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1. KAPITEL INTRO KASSEL, WINTER 2020

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FRANK WILLMANN | 25. Februar 2020. Kassel-Harleshausen. Sonne, Schneeglöckchen, Faschingszeit. Ich bin zum Brunch bei Familie Thomale eingeladen. Sie wohnt am Rand von Kassel, eine ruhige Gegend. Im Sommer weiden hinter dem Haus der Thomales Pferde. Unser Ziel ist eine ehrliche Biografie von Hans-Ulrich „Ulli“ Thomale, in der man die Höhen und Tiefen des Lebens wiederfindet. Wir nähern uns an.

Deutschland 2020. Noch hat Corona das Land nicht im Griff. Ein Dorf weiter fuhr vor wenigen Stunden ein Mann in einen Karnevalszug. 154 Verletzte, darunter viele Kinder. Fünf Tage vorher hatte ein rechtsradikaler Täter in Hanau zehn Menschen ermordet. Am 25. Februar ist Kassel voller Polizei in Kampfmontur.

„Meine Heimat ist Sachsen, in Kassel bin ich zu Hause“, sagt Ulli. Später spazieren wir zum modernen Stadion der Stadt. Hier begann und endete Ullis Trainerkarriere im Westen der Bundesrepublik. Im Kasseler Auestadion ist der Rasen feucht. Ein Schild warnt: Platz gesperrt, Leiter Sportamt. Ullis Lieblingsschild aus alten Tagen. Er und der Leiter des Sportamts wurden 1990 keine Freunde. Drei Schneeflocken, und das Sportamt schlug Alarm. „Scheint sich nichts geändert zu haben“, sagt Ulli und geht schmunzelnd weiter.

25.000 Zuschauer sahen hier 1991 ein Spiel seines KSV Hessen Kassel gegen den SV Werder Bremen im DFB-Pokal. Wir besuchen den Zeugwart Uwe. Ulli geht lächelnd auf ihn zu. Der Trainer Thomale hat alle Leute gleichbehandelt. Weil man seine Ziele im Fußball nur gemeinsam erreicht. König oder Bettler, im Fußball zählte für Ulli nur das wir. In Kassel spielen aktuell wenige Vollprofis, der Rest sind Studenten und Teilzeitkicker. Der KSV Hessen Kassel ist in der Oberliga gelandet, schafft aber in der Coronasaison 2019/20 den Aufstieg in die Regionalliga Südwest. Wir absolvieren einen Rundgang im Vereinsheim. Uwe zeigt uns Trophäen vergangener Fußballfeste und Schlachten. Beim Wort Schlachten müssen wir grinsen. Das Wort wirkt heute aus der Zeit gefallen.

In Duschanbe hat der KSV 2010 als Gastgeschenk einen gestickten Mantel bekommen. Der Mantel ist das Prunkstück der Sammlung. Die Kasseler – zu einem Trainingslager eingeladen – wurden damals in der tadschikischen Hauptstadt mit staatsmännischen Ehren empfangen.

Später treffen wir noch Platzwart Alfred. Er erkennt meinen Begleiter sofort. Ulli hat Spuren hinterlassen. Kurzes Verweilen, Fachsimpelei. War früher alles besser? Möglicherweise. Oder auch nicht. In der Geschäftsstelle des KSV folgt das nächste große Hallo. An der Wand hängt ein Lokomotive-Leipzig-Wimpel. Er stammt von einem Altherrenspiel in den Nullerjahren, als Ulli jeweils eine Halbzeit Lok und den KSV als Trainer betreute. Lokomotive Leipzig! 22. April 1987, rund 125.000 Zuschauer. Unvergessenes Halbfinale im Europapokal der Pokalsieger. Beim Elfer von René Müller implodierten in der DDR die Fernseher zwischen Saßnitz und Suhl. Offiziell waren es 72.000 Zuschauer, sagt Platzwart Alfred. Wir lachen. Wir klopfen uns auf die Schulter und können nicht aufhören zu lachen. Ulli Thomale ist ein perfekter Zeitzeuge des politischen Umbruchs. Er erlebte die DDR und die BRD. Er war Trainer zu einer Zeit, als der Fußball noch halbwegs unschuldig war und nicht zerrieben wurde von Profitgeiern und überbezahlten Stars, die längst den Kontakt zur Straße verloren haben.

Heute existiert der Fußball in einer Zweiklassengesellschaft. Trainer und Spieler treten wie aufgedonnerte Filmschauspieler oder Konzernmitarbeiter auf, der Fußball hat seine Ideale 2020 endgültig an die Finanzwelt verkauft. Früher bestand eine Mannschaft aus elf Freunden. Heute tänzeln elf Egos über den Platz, jeder mit eigenem Friseurteam, Nasenputzerin und einem Koch, der weiß, wie man ein vergoldetes Steak zubereitet. Die Kommerzialisierung des Fußballs hat eine rasante Entwicklung genommen, es bleibt offen, wie der Lieblingssport der Deutschen in Zukunft aussieht. Wer in der Gegenwart über die deutsche Fußballgeschichte spricht, meint selten die der DDR. Die folgenden Seiten werden der deutschen Fußballgeschichte ein paar Fußnoten schenken.

Es geht um Ruhmestaten im Europapokal und das Menschlichbleiben in diktatorischen Zeiten, ums Fußball spielen, ums Götterfunkenhaschen. Und um den Tsunami 2004, der Ulli um ein Haar zum Verhängnis wurde.

Tauchen Sie ein.

»Ich bin Trainer, kein Diplomat!«

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