er sich den teuren Branntwein als Symbol seines Erfolgs und kurz danach wollte er auch nicht mehr mit dem Schlucken aufhören. Seine Frau begann das Saufen mit dem Tag, da sie ihre Einsamkeit und die Untreue ihres Mannes nicht länger ertragen konnte. Der kleine Walter war zu diesem Zeitpunkt sieben Jahre alt und beging trotz strenger Abstinenz im Weiteren den Fehler, die häuslichen Unstimmigkeiten mit einer verkorksten Persönlichkeitsentwicklung zu belohnen. Er folgte den Klischees eines unsympathischen Großkotzes und Möchtegern-Machers in nahezu allen Belangen. Die Gehässigkeit, mit der er Heidemann wie auch die anderen Mitarbeiter behandelte, festigte sich schon in früher Jugend. Nur mit einer gehörigen Menge Glück sowie dem Geld und den Kontakten seines Vaters führte das nicht in eine Verbrecherkarriere herkömmlichen Sinnes. Dass sein Geschäftsgebaren nicht einmal an die gröbste der feinen englischen Art heranreichte, wussten vor allem jene, die er so weit übervorteilte, dass sie nicht mehr zu einer Gegenwehr fähig waren. Stukenbrok brauchte einige Anläufe und eine gehörige Menge erschlichenen Kapitals, um schließlich ein halbwegs funktionierendes Unternehmen aufzubauen. Grund dafür war unter anderem die Leidensfähigkeit eines Großteils der Belegschaft. Das galt für die Bezahlung, die deutlich unter dem Branchenschnitt lag, für die Arbeitszeit, die über dem Schnitt rangierte und für die Beschimpfungen, die praktisch jeder auszuhalten hatte, der - warum auch immer - in Ungnade gefallen war. Und das konnte jedem zu jeder Zeit passieren. Heidemann war das am ersten Tag und einige Dutzend Mal später passiert. Wären Heidemanns Berechnungen nicht maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Firma überhaupt noch existierte, Stukenbrok hätte ihn schon genauso viele Dutzend Mal hinausgeworfen. Um das Erinnerungsvermögen Stukenbroks an Heidemanns Verdienste, ebenso wie an die anderer Mitarbeiter, war es nicht zum Besten bestellt. Der selbstsüchtige Firmeninhaber lebte in der Vorstellung, ein Genie zu sein. Ein junges, unwiderstehliches Genie auf dem Weg, ein junger, unwiderstehlicher und genialer Mogul zu werden. Wie die Lage stand, hatte die Realität eine differenzierte Sichtweise der Dinge. Nicht zu leugnen war jedoch, dass sein forsches Auftreten und eine omnipräsente Vitalität die Damenwelt nicht unbeeindruckt ließen. Und so konnte er mit seinen fünfunddreißig Lenzen auf zahllose Liebschaften und bereits zwei gescheiterte Ehen zurückblicken. Seine jetzige Frau, eine einundzwanzigjährige Südamerikanerin, verstand kein Wort Deutsch und er kein Wort ihrer Heimatsprache. Sie verständigten sich in gebrochenem Englisch und mit ungelenken Handzeichen. Die Launenhaftigkeit Stukenbroks ging nicht selten auf die Konversationsschwierigkeiten mit seiner Gattin zurück. Dieser Tag, der für Heidemann so ungewöhnlich war, war auch für den Chef ungewöhnlich. Insbesondere deshalb, weil es auch der letzte Tag seines Lebens werden sollte.

Schon früh am Morgen, zur gleichen Zeit etwa, als Heidemanns Ex-Frau ihren ominösen Anruf tätigte, hob Gabriella, so lautete der Name der dritten Ehefrau Stukenbroks, aus dem Bett heraus ihre Hand und streckte den Zeigefinger aus, was sie mit den Worten begleitete:

>> I not work today. I happy. <<

Stukenbrok, der sich gerade vor dem Spiegel gefiel, antwortete gelangweilt:

>> You never work, honey. I work. I work for you. You are ever happy. Ever. <<

Gabriella räkelte sich im Laken und antwortete:

>> You not work. You not work. Your people work. <<

So sehr sie Recht hatte, so sehr kränkte es den Stolz des Ehegatten, als Unternehmer mit über hundert Angestellten der Faulheit bezichtigt zu werden. Von einer Frau, die nichts anderes tat, als von dem Ergebnis seines angeblichen Nichtstuns zu leben. Und das nicht zu knapp. Er war überrascht, wie wenig Zorn er bei diesen Gedanken verspürte. Der Grund dafür fiel ihm schnell ein. Gabriella, ihr Geschnatter und ihre Meinung waren ihm gleichgültig geworden. Auf der Fahrt ins Büro schmiedete er Pläne, wie er sein Leben ändern wollte. Seine Frau würde er in Kürze auf die Straße setzen, ebenso wie das Gesocks, das er beschäftigte. Und dabei dachte er vornehmlich an Sebastian Heidemann.

Heidemann und seine Berufung

Heidemann war kein Mensch, dem man den Akademiker abnahm. Zum Gelehrten war er nicht vergeistigt genug, zum Geschäftsmann nicht adrett und forsch genug. Obschon er ein gehöriges Maß an Schlagfertigkeit besaß, brachte er diese nur selten zur Geltung. Die Bescheidenheit, sich nicht in den Vordergrund drängen zu wollen, hielt ihn in Verbindung mit der Abneigung, Verantwortung tragen zu müssen, die er zu tragen nicht bereit war, davon ab, sich grundsätzlich irgendwo einzumischen. Er freute sich ungemein, wenn er die Möglichkeit hatte, allein zu sein, keine Verpflichtung zu haben und sich seinen Gedanken hingeben zu können. Wenn er dann die Konzentration für Rätsel und Zahlenspiele aufbrachte, war der Moment perfekt. Einladungen seiner Bekannten und Kollegen, die ihn seiner Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft wegen durchaus erreichten, schlug er gerne aus. Wenn er diesen, was selten genug vorkam, folgte, bestätigten sich zumeist seine wenig optimistischen Erwartungen. Er langweilte sich, wurde zu Stellungnahmen und Aussagen gedrängt, die er vermeiden wollte, regte sich insgeheim über irgendwelche Borniertheit auf, verspürte den Verlust kostbarer Zeit und musste zudem damit rechnen, einem vermehrten Drängen auf Wiederholung oder Gegeneinladung ausgesetzt zu sein. Nur ungern bediente er sich für seine Absagen der Lüge. Da er grundsätzlich aufrichtig war, wusste ein jeder, der sich für ihn interessierte, dass es ihm nicht an Freizeit mangelte und er keine Pflanzen, Tiere, Verwandten oder Partnerinnen zu betreuen hatte. Und, wenn er log, dann konnte es schon einmal komplizierter werden.

>> Nein, heute Abend kann ich nicht << , sagte er zum Beispiel zu Frau Schneider, die ihren Geburtstag im Kreise der Kollegen feiern wollte, >> ich muss heute zu meinem Vater, ich habe es ihm schon lange versprochen. <<

>> Leidet Ihr Vater nicht an einer schweren Demenz? << , entlarvte die Sekretärin das Offensichtliche. Heidemann begriff trotz seiner überdurchschnittlichen Auffassungsgabe nicht schnell genug, wo das Problem seiner unbedacht formulierten Ausrede gewesen war und verschlimmerte seine Position durch eine ehrliche Antwort:

>> Oh, ja, er erkennt mich schon nicht mal mehr. << Die meisten Menschen hätten an dieser Stelle ihren Mund gehalten. Einige hätten vielleicht angenommen, dass Versprechen durchaus eingehalten werden dürfen, auch wenn sich keiner an sie erinnert. Andere wären vielleicht beleidigt oder enttäuscht gewesen, wenn sie die Absicht, an der Feier nicht teilnehmen zu wollen, erkannt hätten. Vielleicht wären sogar einige schockiert, dass die Krankheit des Vaters dazu herhalten musste. Frau Schneider aber war weder beleidigt, noch schockiert noch enttäuscht. Und sie hielt auch nicht den Mund:

>> Aber er erinnert sich an Ihr Versprechen? << Die Dreistigkeit dieses Vorwurfs, das unangemessene Eindringen in persönliche Umstände, hätten genügend Grund geboten, aus der Haut fahren zu dürfen. Wenn Heidemann nicht gelogen hätte. Im ersten Moment fühlte er sich entsprechend einfach nur ertappt. Sein Hang zu rationellen Betrachtungen ermöglichte es ihm aber, sich schnell davon zu lösen. Er schaffte es, nicht nur seine eigene Situation zu begreifen und zu abstrahieren, sondern auch die des Gegenübers. Und so attestierte er unlautere Absichten bei Frau Schneider. Und er attestierte sich selbst eine strategisch falsche Reaktion, würde er das Gesagte jetzt entschuldigend revidieren oder unbeholfen erläutern. Er setzte zum Gegenschlag an:

>> An Sie würde er sich sicher erinnern. Egal, wie weit seine Krankheit fortgeschritten ist. <<

>> Wie meinen Sie das? <<

>> Sie wollen mich zu Ihrem Geburtstag einladen, ich habe meinem kranken Vater einen Besuch versprochen, und Sie verwenden Ihre Energie, in diesem Versprechen einen Widerspruch zu entdecken. Das ist bemerkenswert << , versuchte er eine nüchterne Darstellung der Situation und ergänzte, ihr tief in die Augen blickend: >> Mein Vater mag bemerkenswerte Menschen. Ich übrigens auch. <<

Stukenbroks Sekretärin schnappte nach Luft: >> Ich habe es nur nett gemeint. Ich muss Sie nicht einladen. << Sie merkte, dass sie damit über das Ziel hinausgeschossen war und errötete. Schnell korrigierte sie: >> Ich würde mich aber trotzdem freuen, wenn Sie kommen könnten. <<

>> Wie gesagt, ich muss zu meinem Vater. Aber Danke für die Einladung. <<

Frau Schneider

Magdalena Schneider war Anfang vierzig und verfügte über jene Eigenschaften, die gute Sekretärinnen ausmachen. Sie war zuverlässig, vorausschauend, organisatorisch äußerst begabt, genügsam gegen sich selbst, ansehnlich, adrett - und sie war in ihren Chef verliebt. Dieser hatte den Fehler gemacht, die Schwärmerei seiner fast zehn Jahre älteren Assistentin nicht dauerhaft zu kontrollieren und auszunutzen. An jenem verschneiten Freitag im Dezember, als Heidemann vorgegeben hatte, seinen dementen Vater zu besuchen, war Stukenbrok einem aufgekratzten Geburtstagskind, das im Einfluss einiger Gläser Sekt halb ernst, halb spielerisch seiner Jugend nachjammerte, indem es Rock und Bluse lüftete und Zeugnis einer verführerischen Reife ablegte, erlegen. Magdalena war nicht betrunken genug, die genaue Abfolge der Ereignisse und ihre eigene Zurechnungsfähigkeit in Frage zu stellen und schon gar nicht dumm genug, sich ernsthaft Hoffnungen auf eine Verstetigung des Erlebten zu machen. Stukenbrok sah sich dadurch einer in solchen Fällen untypischen Rationalität gegenüber, die er schwerlich beiseiteschieben konnte. Es bedurfte nicht der leisesten Andeutung existierender Beweise eines sexuellen Übergriffs und ehelicher Untreue und auch nicht den Hauch einer mit ihrem Stillschweigen verbundenen Forderung, um Stukenbrok klarzumachen, dass er sich in Magdalenas Hand befand. Ohne ihre Aufgabe als Sekretärin zu vernachlässigen, vollbrachte Frau Schneider es in der Folgezeit geschickt, die neu gewonnene Macht auszuspielen. Dass ihr Gehalt angehoben wurde, empfand sie fast als Beleidigung. Mehr Freude hatte sie daran, dass Mitarbeiter, die sie nicht mochte, bei Stukenbrok in Ungnade fielen.

Heidemann wird gefeuert

>> Herr Heidemann, es reicht! << , sagte Stukenbrok ziemlich abgebrüht, nachdem Heidemann in einem vornehmen Ledersessel Platz genommen hatte. Der Angesprochene runzelte die Stirn. Er kannte seinen Vorgesetzten als Choleriker. Üblicherweise wurde er angeschrien, ohne in irgendeinem Sessel Platz nehmen zu dürfen. Nach einer Beförderung oder Gehaltserhöhung klang die Ansprache aber auch nicht. Es dauerte nicht lange, da offenbarte sich ihm die Ursache der ungewöhnlichen Behandlung.

>> Ich muss Sie entlassen! << Heidemann wurde bleicher, als er es sich für einen solchen Fall vorgenommen hatte. Stukenbrok verschränkte die Arme hinter dem Nacken und ließ sich in die Rückenlehne seines noch vornehmeren Ledersessels fallen. Er schien die Situation zu genießen. Heidemann gewann Farbe, sagte aber trotzdem nichts. Er überlegte, ob er sich ein Wortgefecht über Gründe und Missverständnisse liefern sollte. Ein Wortgefecht, aus dem er so oder so als Verlierer hervorgehen würde. Wenn er entlassen werden sollte, würde keine Argumentationslinie, die seine persönliche Einschätzung seines Werts für die Firma zum Inhalt hatte, eine Wendung herbeiführen. Heidemann hatte von einem solchen Fall noch nie gehört und konnte seine rhetorischen Fähigkeiten auch vernünftig einschätzen. Es blieben nur zwei Alternativen. Er könnte einen moralischen Erfolg erzielen, würde er die Situation mannhaft aushalten oder sogar Ignoranz zeigen. Dieser Erfolg war seine Wirkung betreffend aber mehr als fragwürdig. Möglicherweise brächte dies nicht einmal Stukenbrok, der sich schon jetzt in der Euphorie seines eigenen Erfolges suhlte, dazu, sich ein wenig zu ärgern. Die andere Alternative wäre ein Konter. Den konnte er aber nur unsportlich führen. Heidemann entschied sich für eine Mischung.

>> Was habe ich denn falsch gemacht? << , fragte er unschuldig. Stukenbrok änderte seine Sitzhaltung nicht. Er antwortete:

>> Das ist die falsche Frage. << Ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. Heidemann tat so, als ob er die plumpe Dialektik nicht durchschauen würde:

>> Was ist die falsche Frage? << Stukenbrok ließ sich tatsächlich dazu hinreißen, seine dümmliche Logik zu erläutern:

>> Die Frage ist nicht, was Sie falsch gemacht haben, sondern, was sie richtig gemacht haben! << Heidemann spielte mit:

>> Was habe ich denn richtig gemacht? <<

>> Nichts. << Stukenbrok hatte sichtlich Freude an dieser Auskunft. Heidemann wusste, dass sein Chef die Sache gehörig auszukosten bereit war. Diese Zeit würde abrupt enden, bräche er aus dem erwarteten Gesprächsverlauf aus, würde er etwa fragen, warum er sieben Jahre lang fürs Nichtstun bezahlt worden war und welches Licht das auf ihn, den Chef, werfe. Heidemann überlegte, ob er in der gleichen Zeit nicht auch seine eigene Freude steigern konnte. Ein wenig Jammern wäre jetzt angebracht.

>> Was soll nun aus mir werden? << Die Antwort war vorprogrammiert:

>> Das hätten Sie sich mal vorher überlegen sollen! << Die Frage, was das „vorher“ zu bedeuten hatte, verbot sich. Heidemann übte sich weiter im Jammern. Er wollte die gleiche Antwort noch einmal bekommen:

>> Ich finde doch keine Arbeit mehr, in meinem Alter. << Es klappte:

>> Auch das hätten Sie sich mal vorher überlegen sollen! << Es könnte doch auch ein drittes Mal gehen, fand Heidemann. Er grübelte. Als ihm etwas einfiel, musste er sich zügeln, nicht zu hektisch zu wirken, das passte zu dieser Art der Verzweiflung nicht:

>> Wie soll ich jetzt die Raten fürs Auto bezahlen? << , jammerte er theatralisch. Es kam, wie geplant:

>> Das hätten Sie sich auch vorher überlegen können. <<

Jetzt, so fand Heidemann, war die Zeit gekommen für das Bitten und Betteln. Er flehte:

>> Ich kann mich bessern. << Stukenbrok zeigte sich unbeeindruckt:

>> Dafür ist es zu spät! <<

Heidemann fuhr fort:

>> Sie können mir auch das Weihnachtsgeld streichen. <<

>> Wie ich bereits sagte: Dafür ist es zu spät. << Heidemann witterte die Chance, auch hier den Dreier zu landen:

>> Geben Sie mir nur noch eine Chance. <<

>> Es ist zu spät, Herr Heidemann, einfach zu spät, das hätten Sie sich alles vorher überlegen sollen. << Stukenbrok war zufrieden, Heidemann auch. Er sagte:

>> Ich weiß gar nicht, wie ich das Ihrer Frau erklären soll. << Stukenbrok stutzte:

>> Was hat meine Frau damit zu tun? << Heidemann sagte langsam:

>> Ich werde es ihr erzählen müssen. << Sein Chef überlegte. Er versuchte, seinem Angestellten in die Augen zu schauen. Der starrte derweil zum Boden. Stukenbrok sprang auf und packte Heidemann bei den Schultern.

>> Wovon sprechen Sie? << Heidemann frohlockte innerlich. Er hatte ganz offensichtlich einen Nagel auf den Kopf getroffen. Nur hatte er nicht den geringsten Schimmer, welchen. Worauf sollte er tippen? Bizarr-Kram, Fetisch-Kram, Untreue-Kram, Unzucht-Kram, seine Phantasie sprudelte über. Als Stukenbrok die feuchte Kleidung seines Opfers spürte, ließ er angewidert von ihm, ging zum Fenster und öffnete es, um einige tiefe Atemzüge zu machen. Dabei kam ihm in den Sinn, dass seine Frau schon bald nicht mehr seine Frau sein würde und damit jede Sorge, dass irgendetwas ans Licht kommen würde, verpuffte. Wenn der klamme Betriebswirt überhaupt mehr wusste. Mehr als das übliche Getratsche. Die Freude an dem Rauswurf war Stukenbrok vergangen. Er würde das traurige Spiel so schnell wie möglich beenden. Heidemann spürte, dass die Pause zu lang wurde. Er musste sich entscheiden. Eine Chance blieb ihm. Er sagte ruhig:

>> Ich spreche von dem Sex-Kram. << Stukenbrok musterte ihn. Er reagierte anders, als Heidemann vermutet hatte. Und anders, als Heidemann gehofft hatte. Regungslos sagte er:

>> Welcher Sex-Kram müsste meiner Frau noch erklärt werden? << Heidemann musste schnell raten:

>> Eine gewisse Kollegin … << Er schaute Stukenbrok in die Augen. In Stukenbroks gelangweilte und spöttische Augen. Kein Hinweis auf eine nervöse Spannung. Kein Hinweis auf eine Furcht vor Aufdeckung. Daneben! Sein Chef ließ sich wieder in den Sessel fallen und lachte:

>> Aha, jaja, eine gewisse, ich verstehe. Raus mit Ihnen! Räumen Sie Ihr Büro. Heute noch. Die Formalitäten klären Sie mit dem Personalbüro. Raus mit Ihnen, ich will Sie nicht mehr sehen! <<

Heidemann ärgerte sich, dass er den kleinen Trumpf, den er zweifelsohne gehabt hatte, nicht richtig ausgespielt hatte. Er ahnte nicht, dass sein Versuch gar nicht so schlecht gewesen war und zu einem anderen Zeitpunkt durchaus Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Wortlos verließ er Stukenbroks Büro und ging zu seinem Schreibtisch, überlegte, wie er die Sachen, die von Wert waren, zusammenpacken wollte, entschied sich aber dafür, alles unberührt zu lassen und einfach zu gehen. Er schlenderte an den Kollegen vorbei zum Fahrstuhl. Frau Schneider, die Sekretärin, stellte sich zu ihm, mehrere Aktenordner in den Armen.

>> Rauf oder runter? << , fragte sie unfreundlich. Der frisch Gekündigte, dessen Gedanken in einem wohltuenden Stillstand verharrten, reagierte nicht. Frau Schneider erkannte an der Lampe, dass Heidemann den Fahrstuhl nach unten gerufen hatte. Sie drückte den Knopf nach oben und sagte schnippisch:

>> Nach unten also. <<

Heidemann erwachte dadurch aus seiner Lethargie. Er sah sie etwas befremdet an. Die Tür öffnete sich, er stieg ein und erwiderte viel zu spät:

>> Ja, nach unten, Frau Schneider << Bevor die Fahrstuhltür sich schloss, wurde ihm klar, dass er Frau Schneider vermutlich zum letzten Mal sehen würde. Er könnte sagen, was er wollte, ohne Konsequenzen zu fürchten. Und so fügte er hinzu, was ihm gerade im den Sinn kam:

>> Eins noch: Stukenbrok leugnet die Affäre mit Ihnen. << Schneiders Reaktion bekam er nicht mehr mit. Auf dem Weg nach unten dachte er über die Worte nach. Schlecht waren sie seiner Meinung nach nicht gewesen. Besonders gut aber auch nicht, musste er zugeben. Da er Stukenbroks Verhalten falsch gedeutet und Schneiders Reaktion verpasst hatte, kam ihm natürlich nicht in den Sinn, dass er gerade eben die Trumpfkarte beim Namen genannt hatte.

Herr Gabel ließ es sich nicht nehmen, Heidemanns Weg nach draußen zu kommentieren:

>> Das war aber ein kurzer Arbeitstag. <<

Der Angesprochene wusste nicht, was er antworten sollte und murmelte zustimmend. Bevor er durch die Drehtür trat, hielt er noch einmal inne, kehrte um, streckte dem Pförtner seine Hand hin und sagte:

>> Tschüss, Herr Gabel. <<

Verdutzt griff der Pförtner die Hand zum Händedruck, schüttelte sie und fragte mit hochgezogenen Augenbrauen:

>> Ist was mit Ihnen? <<

>> Heute ist ein ungewöhnlicher Tag. Ich bin noch vor dem Wecker aufgewacht. <<

Der Pförtner bekam es ein wenig mit der Angst zu tun und zog seine Hand zurück. Heidemann spürte, dass er das Gesagte nicht erklären konnte, ohne noch verrückter zu klingen. Er verzog seine Mundwinkel zu einem Lächeln, drehte sich um und verließ das Gebäude.

Bevor der Wecker läutet

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