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Günther Weber, 5. Oktober 1943, Kiew

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Das Lazarett in Kiew war in einem östlich von der Stadt gelegenem Krankenhaus untergebracht gewesen und hatte auf Günther Weber, nachdem er wieder einigermaßen auf die Beine gekommen war, einen geradezu paradiesischen Eindruck gemacht. Manchmal dachte er doch recht wehmütig an die fast vier Wochen zurück, die er dort verbracht hatte. Die Anfangsphase der Erkrankung hatte er in einem fast komatösen Zustand verschlafen und das hohe Fieber und die ständigen schleimig blutigen Durchfälle hatten seinen Körper weiter ausgezehrt. Der hohe Flüssigkeitsverlust war durch ständige Zufuhr von sauberem Trinkwasser ausgeglichen worden und zusätzlich waren Weber Elektrolyte wie Natrium, Calium, Calzium und Magnesium zugeführt worden.

Als er sich von Veterinarne nach Charkow durchgeschlagen war er nach zwei Tagen wegen dem fehlenden Trinkwasser fast verrückt geworden und es war ihm wie ein Zeichen vorgekommen, dass er, da er ja nur nachts marschierte, im schwachen Mondlicht in einem Waldstück einen kleinen Tümpel entdeckt hatte. Das Reservoir maß ungefähr drei mal vier Meter und wurde seltsamerweise nicht von einem Bach gespeist. Er erklärte sich das so, dass die Quelle das Grundwasser sein müsste oder Regenfälle es auffüllen würden. Er hatte seine Handflächen zu einer Schale geformt und einen Schluck getrunken. Dass die Flüssigkeit nicht kalt und klar war, war logisch, schließlich gab es keinen Zu- und Abfluss. Er trank gierig und füllte dann seine Feldflasche. Was er nicht wissen und auch wegen der Dunkelheit nicht sehen konnte war, dass in dem gut zwei Meter tiefen Tümpel am Boden zwei Leichen verfaulten. Die beiden Männer waren von den Deutschen vor zwei Monaten bei einer Partisanenoperation gefangen genommen, kurzerhand erschossen und in den Tümpel hineingeworfen worden. Weber hatte am nächsten Abend die eigenen Linien erreicht und war in der Nacht mit bohrenden Leibschmerzen munter geworden. Als er sich erleichterte registrierte er den Durchfall aber nahm an, dass diese Sache wieder weggehen würde. Die letzten Tage hatte er nur wenig und unregelmäßig gegessen, und auch das Wasser war knapp gewesen. Als der Durchfall aber epidemisch auftrat und die Leibschmerzen nicht nachließen ahnte er, dass es keine harmlose Magenverstimmung war. Ihm war ein Quartier bei den Resten seiner Einheit zugeteilt worden. Ungefähr 25 SS-Panzergrenadiere hatten wie er aus Veterinarne auf abenteuerlichen Wegen entkommen können. Ihnen hatte man jetzt eine Erholungsphase zugebilligt und die Männer lagen teilnahmslos auf ihren Zeltbahnen herum. Als Weber sich wieder erleichtern musste und aufstand spielte sein Kreislauf nicht mehr mit, und er kippte um.

Im Lazarett war er nach vier Tagen wieder in der Lage aufzustehen. Er fühlte sich ausgesprochen schlapp aber kam relativ schnell wieder zu Kräften. Eigentlich wäre es notwendig gewesen ihn von den anderen Patienten zu isolieren, da bereits wenige Ruhrbakterien ausreichten andere Menschen anzustecken. Man hatte sein Bett aber lediglich in eine Ecke gestellt und mit einer spanischen Wand abgetrennt. Insgesamt 6 Männer lagen in dem recht kleinem Raum. Alle waren schon einigermaßen über den Berg und langweilten sich. Als die spanische Wand einmal weggerückt worden war, weil Webers Bett neu bezogen werden sollte, hatte er seine Zimmernachbarn gesehen. Links von ihm lag ein blutjunger Mann, der eine Binde vor den Augen trug, daneben in dieser Richtung ein Soldat um die dreißig, dem der rechte Arm amputiert worden war. Weber gegenüber standen neben dem Bett des Patienten Krücken, das deutete auf den Verlust eines Beines hin. Neben diesem Mann war das Bett eines Mittzwanzigers, der keine sichtbaren Verletzungen aufwies und neben ihm warf sich ein junger Kerl ständig von einer Seite auf die andere. Weber stellte sich vor und hörte die Geschichten der anderen. Dem jungen Mann neben ihm hatte ein Granatsplitter beide Augen aus den Höhlen gerissen. Als Weber ihn fragte was sein Beruf wäre schwieg er eine Weile, und sagte dann mit stockender Stimme, dass er vor einem Jahr das Abitur abgelegt hätte und eigentlich gern Konzertmusiker geworden wäre, aber nun könne er ja keine Noten mehr lesen. Der Armamputierte hatte als Schlosser gearbeitet, aber mit nur einer Hand würde er diesen Beruf nicht mehr ausüben können. Der Mann, der das rechte Bein verloren hatte, war Bauer und ganz zuversichtlich, dass er mit einer Prothese ausgestattet später wieder, vielleicht mit einem Traktor, seine kleine Feldfläche bewirtschaften könnte. Dem neben ihm liegenden Mann war die Antwort sehr schwer gefallen, ihn hatten etliche Splitter in die Brust getroffen und einige würden in seinen Lungen stecken und hätten diese erheblich geschädigt. Die Ärzte wären der Meinung gewesen, dass sie es besser nicht riskieren wollten, die Metallstücke zu entfernen. Obwohl er nur geringe Schmerzen hätte wäre er aber sehr in seiner Bewegungsfähigkeit eingeschränkt, da er nur mühsam Luft bekam und sehr kurzatmig sei. Dann sagte er noch:

„Der hier neben mir kann dir nichts erzählen. Seitdem er hier ist hat er noch nicht ein Wort von sich gegeben. Wir wissen nur, dass er im Trommelfeuer verschüttet worden ist und wohl davon einen Schaden davongetragen hat. Er kann aber essen und scheißen und furzt wie ein Waldesel. Der schmeißt sich den ganzen Tag hin und her und muss gefüttert werden. Den Arsch kann er sich auch nicht selber wischen. Eigentlich wäre es besser gewesen man hätte den nie wieder ausgegraben. Und wie die Schwestern erzählt haben, hat er eine Frau und zwei Kinder. Die arme Frau. Die wird ihr ganzes Leben für diesen armen Teufel sorgen müssen.“

Weber hatte seine Geschichte erzählt, und dann hatten sich die Männer über dieses und jenes unterhalten. Sie kamen natürlich auf die Lage zu sprechen und Weber spürte die Besorgnis der verwundeten Soldaten. Kiew war ungefähr 500 Kilometer von Charkow entfernt, und diese Stadt hatten die Russen schon im August zurückerobert. Im September waren die Sowjets auf breiter Front wieder angetreten und näherten sich Kiew bedenklich schnell. Die Deutschen setzten alles darauf, dass der Dnepr als natürliche Barriere und die am nur rudimentär fertiggestellten Ostwall stehenden Truppen sie aufhalten könnten. So richtig glaubte keiner daran und die Männer waren auch weiterhin auf Pflege und Betreuung angewiesen. Alle hofften darauf, dass sie rechtzeitig evakuiert werden würden. Günther Weber war klar, dass er zu seiner Einheit zurückkehren würde, er musste also über diese Sache nicht weiter nachdenken. Er genoss die Tage der Ruhe, das regelmäßige Essen, die Sauberkeit im Lazarett, den ungestörten Schlaf. Es war ihm erlaubt worden das Gebäude zu verlassen, aber nicht das Gelände. Günther Weber spazierte über die mit feinem Kies belegten Wege und setzte sich auf eine Bank. Dann zündete er sich eine Zigarette an und sah einfach in die Gegend. Das Krankenhaus bestand aus mehreren Gebäuden, mehretagigen Häusern und einfachen Baracken aus Ziegelsteinen. Obwohl die Gebäude schon heruntergekommen aussahen machte das Gelände trotzdem einen ordentlichen und aufgeräumten Eindruck. Weber hatte freie Zeit im Übermaß und wusste damit nichts anzufangen. Früher hätte er sich in der Stadt frei bewegen dürfen, heute war das verboten. Die Einwohner spürten natürlich die Nervosität der Deutschen und auch im Umland hatte die Partisanentätigkeit zugenommen. So brachte er die Tage damit herum auf dem Bett zu liegen, zu lesen oder nur vor sich hin zu dösen. Als er die Marschpapiere zu seiner Einheit erhielt war er im gewissen Sinne erleichtert. Charkow war am

23. August von den Russen erobert worden und am 31. August hatte Hitler der schrittweisen Räumung des Donezgebietes durch die deutschen Truppen zugestimmt, da die die Gebiete östlich des Dnepr aufgrund der schwachen Kräfte nicht mehr zu halten waren. Damit war klar dass nun versucht werden musste, die Sowjets am westlichen Ufer des Flusses aufzuhalten. Rein von den geographischen Bedingungen erschien das nicht als aussichtslos, denn der Dnepr war ein beeindruckendes Gewässer und natürliches Hindernis, welches schwer zu überwinden sein würde. Günther Weber sollte in Winnyzja wieder zu seinen Männern stoßen. Verband man die Orte Kiew, Tscherkassy und Winnyzja mit Linien ergab sich ein fast gleichschenkliches Dreieck, wobei Winnyjza am weitesten im Westen lag. Dieser Ort sollte offensichtlich das Zentrum der Auffangstellungen bilden, falls die Russen durchbrechen würden. Als Problem könnte sich aber herausstellen, dass die Sowjets bei einem gleichzeitigen Vorgehen bei Kiew und Dnepropetrowsk schnell in das nur schwach gesicherte Hinterland der Deutschen eindringen könnten und Tscherkassy, Krementschuk, Kriwoj-Rog, Kirowgrad und andere Orte damit überflügeln und abschneiden würden. Zwangsläufig würde wieder ein Kessel entstehen, und da die Sowjets über eine erdrückende Überlegenheit bei den Panzern verfügten wären sie schnell in der Lage den Sack zuzuschnüren.

Als Weber bei seiner Truppe angekommen war wurde er herzlich begrüßt. Die Männer hatten in relativer Ruhe gelegen und sich in Häusern eingerichtet, da die Temperaturen angezogen hatten. Sie ahnten alle, dass die momentan vergleichsweise komfortable Situation bald vorbei sein würde, und sie wieder wie Vagabunden von einer notdürftig erreichten Stellung zur anderen durch das Land ziehen würden. Diesmal allerdings in Richtung Westen.


Drei Musketiere - Eine verlorene Jugend im Krieg, Band 16

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