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Fünftes Kapitel.
Wanderung und erstes Ärgernis

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Das Urteil Urijahs und die Worte der Seherin Hulda hatten Jirmijah die Augen geöffnet. Keine Täuschung und keine Untreue des Herrn war der Grund seines Leidens. In seinem eigenen mißverstehenden Ungehorsam lag die Ursache der schmerzhaften Gottesferne. »Gürte deine Lenden und geh!« Er selbst, Jirmijah, hatte diesen Befehl des Herrn zu oberflächlich gedeutet. Dieses »Geh« hieß nicht, wirf die Last ab, die jede Gemeinschaft bedeutet, somit auch die Last deines Vaterhauses, um in der Wüste mit dir allein zu sein. Dieses »Geh« bedeutet das Gegenteil: Nimm neue Last auf dich! Tu das, was dir bis nun am fernsten war, was dir am härtesten wird, was dich am tiefsten peinigt und ängstet. Was aber war dir bis nun am fernsten, was ist dir am härtesten geworden und hat dich am tiefsten gepeinigt und geängstet? Die Gemeinschaft der Menschen, die rohe, trübe, dem Göttlichen abgekehrte, die aus solchen besteht, die deine Brüder sind und ihnen gleichen. Der flüchtige Laut »Geh« wimmelte plötzlich von neuen Nebenbedeutungen: Geh zu den Menschen und sprich zu ihnen, was ich zu dir sprechen werde. Geh unters Volk und fürchte dich nicht, damit du dich nicht vor mir fürchten mußt, sondern vertraue auf mich! All das schien die Stimme der Berufung ihren Worten beigemischt zu haben.

Und Jirmijah machte sich auf, um dem Herrn zu gehorchen. In der schlaflosen Nacht vor diesem Aufbruch aber geschahen in seinem Geiste merkwürdige Klärungen. Er verstand mit einemmal Zusammenhänge, deren er durch keinen seiner Lehrer kundig geworden war.

Wohl hatten auch die Priester, die Lehrer und Schriftmeister in Israel eine undeutliche Kenntnis davon, daß den Anstoß für die Schöpfung des Weltalls »Gottes Freude« bildete, überschäumender Liebesdrang, ein Rausch des Verschwendens, menschlichen Sinnen verborgen. König Josijah hatte im inneren Vorhof dieses Wort als Losungsruf und Feldgeschrei des Passah ausgegeben. Und jedes Fest, das dem Herrn geweiht war, sollte ein Nachhall der urersten Liebesfreude sein, sollte ihn mahnend erinnern an die Gezeit vor aller Zeit, da er noch »wie ein junger Stier« im Ungeschaffenen weidete. Für Jirmijah aber war Gottes Freude nicht mehr eine Erkenntnis der Lehrer und Priester, ein nackter kalter Gedanke, der nichts Vorstellbares einschließt, sondern eine gewaltige Verzückung, die er vorher nicht gekannt hatte.

Wenn er jetzt auf seinen Wanderungen im Morgenrot vor ein Haus trat, die Sonne über den Hügelsaum tauchte und das matte Laub eines alten Eichbaums wie eine grüne Feuersbrunst aufknatterte, dann war Gottes Freude da. Wenn gegen Abend die Lämmerherden wie schwarz und weiße Wogenfluten über die anemonenreichen Bergweiden in die Niederung getrieben wurden, die Mahnung der Schatten wuchs, und um die Tränke das durstige Vieh sich drängte, dann war Gottes Freude da, unbekannt warum. Sie überfiel ihn beim Anblick spielender Kinder oder schreitender Frauen, die vorsichtig die vollen Tonkrüge auf den Köpfen wiegten. Jederlei Bild, einen Blick, ein Wort konnte sie zum Anlaß nehmen, um Jirmijah jäh zu überwältigen. Gottes Freude, der Ursprung der Weltschöpfung, der Brunnen der Anbetung und des Lobgesanges, die Einung des Hervorbringenden mit dem Hervorgebrachten, des Vaters mit seinen Kindern, die Befriedigung der tödlichen Ungeduld. Von seiner Freude ließ einen unendlich matten Abstrahl der Herr in Jirmijahs Verzückungen leuchten, damit er erkenne. Und er erkannte in diesen Augenblicken, daß es die urerste Absicht Gottes gewesen sei, seine Freude zum unabänderlichen und ununterbrochenen Zustand der Kreatur zu machen, zu einem ewigen Lied der selig erwiderten Liebe.

Was aber hatte sich ereignet, daß es so freventlich anders gekommen war? Der Mensch wollte sich nicht zufriedengeben mit diesem verzückten Zustand der Freude, der ihn den himmlischen Heerscharen gleichsetzte, wenn nicht über sie erhob. Eine schadhafte Stelle seines Wesens blieb dunklen Einflüsterungen offen, denen er erlag. Ihm genügte es nicht, zu sein, was er war, das Geschöpf. Er wollte hochmütig werden, was er nicht war, der Schöpfer. Mit dem Übergriff dieses Hochmutes zerstörte er die Ordnung des Herrn und sein eigenes Leben, das fortan die Herrschaft über die Erde verlor und dem Tode anheimfiel. Sollte da Zebaoth von Grimm nicht überkochen, daß sein ausgesondertes Geschöpf die Freiheit mißbraucht und ihm Ordnung und Plan zerstört hatte? Der Mensch auf der Erde entfernte sich von Gott. Und Gott im Himmel entfernte sich vom Menschen gleicherweise. Mit dieser Entfernung aber begann der Weltlauf. Es war wie ein Erfrieren, wie eine trostlose Verhärtung. Doch in der äußersten Verhärtung der Herzen, in der grimmigsten Öde des Weltfrostes war in den Menschen die Erinnerung an die erste Freude nicht gänzlich erloschen. Sie entzündeten Feuer auf ihren Altären und legten Brandopfer auf. Doch wem opferten sie? Den Baalim auf den Höhen, dem Mardukh und Nergal, Aschera und Hator, Ammun und Ptah, Dagon und Milkom und zehntausend anderen. Diese Abgötter unter den Völkern aber, diese schmutzigen Greuel, sie waren nichts andres als die Unreinheit der menschlichen Erinnerung an den Einzigen. Denn wo ein Götze und sein heidnischer Irrtum herrscht, da ist keine andre Macht da als die verstockte Ermüdung des Menschengeistes, der zu schwach ist, zum Herrn vorzudringen. Immer wieder bezwang das unendliche Erbarmen in Zebaoth seinen endlichen Zorn. Er sah, daß die Menschen zu schwach waren, zu ihm vorzudringen. Gnädig neigte er sich darum den Geschlechtern und erschien ihnen wie ein Suchender, um einen Bund des Gehorsams mit ihnen zu schließen. Doch Geschlecht um Geschlecht entzog sich ihm. Da beschloß er nach langmütigem Zuwarten, die Heillosen, die dem Heil Widerstrebenden zu vernichten, da sie für sich selbst arm und elend, für seinen erbarmenden Willen aber ohne Nutzen waren. Als er die Wasser dann über die Erde sandte, vierzig Tage und Nächte, und die Flut sich sammeln ließ, da jammerte ihn des Geschöpfes und er nahm einen Mann und das Seine von der Vernichtung aus, um mit dem Geretteten den ersten Bund zu stiften. Doch Noahs Söhne schon, sie, die noch Zeugen waren, brachen den Bund und mißachteten ihn. Der Weltlauf eilte dahin, und gar bald glich das Nachflutsgeschlecht den Vorflutsgeschlechtern aufs Haar.

Und der Herr erkannte, daß es nicht genüge, aus der Fülle der Geschlechter eines auszunehmen, weil in einem Menschenvater noch eine Spur der höchsten Erinnerung lebt und er darum ein frömmeres Leben führt als alle andern. Einen feineren Plan erwog der Ewige, um den Absturz des Weltlaufs aufzuhalten. Aus hundert und Hunderten Völkern, die nun die Erde bewohnten, holte er einen alten kinderlosen Mann, dem er einen späten Sohn schenkte, damit er die Kraft seiner Gottzugehörigkeit prüfe. Abraham aber versagte das Opfer des geliebten Sohnes nicht und bestand die unendliche Prüfung. So groß war das Verdienst dieses Opfers, daß es für den Herrn hinreichte, darauf ein ganzes Volk zu gründen und es auszusondern unter allen Völkern. Aus Abrahams Samen entstand Israel, um das Volk der Entwirrung des Weltlaufs, das Volk der Freude Gottes zu werden. Ihm wurden fortan Lasten des Stolzes und Lasten des Leides auferlegt, wie sie noch kein menschlicher Stamm ertragen hatte. Unter mächtigen und drohenden Nationen besaß es nichts andres als den zinstragenden Schatz von Abrahams Verdienst und sein Feingehör für die Stimme Adonais. Die Nationen aber haßten Israel mit der bittersten Bitterkeit ihres Hasses.

In der neuen Erhelltheit seines Herzens ahnte Jirmijah, daß dieser Haß über alle weltlichen Ursachen hinaus einen tieferen Grund besaß; man konnte diesen Haß den Völkern nicht einmal verargen. Warum hatte der Herr nicht an die prunkvolle Pforte Ägyptens, Assurs und Babels gepocht, um gehört und erkannt zu werden? Wenn sich auch die große Welt mit ihren goldenen, silbernen, steinernen, hölzernen Trugbildern abplagte, in ihrem innersten Herzen lebte doch immer noch die Erinnerung an die Erinnerung der einst offenbaren Wahrheit. Wie eine empfindsame Narbe war das, die schmerzhaft zusammenzuckt, wenn sie berührt wird durch das Wiedererkennen dieser Wahrheit: – »Einer, den kein Name nennt, hat Himmel und Erde, Tag und Nacht, Meer und Land, Tier und Mensch geschaffen. Er war immer und ist und wird immer sein.« – Diese einfache Wahrheit lebte in Israels Mund und nicht in dem weiseren oder gelehrteren Munde Ägyptens und Babels. Mußten das goldne Ägypterland, die hohe Babelstadt sich nicht schämen, daß nicht sie erwählt waren, anstatt verwickelten und erkünstelten Wahns die einfache Wahrheit zu bekunden? Sie schämten sich in ihrem verborgensten Herzen. Und da sie sich schämten, beneideten sie das nichtige Volk Jakobs um die Bekundung der Wahrheit. Und da sie beneideten, überhoben sie sich in ihrer Lüge. Und da sie sich überhoben, erniedrigten sie Israel.

Und Ägyptenland erniedrigte Abrahams Vaterhaus hundert und Hunderte Jahre lang zum abscheulichen Sklavendienst. Erniedrigung und Bedrückung aber waren es niemals, die den Plan des Ewigen und das Volk seines Planes gefährdeten. Aus ihnen schmiedete er seine siegreichsten Waffen. Und als die Zeit voll war, erweckte er dem Hause Jakobs einen Künder, wie niemals einer gewesen ist noch sein wird. Mose aber war der Brautführer, welcher der sehnsüchtigen Braut Israel in der Wüste voranschritt und sie dem Bräutigam entgegenführte zur Hochzeit von Sinai. Der Herr offenbarte Mose in klarem menschlichem Wort sein Gesetz und seine Ordnung, damit es fortan kein Straucheln und Irren gebe. Wurde diese Ordnung eingehalten und erfüllt, wurde sie immer feiner begriffen, immer reiner verwirklicht, wurde sie endlich durch die ihr innewohnende Einfachheit und Gültigkeit zur Ordnung der Welt, dann war es Israel vielleicht gegeben, das Zerstörte wiederherzustellen und das Reich Gottes zu errichten.

Dies aber war Israel nicht gegeben. Der Plan Gottes scheiterte am Menschen, wie der Mensch an Gottes Plan. Der ausgesonderte Weltlauf Israels drohte wie ein fauler Bach im allgemeinen Weltlauf der Völker zu verschwinden. Das landlose Volk hatte das Land seiner Väter vom Herrn erhalten, damit es mit der Entwirrung beginne. Doch siehe, nicht das Volk wurde mächtig über das Land, sondern das Land wurde mächtig über das Volk mit all seinen kleinen Götzen der Höhen, Hügel und grünen Bäume, mit den Teraphim der Städte und Häuser, mit den grausigen Tophetim der Täler. Von außen auch, von den umwohnenden Nationen her schwemmte in immer erneuerten Brandungen ein Meer der Verführung und Versuchung über Israel, damit es abstehe vom Einzigen und sich endlich angleiche. In dem Volke und in seinen Königen wuchs die Sehnsucht, abtrünnig zu sein und sich anzugleichen. Die Hauptzahl der Stämme des Herrn schnellte ab vom geheiligten Mittelpunkt und vereinte sich im Norden. Nur mehr der schwächere, geringere Teil, Jehuda und Benjamin, scharte sich um das erstarrte Gewitter der Lade im Allerheiligsten des Tempels. Die Abgeschnellten aber hielten auch ihre Gesichter abgekehrt. Gespenstisches Unkraut wurden ihnen zur Nahrung. So kam es, wie es kommen mußte. Was tut der Steinmetz, wenn sein Meißel an der Härte des Steins zerbricht? Er wirft ihn fort. Wozu die Aussonderung eines Volkes aus dem Weltlauf, das nur von der einzigen Sehnsucht beherrscht wird, sich einzufügen? Das Nordreich der zehn Stämme, um die prächtige Samaria hausend, war überflüssig, ja sinnlos geworden für Gottes Plan. Wehe dem, der da glaubt, der Herr liebe ein Volk mehr als das andre und er halte seine Hand über Jakob um Jakobs willen. Um seiner Welt willen hält er die Hand über Jakobs Rest. Doch wie lange noch? Über Samaria aber und die nördlichen Stämme sandte er seinen Gerichtstag. Nicht in entlegenen Tagen geschah dies, sondern vor grauenhaft kurzer Zeit, denn keine drei Menschenalter sind vergangen, seitdem der Großkönig von Assur wider Samaria lag, es zerstörte und das Volk tötete und in die Verbannung führte.

War dies nicht eine Mahnung, ein furchtbarer Fingerzeig, vor dem man bis ins Herz des Herzens erzittern mußte? Genügte es, mit frechem Leichtsinn auf Tempel, Opfer und Lade zu vertrauen, als sei der Herr ein menschlicher Hausvater, geizig und kleinlich, der seinen Schatz, was immer auch geschehe, aus der Feuersbrunst retten wird? Nein, der Brautschatz Israels war nicht sein eigener Schatz. Er bedurfte des Tempels, des Opfers, der Lade und der Lehre nicht. Versagte der Meißel Jehuda am Steine, so warf er auch ihn fort. Ichbinderichbin, er war nicht angewiesen auf Abrahams Samen, er konnte neue Pläne fassen, zu andern Werkzeugen greifen. Er konnte, wenn er dieser entlaufenen Schöpfung müde war, sie zwischen zwei Fingern zerdrücken wie das Flämmchen einer Lampe.

Seit seinem Besuche bei der Seherin Hulda hatten sich durch des Herrn Zutun all diese Geheimnisse in Jirmijahs Geist entschleiert. Der siedende Kessel des Nordens und die Androhung des Gerichts gewannen immer klarere Bedeutung. Er spürte in allen Gliedern, daß es spät in der Weltzeit geworden war, daß vielleicht nur noch ein Augenblick zur Verfügung stand, die zerstörende Kraft des Herrn abzuwenden. Ein einziger Hoffnungsstrahl erhellte die Angst. Der Ewige hatte es diesem gegenwärtigen Geschlechte verliehen, sich wieder finden zu lassen in der verlorenen Lehre. Ein letzter Versuch ohne Zweifel, das Volk zu erwecken. Das gegenwärtige Geschlecht hielt Tod und Leben in der Hand, und das Leben Jehudas hing an einem Haar.

Jirmijah hatte seine Jugend an Einsamkeit und innere Betrachtung gewendet. Schon als Kind war er vor jeder Gemeinschaft scheu zurückgewichen, selbst vor der seines Vaterhauses und seiner Sippe. Auf seinen Streifzügen hatte er sich oft nach liebender Einverstandenheit gesehnt. Saß er aber dann wieder an Hilkijahs Tisch und lauschte des Vaters Nörgeln, Obadjahs Erbitterung und Joels Prahlereien, dann vermochte er es kaum, die gehässige Qual hinabzuschlingen, die ihn erfüllte. Die andern nannten ihn einen Träumer und Schattenfänger, während sie von sich selbst behaupteten, dem Wirklichen, Sicheren und Fromm-Lebendigen dienend zugetan zu sein. Doch Jirmijah hatte es schon mit dreizehn Jahren geahnt (damals, als die ersten leisen Raunungen ihn zu bedrängen begannen), daß all das, was die Menschen das »Wirkliche« nannten, nur das Niedrige war, das Rückenwendige, das Gott-Abgewandte. Doch nun galt es, den Hochmut solcher Erkenntnis abzustreifen und sich mit nichts andrem vertraut zu machen als mit diesem »Wirklichen«. Denn rasch drohte die Frist des göttlichen Zuwartens zu zerrinnen. Darum tat es not, unter die Menschen zu gehn und sich vollzusaugen mit ihrer Abgekehrtheit, die sie das »Fromm-Lebendige« nannten, und eine große Wanderung zu beginnen, von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus, denn also hatte Hulda den Willen des Herrn über Jirmijah gedeutet. Und er beschloß, auf dieser Reise mit Baruch einen sehr weiten Kreis zu beschreiben, bis Adonai selbst befinden würde, es sei genug.

Nachdem die beiden jungen Männer das hochheilige Fest des Neuen Jahres noch in Jerusalem zugebracht hatten, machten sie sich im Herbstmonat auf und zogen südwärts. Über Bethlehem und Tekoa gelangten sie nach Hebron, wo die Karawanenstraßen von Ägyptenland zusammenliefen. Von Hebron stießen sie bis an die Grenze des Mittaglandes zum Salztal vor, das sie entlang bis zur Stadt Berscheba wanderten. Hier wich Jirmijah von dem geplanten Wege ab, denn ein großes Sehnen wandelte ihn an, das Meer des Herrn zu sehen, dessen Anblick er nicht kannte. Darum überschritten sie die Grenze Jehudas und wagten sich in das Land der Pelischtim bis in die menschenreiche Haupt- und Hafenstadt Gaza. Dort, am sandigen Gestade des Meeres, gewann Jirmijah ganz neue Einsichten vom Schöpfer und seinen Geschöpfen. War dieses bedrängende allausfüllende Wesen aus Wasser nicht auch ein Geschöpf Adonais, und eines dazu, das unendlich viel mehr Gewalt als der Mensch hatte, die ihm gesetzte Ordnung zu überschreiten? Siehe aber, das Ungeheuer blieb selbst im erschütternden Seesturm in seinen Grenzen. Ein sandiges Band säumte es ein. Und ob es auch wallte und ob seine Wogen auch tobten, sie fuhren darüber nicht hinaus, wenngleich es ein leichtes Spiel für sie gewesen wäre, das ganze Land zu verschlingen. Je ferner ein Geschöpf dem Menschen stand, und war's selbst das Ungetüm des Meeres, um so gehorsamer fügte es sich in die Ordnung des Herrn. In den Tagen, da sie in Gaza weilten, hielt sich Jirmijah zumeist an der Küste auf. Wenn die Winde pfiffen und die langen Brandungen rollten, dann konnte Baruch beobachten, wie sein sonst so verhaltener Meister, von seinem eigenen Seelensturm befallen, sich in den Sand warf, wieder aufsprang und mit erhobenen Armen, trunkene Worte lallend, dem Meere entgegentanzte. Damals begann der Jünger schon, auf solche selbstvergessene Worte Jirmijahs zu achten und sie sich genau einzuprägen.

Der Herr hatte in dem jungen Baruch seinem Ausgesonderten eine feste Stütze verliehen. Nur durch sein Zutun konnte eine Knabenseele heranwachsen, die keine selbstisch-verspielten Begierden und Wünsche besaß, sondern nur eine stürmische Begierde kannte, Jirmijah Gefolgschaft zu leisten und ihm wie ein Diener den Weg zu ebnen. Während der Monde ihrer Wanderschaft war (vielleicht auch dies durch Gottes wohlbedachte Mitwirkung) aus dem schwächlichen Jungen ein fester Mann geworden, dem unversehens ein flaumiger Bart zu sprossen begann. Man hätte ihn für gleichaltrig mit Jirmijah ansehen können. Im Sinne der Weltkundigkeit war er auch viel rascher gereift als dieser. Seine Geschicklichkeit und sein geschmeidiger Erdensinn halfen ihnen über Hunger und viele Nöte hinweg und schufen für Jirmijah immer neue Gelegenheit, sich mit dem Wirklichen der Welt vollzusaugen. Jirmijah hatte daheim die furchtbaren Worte gesprochen: »Mein Wunsch ist es, daß ihr meiner nicht mehr gedenken möget.« Er war mit gegürteten Lenden davongezogen, ohne das geringste von seinem Anteil zu fordern, weder vom Reichtum der Felder und Ställe, noch auch die Darwägung von gemünztem Silber oder Gold. Baruch aber stammte aus einem ärmlichen Vaterhaus. Sie besaßen nichts als ihre Reittiere und eine geringe Barschaft, die schon während der Wochen in Jerusalem auf einige Schekel zusammengeschmolzen war. Ohne Baruch hätte sich Jirmijah auf den Wegen und Stegen des Landes nur schwer fortgebracht.

Durch seine Sorglichkeit hatte es Baruch sogar erreicht, daß sie ihre Reittiere bis Gaza durchfüttern und behalten konnten. In der Philisterstadt aber kam auch die Stunde für Jirmijahs Eselin, der er zärtlich zugetan war. Baruch, der von Anfang an auf der Wanderung das weltliche Geschäft führte, hatte den Beschluß gefaßt, die Tiere samt Sattelzeug zu verkaufen, damit man im Besitze einiger Schekel sich ein wenig rühren könne. Nun wohl, einige Schekel waren nach Verkauf der treuen Grautiere wieder vorhanden, dafür aber lagen die staubigen, steinigen Karrenwege erbarmungslos vor den stolpernden Füßen.

Nachdem sich Jirmijah von der angestaunten Gottesschöpfung des Meeres endlich abgewandt hatte, schlugen sie wieder den Weg nach Osten ein und erreichten die feste Stadt Libna, die bereits diesseits der Marken Jehudas lag. In Libna erging es ihnen wohl. Über diese mächtige Festung war ein Mann als Stadtfürst gesetzt, der denselben Namen wie der Priestersohn aus Anathot trug. Jirmijah von Libna war überdies der Königin Hamutal Vater. Wie es die königliche Verfügung, alle Festungen betreffend, forderte, wurden die beiden Fremden sogleich dem Fürsten von Libna zum Verhör vorgeführt.

Nun wollte es der Zufall, daß der alte Jirmijah von Libna am königlichen Hofe zu Jerusalem durch den Mund seiner Tochter von den Dingen vernommen, die sich an der Passahtafel des Königs im Tempel zugetragen hatten. Der gelobte und gerügte Vorleser war ihm schon deshalb in Erinnerung geblieben, weil er denselben Namen trug wie er. Der Fürst von Libna, ein tapferer Kriegsheld in Jehuda, stand weit und breit im Rufe eines frommen Mannes, der nicht nur die Gebote hielt und ein tägliches Opfer im Tempel darbringen ließ, sondern es auch liebte, über Gottes wunderbares Wesen eigene Betrachtungen anzustellen. Daß er fern vom Heiligtum Adonais leben mußte, erschien ihm wie eine Verbannung. An dieser Verbannung entzündete sich sein ungezügelter Eifer. Er hatte vor dem Westtor Libnas, wo die Straße sich in die Ebene der Pelischtim senkt, ein steinernes Malzeichen errichtet. Auf diesem ragenden Steine waren die hohen Vorzüge des Gottes Jakobs schriftlich entgegengesetzt der Roheit und Ohnmacht von Dagon, dem obersten Gott Philistäas. Die Pelischtim, die der unerbittliche Weltlauf seit Davids Tagen zu einem handelsfriedlichen Völkchen herabgemindert hatte, nahmen tagtäglich Anstoß an diesem überheblichen Malzeichen, das ihnen die Nichtigkeit ihrer Gottheit herausfordernd vor die Augen rückte. Doch auch die beiden Jünglinge Gottes wurden durch die großmäulige Inschrift heftig abgestoßen. Der Schwiegervater des Königs aber lud sie in sein Haus, bewirtete sie trefflich und verbrachte Abend für Abend in gieriger gottbetreffender Unterredung mit Jirmijah. Dieser erkannte gar bald, daß der Fürst von Libna trotz seines Treuglaubens und Eiferns die tölpelhaftesten Vorstellungen vom Herrn hegte, die einem Dagon ohneweiters hätten gelten können. Er wollte nicht begreifen, daß der Gott Israels kein Gott ausschließlich für Israel, sondern ein Gott der ganzen Welt durch Israel ist. In den Augen des alten Kriegers war Zebaoth ein schnaubender Heerfürst, der rachedurstig seinen Feinden (und alle Völker waren seine Feinde) Hinterhalt legte und ihnen in die Flanken fiel, damit sein eigenes Volk sie übermöge. Der junge Jirmijah wagte Einwendungen. Darüber wurde der alte Jirmijah hitzig und stritt rechthaberisch, bis der junge erkannte, daß die Wahrheit nur jene Geister überzeugen kann, die selbst einen Anteil an ihrer Höhe besitzen. Erschrocken lernte er durch diese Begegnung, wie es um die Großen und Gerechten in Jehuda stand.

Doch trotz dieser Reibereien entließ sie der Fürst nach dem zweiten Sabbath mit väterlicher Freundlichkeit und allerlei kleinen Geschenken. Beim Abschied forderte er sie sogar auf, sich in Zeiten der Not und Verfolgung unter seinen Schutz zu stellen: »Denn nur wenige Fürsten Jehudas«, schloß er, »erkennen den Herrn, deinen Gott, wie ich ...«

Jirmijah und Baruch wanderten zuerst von Libna eine Tagereise nach Osten, mitten ins jehudäische Land, wo sie einige Zeit in der angesehenen Stadt Lakisch verweilten. Hier hatten sie gute Gelegenheit, dem großen Abfall gerade ins Auge zu sehen, dem sie sonst nur in scheueren Formen begegneten. Die Gebote der alten und der wiedergefundenen Lehre schienen an die Tore von Lakisch vergeblich gepocht zu haben.

Im Gegensatz zu Jerusalem aber ging hier der Greuel nackt und offen. Die Männer hielten den Sabbath nicht. War es möglich, gab es so rohe Seelen in Jehuda, daß sie die Wohltat des Ruhetages nicht begriffen, das feierliche Geheimnis der Schöpfungsstille, die Heiligung des Innehaltens, die alles Wirkliche und Werkliche besiegt, damit die Rückenwendigen für ein paar Stunden sich umkehren in die wahre Richtung?! Ach ja, es gab so rohe Seelen und rohere noch. Die Reichen von Lakisch bewucherten ihre Brüder. Sieche und Hungrige verreckten in den Straßengräben, ohne daß ihnen geholfen wurde. Am schlimmsten aber trieb es das Weibervolk von Lakisch. Es ließ den Herrn den Herrn sein und huldigte mit halsstarriger Ausschließlichkeit Aschera, der Himmels- und Sternenkönigin. Die kühne Abtrünnigkeit ging so weit, daß diese Frauen, trotz des Königs strengem Reinheitsbefehl, das große Fest ihrer Aschtaroth, der »Herrin des Himmelsblaus und Saatengrüns«, nicht in flüsternder Abgeschiedenheit, sondern in prachtfarbigen Umzügen und mit jubelnden Opfertänzen feierten. Da wurden in tagelanger Zurüstung Tausende von sternförmigen Obstkuchen gebacken und in bauchigen Krügen ein weise gemischtes Rauschbier gebraut, das die Sinne der Geschlechter erhitzte. Kuchen und Bier, geweihte Bilder und Blumen bot man den Gästen der Göttin in größter Freigebigkeit an. Es war zu allem noch ein Sabbath, als Jirmijah unter die Festfeiernden geriet, die sich auf einer freien Anhöhe zu unblutigem Räucheropfer, zu süßem Schmaus und noch süßerem Taumel eingefunden hatten. Der volle Mond, dieser Gönner und Freund der Frauen, hatte sich wohlwollend fast zum Tagesgestirn aufgebläht. Hier trat Jirmijah zum erstenmal einem Volk mit einer Mahnung entgegen, sehr zag, sehr schüchtern (es waren ja Frauen), und mit großem Mißerfolg. Als ihm ein Mädchen lächelnd einen Sternkuchen und ein geweihtes Bildchen hinreichte, verbarg er erschrocken die Hände auf dem Rücken.

»Was tut ihr da«, stammelte er, »warum tut ihr diesen Greuel? ... Und heute, am geheiligten Tag ... Das Verderben zieht ihr herab ...«

Das Mädchen erforschte Jirmijahs Antlitz mit solcher Freiheit, daß er die Augen niederschlug. Nach dieser Prüfung rief sie:

»Weh, du Langwimpriger ... Bist du einer von den Schnüfflern und Muckern? ... Sollen wieder einmal die Tempelpriester auf Lakisch gehetzt werden? ... Schwestern, hierher!«

Im Nu fühlte sich Jirmijah von atmenden Frauenleibern, Duft und zornigem Gelächter umdrängt. Er wurde wie von einer Woge vorwärtsgerissen und stand endlich vor einem Hochsitz unter dem Laubdach einer Sykomore, auf dem das Weib des Stadtfürsten vom Lakisch thronte, die Erzpriesterin der heimischen Aschera. Diese Frau, trotz ihres hohen Ranges noch jung, hörte auf den Namen Frustra. Sie trug ein hauchzartes, mit silbernen Sternen und goldenen Ähren besticktes Schleiergewand. Jirmijah fiel es auf, daß durch das hochgekämmte, schmuckdurchwirkte Schwarz ihres Haares eine schmale graue Strähne schimmerte. Sie hob eine langgefiederte Hand, an deren Gelenk die Goldreifen klirrten:

»Ein Mann Adonai Elohims also? ...«

Erst nach einem Schweigen gab Jirmijah Antwort:

»Ich hoffe, ein Mann des Herrn zu sein und zu werden ...«

»So möge mich dieser junge Mann Adonai Elohims vernehmen«, begann Frustra mit einem Ton spöttischer Müdigkeit. »Ich glaube nicht, daß du mir etwas Neues verkünden wirst. Was du und deinesgleichen denken, das wissen wir alle nur zu gut. Unbekannt hingegen sind euch unsere Gedanken. Denn alle Eiferer schlagen nur auf ihre eigenen Einbildungen los, dem heiligsten Wesen aber bleiben sie fern ... Wohl uns, daß wir zu Aschera halten! Denn die Himmelskönigin selbst ist ja Friede und Freundlichkeit und die Mutterliebe des großen Herzens. Warum sollen wir von ihrer Mutterliebe abfallen? Wir nehmen Adonai, dem Gott unsrer Väter, nichts fort, wenn wir zu Aschera ehrend emporblicken. Sichtbar geht ihre Macht auf über uns, so sanft, so hell. Er aber geht nicht sichtbar auf uns über. Dafür wird er keifend hörbar im zahnlosen Mund bitterböser und herrschsüchtiger alter Männer ... Du willst mich doch nicht unterbrechen, junger Mann Gottes? ...«

Jirmijah hatte nur einen beklommenen Laut ausgestoßen.

»Es ist gut so«, nickte Frustra befriedigt, »denn mit einer brauchbaren Antwort könntest du mich gar nicht unterbrechen. Lerne darum du von uns! Lebt irgendein Same durch sich selbst fort? Nein, er stirbt ab, wenn er kein Ei findet, in das er eingeht. Macht nicht die Nacht den Tag erst zum Tage, die Dunkelheit das Licht erst zum Licht? Wie könnte Adonai, der göttliche Mann, walten, ergänzte ihn Aschera nicht, das göttliche Weib? Sie erhört die heimlichsten Bitten der Frauen. Sie bildet die Milch in den Brüsten, damit die Säuglinge der Menschen und Tiere nicht verschmachten. Und sie bildet noch eine süßere Milch in unsern gar oft traurigen Herzen, die wir da nennen ›den Trost der Sternenherrin‹ ... Nun aber will ich hören, ob du mir etwas Neues zu künden hast, junger Mann Gottes? ...«

War jetzt die Zeit nicht gekommen, daß der Herr ihm die schwere Zunge löse? Jirmijah hob mit gerunzelter Stirne den Kopf und lauschte. Nichts! Noch war die Zeit nicht gekommen. Und er sagte:

»Was du da tust und redest, Herrin, mit schönen Reden, ist Greuel. Laß davon und brich ab dieses Fest ... Denn keines schlimmeren Greuels wegen ist Israels Volk von Ephraim bis Dan vernichtet worden ...«

Jirmijahs Wort und nicht Gottes Wort! Gesagt und nicht gekündet! Die Weiber in der Runde, die wenig davon verstanden, murrten nicht einmal. Die Fürstin aber hatte ruhig ihre spitzigen Knie betrachtet, die unter dem Schleierkleid hervortraten. Nun schüttelte sie enttäuscht den Kopf:

»Deine müßige Rede wird Ascheras Fest nicht stören, sondern fördern ... Willst du aber meinen Rat, so suche dir eine Gespielin, damit sie dich in der Himmelskönigin seliges Wesen einweihe ...«

Frustra gab ein Zeichen, den unterbrochenen Lichterreigen fortzusetzen. Baruch hielt es für geraten, noch in selbiger Nacht die Stadt mit Jirmijah zu verlassen.

Sie wandten sich nordwärts, indem sie das Hochland und Jerusalem in weiter Ferne zur Seite ließen. Die Städte und Landschaften von Socho, Jarmuth, Timna, Bet Schemen und Zora öffneten sich ihnen, mit ihren starken Burgen. Da sie schon bald nach Lakisch ihren letzten Schekel verbraucht und die Gastgeschenke des Fürsten von Libna verzehrt hatten, suchte Baruch in den Städten und Dörfern allerlei Arbeit, von der er jetzt freilich seinen Meister nicht mehr fernzuhalten vermochte. Nun ermaß Jirmijah mit Leib und Seele, wie herrlich das Angebot war, das der Gott des Himmels und der Erde seinem Volke gemacht hatte und mit welcher Niedertracht dieses Volk das herrliche Angebot mißachtete und ausschlug. Israel hätte nichts andres zu tun gehabt, als die Grundgesetze der göttlichen Lehre zu befolgen, und sein Reich wäre für alle Zeiten fest gegründet gewesen. In der Lehre stand geschrieben: »Bezahle deinen Arbeiter noch bevor die Sonne untergeht, damit seine Seele nach dem Lohn nicht verschmachte.« Wie oft mußte Jirmijah es jetzt selbst erfahren, daß ihm sein Arbeitsherr den Lohn nicht vor Sonnenuntergang ausbezahlte und nach Sonnenaufgang vom Ausbedungenen etwelches abzwackte. Es stand in Gottes Angebot an Israel geschrieben: »Wenn sich dir ein Bruder, Mann oder Weib, als Leibeigener verkauft, so soll er dir sechs Jahre lang dienen. Im siebenten Jahre aber entlasse ihn frei von dir. Und wenn du ihn frei entließest von dir, so möge er nicht leer ausgehen. Denn mitgeben sollst du ihm von deinen Schafen, deiner Tenne und deiner Kelter, womit dich gesegnet der Herr, dein Gott, davon sollst du ihm Anteil geben. Gedenke, daß du selbst ein Sklave warst im Lande Ägypten und der Herr, dein Gott, hat dich erlöst ...« Dieses stand in der wiedergefundenen Lehre geschrieben. Jirmijah aber sah mit eigenen Augen, daß nirgends im Lande ein Besitzer lebte, der nach sechs Jahren seine Hörigen freiließ, außer sie waren alt, gebrechlich und siech. Mit brennender Scham vergegenwärtigte sich Jirmijah, daß sein eigener ehrwürdiger Vater, ein Priester Gottes, um kein Haar besser handelte als alle andern Besitzer im Lande. Immer wieder kam ein Jobeljahr, der Sabbath der Jahrwoche, und auf dem Hügel von Anathot wurde keinem der Hörigen Freilaß, keinem der verbraucht Scheidenden Anteil geschenkt. Er selbst hatte als Knabe einst die Frage daheim gestellt, warum von den Geboten gerade dieses nicht gehalten werde. Der Vater war auf diese Frage verstummt. Obadjah hatte sie mit mürrischen Worten abgetan: In schweren Zeiten möge jeglicher froh sein, wenn er Brot und Dach habe. Joel aber, um feinere Gründe bemüht, hatte auf das Ausland hingewiesen: Was würden die Großen Ägyptens, Assurs und Babels dazu sagen, wenn das kleine Jehuda durch dergleichen Wohltaten die Sklaven der Nachbarschaft begehrlich machte? Waren diese Antworten schon für den Knaben nicht überzeugend, heute, da er sah und hörte, heute erbitterten sie ihn. Unruhe kam über sein Herz, das sich in eine große Schuld mitverstrickt fühlte.

Doch dies war noch lange nicht alles. Stand nicht auch in der Lehre geschrieben: »Wenn unter dir ein Dürftiger sein wird, irgendeiner deiner Brüder, in den Städten des Landes, das der Herr, dein Gott, dir gibt, so verhärte nicht dein Herz und verschließe nicht deine Hand vor dem dürftigen Bruder.« Jirmijah aber sah auf seinen Wanderungen von Stadt zu Stadt, daß mit diesem Liebesgebote, gerade weil es nicht sehr schwer zu erfüllen war, der schlimmste Frevel getrieben wurde. Auch hier verkehrte der Mensch in seiner widerlichen Arglist Gottes reines Angebot ins Gegenteil. Die Armut nämlich war zu einem Gewerbe geworden, und das Wohltun zu einer Prahlerei.

Nicht anders als den wahrhaft Armen erging es den Landfremden, den Witwen und Waisen, kurz allen, über die das Gesetz des Herrn die schützende Hand hielt. Nicht blieb auf den abgeernteten Äckern ein Teil der Fechsung liegen als heilige Steuer für die Schamhaften, die in ihrer Verlorenheit alle Ruth glichen, der hohen Ährenleserin. Hatte aber irgendwo ein »sehr Frommer« dem Gebote entsprochen, so lag ein Armvoll ausgeraufter Feldfrucht auf dem Markstein, zu schlecht für das Vieh. Und dies war schlimmer als nichts, denn wiederum verdarb damit einer das Reine ins Unreine.

Langsam von Ort zu Ort wandernd, hatten Jirmijah und Baruch in hundert Begegnungen und Gesprächen, in Hof und Haus, mit Arbeit und Muße sich vollgesogen an dem Wirklichen, das heißt dem Niedrigen und Abgekehrten, das die Menschen beherrschte. Jirmijah aber beschloß, noch nicht nach Jerusalem zurückzukehren, sondern in das alte Nordreich der weggeführten zehn Stämme Israels vorzudringen. Ein sehnsüchtige, mit Grauen vermischte Neugier hatte ihn gepackt, Zebaoths Fluch- und Vernichtungswerk an Ort und Stelle zu erblicken. Für die Stämme Ephraim und Manasse trug Jirmijah seit je ein kindliches Mitleiden im Herzen, waren sie doch Brudersöhne Benjamins, in dessen Land er daheim war. Nun aber erkannte er erst, wie hart Zebaoth an Ephraim und Manasse sein Urteil vollzogen hatte. Trotz Tod und Verschleppung von Tausenden Vaterhäusern war das dortige Volk Israels nicht abhanden gekommen, es hatte sogar in den letzten Geschlechtern seine Zahl vermehrt. Ephraim und Manasse führten ein Leben, aber es war das Leben der Unterwelt, des Scheol, ein Leben geheimnisvoller Verwahrlosung.

Ephraim lebte noch immer mit dem Rücken zum Tempel und auch jetzt noch fiel es ihm nicht ein, sich umzukehren. Es unternahm keinen Versuch mehr, sich am Herrn aufzurichten, sondern streckte seine Glieder aus, dem Fluche dumpf hingegeben. Israels Züge lebten noch in diesen Gesichtern. Sie waren aber gleichgültig, entstellt und durch viele Zumischungen verwischt. Die verlorenen Stämme waren da, ohne dazusein. Mit pressender Beklemmung in der Brust ahnte Jirmijah: Wenn die letzte Frist des göttlichen Zuwartens abgelaufen ist, dann wird dieses auch die Zukunft Jehudas sein, wenn nicht abscheulicher noch und trauriger und scheolmäßiger.

Und als Baruch und er nach rascher Wanderung endlich auf den mächtigen Trümmern von Samaria standen, da drückte ihn diese Beklemmung vollends zu Boden. Dies also war die Hauptstadt des Reiches Israel, die sich an Glanz mit Babel, Noph und Niniveh messen wollte. Der Königspalast Jerobeams und manch andrer Prunkbau stand zum Teil noch aufrecht. Doch je unversehrter ein Gebäude schien, um so größer war das Entsetzen der Leere, das es verbreitete. Samaria war verlassen, nicht nur von den Menschen, sondern in schrecklicher Strenge gottverlassen, von Gott verlassen. Adonais Nachfolger waren Schakale, wilde Hunde, Schlangen und Skorpione, die jeden Schritt bedrohten. Jirmijah, der auf einem Steinblock saß, hatte längst nicht mehr Samarias Ruinen vor Augen. Er sah Jerusalem brennen. Er blickte auf den Trümmerhaufen des Tempels. Sein Zwerchfell zitterte. Wie lange noch? Er dachte an Urijahs Worte: Warte, und wenn du bis zu deiner Todesstunde warten müßtest. Er war bereit zu warten. Doch seine Seele stöhnte zum Herrn: Worauf wartest du?

Adonai schwieg. Ein wilde Fluchtbegier erfaßte Jirmijah, die Stätte der Verwerfung zu verlassen und auf dem schnellsten Wege Jerusalem zu erreichen. Sie brachen sogleich auf. In Kirjat Jearim aber, knapp vor den Toren der Hauptstadt, mußte Jirmijah noch ein Bild des Abfalls sehen, das alles, was er auf seiner Wanderschaft an Wirklichem in sich gesaugt hatte, weit übertraf.

Am Eingang dieser Ortschaft erhob sich ein stattliches Haus, in dessen Tor ein nicht minder stattlicher Mann stand, der, seine Augen beschirmend, auf die Straße hinaussah und späte Wanderer eigens zu erwarten schien. Der Anblick der beiden müde herantrabenden jungen Männer schien ihn mit Freude zu erfüllen, obwohl oder gerade weil ihr Kleid und Schuhwerk nach so langer Reisezeit einen herabgekommenen Eindruck machte. Die scharfen Augen des Stattlichen, der immerfort seinen wohlgepflegten welligen Weißbart liebkoste, erkannten sofort, daß es sich nicht um gewöhnliche Landstreicher oder Umhertreibende handelte, sondern um gebildete Jünglinge, die vielleicht im Herrn Erfahrungen sammelten oder sich eines Gelübdes wegen auf entsagungsreicher Wanderung befanden. Welch eine Gelegenheit, durch Bewirtung solcher Männer sich ein Verdienst zu erwerben! Der Stattliche ließ Jirmijah und Baruch nicht weiterziehen, obgleich Jerusalem nur mehr eine Wegstunde entfernt war. Mit väterlicher Freundlichkeit lud er sie in sein Haus. Dort erhielten sie eine wohlausgestattete Kammer mit schwellenden Ruhelagern. Sie wurden in einen prächtigen Baderaum geführt, der nach warmem, wohlriechendem Wasser und ausgesuchten Spezereien duftete. Diener bemühten sich um die Badenden. Ihre Leiber wurden gewaschen, mit rauhen Tüchern abgerieben, gesalbt und geknetet. Man schor ihnen Haar und Bart. Die Wunden, die ihnen der lange Marsch an Beinen und Füßen zugefügt hatte, wurden sorfältig mit allerlei Balsaminen gepflegt. Zuletzt erhielten sie noch frische Leibröcke und Sandalen. Als sie dann bei der Abendmahlzeit am Tische ihres reichen Gastgebers saßen, fühlten sie sich knabenhaft erfrischt und neugeboren. Jirmijah pries in seinem Herzen die Güte des alten Mannes, obwohl ihn die Gebärde leise störte, mit welcher er seinen weißwelligen Schönbart zärtlich befingerte. Selten aber hatte man einen Landwirt oder Besitzer ohne Priesterrang gesehen, der so tief eingeweiht in die Lehre war, der dem Gottgespräch so überraschende Wendungen zu geben wußte und bis lang nach Mitternacht mit geziemendem Ausdruck und würdiger Zerknirschung neue Gebete zum besten gab. Der stattliche Gottesschmeichler hieß Meschullam, Sohn Malluchs. Seit den siebzig Sabbathen ihres Wanderweges hatten Jirmijah und Baruch nicht so gut geschlafen wie in dieser Nacht und auf den prächtigen Mittahs Meschullams.

Im Morgengrauen weckte sie das traurigste aller Chorlieder, das den drohenden Untergang Israels zu beklagen schien. Die beiden Schläfer sprangen auf und verließen das Haus, um diesem herzwürgenden Gesange und seinen Urhebern nachzuforschen. Hinter Meschullams Herrenhaus dehnte sich ein weiter verbrannter Anger, und in diesen Anger waren zwölf Deichselmühlen eingelassen, wie sie seit Urzeiten im Lande Jehuda in Gebrauch standen. Ein fest gemauerter, unbeweglicher Mühlstein unten und darüber nicht minder wuchtig, ein beweglicher oberer Mühlstein, der um eine Nabe läuft, und von einer langen Deichsel in Betrieb gesetzt wird. Zumeist wurden an diese Mühldeichseln Rinder gespannt, die den ganzen Tag lang im Kreise trotteten. Jirmijah und Baruch aber sahen an den zwölf Deichseln keine Rinder, sondern Männer, nackte, schweißglänzende Riesengestalten, zwölfmal das Bild Simsons, des Gewaltigen. Als sie aber näher hinsahen, da zeigte es sich, daß sie im wahren Sinne simsonhafte Riesen erblickt hatten, denn alle zwölf Deichselsklaven, die ihr trauriges Geheul zum Morgenhimmel erhoben, waren blind. Im Innersten betroffen, rief Baruch den Blinden schaudernd zu:

»Wer seid ihr und wem gehört ihr an?«

Die zwölf Simson-Riesen hielten gleichzeitig in der Arbeit und im Gesang inne. Mit stierhafter Langsamkeit wandten sich der fragenden Stimme zwölf Köpfe zu. Es waren die Köpfe durchwegs alter Arbeitssklaven. Wund und von Fliegen umsurrt, stierten vierundzwanzig leere Augenhöhlen. Die Hörigen gaben im Chor Antwort:

»Wir gehören Meschullam, dem Müller, zum Eigentum ...«

Baruch schrie jetzt seine Frage fast, als müsse man diese leeren Augenhöhlen mit übergroßer Deutlichkeit ansprechen:

»Und seid ihr alle blind geboren?«

In die zwölf Riesen kam eine sonderbare Tanzbewegung. Sie wiegten und wanden sich hin und her, ehe es aus ihnen herausheulte:

»Wir sind nicht blind geboren. Als wir noch jung waren, hat uns Meschullam, der Müller, geblendet, mit Feuer und Eisen, mit Eisen und Feuer.«

»Sie sprechen wahr ...«

Die würdige Stimme Meschullams sagte diese Worte. Der fürsorgliche Wirt, dessen Wellenbart nachtsüber nicht in Unordnung geraten war, hatte die Gäste gesucht und gefunden. Mit seiner winzig weißen und sanften Hand wies er auf die Blinden:

»Wenn diese Männer geblendet sind und nicht mehr sehen können, dann fällt ihnen die harte Arbeit leichter und sie vollbringen mehr. Sehende aber, die immer im Kreise laufen, sie schlägt der Herr gar oft mit Wahnsinn. Dies habe ich von den Völkern gelernt, in den Städten Babels und Ägyptens ...«

Letzteres hatte Meschullam mit selbstgefälligem Wohllaut gesprochen, als erwarte er von seinen jungen Gästen Lob für solch gediegene Nachahmung der klugen und fortgeschrittenen Großvölker. Er sah Jirmijah mit freundlicher Überlegenheit an und schien nicht zu ahnen, daß er durch seine Tat allein die Lehre Gottes vernichtet hatte und das Ende herbeiführte. Jirmijah sagte nichts, sondern legte nur den Leibrock und die Schuhe ab, die er in Meschullams Haus zum Geschenk erhalten, und ließ sie zu Füßen seines hocherstaunten Wirtes liegen. Baruch tat ebenso. Nach dieser letzten Erfahrung ihrer Wanderschaft betraten sie dann barfuß und nur mit dem Mantel ihre Blöße deckend, die Stadt Jerusalem durch das Tor Ephraim.

Was während Jirmijahs langer Wanderung durch die Länder nicht geschehen war, geschah am ersten Tage in Jerusalem. Adonai schien durch das Unternehmen seines Ausgesonderten, sich mit allem Wirklichen vollzusaugen, nunmehr zufriedengestellt. Doch das, was geschah, geschah für den Harrenden in unerwarteter Weise. Zu Adonais Wesen gehörte es, sich nie zu wiederholen.

Jirmijah hatte in der stufenreichen Unterstadt, im Handwerkerviertel, eine kleine Kammer oberhalb einer Töpferei bezogen. Da das Tonformen kein hämmerndes und klapperndes, sondern ein stummes Handwerk war, hoffte er in seiner Kammer ungestörten Frieden zu haben. Doch am ersten Tage schon litt es ihn nicht in der Einsamkeit und trieb ihn hinab in die Werkstatt des Töpfers. Es war eine sonderbare Augengier, ihm unbekannt in seiner Seele, die ihn auf der Stelle festhielt und zwang, sich innig in das Werk des Töpfermeisters zu vertiefen. Er sah mit einer beinahe körperlichen Wonne, wie sich auf den eiligen Drehscheiben des Handwerkers und seiner Gesellen die formlosen Lehmklumpen zuerst in Kugeln, dann in eiförmige Gebilde verwandelten, wie sich der schlanke Hals des werdenden Gefäßes zu strecken begann, wie die wohlgestalte Bauchung vortrat und der blütenkelchartige Rand sich nach außen wölbte. Zum Schluß fuhr noch die Hand des Meisters mit einem Griffel über seine Schöpfung und grub Blumenbänder und andere Zierlinien in sie ein. Die fertigen Krüge, Schüsseln und andere Gefäße wurden über einem Feuer zur Härtung aufgereiht.

Und Jirmijah beobachtete, daß dem Töpfer eines seiner Gefäße mißlang. Widerspenstig schien sich schon der Lehmklumpen gegen den formenden Schwung der Drehscheibe zu wehren. Bereits die Kugel war keine rechte Kugel mehr, die Bauchung verzog sich häßlich nach einer Seite hin, der Rand wurde ungleichmäßig. Der ganze Krug zog gleichsam ein schiefes, aufrührerisches Maul. Da wurde der Töpfer zornig, ließ die Drehscheibe stillestehen und knetete das mißlungene Gefäß wieder zu dem zusammen, was es gewesen, zu formlosem Lehm.

In diesem Augenblicke sprach Adonai seit der Passahnacht das erstemal wieder zu Jirmijah. Er sprach nicht mehr mit jener erlautenden Doppelstimme, dunkelrund und klar, denn nun hatte er seinen Ausgesonderten schon so weit geführt, daß er ihn auch ohne tönendes Raunen hören konnte. Er führte ihm auch nicht mehr ein besonderes Gesicht vor. Alles, was geschah und bis in seine Tiefe erschaut wurde, konnte zum Gesichte taugen, ja, war schon Gesicht. Nur die Augen und die Ohren mußten vom Herrn geöffnet werden. Das Wort aber, zu dessen Gefäß jetzt Jirmijah wurde, erging also:

»Kann ich es nicht wie dieser Töpfer mit euch machen, Haus Israel? Wie der Ton in des Töpfers Hand seid ihr in der meinen ...«

Jirmijah spürte, daß der Herr mit diesem Gleichnis das letzte Ziel seines Zornplanes nur andeutete. Vielleicht knetete seine Hand schon den Lehm einer neuen Schöpfung. Doch die Frist des Zuwartens war noch nicht abgesagt. Zugleich mit diesen Erleuchtungen aber geschah etwas anderes. Das war ein Mahnen und Drängen und Pochen in Jirmijah, eine unstillbare Ruhlosigkeit. Von Augenblick zu Augenblick gewann es an Kraft. Ein Befehl des Herrn, der erste nach jenem: Gürte die Lenden und geh. Wie sehr auch Angst und Widerstand peinigten, gegen diesen wachsenden Befehl gab es kein Einwenden und Aufschieben. Je heftiger Jirmijah widerstrebte, um so ungeduldiger wiederholte sich das innere Raunen, das beinahe schon wieder im äußersten Raume schwang und Wort wurde:

»Geh und verkünde den Bewohnern Jerusalems öffentlich, was ich dir eingeben werde!«

Es war der erste Sabbath nach den hohen Feiertagen. Die volksbeliebten Künder und Heilsprediger hatten bei diesen großen Gelegenheiten geglänzt und waren an dem unscheinbaren Tage heute dem Tempel ferngeblieben. Der große äußere Vorhof war für das Volk an jedem Wochentag ein bewegterer Aufenthalt als gerade am Sabbath, verlangte es doch der Ruhetag des Herrn, daß alle Verkaufsbuden mit Weih- und Opfermitteln (Früchte, Räucherwerk, Tauben), mit schönen Waren und Erfrischungen, die von der Tempelbehörde zugelassen waren, genau vor Aufgang des ersten Sternes abgebrochen wurden.

Man hatte am heiligen Tage nichts andres anzugaffen als gegenseitig sich selbst im Feiergewande, es sei denn, daß der König, die Prinzen, ein ausländischer Großer mit Prunkgefolge zum Tempel wandelten oder irgendein Mann Gottes mit rauh entrückter Stimme die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Geschah einmal nichts dergleichen, kam es zu keinerlei Schaugepränge, Auflauf, Redeschlacht, so kehrte das süchtige und neugierige Volk der Hauptstadt enttäuscht und unbefriedigten Gelüstes in seine Wohnungen heim.

Es bestand kein ausdrückliches Verbot, das der rang- und namenlosen Menge das Betreten der großen Wandelhallen eigens verwehrt hätte. Dennoch blieb dieser säulengetragene Teil des Tempels, der sich über mehreren Stufen erhob, einzig und allein den höheren Persönlichkeiten vorbehalten. Feierlichen Ganges, besorgt, die Schrittzahl des sogenannten Sabbathweges nicht unerlaubt zu vermehren, machten die gewichtigen Personen des Tempel- und Königsdienstes einander hier ihre Aufwartung. Behutsame Ansichten über des Ewigen Weltplan wurden ausgetauscht, urteilende Meinungen über das innere Geschehen im Lande und das äußere unter den Völkern. Vor allem aber zog man das heikle Verhältnis zwischen Gottesanspruch und Königsmacht immer wieder in umsichtige Erwägung. Diese wichtigen Unterredungen wurden, wie es der Schöpfungsstille des Tages entsprach, mit leiser, beinahe ersterbender Stimme geführt, die keinerlei Erregtheit duldete. Zur Erregung bestand in Josijahs Tagen auch kein Anlaß. Seit langen Jahren, seit dem Reitersturm der Schittim, lebte man in tiefem Frieden.

Nicht überall aber herrschte dieselbe gedämpfte Stille wie unter diesen Vornehmen. Eine der großen althergebrachten Freiheiten im Tempel nämlich war die Freiheit der Rede, die jedoch nicht geringe Gefahren für den Redner in sich schloß. Auf den Stufen der Wandelhalle waren ringsum eine Anzahl von Predigtkanzeln angebracht, die zu besteigen und für eine Ansprache zu benützen jeder erwachsene und unverdächtige Tempelgänger das Recht hatte. Die Kanzeln des äußeren Vorhofs galten so recht als Fallgruben für unerfahrene Künder und Männer Gottes. Über diesen Teil des Tempellebens war ein sehr hohes Amt gesetzt, das eine eigene Gerichtsbarkeit besaß und im Range sogleich nach dem Sagan, dem obersten der Altpriester, folgte. Sein Name lautete: Amt des Hüters der Schwelle. Es gab nicht nur einen, sondern drei Hüter der Schwelle, die im Rang untereinander standen. Vor wenigen Monden hatte ein neuer Mann das Amt des ersten Schwellenhüters angetreten. Zu Jirmijahs Glück aber war Pasch'chur, Imers Sohn, an diesem Sabbath nicht im Tempel anwesend, und seine beiden Amtsbrüder drückten gerne ein Auge zu, wenn es sich um einen jugendlichen Schwärmer handelte.

Jirmijah stand auf einer der südlichen, den Königspalästen zugewandten Kanzeln. Er wußte nicht, wie er hier heraufgekommen war. Nachdem er aber seine gewaltige Scheu niedergekämpft hatte, um dem Herrn zu gehorchen, war er plötzlich wieder so ruhig wie damals, als er im Angesichte des Königs aus der Lehre vorlesen mußte. Sein Herz schlug fest und ohne Eile. Das kam daher, daß er Adonais in dieser Stunde wundersam gewiß war. Er mußte nur die Augen schließen, um des Herrn so reich inne zu sein wie nie. Eines aber tat not. Nicht er durfte erregt nach Worten suchen, nicht er um den Ausdruck der eigenen Gedanken ringen. Seine Aufgabe war es, dem Herrn wie im Schlafe zu vertrauen, seinen eigenen Lebens- und Denkgeist auszuscheiden und seine Sinne fast bis an die Todesgrenze von sich selbst zu entleeren. Plötzlich schallte ihm zur eigenen Überraschung der übliche achtungheischende Ruf der Künder aus seinem Mund:

»Ein Wort des Herrn ... Hört einen Spruch des Herrn!«

Etwas in ihm erschrak über diese donnernde und bannende Stimme, die ihm unbekannt war und nichts mehr mit dem wirklichen Jirmijah, dem ständigen Gesellen seines Lebens, zu tun zu haben schien:

»Höret, höret das Wort ... Denn also spricht der Herr zu euch ...«

Die Stimme wirkte. Lärm und Bewegung stockten. Selbst das Schrittgeräusch hinter seinem Rücken setzte aus. Diese dauerte freilich nur einen Augenblick, denn sogleich rauschte die Menge wieder auf, und nur ein Häuflein von Neugierigen blieb unter der Kanzel stehen, um einen Unbekannten anzuhören. Mit bedrohlichem Zutrauen wandten sich ihm die Blicke spottbereiter Kenner zu. Jirmijah vernahm abfällige Bemerkungen. Einige hielten sich darüber auf, daß er im bürgerlichen Feiertagskleide erschienen war und nicht, wie es sich für einen rauhen Gottessprecher geziemte, im härenen Gewande, das heißt in einem haarigen Mantel aus ungegerbtem Tierfell. Jirmijahs Augen und Ohren unterschieden mit größter Deutlichkeit alles, was sich vor ihnen begab. Doch nichts konnte ihn stören und verwirren. Denn in seinem Geiste begannen sich die Worte des Herrn zu sammeln wie Wassertropfen im durchlässigen Gestein. Eine hohe Leichtigkeit durchschwang ihn. Und zum erstenmal im Leben erfuhr er, wie die ihm einwohnende Stimme sich ablöste und über die Menschen Herrschaft übte.

»Also spricht der Herr ... Ich gedenke in meiner Liebe deiner Liebe, da du ein freundlich junges Ding warst und eine liebliche Braut und mir folgtest in die Wüste, in das Land, wo man nicht sät ... Damals warst du, mein Israel, mir heilig und eigen. Du warst mir wie eine Erstlingsfrucht. Hätte einer zehren wollen von dir, der hätte es gebüßt ...«

Schon war das Häuflein der Zuhörer auf mehr als hundert Köpfe angewachsen. Welch eine neue Stimme! Ihresgleichen hatte man schon lange nicht gehört. Sie warb nicht eifernd um Gehör, sondern erfüllte es rund und ruhevoll. Doch auch die streichelnde Milde des wohlgedichteten Bildes lockte. Gewiß, das Gleichnis von dem holden jungen Ding, das dem kraftstrotzenden Bräutigam in die Wüste folgt, war nicht neu. Die gewiegten Kenner wußten, daß Adonai dasselbe Gleichnis durch den Mund gar manchen alten Künders verwendet hatte. Doch man hörte und sah es immer wieder gerne vor sich, jenes bräutlich geschmückte Mädchen, das man im Herzen des Herrn einmal selbst gewesen. Ein Ruf der Zustimmung erklang. Jirmijah aber hatte die Augen geschlossen. Nicht seine Seelengedanken, das eingeraunte Wort strömte ihm rein von den Lippen:

»Ein Spruch des Herrn: Was hab ich dir getan? Welches Unrecht haben deine Väter an mir gefunden, daß sie den Nichtsen nachgingen und betört wurden? ... Sie fragten nicht mehr, wo ist der Herr, der uns hinausgeführt aus Ägyptenland, der uns durch die Wüste geleitet, durch ein Land der Steppe und Wildnis, durch ein Land der Dürre und Todesstille, durch ein Land, das nie einer durchzogen hat und wo kein Mensch wohnt ... Ich brachte euch doch in den fruchtbaren Garten am Karmel, daß ihr seine Frucht esset und seinen Überfluß genießet. Da aber kamt ihr und habt mein Land verunreinigt und mein Erbe zum Greuel gemacht ...«

Jirmijah brach ab. Die Heftigkeit der letzten Worte verschlug ihm den Atem. Sooft ihn auf seiner Wanderschaft im Angesicht der tausend Verkehrungen der heilige Grimm übermannt hatte, sein offener Tadel war niemals zügellos geworden. Hatte ihn nicht sein Vater gelehrt, der vornehme Mann habe unter allen Umständen die nackte Benennung zu vermeiden und stets den beschönigenden Ausdruck zu wählen? Nun aber war sein Mund zu den nacktesten Vorwürfen gezwungen, und dieses gar an der Stätte seiner kindlichen Ehrfurcht und seines liebenden Schauders, seitdem er denken konnte! Abgründige Totenstille herrschte ringsum. Obgleich Jirmijah die Augen geschlossen hielt, so fühlte er, daß es sich immer dichter zu seinen Füßen sammelte. »Höret, höret ein Wort des Herrn ...« Noch einmal rief er es, als wollte er sich feige hinter dem eigentlichen Redner verstecken und ihm alle Schuld zuschieben:

»Mein Volk hat seine hohe Herrlichkeit verschleudert für Dreck! Darob erstaunt der Himmel wohl. Und er verwölkt und verdüstert sich sehr ... Spruch Adonais: ... Mich verstieß mein Volk. Vom Quell des lebendigen Wassers kehrt es sich ab und säuft aus Pfützen, Tümpeln, geborstenen Gruben ... Weh, von jeher, Volk, zerbrachst du das gute Joch und die milden Bande. Die Wahrheit siehst du nicht und willst ihr nicht dienen ... Einst habe ich dich als edelste Rebe gepflanzt, aus echtem kostbarem Samen. Du süßer Weinstock, wie bist du mir mißraten zu bitterm wertlosem Wildwuchs! ... Willst du dich reinwaschen, Volk?! Und wenn du auch Aschensalz nimmst und schärfste Lauge und reibst und scheuerst, der Schuldfleck auf deinen Händen wird immer schmutziger vor mir ...«

Die Totenstille hatte sich in eine murrende Brandung verwandelt. Was war das? Aus diesem kurzbärtigen Milchschnabel tönte ja eine regelrechte Straf rede Zebaoths, wie man sie seit Menschengedenken kaum mehr vernommen hatte. Sollte man wirklich annehmen, daß der Herr sich keines gesetzteren Mannes zu solcher Kündung bediente? Unerhörtes nahm sich die Jugend dieser Tage heraus. Dachte man an einen ergrauten Bußkünder, wie es der narbenbedeckte Urijah war, so mußte jedermann zugeben, daß dieser sich seit seinen schlimmen Erfahrungen einer lobenswürdigen Zurückhaltung im Ausdruck befleißigte, anders als der dreiste Neuling dort. Und die Großen der alten Zeit? Ein Jesajah war drei Jahre lang nackt durch die Straßen von Jerusalem gewandelt, um sich selbst für die Bitterworte zu strafen; die ihm Adonai auferlegt hatte. Und derselbe Jesajah pflegte nach harter Rede immer wieder zu heischen: »Tröstet, tröstet mein Volk ...« Was bedeutete überhaupt der Schuldfleck auf den Händen, der durch kein Aschensalz und keine Lauge weggescheuert werden konnte? Hatte das gegenwärtige Geschlecht nicht die Lehre wiedergefunden? Hatte König Josijah nicht einen neuen Bund mit Zebaoth an der Schwursäule gestiftet und in Erfüllung dieses Bundes das ganze Land vom Fremddienst gesäubert? Waren die Gebote der Lehre nicht zum Grundgesetz des Reiches erhoben worden? Was noch? Die Forderungen des Herrn waren vollauf befriedigt, das Gedeihen des Weltlaufs bewies es. Die Worte dieses Menschen aber waren nicht die Worte des Herrn, sondern die strafheischende Frechheit eines Unreifen, der vor den hochwürdigen Persönlichkeiten des Tempels und den ehrbaren Männern Jerusalems aufzufallen wünschte. Schon brachen laute Hohnrufe und Drohungen aus dem allgemeinen Unmut. Jirmijah aber hörte nichts mehr. Seine Sinne schmolzen hinweg in dem Feueropfer des Wortes, zu dem er geworden war:

»Streifet umher in den Städten Jehudas und auf den Straßen Jerusalems und sehet doch zu und erkundet auf allen Plätzen, ob ihr einen Menschen findet, einen einzigen nur, der recht tut und Wahrheit suchet, und ich will verzeihen. Aber wie soll ich verzeihen? ... Entsetzliches und Schauderhaftes geschieht im Lande ... Wort Gottes ... Frevler gehen unter meinem Volke um, überall. Wie die Vogelsteller ihre Fallen legen, so lauern sie und werfen ihre Schlingen aus, um Menschen zu fangen. Wie ein Vogelbauer voll Vögel, so ist ihr Haus voll Sünden. Davon aber werden sie groß und reich. Ja, sie werden feist und hart und freuen sich des Bösen. Sie beugen das Recht. Die Sache der Waise führen sie nicht und sie berauben die Armen ...«

Von allen Seiten gellte es wütend:

»Wo ist der Hüter der Schwelle ... Holt doch den Hüter der Schwelle ...« Nun aber war Jirmijah nicht mehr allein der Mund Zebaoths. Das Gefälle der Worte riß seine eigene Seele in wilde Empörung mit. Meschullams, des Müllers, weiße winzige Hand wies auf die zwölf blinden Simsonriesen. Unten tobte es:

»Macht ein Ende ... Er soll nicht weiterreden ... Vor den Hüter der Schwelle mit ihm! ...«

Jirmijah aber schlug sich mit beiden Fäusten an die Brust:

»Soll ich an diesem Volke nicht Rache nehmen, spricht der Herr ...«

In seinem Rücken flüsterten warnende Stimmen auf ihn ein. Jemand war neben ihn auf die Kanzel getreten, hatte seinen Arm gepackt und versuchte, ihn unter die Säulen der Wandelhalle zu zerren. Das mußte Baruch sein. Noch war das Wort des Herrn nicht ganz von ihm gewichen. Dennoch war es weniger eine Frage Zebaoths als ein eigener Angstschrei Jirmijahs, den er noch auszustoßen vermochte:

»Was aber wollt ihr tun, wenn das Ende hereinbricht? ...«

Jetzt erst riß er die Augen auf. Die Menge war hoch angeschwollen und lag im Streit, denn die Neugekommenen hatten die Rede nicht verstanden, während Mildgesinnte die Empörten zurechtwiesen. Baruch beschwor Jirmijah, von der Kanzel zu treten, sich in die Wandelhalle zurückzuziehen und so schnell wie möglich den Tempel zu verlassen. Der Erwachte aber starrte über die geschüttelten Fäuste und den Streit hinweg. Etwas Unbegreifliches geschah. Eine hohe Greisengestalt teilte unerbittlich die Menge und ging mit strafend erhobenem Arm auf Jirmijah zu. Lähmender Schreck. Jirmijah sah seinen Vater sich nahen, ein Hüter der Schwelle auch er. Der stolze und müde Hilkijah war von Anathot aufgebrochen, um Rechenschaft zu fordern für das große Ärgernis, für die Schmach, die der Sohn seinem Vaterhause an diesem Sabbath im Tempel angetan hatte. Jirmijah trat an den Rand der Kanzel, um seinem Vater demütig entgegenzugehn. Baruch aber hatte ihn mit beiden Händen um die Brust gepackt und riß ihn nach hinten. Als sie sich ein Stück weit entfernt hatten, begannen beide wie schuldbewußte Knaben zu laufen.

Jeremias. Höret die Stimme

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