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Zweites Kapitel: Konak – Hamam – Selamlik

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Der Hükümet von Antiochia, wie der Regierungskonak des Kaimakam auch genannt wird, liegt unterhalb des Zitadellenberges. Ein schmutziges, aber umfängliches Gebäude, denn die Kasah Antakje ist eine der volksreichsten Provinzen Syriens.

Gabriel Bagradian, der den Burschen mit den Pferden bei der Orontesbrücke zurückgelassen hatte, wartete schon längere Zeit in einem großen Kanzleiraum des Konaks. Er hoffte vom Kaimakam selbst, dem er seine Karte geschickt hatte, empfangen zu werden. Ein türkisches Amtslokal, wie es Gabriel genau kannte. An der feuchten Wand, von der die Tünche bröckelte, ein unbeholfener Öldruck des Sultans und ein paar gerahmte Koransprüche. Fast alle Fensterscheiben zerbrochen und mit Spannleiste verklebt. Die schmutzstarrende Holzdiele vollgespuckt und mit Zigarettenresten übersät. An einem leeren Schreibtisch saß irgendein Unterbeamter, der schmatzend vor sich hin stierte. Eine Legion dicker Fleischfliegen gab ungehindert ein wildes und ekelhaftes Konzert. Rings um die Wände liefen niedrige Bänke. Ein paar Leute warteten. Türkische und arabische Bauern. Einer von ihnen hatte sich, ungeachtet der Widerlichkeit, auf den Fußboden gehockt, sein langes Gewand um sich verbreitend, als könne er von dem Unflat nicht genug erfassen. Ein säuerlicher Juchtengeruch von Schweiß, kaltem Tabak, Trägheit und Elend erfüllte den Raum. Gabriel wußte, daß die obrigkeitlichen Kanzleien der verschiedenen Völker ihren eigenen Geruch haben. Allen aber war diese Ausdünstung von Angst und Ergebung gemeinsam, mit der die kleinen Leute das Walten der Staatsmacht hinnehmen wie die Unbilden der Natur.

Ein buntgescheckter Türhüter geleitete ihn endlich mit herablassender Miene in ein kleineres Zimmer, das sich durch unverletzte Fensterscheiben, Tapeten, einen aktenbeladenen Schreibtisch und einige Sauberkeit von den übrigen Räumen unterschied. An der Wand hing nicht das Bild des Sultans, sondern eine große Photographie Enver Paschas zu Pferde. Gabriel sah sich einem jüngeren Mann mit rötlichem Haar, Sommersprossen und kleinem englischem Schnurrbart gegenüber. Es war nicht der Kaimakam, sondern der Müdir, der die Geschäfte des Küstenbezirkes, der Nahijeh von Suedja verwaltete. Das Auffälligste an dem Müdir waren seine überaus langen, sorgfältig manikürten Fingernägel. Er trug einen grauen Anzug, der selbst für seine kleine, dürre Gestalt etwas zu eng schien, dazu eine rote Krawatte und kanariengelbe Schnürstiefel. Bagradian wußte sofort: Salonik! Er hatte dafür keinen anderen Anhaltspunkt als das Äußere dieses jungen Mannes. Salonik war die Geburtsstätte der jungtürkischen Nationalbewegung, des erbitterten Westlertums, der fassungslosen Verehrung für alle Formen des europäischen Fortschritts. Ohne Zweifel gehörte der Müdir zu den Anhängern, vielleicht sogar zu den Mitgliedern Ittihads, jenes geheimnisvollen »Comité pour union et progrès«, das heute unbeschränkt das Reich des Kalifen beherrschte. Er zeigte seinem Besuch außerordentliche Höflichkeit und rückte selbst einen Stuhl zum Schreibtisch. Mit den entzündeten wimperarmen Augen aller Rothaarigen sah er an Bagradian meist vorbei. Dieser nannte mit einem gewissen Nachdruck noch einmal seinen Namen. Der Müdir neigte leicht den Kopf.

»Die hochansehnliche Familie Bagradian ist uns bekannt.«

Es kann nicht geleugnet werden, daß Geste und Worte in Gabriel ein angenehmes Gefühl auslösten. Sein Tonfall gewann große Sicherheit.

»Einigen Bürgern meiner Heimat, darunter auch mir, wurden heute die Pässe abgenommen. Handelt es sich um eine Verfügung Ihrer Behörde? Wissen Sie von ihr?«

Der Müdir brachte durch längeres Nachdenken und In-den-Akten-Blättern zum Ausdruck, daß er bei der Fülle seiner Obliegenheiten nicht jede Kleinigkeit sofort gegenwärtig haben könne. Endlich ging ihm ein Licht auf:

»Ach ja! Gewiß! Die Inlandpässe! Es handelt sich hierbei nicht um eine selbständige Verfügung der Kasah, sondern um einen Erlaß Seiner Exzellenz des Herrn Ministers des Innern.«

Nun hatte er ein bedrucktes Blatt gefunden und legte es vor sich hin. Er schien bereit zu sein, den Erlaß des Ministers Taalat Bey, sollte es gewünscht werden, vollinhaltlich vorzulesen. Gabriel erkundigte sich, ob hier eine allgemeine Maßnahme vorliege. Die Antwort klang ein wenig ausweichend. Die breiten Volksmassen seien kaum betroffen, da sich zumeist nur die reicheren Kaufleute, Händler und ähnliche Persönlichkeiten im Besitze von Inlandpässen befänden. Bagradian starrte auf die langen Fingernägel des Müdirs:

»Ich habe mein Leben im Ausland, in Paris zugebracht.«

Der Beamte neigte wieder leicht den Kopf:

»Es ist uns bekannt, Effendi.«

»Ich bin daher an Freiheitsberaubungen nicht sehr gewöhnt ...«

Der Müdir lächelte mit Nachsicht:

»Sie überschätzen diese Sache, Effendi. Wir haben Krieg. Übrigens müssen sich heutzutage auch die deutschen, französischen, englischen Staatsbürger in mancherlei fügen, woran sie nicht gewöhnt waren. In ganz Europa ist es jetzt nicht anders als bei uns. Ich bitte ferner zu bedenken, daß wir uns hier im Etappengebiet der vierten Armee, also im Kriegsbereich, befinden. Eine gewisse Aufsicht über den Verkehr ist unbedingt geboten.«

Diese Gründe waren so einleuchtend, daß Gabriel Bagradian Erleichterung empfand. Das Ereignis des heutigen Morgens, das ihn nach Antiochia gejagt hatte, verlor auf einmal seine Schärfe. Der Staat mußte sich schützen. Immer wieder hörte man von Spionen, Verrätern, Deserteuren. Aus der Winkelperspektive von Yoghonoluk konnte man Maßregeln wie diese gar nicht beurteilen. Auch die weiteren Hinweise des Müdirs waren danach angetan, die mißtrauische Unruhe des Armeniers zu beschwichtigen. Der Minister habe zwar die Pässe eingezogen, das bedeutet aber nicht, daß in berücksichtigungswerten Fällen neue Dokumente nicht ausgestellt werden könnten. Die zuständige Behörde dafür sei das Vilajet in Aleppo. Bagradian Effendi wisse wohl selbst, daß Seine Exzellenz, der Wali Djelal Bey, der gütigste und gerechteste Gouverneur des ganzen Reiches sei. Eine diesbezügliche Eingabe würde, von hier aus wohlempfohlen, nach Aleppo weitergeleitet werden. Der Müdir unterbrach sich:

»Wenn ich nicht irre, Effendi, stehn Sie im Militärverhältnis ...«

Gabriel berichtete knapp über die Sachlage. Noch gestern vielleicht hätte er den Beamten gebeten, Nachforschungen darüber anzustellen, warum seine Einberufung nicht erfolge. Seit einigen Stunden aber war alles grundlegend verändert. Der Gedanke an den Krieg, an Juliette und Stephan bedrückte ihn tief. Sein Pflichtgefühl als türkischer Offizier schmolz zusammen. Jetzt hoffte er, daß man ihn beim Kader in Aleppo vergessen habe. Er dachte nicht daran, sich bemerkbar zu machen. Es fiel ihm aber auf, wie wohlunterrichtet die Behörde in Antiochia über alles war, was ihn betraf. Die entzündeten Augen des Müdirs sandten ihm einen befriedigten Blick zu:

»Nun also, Sie sind Militärperson, im Stande der Beurlaubung gewissermaßen. Ein Teskeré kommt somit für Sie gar nicht in Betracht.«

»Aber meine Frau und mein Sohn ...«

Bei diesen für den Müdir unklaren Worten hatte Gabriel zum erstenmal das würgende Gefühl: Wir sind in einer Falle. Im selben Augenblick öffnete sich die Doppeltür in das Nebenzimmer. Zwei Herren traten ein. Der eine, ein älterer Offizier, der andere zweifellos der Kaimakam. Der Provinz-Statthalter war ein großer, aufgeblähter Mann in einem grauen, knittrigen Gehrock. Schwere, schwarzbraune Augensäcke hingen in dem fahlen und schlaffen Gesicht eines Leberkranken. Bagradian und der Müdir erhoben sich. Der Kaimakam schenkte dem Armenier nicht die geringste Beachtung. Mit leiser Stimme gab er seinem Untergebenen irgendeinen Auftrag, hob die Hand nachlässig an den Fez und verließ, von dem Major gefolgt, die Kanzlei, denn sein Tagewerk schien beendet zu sein. Gabriel starrte auf die Ausgangstür:

»Wird ein Unterschied zwischen Offizier und Offizier gemacht?«

Der Müdir begann seinen Schreibtisch in Ordnung zu bringen.

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Effendi?«

»Ich meine, gibt es zweierlei Behandlung für Türken und Armenier?«

Der Müdir schien durch diese Frage auf das äußerste entsetzt zu sein:

»Vor dem Gesetz ist jeder ottomanische Staatsbürger gleich.«

Dies sei, so fuhr er fort, die wichtigste Errungenschaft der Revolution von 1908. Daß sich einige Gewohnheiten der Vorzeit erhalten hätten, darunter etwa die Bevorzugung des osmanischen Staatsvolkes im öffentlichen und militärischen Dienst, das gehöre zu jenen Erscheinungen, die man von Amts wegen nicht abschaffen könne. Völker verändern sich nicht so schnell wie Verfassungen, und Reformen werden auf dem Papier schneller durchgeführt als in Wirklichkeit. Und er schloß seine staatspolitischen Ausführungen:

»Der Krieg wird in allen Belangen Wandel schaffen.«

Gabriel faßte diese Worte als eine günstige Prophezeiung auf. Der Müdir aber warf plötzlich sein sommersprossenbraunes Gesicht zurück, das sich ohne jeden Grund gehässig verzerrte:

»Hoffentlich zwingen keine Vorkommnisse die Regierung dazu, gewissen Bevölkerungsteilen ihre unnachsichtige Strenge zu zeigen.«

Als Gabriel Bagradian in die Bazarstraße von Antiochia einbog, hatte er zwei Dinge beschlossen: Erstens, im Falte seiner Einberufung kein Opfer zu scheuen, um sich vom Militärdienst loszukaufen. Und zweitens, in der friedlichen Stille des Hauses von Yoghonoluk das Ende des Krieges abzuwarten, unbemerkt und ungestört. Da man doch schon im Frühjahr 1915 stand, konnte es sich ja nur mehr um ein paar Monate bis zum allgemeinen Waffenstillstand handeln. Er rechnete mit September oder Oktober. Einen neuen Winterfeldzug würde keine der Parteien mehr wagen. Bis dahin mußte man sich einrichten, so gut es ging, um dann so schnell wie möglich nach Paris heimzukehren.

Der Bazar riß ihn mit. Jener dichte Strom, der keine Hast, kein Zu- und Abnehmen kennt wie der Verkehr in europäischen Städten, sondern sich im unwiderstehlichen Gleichtakt dahinwälzt, so wie die Zeit in die Ewigkeit. Man hätte sich nicht in die gottverlassene Provinzstadt Antakje, sondern nach Aleppo oder Damaskus versetzt glauben können, so unerschöpflich fluteten die beiden Gegensätze des Bazars aneinander vorbei. Türken in europäischer Kleidung, mit Spazierstöcken und steifen Kragen, den Fez auf dem Kopf, Kaufleute und Beamte. Armenier, Griechen, Syrer, auch sie an der abendländischen Gewandung kenntlich, jedoch mit unterschiedlicher Kopfbedeckung. Dazwischen immer wieder Kurden und Tscherkessen in ihren Trachten. Die meisten von ihnen trugen Waffen zur Schau. Denn die Regierung, die bei den christlichen Völkern jedes Taschenmesser mißtrauisch betrachtete, duldete bei den unruhigen Bergstämmen moderne Infanteriegewehre, ja beschenkte sie sogar mit solchen. Arabische Bauern aus der Umgebung. Auch einige Beduinen aus dem Süden, im langen faltenreichen Mantel, wüstenfarben, mit prächtigem Tarbusch, von dem die seidenen Quasten über die Schultern hingen. Frauen im Tscharschaff, dem züchtigen Gewand der Moslemin. Dann aber auch Unverschleierte, Emanzipierte, mit fußfreien Röcken und Seidenstrümpfen. Von Zeit zu Zeit ein schwerbeladener Esel im Menschenzug, der hoffnungslose Prolet der Tierwelt, mit tiefgesenktem Kopf vorbeitappend. Gabriel glaubte, es sei immer derselbe Esel, der in Abständen einhernickte, und immer derselbe zerlumpte Kerl, der ihn am Halfter führte. Aber alle, diese ganze Welt, Männer, Frauen, Türken, Araber, Armenier, Kurden, die feldbraunen Soldaten im Gedränge, Esel und Ziegen, sie waren durch die gleiche Gangart zu einer unbeschreiblichen Einheit zusammengeschmolzen: ein langer Schritt, langsam und wiegend, der unaufhaltsam einem Ziele zustrebte, das sich nicht zu erkennen gab.

Und Gabriel erkannte die Gerüche seiner Kindheit. Den Geruch des siedenden Sesamöls, das aus den Löchern der Auskochereien über die Gasse peitscht. Den Geruch der knoblauchreichen Frikadellen von Lammfleisch, die auf Pfannen über offenen Feuern brutzeln. Den Geruch von faulendem Gemüse. Und den alles überlärmenden Geruch von Menschen, die nachts in denselben Kleidern schlafen, die sie tagsüber tragen.

Auch die leidenschaftlichen Gesänge der Straßenverkäufer erkannte er: »Jâ rezzah, jâ kerim, jâ fettah, jâ alim«, so schwärmte noch immer der Junge, der das ringförmige Weißbrot aus seinem Korbe feilbot: »O Allernährer, o Allgütiger, o Allerschließer, o Allwissender!« Noch immer pries der uralte Ruf die frischen Datteln an: »O Braune du, Braune der Wüste, o Mädchen!« Auch der Salathändler blieb bei seiner kehligen Feststellung: »Ed daim Allah, Allah ed daim!« Daß das Dauernde allein Gott, daß Gott allein das Dauernde sei, dies mochte den Käufer im Hinblick auf die Ware trösten. Gabriel kaufte einen Berazik, ein mit Traubensirup bestrichenes Brötchen. Auch an diese »Schwalbenspeise« besaß er eine Kindheitserinnerung. Beim ersten Bissen aber erfaßte ihn ein Ekel und er schenkte das Backwerk einem Jungen, der ihm begeistert auf den Mund sah. Er schloß für ein paar Sekunden die Augen, so elend war ihm zumute. Was hatte sich denn ereignet und die Welt ganz und gar verwandelt? Hier in diesem Lande war er geboren. Hier müßte er auch zu Hause sein. Aber wie? Der unaufhaltsam gleichmäßige Menschenstrom des Bazars machte ihm die Heimat streitig. Er spürte es, obgleich die in sich versunkenen Gesichter ihn gar nicht anblickten. Und der junge Müdir? Er hatte sich höchst korrekt und höflich benommen. »Die hochansehnliche Familie Bagradian.« Doch Gabriel glaubte jetzt mit einem Schlag zu erkennen, daß diese ganze Höflichkeit samt ihrer hochansehnlichen Familie eine einzige Impertinenz war. Ja mehr als das, Haß, in gebildete Formen verkleideter Haß. Und derselbe Haß umflutete ihn hier. Er brannte ihm auf der Haut, er verletzte seinen Rücken. Und wirklich, sein Rücken war voll plötzlicher Furcht wie der eines Verfolgten, ohne daß sich eine Menschenseele um ihn kümmerte. In Yoghonoluk, in dem großen Haus, bei sich selbst, da wußte er von alledem nichts. Und früher in Paris? Dort hatte er trotz alles Wohlbefindens in dem kühlen Zustand eines eingewanderten Fremden gelebt, der anderswo wurzelt. Wurzelte er hier? Jetzt erst, in diesem elenden Bazar seiner Heimat konnte er den absoluten Grad seiner Fremdheit auf Erden ganz ermessen. Armenier! Uraltes Blut, uraltes Volk war in ihm. Warum aber sprachen seine Gedanken öfter französisch als armenisch, wie zum Beispiel jetzt? (Und doch hatte er an diesem Morgen eine deutliche Freude empfunden, als sein Sohn ihm armenisch antwortete.) Blut und Volk! Ehrlich sein! Waren das nicht auch nur leere Begriffe? In jedem Zeitalter streuen sich die Menschen andre Ideen-Gewürze auf die bittere Lebensspeise, um sie noch ungenießbarer zu machen. Eine Seitengasse des Bazars öffnete sich vor seinen Blicken. Dort standen zumeist Armenier vor ihren Läden und Verkaufsständen: Geldwechsler, Teppichhändler, Juweliere. Dies also waren seine Brüder? Diese verschlagenen Gesichter, diese irisierenden Augen, die auf Kundschaft lauerten? Nein, für diese Bruderschaft dankte er, alles in ihm wehrte sich dagegen. War jedoch der alte Awetis Bagradian ehemals etwas andres und Besseres gewesen als solch ein Bazarhändler, wenn auch weitblickender, begabter, energischer? Und hatte er es nicht dem Großvater allein zu verdanken, daß er nicht so sein mußte wie dieser und wie jene hier? Er ging, von Widerwillen geschüttelt, weiter. Dabei wurde es ihm bewußt, daß eine große Schwierigkeit seines Lebens in dem Umstand lag; daß er manches schon mit den Augen Juliettens sah. Er war also nicht nur in der Welt, sondern auch in sich selbst ein Fremder, sobald er mit den Menschen in Berührung kam. Jesus Christus, konnte man denn nicht ein Mensch an sich sein? Frei von diesem schmutzigen, feindlichen Gewimmel, wie heute morgen auf dem Musa Dagh?

Nichts war entnervender als solch eine Probe auf die eigene Wirklichkeit! Gabriel floh den Usun Tscharschy, den langen Markt, wie der Bazar im Türkischen hieß. Den feindseligen Rhythmus konnte er nicht länger ertragen. Dann stand er auf einem kleinen, von neueren Bauten gebildeten Platz. Ein hübsches Gebäude trat hervor, Hamam, das Dampfbad, wie überall in der Türkei mit einiger Verschwendung errichtet. Es war noch zu früh für den Besuch beim alten Agha Rifaat Bereket. Da es ihn auch nicht gelüstete, in eines der zweifelhaften Speisehäuser einzukehren, trat er in das Badehaus.

Zwanzig Minuten verbrachte er in der großen allgemeinen Schwitzhalle, in dem langsam steigenden Gewölk, das nicht nur die Körper der anderen Badenden gespenstisch entfernte, sondern auch seinen eigenen Leib von ihm selbst fortzutragen schien. Es war wie ein kleiner Tod. Er fühlte die undurchsichtige Bedeutung dieses Tages. Die Tropfen rannen an seinem fernen Körper hinab und mit ihnen ein mühsamer Glaube, an dem er bisher festgehalten hatte.

Im kühlen Nebenraum legte er sich auf eine der leeren Pritschen, um sich der üblichen Behandlung anheimzugeben. Ihm war, als sei er jetzt nackter, wenn man das sagen darf, als vorhin im Dampf. Ein Badeknecht warf sich auf ihn und begann nach allen Regeln der Kunst, die wirklich eine war, sein Fleisch zu kneten. Mit trillernden Schlägen spielte er auf seinem Rumpf wie auf einem Zimbal. Zu dieser Begleitung summte er keuchend. Auf den Nachbarpritschen wurden einige türkische Beys in ähnlicher Weise bearbeitet. Sie schickten sich mit wohligen Wehlauten in den zornigen Eifer der Badeknechte. Zwischeninne – von jenen Schmerzlauten unterbrochen – führten die Stimmen in abgerissenen Sätzen eine Unterhaltung. Gabriel wollte zuerst gar nicht hinhorchen. Aber durch das Summen des Quälgeistes hindurch drängten sich die Stimmen seinen Ohren unabweisbar auf. Sie waren so überaus persönlich und so scharf voneinander unterschieden, daß Gabriel diese Stimmen zu sehn vermeinte.

Die erste, ein fetter Baß. Zweifellos ein selbstbewußter Charakter, der den größten Wert darauf legte, alles zu wissen, was vorging, womöglich noch vor den zuständigen Beamten. Dieser Mann der Informiertheit besaß seine heimlichen Quellen:

»Die Engländer haben ihn in einem Torpedoboot von Zypern an die Küste geschickt ... Bei Oschlaki war das ... Der Mann hat Geld und Gewehre gebracht und sieben Tage das Dorf aufgewiegelt ... Die Saptiehs haben natürlich von nichts gewußt ... Ich kenne sogar den Namen ... Köschkerian heißt das unreine Schwein ...«

Die zweite Stimme, hoch und ängstlich. Ein älteres, friedfertiges Männchen gewiß, das sich sträubt, an das Böse zu glauben. Die Stimme hatte gewissermaßen einen kleineren Wuchs als die anderen und sah zu ihnen auf. Für ihre lustvollen Schmerzlaute benützte sie den erhabenen Vers des Korans als unterlegten Text:

»La ilah ila 'llah ... Gott ist groß ... Das geht ja nicht ... Vielleicht aber ist es nicht wahr ... la ilah ila 'llah ... Man redet sehr viel ... Es wird auch nur ein Gerede sein ...«

Der fette Baß, verachtungsvoll:

»Ich besitze sehr ernste Briefe einer hohen Persönlichkeit ... eines treuen Freundes ...«

Dritte Stimme. Ein schnarrender Scharfmacher und politischer Kannegießer, dem es rechte Freude zu machen schien, wenn es auf der Welt drunter und drüber ging:

»Das kann man sich nicht länger gefallen lassen ... Es muß ein Ende gemacht werden ... Wo bleibt die Regierung? ... Wo bleibt Ittihad? ... Das Unglück ist die Wehrpflicht ... Man hat das Pack noch bewaffnet ... Jetzt sehet zu, wie ihr mit ihnen fertig werdet ... Der Krieg ... Ich rede mir schon seit Wochen die Lunge aus dem Leib ...«

Vierte Stimme, sorgenbeschwert:

»Und Zeitun?«

Das friedfertige Männchen:

»Zeitun? Wie das? ... Allmächtiger? ... Was gibt es denn in Zeitun?«

Der Scharfmacher, bedeutungsvoll:

»In Zeitun? ... Die Nachricht ist in der Lesehalle des Hükümet angeschlagen ... Jeder kann sich überzeugen ...«

Der informierte Baß:

»In diesen Lesehallen, welche die deutschen Konsuln überall eingeführt haben ...«

Von der entferntesten Pritsche her unterbrach eine fünfte Stimme:

»Die Lesehallen haben wir selbst eingeführt.«

Ein dunkler Rauch von unverständlichen Anspielungen: »Köschkerian ... Zeitun ... Es muß ein Ende gemacht werden.« Gabriel aber verstand, ohne die Einzelheiten zu verstehen. Während der Badeknecht die Fäuste in seine Schultern bohrte, drangen ihm die Türkenstimmen überlaut in die Ohren wie Wasser. Peinliche Scham! Er, der noch vor kurzer Zeit mit Blicken des Widerwillens an den armenischen Händlern des Bazars vorübergegangen war, fühlte sich nun verantwortlich und in das Schicksal dieses Volkes hineinverwickelt.

Der Herr auf der entferntesten Pritsche hatte sich indessen ächzend erhoben. Er raffte seinen Burnus, der als Bademantel diente, und machte auf Watschelfüßen ein paar Schritte in den Raum. Gabriel konnte nur sehn, daß er sehr groß und dick war. Seine Art, zusammenhängend zu reden, und die Art der anderen, ihn widerspruchslos anzuhören, ließ darauf schließen, daß man einen Hochmögenden vor sich hatte:

»Man tut der Regierung unrecht. Politik läßt sich nicht mit Ungeduld allein machen. Die Verhältnisse liegen ganz anders, als sich die Unwissenden im Volke einbilden. Verträge, Kapitulationen, Rücksichten, das Ausland! Ich kann aber den Beys vertraulich mitteilen, daß vom Kriegsministerium, von Seiner Exzellenz Enver Pascha selbst, Befehle an die Militärbehörden ergangen sind, melun ermeni millet (die verräterische Armeniernation) zu entwaffnen, das heißt die Eingerückten aus dem Liniendienst zurückzunehmen und nur zu niedriger Arbeit zu verwenden. Straßenbau oder Lasttragen. Dies ist die Wahrheit! Doch es soll von ihr nicht gesprochen werden.«

Das darf ich nicht hinnehmen, das kann ich nicht dulden, sagte sich Gabriel Bagradian. Leise mahnte die Gegenstimme: Du bist selbst der Verfolgte. Eine dunkle Kraft aber, die ihn von der Pritsche hob, entschied diesen Kampf. Er schüttelte den Badeknecht ab und sprang auf die Steinfliesen. Mit dem weißen Tuch verhüllte er sich um die Hüften. Das zornglühende Gesicht mit dem durch das Bad verwirrten Haar, der mächtige Oberkörper schienen dem Herrn im englischen Touristenanzug nicht mehr anzugehören. Er pflanzte sich vor dem Hochmögenden auf. An den schwarzbraunen Augensäcken und an der leberkranken Gesichtsfarbe erkannte er den Kaimakam. Dieser Anblick aber stachelte seine Erregung nur noch höher:

»Seine Exzellenz Enver Pascha wurde samt seinem Stab von einer armenischen Truppe im Kaukasus gerettet. Er war von den Russen schon so gut wie gefangen. Das wissen Sie ja ebenso wie ich, Effendi. Sie wissen ferner auch, daß Seine Exzellenz daraufhin in einem Schreiben an den Katholikos von Sis oder an den Bischof von Konia die Tapferkeit der sadika ermeni millet (der treuen Armeniernation) dankbar rühmte. Dieses Schreiben wurde auf Befehl der Regierung öffentlich angeschlagen. Das ist die Wahrheit! Wer diese Wahrheit vergiftet, wer Gerüchte verbreitet, der schwächt die Kriegführung, der zersprengt die Einheit, der ist ein Feind des Reiches, ein Hochverräter! Das sage ich Ihnen, Gabriel Bagradian, Offizier in der türkischen Armee ...«

Er brach ab und wartete auf eine Antwort. Die Beys aber, durch den wilden Ausbruch verdutzt, gaben keinen Laut von sich, auch der Kaimakam nicht, der nur den Burnus fester um seine Blöße zog. Gabriel durfte deshalb den Raum sogleich als Sieger verlassen, wenn auch bebend vor Erregung. Während er sich ankleidete, erkannte er bereits, daß er mit diesem Ausbruch eine der größten Dummheiten seines Lebens begangen hatte. Der Weg nach Antiochia war nun für ihn verschüttet. Und das war doch der einzige Aus- und Rückweg in die Welt. Er hätte, ehe er den Kaimakam beleidigte, an Juliette und Stephan denken müssen. Dennoch war er nicht ganz unzufrieden mit sich.

Sein Herz ging noch immer schnell, als ihn der Diener des Agha Rifaat Bereket in den Empfangssalon, den Selamlik des kühlen Türkenhauses führte. Auf dem schwebend weichen Riesenteppich des halbdunklen Zimmers schritt Gabriel auf und ab. Seine Uhr, die er unsinnigerweise doch immer nach westeuropäischer Zeit richtete, zeigte die zweite Nachmittagsstunde. Geheiligte Hauszeit also, Zeit des Kef, der unantastbaren Mittagsruhe, in der jeder Besuch einen schweren Verstoß gegen die Sitte bedeutete. Er war viel zu früh gekommen. Der Agha, ein unbestechlicher Hüter alttürkischer Förmlichkeit, ließ ihn auch warten. Bagradian durchmaß immer wieder den nahezu leeren Raum, in dem außer zwei langen, niedrigen Diwans nichts vorhanden war als ein Kohlenbecken und ein kleines Serviertischchen. Er rechtfertigte seine Unhöflichkeit vor sich selbst: Etwas geht vor, ich weiß nicht genau was, aber ich darf keine Minute verlieren, um mir Klarheit zu verschaffen.– Rifaat Bereket war ein Freund des Hauses Bagradian noch aus dessen Urzeit, aus den glorreichen Tagen des alten Awetis. Er bedeutete eine der klarsten und ehrfürchtigsten Erinnerungen Gabriels, der ihm seit seinem Aufenthalt in Yoghonoluk schon zwei Besuche abgestattet hatte. Der Agha erwies sich ihm nicht nur bei notwendigen Einkäufen behilflich, sondern sandte auch von Zeit zu Zeit Leute, die ihm für seine Antikensammlung kostbare Ausgrabungen anboten, und zwar zu lächerlich billigen Preisen.

Gabriel wurde durch den Eintritt des Hausherrn, der in dünnen Schuhen aus Ziegenleder unhörbar kam, in einem Selbstgespräch überrascht. Der Agha Rifaat Bereket, ein mehr als siebzigjähriger Mann mit weißem Spitzbart, fahlen Zügen, halbgeschlossenen Augen und kleinen, leuchtenden Händen, trug um den Fez ein gelbliches Seidentuch gewickelt. Es war das Zeichen des Moslems, der seine religiösen Pflichten genauer und regelmäßiger erfüllt als die breite Menge. Mit seiner kleinen Hand holte der Alte langsam, feierlich zum Gruße aus, berührte Herz, Mund und Stirn. Ebenso feierlich erwiderte Gabriel den Gruß, als bedränge keine Ungeduld seine Nerven. Daraufhin trat der Agha näher und streckte seine Rechte gegen das Herz des Gastes aus, so daß er mit den Fingerspitzen Gabriels Brust leicht berührte. Damit war der »Herz-Kontakt« angedeutet, die innigste Form persönlicher Fühlungnahme, ein mystisches Brauchtum, das fromme Leute von einem bestimmten Derwischorden übernommen haben. Dabei leuchtete die winzige Hand in der angenehmen Finsternis des Selamliks immer weißer. Gabriel kam es so vor, als sei diese Hand auch ein Gesicht, vielleicht sogar noch feiner und empfindsamer als das eigentliche.

»Freund und Sohn meines Freundes« – diese weit ausholende Ansprache war immer noch ein Teil der Empfangszeremonie –, »mit deiner Visitkarte hast du mir vorhin das Geschenk einer freudigen Überraschung gemacht. Und nun verschönert mir deine Gegenwart den Tag.«

Gabriel wußte, was sich geziemte, und fand für seine Antwort die richtige Responsorienform:

»Meine seligen Eltern haben mich sehr früh allein gelassen. In dir aber lebt mir ein lebendiger Zeuge ihres Andenkens und ihrer Zuneigung. Wie glücklich bin ich, in dir einen zweiten Vater zu besitzen.«

»Ich bin in deiner Schuld.« Der Alte führte den Gast zu einem Diwan. »Du erweisest mir heute zum dritten Male die Ehre. Schon längst wäre ich verpflichtet gewesen, dir in deinem Hause meine Aufwartung zu machen. Aber du siehst, ich bin ein alter, gebrechlicher Mann. Der Weg nach Yoghonoluk ist lang und schlecht. Auch steht mir eine große und dringende Reise bevor, für die ich meine Glieder schonen muß. Vergib mir also!«

Damit war der Ritus des Empfanges zu Ende. Man ließ sich nieder. Ein kleiner Junge brachte Kaffee und Zigaretten. Der Hausherr trank und rauchte schweigend. Die Sitte befahl, daß der jüngere Besucher mit seinem Anliegen warten müsse, bis der alte Mann die Möglichkeit gebe, das Gespräch in die gewünschte Richtung zu lenken. Der Agha aber schien noch nicht gesonnen zu sein, aus seiner halbdunklen Welt in irgendeine Wirklichkeit dieses Tages zu tauchen. Er gab dem Diener ein Zeichen, worauf dieser seinem Herrn eine kleine Lederkassette überreichte, die er schon bereitgehalten hatte. Rifaat Bereket ließ sie aufspringen und streichelte mit seinen beseelten Greisenfingern über den Sammet, auf dem zwei uralte Münzen lagen, eine silberne und eine goldene:

»Du bist ein sehr gelehrter Mann, der an der Universität von Paris studiert hat, ein Schriftenkenner und Schriftendeuter. Ich bin nur ein ungebildeter Liebhaber des Altertums, der sich mit dir nicht messen kann. Hier aber habe ich schon seit ein paar Tagen diese beiden Kleinigkeiten für dich vorbereitet. Die eine Münze, die silberne, hat vor tausend Jahren jener armenische König schlagen lassen, der einen ähnlichen Namen trug wie deine Familie: Aschot Bagratuni. Sie stammt aus der Gegend des Wan-Sees und man findet sie selten. Die andere, die goldene, ist hellenischen Ursprungs. Du kannst die schöne und tiefsinnige Inschrift auch ohne Vergrößerungsglas entziffern:

Dem Unerklärlichen in uns und über uns.«

Gabriel Bagradian erhob sich und nahm das Geschenk entgegen:

»Du beschämst mich, mein Vater! Ich weiß gar nicht, wie ich mich dankbar erweisen soll. Wir waren immer stolz auf den Gleichklang in unserem Namen. Wie plastisch der Kopf ist! Und ein echtes Armeniergesicht. Die griechische Münze müßte man als Mahnung um den Hals tragen. Dem Unerklärlichen in uns und über uns! Was für philosophische Menschen müssen das gewesen sein, die mit solchen Geldstücken gezahlt haben. Wie tief sind wir gesunken!«

Der Agha nickte, von solchem Konservativismus voll befriedigt: »Du hast recht. Wie tief sind wir gesunken!«

Gabriel legte die Münzen auf den Sammet zurück. Doch es wäre unhöflich gewesen, allzuschnell das Thema des Geschenkes zu verlassen:

»Ich würde dich innigst bitten, dir eine Gegengabe unter meinen Antiken auszuwählen. Aber ich weiß, daß es dir dein Glaube verbietet, ein Bildwerk aufzustellen, das einen Schatten wirft.«

Bei diesem Punkt verweilte der Alte mit einem unleugbaren Behagen:

»Ja, und gerade wegen dieses weisen Gesetzes mißachtet ihr Europäer unsern heiligen Koran. Liegt nicht in dem Verbot aller Bildnerei, die Schatten wirft, eine hohe Einsicht? Mit der Nachahmung des Schöpfers und der Schöpfung fängt jener rasende Hochmut des Menschen an, der zum Abgrund führt.«

»Die Zeit und dieser Krieg scheinen dem Propheten und dir recht zu geben, Agha.«

Die Brücke des Gespräches wölbte sich zu dem Alten hinüber. Er betrat sie:

»Ja, so ist es! Der Mensch als frecher Nachäffer Gottes, als Techniker, verfällt dem Atheismus. Das ist der wahre Grund dieses Krieges, in welchen uns die Abendländer hineingerissen haben. Zu unserem Unheil. Denn was haben wir dabei zu gewinnen?«

Bagradian prüfte den nächsten Schritt:

»Und sie haben die Türkei mit ihrer gefährlichsten Seuche angesteckt, dem Völkerhaß.«

Rifaat Bereket lehnte den Kopf ein wenig zurück. Seine zarten Finger spielten müde mit den Kugeln seines Bernsteinkranzes. Es war so, als ginge von diesen Händen ein matter Heiligenschein aus:

»Es ist die böseste Lehre, die eigene Schuld im Nachbarn zu suchen.«

»Gott segne dich! Die eigene Schuld im Nachbarn suchen. Diese Lehre beherrscht Europa. Heute aber habe ich leider erfahren müssen, daß sie auch unter Moslems und Türken ihre Anhänger hat.«

»Welche Türken meinst du?« Die Finger des Agha hielten jäh im Zählen des Rosenkranzes inne: »Meinst du das lächerliche Nachahmerpack in Stambul? Und die Nachahmer dieser Nachahmer? Die Affen in Frack und Smoking? Diese Verräter, diese Atheisten, die das Weltall Gottes vernichten, nur um selbst zu Macht und Geld zu kommen? Das sind keine Türken und keine Moslems, sondern nur leere Lästerer und Geldschnapper.«

Gabriel nahm die winzige Kaffeetasse zur Hand, in der nur mehr der dicke Satz schwamm. Eine Geste der Verlegenheit:

»Ich bekenne, daß ich mit diesen Leuten vor Jahren zusammengesessen bin, weil ich von ihnen das Gute erwartet habe. Ich hielt sie für Idealisten, und vielleicht waren sie es damals auch. Die Jugend glaubt immer an alles Neue. Heute aber muß ich die Wahrheit leider so sehn, wie du sie siehst. Vorhin war ich im Hamam Zeuge einer Unterhaltung, die mich tief bekümmert. Sie ist der Grund, warum ich dich schon zu dieser unpassenden Stunde aufgesucht habe.«

Der Klarsinn des Agha brauchte keinen deutlicheren Hinweis:

»War von dem geheimen Heeresbefehl die Rede, der die Armenier zum Last- und Straßendienst erniedrigt?«

Gabriel Bagradian entzifferte die Blumenrätsel des Teppichs zu seinen Füßen:

»Ich habe noch an diesem Morgen die Ordre erwartet, die mich zu meinem Regiment einberuft ... Dann wurde auch noch von der Stadt Zeitun gesprochen. Hilf mir! Was geht eigentlich vor? Was hat sich ereignet?«

Mit Gleichmut liefen die Bernsteinkugeln wieder durch die Finger des Agha:

»Was Zeitun betrifft, bin ich gut unterrichtet. Es hat sich ereignet, was sich in den Bergen dort alltäglich ereignet. Irgendeine Geschichte mit Räubergesindel, Deserteuren und Saptiehs. Unter den Deserteuren waren ein paar Armenier. Niemand hat früher auf derartiges geachtet ...« Langsamer werdend fügte er hinzu:

»Aber was sind Ereignisse? Sie sind nur das, was die Auslegung aus ihnen macht.«

Gabriel drohte aufzufahren:

»Das ist es ja! In der Einsamkeit, in der ich lebe, habe ich nichts davon erfahren. Niederträchtige Auslegungen werden versucht. Welche Absichten hat die Regierung?«

Der Weise schob diese erregten Worte mit einer erschöpften Handbewegung zur Seite:

»Ich werde dir etwas sagen, Freund und Sohn meines Freundes. Uber euch schwebt ein großes karmatisches Verhängnis, denn mit einem Teil eurer Wohnsitze gehört ihr zum russischen Reich, mit dem andern Teil zu uns. Der Krieg zerschneidet euch. Ihr seid zerstreut über die Länder ... Doch weil in der Welt alles verbunden ist, so sind auch wir eurem Verhängnis unterworfen.«

»Wäre es da nicht besser, wie wir's im Jahre 1908 versucht haben, nach Ausgleich und Versöhnung zu streben?«

»Versöhnung? Auch dies ist nur ein leeres Wort der Weltklugen. Auf Erden gibt es keine Versöhnung. Wir leben hier im Zerfall und in der Selbstbehauptung.«

Um diese Anschauung zu bekräftigen, zitierte der Agha mit vorschriftsmäßigem Singsang einen Vers der sechzehnten Sure:

»Und was Er schuf auf Erden, verschieden an Farbe, siehe, ein Zeichen ist wahrlich darin für Leute, die sich warnen lassen.«

Gabriel, der es auf dem Diwan nicht länger aushielt, stand auf. Die Augen des Alten aber, die solche Willkür erstaunt rügten, zwangen ihn wieder auf seinen Sitz.

»Du willst die Absichten der Regierung erkennen? Ich weiß nur, daß die Atheisten in Stambul den nationalen Haß für ihre Zwecke brauchen. Denn das tiefste Wesen der Gottlosigkeit ist Furcht und die Ahnung des verlorenen Spieles. Und so errichten sie in jeder kleinen Stadt Nachrichtenhallen, um ihren bösen Willen zu verbreiten ... Es ist gut, daß du zu mir gekommen bist.«

Gabriels Rechte umkrampfte die Kassette mit den Münzen:

»Wenn es nur um mich ginge! ... Doch, wie dir bekannt ist, stehe ich nicht allein. Mein Bruder Awetis ist kinderlos gestorben. Folglich ist mein dreizehnjähriger Sohn der Letzte unserer Familie. Auch ich habe eine Frau aus dem französischen Volk geheiratet, die nicht unschuldig in ein Leiden gestürzt werden darf, das sie nichts angeht.«

Dieses Argument wies der Agha nicht ohne Strenge zurück:

»Da du sie geheiratet hast, gehört sie nunmehr deinem Volke an und wird von seinem Karma nicht losgesprochen.«

Es wäre ein vergebliches Beginnen gewesen, diesen verstockten Orientalen über Wesen und Selbstbestimmung der abendländischen Frau aufklären zu wollen. Bagradian überhörte daher den Einwurf:

»Ich hätte die Meinigen nach dem Ausland oder wenigstens nach Stambul bringen sollen. Nun aber hat man uns die Pässe abgenommen und vom Kaimakam habe ich nichts Gutes zu erwarten.«

Der Türke legte seine leichte Hand auf das Knie des Gastes:

»Ich möchte dich ernstlich davor warnen, mit deiner Familie nach Stambul zu reisen, auch wenn du die Möglichkeit dazu hättest.«

»Wie meinst du das? Warum? In Stambul besitze ich viele Freunde in allen Kreisen, auch unter den Regierungsleuten. Dort hat unser Handelshaus seine Zentrale. Mein Name ist sehr bekannt.«

Die Hand auf Gabriels Knie wurde schwerer:

»Gerade deshalb, weil dein Name sehr bekannt ist, möchte ich dich auch nur vor einem kurzen Aufenthalt in der Hauptstadt warnen.«

»Wegen des Dardanellenkrieges?«

»Nein, deshalb nicht!«

Das Gesicht des Agha verschloß sich. Er lauschte nach innen, ehe er wieder das Wort nahm:

»Niemand kann wissen, wie weit die Regierung gehen wird. Aber, daß zuallererst die Großen und Angesehenen eures Volkes zu leiden haben werden, das ist sicher. Und ebenso sicher ist es, daß man in einem solchen Fall mit Anklagen und Verhaftungen gerade in der Hauptstadt beginnen wird.«

»Sprichst du nur Vermutungen aus oder hast du Anhaltspunkte für deine Warnung?«

Der Agha ließ den Bernsteinkranz in seinem weiten Ärmel verschwinden:

»Ja, ich habe Anhaltspunkte.«

Nun konnte Gabriel sich nicht mehr halten und sprang auf:

»Was sollen wir tun?«

Da der Gast stand, erhob sich auch der Hausherr:

»Wenn ich dir raten darf, so kehre in dein Haus in Yoghonoluk zurück, verweile dort in Frieden und warte ab! Du hättest unter diesen Umständen für dich und deine Familie keinen angenehmeren Ort wählen können.«

»Frieden?« schrie Gabriel höhnisch auf, »das ist schon ein Gefängnis!«

Rifaat Bereket wandte sein Gesicht ab, durch die laute Stimme in dem gedämpften Selamlik verletzt:

»Du sollst deine Besonnenheit nicht verlieren. Es tut mir leid, daß ich dich durch meine aufrichtigen Worte beunruhigt habe. Du hast zu irgendeiner Sorge nicht den geringsten Grund. Wahrscheinlich wird alles im Sande verlaufen. In unserem Vilajet kann sich nichts Böses ereignen, denn Djelal Bey ist Gott sei Dank der Wali. Er duldet keinen Übergriff. Was aber auch immer geschehen mag, es ist bedingt und eingeschlossen in sich selbst wie Knospe, Blüte und Frucht im Samenkorn. In Gott ist schon geschehen, was wir erst erleben werden.«

Geärgert durch die blumigen Allgemeinheiten dieser Theologie, lief Bagradian, nun alle Form außer acht lassend, auf und ab:

»Das Schrecklichste ist: man kann es nicht greifen, man kann nicht kämpfen dagegen.«

Der Agha näherte sich dem Verstörten und hielt seine Hände fest:

»Vergiß nicht, o Freund, daß die Lästerer aus deinem Komitee nur eine kleine Minderzahl sind. Unser Volk ist ein sehr gütiges Volk. Wenn auch immer wieder im Zorn Blut vergossen wurde, so habt ihr nicht weniger Schuld daran getragen. Und dann: Es leben Gottesmänner genug in den Tekkehs, in den Klöstern, und kämpfen in heiligen Zikr-Übungen um die Reinheit der Zukunft. Entweder werden sie siegen oder alles wird untergehn. Ich verrate dir auch, daß ich meine Reise nach Anatolien und Stambul in der armenischen Sache unternehme. Ich bitte dich um Gottvertrauen.«

Die kleinen Hände des Alten hatten die Kraft, Gabriel zu beruhigen:

»Du hast recht, ich werde dir gehorchen. Am besten, wir verkriechen uns in Yoghonoluk und rühren uns nicht fort, bis der Krieg vorüber ist.«

Der Agha ließ ihn noch immer nicht los:

»Versprich mir, zu Hause bei euch über alle diese Dinge nichts zu reden! Wozu auch! Bleibt alles beim alten, wirst du die Leute nur unnötig in Schreck versetzt haben. Kommt es zu irgendwelchen Unannehmlichkeiten, hat ihnen die Besorgnis nichts genützt. Du verstehst mich. Vertraue und schweige!«

Und auch beim Abschied wiederholte er dringlich:

»Vertrauen und schweigen! ... Du wirst mich viele Monate nicht sehn. Bedenke aber, daß ich in dieser Zeit für euch arbeiten werde. Ich habe von deinen Vätern viel Güte empfangen. Und nun läßt es Gott in meinem Alter zu, daß ich dankbar sein darf.«

Franz Werfel - Die vierzig Tage des Musa Dagh

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