Читать книгу Drei Musketiere - Eine verlorene Jugend im Krieg, Band 24 - Frank Hille - Страница 3

Fred Beyer, 16. April 1945, Lindendorf bei Seelow

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Erst nur tastend, aber dann immer mehr an Intensität gewinnend, hatte sich die sowjetische Artillerie auf die deutschen Stellungen auf den Seelower Höhen eingeschossen. Es war jetzt kurz vor 13 Uhr, und seit dem Angriffsbeginn früh 3 Uhr mussten die gegnerischen Geschütze eine wahnwitzige Anzahl von Granaten verschossen haben. Das Ergebnis der Kanonade war bislang allerdings recht bescheiden geblieben, denn der Großteil der Geschosse hatte nur das Vorfeld der deutschen Linien umgewühlt und zu allem Unglück auch noch in den eigenen Reihen der Russen eingeschlagen und dort erhebliche Verluste verursacht. Um die Vernichtung und das auf dem Schlachtfeld herrschende Chaos noch zu vergrößern, hatten die deutschen Artilleriebatterien in dem Todeskonzert ebenfalls alles hergegeben, was ihre vergleichsweise geringen Anzahl an Geschützen noch leisten konnte. Deren Sperrfeuer hinderte die Russen sehr wirksam am weiteren Vorankommen. Das Tageslicht zeigte jetzt das ganze Ausmaß des verfehlten Angriffsplans: überall waren tote Infanteristen zu erkennen, dazwischen steckten abgeschossene Panzer fest. Fred Beyer hatte als Panzermann in seinen Gefechten mit den Roten immer vor zwei Dingen Respekt gehabt: den berüchtigten Divisionskanonen als PaK-Waffen, und der russischen Artillerie. Mehr als in anderen Armeen war die Artillerie in der Roten Armee immer die bevorzugte schwere Waffengattung gewesen. Woher diese Ausrichtung gekommen war hatte er nie richtig ergründen können. Womöglich lag es an den unterschiedlichen Militärdoktrin der einzelnen Mächte. Die Wehrmacht hatte zeitig und erfolgreich auf eine sehr bewegliche Kriegsführung gesetzt, und diese mit dem „Blitzkrieg“ umgesetzt. Zwangsläufig, wegen der begrenzten Kapazitäten und Ressourcen in Deutschland, hatten die schweren und sehr unbeweglichen Waffen der Kanonenartillerie dort nicht die erste Geige gespielt, sondern die Panzer. Unverständlicherweise war Deutschland trotz der Fokussierung auf die Panzerwaffe bei einer weitestgehend handwerklichen Fertigung geblieben, und konnte so nie nennenswerte Produktionsstückzahlen an Kampfwagen erreichen. Ganz anders waren die Sowjets und Amerikaner vorgegangen, die eine Massenfertigung weniger Modelle aufgezogen hatten. Das Ergebnis dieser unterschiedlichen Herangehensweisen zeigte sich bei Seelow eindrucksvoll. Zirka 500 deutschen Panzern standen mehr als 3.100 russische gegenüber. Bei den Soldaten betrug das Kräfteverhältnis etwa 1 zu 5, in Bezug auf die Artillerie 1 zu 10. Es war von vornherein eine verlorene Schlacht für die Wehrmacht.

Fred Beyer hatte sich noch kurz mit dem Stab besprochen und sich in sein Führungsfahrzeug abgemeldet. So wie er es angekündigt hatte, würde er seine Panzerabteilung von vorn führen und selbst in die Kämpfe eingreifen. Bevor er in den Panzer eingestiegen war hatte er sich noch einen Moment auf den Turm gestellt und das Gefechtsfeld vor sich mit dem Feldglas beobachtet. Ohne Pause stiegen Explosionswolken auf und brachten Tod und Verderben. Die russischen Truppen kamen nur im Schneckentempo voran, weil sie vor allem der schlammige Boden daran hinderte. Eine übliche Angriffsformation, Panzer werden von der Infanterie begleitet, konnte er nirgendwo erkennen. Jeder dort vor ihm schien auf eigene Faust zu handeln und hatte wohl das Ziel, schnell möglichst nah an den Höhenzug heranzukommen, um dem Artilleriebeschuss zu entkommen. Dass er dann in Reichweite der deutschen Panzerkanonen und der auf den Bodenkampf eingerichteten brachialen 8,8-Zentimeter-Flak geraten würde war wohl weniger fürchterlich als das vernichtende Sperrfeuer. In der letzten Phase des Angriffs würden die MG 42 aber noch ganze Brechen in die Reihen der Stürmenden reißen.

Witali Ryschkin lag mit den Männern seines Infanteriezuges im Dreck. Er war mit insgesamt 28 Männern in drei Gruppen angetreten. Nachweislich hatte es bis jetzt 13 erwischt. Da sie beim Vorgehen eng zusammengeblieben waren hatte er mit ansehen müssen, wie die Granaten unter seinen Leuten aufgeräumt hatten. Eine Gruppe von drei Soldaten war von einem Volltreffer keine zehn Meter von Ryschkin entfernt zerrissen worden. Die hochgerissene Erde war mit Körperteilen der Männer vermischt gewesen und zu Ryschkins Entsetzen war ein noch in einem Stiefel steckendes abgerissenes Beinteil fast vor seinem Gesicht gelandet. Vier andere hatten sich hinter einem der wenigen vorwärtsgekommenen T 34 wohl in Sicherheit gefühlt und wollten hinter dem Panzer geduckt her stapfend vorrücken. Zu diesem Zeitpunkt waren sie noch schätzungsweise 3.000 Meter von dem Höhenzug entfernt gewesen. Die Bedrohung lag jetzt vor allem im Artilleriebeschuss durch die Deutschen als auch durch die eigenen Waffen. Ryschkin hatte einmal gehört, dass sich Panzer auf kürzere Entfernungen so um die 1.000 Meter bekämpfen würden, die auf der Höhe waren jetzt vermutlich noch nicht in der Lage sie zu beschießen. Er war gerade dabei sich wieder aufzurichten um weiter zu gehen, da hörte er in dem tobenden Explosionslärm einen peitschenartigen Knall. Ein paar Schritte links neben dem Panzer sprang eine Detonationssäule auf. Es war offensichtlich keine Sprenggranate gewesen, deren Explosion wäre größer ausgefallen. Während er noch darüber nachdachte und nun endlich auf die Beine kommen wollte, schien der T 34 plötzlich wie von einer gewaltigen und unsichtbaren Faust gerüttelt zu werden. Es gab einen harten metallischen Schlag, und das Fahrzeug blieb abrupt stehen. Im Bruchteil einer Sekunde sprangen alle Luken des Panzers auf und daraus züngelten lodernde und fauchende Flammen meterhoch empor. Nach einem weiteren winzig kurzen Augenblick wurde der über 30 Tonnen schwere Stahlkoloss durch die Explosion der im Inneren gelagerten Munition zerrissen. Der Turm wurde mehrere Meter durch die Luft geschleudert, aus dem Motor- und Kampfraum wurden Einbauten, Teile von Aggregaten, Stücke der Panzerplatten und menschliche Fragmente wegkatapultiert. Die vier Infanteristen hinter dem Panzer waren danach einfach verschwunden: atomisiert durch Druck, brutale Hitze und zerfetzt durch alle möglichen metallischen Teile. Eine Granate der Acht-Acht-Flak hatte den Panzer getroffen. Ryschkin war einem Moment wie ertaubt gewesen und etwas Warmes lief aus seinem rechten Ohr heraus: sein Trommelfell war geplatzt. Um ihn herum tobte ein Inferno. Vollkommen erschüttert fragte er sich, was er denn wohl Gott Ungefälliges getan haben sollte, dass er jetzt solcherlei Grauen ausgesetzt war. Vielleicht war er auf der Arbeit zu faul gewesen, hatte stattdessen mit den anderen lieber gesoffen. Oder hatte er zu oft geflucht? Sah Gott ihn als Taugenichts an, der weder mit sich selbst, noch mit anderen etwas Vernünftiges anfangen konnte? Er schwor sich, sollte er diese Vorhölle überleben, danach gleich drei Vaterunser zu beten und von jetzt an das Fluchen und Saufen zu lassen. Er sagte sich aber gleich, dass ihm das in dieser schweren Zeit wohl nicht ganz gelingen würde, und der liebe Gott sicher ein Einsehen hätte, wenn er es denn zumindest ein wenig versuchen würde. Ryschkin wusste in diesem Moment, dass er den Schock überwunden hatte, wenn er jetzt schon darüber nachdenken konnte, was er nach dem Kampf tun würde. Er hörte kaum noch etwas, und sein Wahrnehmungsvermögen schien sich auf die Augen zu konzentrieren. Was er sah sollte sich für alle Zeiten in sein Gedächtnis einbrennen. Wie in Zeitlupe nahm er die Bilder um sich herum beim Vorwärtstaumeln auf. Überall lagen Lebende, Tote, Verwundete, Sterbende. Sich einmal kurz umdrehend sah er brennende Panzer, hochspringende Explosionssäulen, nachrückende Infanteristen. Der Ton in diesem Film fehlte ihm und als sich wieder auf den Höhenzug zudrehte gingen davor Granaten hoch. Endlich hatte die eigene Artillerie ihre Schussunterlagen korrigiert und feuerte nicht mehr in die eigenen Reihen. Jetzt war er sich ganz sicher, dass er dieses Schlachthaus lebend verlassen würde.

Obwohl sie vor Nervosität bebten, hatten die deutschen Panzerschützen ihre Waffen noch nicht eingesetzt. Allen war die Munitionsknappheit bewusst und es wäre verantwortungslos gewesen, auf die noch drei Kilometer entfernten Ziele zu feuern. Die rote Artillerie hatte sich nun auf den Höhenzug eingeschossen, und alle Besatzungen hockten in ihren Stahlkästen. Vor der Splitterwirkung waren sie ganz gut geschützt, gegen einen Volltreffer machtlos. Manche der Soldaten beteten insgeheim, andere saßen mit zusammengebissenen Kiefern auf ihren Plätzen: ja keine Regung, ja kein Gefühl zeigen, sich männlich geben, kaltschnäuzig wirken. In Wahrheit klapperten allen fast buchstäblich die Zähne, alle hatten Todesangst. Erst wenn sie in den Kampf eingreifen würden wäre es wieder anders: dann müssten sie die vielfach praktizierten Handlungen im Panzerkampf abspulen. Beobachten, Ziele zuweisen, Laden, Richten, Feuern, eventuell die Position des Fahrzeuges verändern. Sicher waren ihre gegenwärtigen Stellungen für sie von Vorteil, aber sie bargen auch gleichzeitig die Gefahr einer Falle. Alle fürchteten sich vor einer Überflügelung, und natürlich waren die Meldungen durchgedrungen, dass die Sowjets im Süden von ihnen schon die Neiße überschritten hatten. Früher hätte man sich damit trösten können, dass es ein regional begrenzter Einbruch wäre, den man mit der Umgruppierung eigener Einheiten wieder abriegeln könnte, aber jetzt sah es ganz anders aus. Die Heeresgruppe Weichsel stand ganz massiert im Seelower Großraum, im Norden und Süden von dieser starken Verteidigungsstellung war aber viel Luft. Fred Beyer konnte sich diese offenkundige Verkennung der Lage nur so erklären, dass einfach keine weiteren eigenen Kräfte mehr verfügbar waren. Mittlerweile lag das Artilleriefeuer der Russen schon gut deckend auf der Höhenkette. Er hatte die Turmluke geschlossen und beobachtete durch die Winkelspiegel. Was sich direkt vor ihnen abspielte konnte er nicht sehen, da der Panzer bis zur Wanne verborgen in einer Art langer Grube stand, so dass nur der Turm mit der langen Kanone über die Deckung hinwegragte. Für die Verteidigung des unmittelbaren Vorfeldes war die Infanterie zuständig, den nach Osten hin abwärtsführenden Hang könnten sie mit dem Geschütz ihres Fahrzeuges ohnehin nicht beschießen. Er hatte sich mit Hertel, seinem Richtschützen, besprochen, und beide schätzten die Entfernung der jetzt vermehrt auf dem Gefechtsfeld auftauchenden russischen Panzer auf 3.500 Meter ein. Das war immer noch zu weit, es hieß also weiter zu warten und den Feindbeschuss auszuhalten. Im Panzer war ununterbrochen ein feines Beben zu spüren, die Detonationen waren zwar weniger geworden, die Einschläge aber näher herangerückt. Beyer stellte sich vor was geschehen würde, wenn eine Granate genau auf seiner Turmluke auftreffen sollte. Der Aufschlagzünder würde nicht so schnell reagieren, dass er sofort und unmittelbar beim Auftreffen auslösen könnte. Vielmehr würde die bloße Wucht des Aufpralls eines etliche Kilogramm wiegenden Geschosses ausreichen, die dünne Aufbaudachpanzerung zu durchschlagen. Die Granate würde erst im Inneren des Panzers explodieren. Beyer war sich schon immer bewusst gewesen, dass er sozusagen auf einem mit Benzin angetriebenen Pulverfass in den Kampf ritt. Er hatte die Gefahr im Gefecht nie unterschätzt und sich auch nicht willentlich in Situationen manövriert, in denen er nur auf sein Glück vertraute. Vielmehr war er doch schon ein kühler Stratege gewesen, der seinen Panzer immer so führen wollte, dass er die Vorteile des Fahrzeuges ausspielen konnte. Trotz ihrer furchteinflößenden Gestalt eines mächtigen Urviechs hatte der "Panther" wie jede Kriegswaffe seine Schwächen. Da er mit zu den ersten Kommandanten gehört hatte, die den neuen Typ hatten übernehmen können, war er durchaus Zeuge der erheblichen Mängel der ersten von den Fabrikbändern gelaufenen Modelle gewesen. Die schwachen Seitenvorgelege, der Hitzestau im gekapselten Motorenraum, das Fehlen eines Bug-MG, vieles war nicht durchdacht oder schlecht umgesetzt worden. Dennoch hielt er den Panzer V für den besten Kampfwagen in seiner Klasse. Die überragende Kampfwagenkanone, die guten Optiken, die abgeschrägte Panzerung: er hätte noch viel mehr aufzählen können. Er würde die Trümpfe seines Panzers so lange nutzen, bis eine feindliche Besatzung schneller war als er mit seinen Männern. Oder sie eine Artilleriegranate erwischte. Darauf hatte er keinerlei Einfluss, er war zum untätigen Warten verdammt. Im schwachen Licht der Kampfraumbeleuchtung fummelte er einen Kanten Brot aus seinem Verpflegungsbeutel und kaute das schon harte Brot gründlich durch. Das beruhigte ihn, aber er war ohnehin nicht ängstlich, eher nervös wie ein Rennpferd vor dem Start. Ziemlich ungerührt beobachtete er weiter. Die Russen hatten sich total verrannt. Immer noch paukte die deutsche Artillerie in die angreifenden Einheiten. Dort wo die Granaten hochgingen gab es keinerlei Deckung, nur schlammigen Boden. Wieder einmal sagte er sich, dass er zwar auf einem Pulverfass hockte, aber ein eventuell tödlich wirkender winziger Metallsplitter einer Granate ihm hinter seinen Panzerplatten nichts anhaben konnte.

"Wollen wir nicht ein paar Salven zum Einschießen abfeuern" fragte ihn Hertel.

"Nein. Es ist immer noch zu weit. Wir wühlen nur den Dreck um. Weißt du, woran mich das alles erinnert? An Silvester. Alle stehen schon halb besoffen draußen und glotzen auf ihre Uhren. Jeder ist ungeduldig, und ein paar Leuten reißt der Geduldsfaden. Feuerwerk aus Anlass eines besonderen Ereignisses gab es schon im 14. Jahrhundert. Habe ich mal irgendwo gelesen oder im Chemieunterricht in der Schule gehört. Der Ärger ist natürlich groß, wenn es mit dem Knallen nicht klappt. Und wir können es uns wegen der knappen Munition eben nicht leisten, hier sinnlos rumzuballern, ohne dass es was bringt. Ich weiß, das Warten geht allen an die Nerven. Außerdem würden wir aber auch noch unsere Feuerstellung zu zeitig enttarnen. Und von hier aus wollen wir dem Iwan ja noch ordentlich Zunder geben. Kramer, gib mal an die Kommandanten durch, dass immer noch Feuersperre herrscht."

Beyer presste seinen Rücken an die Turmrückwand. Wie oft hatte er im Panzer schlafen müssen, wenn es keine Quartiere gab, oder Gefechtsbereitschaft befohlen war. Der Mensch gewöhnt sich eben an alles dachte er verbittert, auch daran, wie in einem fast dunklen Bergwerk zu hocken und giftige Gase nach dem Abschuss einzuatmen. Das war eine Sache, die bestimmt noch Folgen haben könnte, sofern er überleben würde. Immer wenn sie nach einem Kampf die Luken geöffnet hatten waren Schwaden von undefinierbarer Farbe aus dem Kampfraum gezogen. Die Männer selbst waren schwarz: im Gesicht, an den Händen, den Armen. Er könnte wetten, dass die Gase und die Partikel die sie einatmeten, garantiert nicht gesund waren. Der Lüfter im Aufbaudach war wohl eher symbolisch gedacht. Natürlich würde es Untersuchungen über die Gefährlichkeit der Gase und Stoffe geben, aber sollten sie mit der Gasmaske in den Panzerkampf gehen, bei dem gute Sicht enorm wichtig war? Martin Haberkorn hatte ihm einmal erzählt, dass die Schadstoffkonzentrationen in den U-Booten auch hoch wären. Klar, die fuhren mit Batterien, die eben auch mal gasen konnten. Die Leute an Bord gaben mit ihrem Atem Kohlendioxid ab. Alles schädlich, alles ungesund. Er stellte sich vor und musste bei diesem Gedanken grinsen, er würde den Kampf mit der Begründung verweigern, dass die Pulvergase schlecht für seine Lunge wären. Die Gesichter würde er gern einmal sehen! Man würde ihn für verrückt erklären und wegsperren.

Die Entfernung zu den vordersten russischen Panzern betrug jetzt etwa 2.000 Meter, bei einer Distanz von 1.800 Metern würde er den "Panther" Feuererlaubnis erteilen. Die Panzer IV sollten bis 1.000 Meter warten.

Ob die Kommandanten sich darin hielten wusste er nicht, er würde es auch nicht beeinflussen können.

Drei Musketiere - Eine verlorene Jugend im Krieg, Band 24

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