Читать книгу Im Schoß der Familie - Franziska Steinhauer - Страница 6

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«GERLINDE! Gerlinde!» Gundula von Weitershausen rauschte aufgeregt durch das Speisezimmer. «Wo steckst du denn? Siehst du denn nicht, dass die Käseplatte für den Ausklang noch fehlt? Und die Gästezimmer – sind die auch wirklich alle fertig? Gerlinde, nun komm schon her!»

Herr von Weitershausen eilte ihr nach, schlang seine muskulösen Arme um ihre Taille und raunte ihr beruhigend ins Ohr: «Sieh mal, die Gäste fühlen sich wohl. Alles ist bestens organisiert gewesen, allenthalben höre ich nur Lob für deine Vorbereitungen. Im Augenblick sind alle satt und zufrieden. In etwa einer Stunde verkünde ich den Namen des Glücklichen, der das diesjährige Stipendium bekommen wird, alle sind sehr gespannt. So soll es schließlich sein. Gleich kommt der Teil der Gäste, der nur zu Gespräch und Wein geladen ist, und ich bin sicher, auch der geht am frühen Morgen glücklich nach Hause.» Er drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und gesellte sich zu einer der größeren Gruppen, die sich gefunden hatten.

Einige der Herren folgten ihm ins Raucherzimmer, die anderen wechselten in die Bibliothek, in der zwar Wein, Champagner und andere Getränke, nicht aber der Käse bereitstanden.

Gerlinde sah und hörte von alldem nichts. Das Hausmädchen huschte durch den langen Flur im oberen Stockwerk und suchte nach einem Versteck. Familie von Weitershausen gibt ein Bankett, wie schön, dachte Gerlinde in heftig aufwallendem Trotz. Da soll die gnädige Frau eben mal selbst Hand anlegen. Natürlich war ihr klar, dass es Ärger geben würde, doch jetzt brauchte sie erst mal eine Pause, wollte einen Moment durchatmen. Danach würde sie an die Arbeit zurückkehren.

«Wo ist Gerlinde?», fauchte die Dame des Hauses die Köchin an, die erschrocken die Kelle auf den Boden scheppern ließ. «Nun pass doch auf! Wie kann man nur so tölpelhaft sein!»

«Gerlinde kommt sicher gleich zurück. Sie wollte nur schnell an die frische Luft. Die Kleine hat Kopfweh», erklärte die schwere Barbara und war dankbar dafür, dass es an der Tür schellte.

Frau von Weitershausen wirbelte herum und hastete in Richtung Entree.

Barbara bückte sich ächzend nach der Kelle und spülte sie gründlich ab. «Minestrone, ha! Früher hieß das Gemüsesuppe und hat auch so geschmeckt. Aber wer zahlt, darf eben auch festlegen, wie das, was gekocht wird, heißt.»

«Was ist denn hier los?» Der Hausdiener streckte neugierig seinen Kopf durch die Tür. «Alle aus dem Häuschen?»

«Und wie!» Barbara nickte aufgeregt. «Sind denn nun alle da?»

«Fast. Der Hof ist schon voller Fahrzeuge, ein Paar wird noch erwartet. Der Salon summt vom eifrigen Geplapper. Sieht so aus, als wären alle bester Laune.»

Die Köchin seufzte erleichtert. «Welche Farbe?» Dass sie damit die Farbe der teuren Roben, die die Damen trugen, meinte, wusste Karl, der eigentlich Willi hieß, auch wenn diesen Namen nur noch seine Frau für ihn benutzte.

«Pastellblau. Lagune, glaube ich, nennt man diesen Ton. Der einen steht’s, der anderen nicht.» Er trollte sich eilig, als wieder geklingelt wurde.

Gerlinde öffnete die Tür zu einem der Gästezimmer. Ein sonderbarer Geruch schlug ihr entgegen. Erst konnte sie ihn gar nicht zuordnen, doch ganz unbekannt war er ihr nicht, allerdings gehörte er eindeutig nicht hierher. Auf jeden Fall roch es unangenehm. Metallisch. Übelkeit erregend. Ein bisschen nach Metzgerei. Und feucht schien es in dem Raum auch zu sein. Ob jemand etwas auf dem Teppich verschüttet hatte?, überlegte sie besorgt. Hoffentlich keinen Rotwein, schossen ihre Gedanken alarmiert weiter, und sie beschloss, das Licht einzuschalten.

Was Gerlinde nun sah, war so unbeschreiblich, dass es dem Mädchen den Atem nahm. «O Gott! Wer tut denn so etwas?», hauchte sie nur. Das Beste wäre, sie löschte das Licht und würde die Tür leise hinter sich schließen, um niemanden zu stören. Das wäre vernünftig.

Samuel, Jakub, Schlomo und Chaleb waren wie üblich gemeinsam auf dem Weg in die Synagoge. Sie unterhielten sich leise, während sie ihre Frauen in Schlomos Wohnung bei Handarbeiten und Plausch wussten.

«In wenigen Tagen ist auch dieses Jahr vorüber», seufzte Samuel, «und es ist nichts besser geworden.»

«Nun, es kommt ein neues. 365 Tage zum Wandel in eine gute Zeit.» Chaleb kicherte verhalten.

«Mit Kurt von Schleicher wird sich auch nichts verbessern – eher im Gegenteil. Man hat das Gefühl, das ganze Land halte die Luft an und warte auf die Wahl.»

«Was, wenn die Wahl zu keinem eindeutigen Ergebnis führt? Das bringt doch nur neuen Streit.»

Die Gruppe ging gemächlich an der Elbe entlang. Die fast bodenlangen Mäntel hoch geknöpft, die Kragen bis zu den Ohren aufgestellt. Vereinzelt fielen Schneeflocken im Schwarz der Nacht.

«Ich wünschte, es wäre nicht so kalt. Manchmal kommt es mir vor, als zitterten sogar meine Knochen, weil sie derart frieren.»

«Das ist das Alter, Chaleb», neckte Samuel.

«Du denkst, der Tod greift schon nach mir? Ich fühle nicht den Dezember, sondern den Eishauch des Grabes? Nein, nein! Eine gute Weile will ich es schon noch mit euch aushalten.»

«Das sollst du auch, Chaleb», versuchte Schlomo die entstandene Missstimmung zu verscheuchen. Es fühlte sich plötzlich so an, als sei ein Fremder mit kaltem Blick zwischen die Freunde getreten. Er schüttelte sich gegen die Gänsehaut.

«Der Rabbi mag es nicht, wenn wir Scherze über das Sterben machen», erinnerte Schlomo die Gruppe, und so trotteten sie die nächsten Meter schweigend nebeneinanderher, unterquerten die Brücke in der Nähe des Albertinums. Die Elbe schwappte träge gegen die Mauer, die vier verharrten und sahen über die dunkle Fläche hinweg zum gegenüberliegenden Ufer.

«Die Elbe. Stellt euch nur vor, neulich träumte mir, ihr Wasser sei blutrot geworden. Wie in der Apokalypse. Und alle Fische trieben leblos darin, Bauch nach oben, blass und still. Nun, da bin ich hochgefahren in meinem Bett, war zittrig und heiß am ganzen Körper. Schließlich hatte mein Vater – möge seine Seele in Frieden ruhen – auch solche Dinge gesehen. Und oft genug wurden seine bösen Träume wahr!» Chaleb wirkte noch immer sehr beunruhigt. Der unerbittliche Wind fuhr in seinen langen Bart und zerrte kräftig daran.

«Ach Chaleb, man träumt schon mal schlecht», meinte Samuel und klopfte dem Freund aufmunternd auf die Schulter.

«Ist sie nicht wunderschön? Immer, wenn ich auf sie zuschreite, fällt mir ihre Schönheit und Anmut auf. Seht doch nur! Und wie warm das Licht zur Einkehr einlädt. Aller Zwist, aller Machloikes ist vergessen, ein jeder achtet den anderen, wie auch er selbst geachtet werden will.» Schlomo verhielt seinen Schritt, sah in Richtung Synagoge, breitete die Arme weit aus und schwärmte weiter: «Es ist wie nach Hause kommen. Niemand wird abgewiesen, jeder ist willkommen.»

Das imposante Gebäude am Hasenberg, das einer schutzbietenden Trutzburg glich, war nur in einem kleinen Bereich beleuchtet. Der sechseckige Turm prangte über dem dreigeschossigen Haus, und in einem der seitlichen Türme brannte ganz oben noch Licht.

«Ich will dir das ja nicht ausreden», murrte Chaleb, dem es gar nicht recht war, dass die anderen seinen bösen Traum so gleichgültig abgetan hatten. «Aber wenn wir uns jetzt nicht sputen, kommen wir zu spät zu unserem Gesprächskreis. Und dann kann von offenen Armen möglicherweise nicht mehr die Rede sein!»

Gerlinde starrte Mireille mit offenem Mund an. Das Hausmädchen war verwirrt. Was tat die junge Frau nur im Gästezimmer?, dachte es. Ihre Räume lagen doch am anderen Ende des Ganges, dort, von wo man einen wunderbaren Blick auf den Garten hat. Hier gehörte sie nicht hin. Gerlinde ging in die Hocke. Achtete darauf, nicht in die große Blutlache zu treten. Streckte ihre Hand nach Mireilles Arm aus, streichelte ihn sanft. Wie morgens, wenn sie die junge Frau aus tiefem Schlaf weckte. Obwohl Gerlinde unschwer erkennen konnte, dass sich das Wecken für Mireille erübrigt hatte. Für immer!

Mühsam rappelte sich das Hausmädchen auf, streifte sorgfältig seine Schuhe ab, um nichts von dem Grauen in den Flur zu tragen. Sie verließ das Zimmer so vorsichtig wie das einer schlafenden Kranken und ging mit steifen Knien hinunter in die Küche, um Barbara zu fragen, was nun geschehen sollte.

Die feiernden Menschen, das festlich geschmückte Haus – all das kam Gerlinde plötzlich unwirklich vor, fühlte sich falsch an. Sie durchquerte die Räume wie jemand, der ein Gespenst gesehen hatte, hielt schnurgerade auf den Hoheitsbereich der Köchin zu.

«Da bist du ja endlich! Und wie du aussiehst! Der Käse! Du hattest die Käseplatte vergessen. Mach dich auf Ärger mit der Gnädigen gefasst», empfing sie Barbara unwirsch.

Gerlinde setzte sich an den Tisch. Schwieg. Stand unvermittelt wieder auf, griff nach einem Küchenhandtuch und begann damit das Geschirr abzutrocknen. Schon der zweite Teller entglitt ihren bebenden Fingern und zerschellte mit Getöse auf dem Fußboden.

«Nun pass doch auf, du dummes Ding!», herrschte die Köchin sie an. «Was ist denn heute mit dir los?»

«Oben im grünen Zimmer liegt Mireille», erzählte das Mädchen emotionslos, als spräche es über einen Scheit Brennholz.

«Was tut sie denn da?», fragte Barbara begriffsstutzig zurück. «Sie hat doch eigene Räume.»

«Sie macht nichts. Gar nichts, weißt du? Tote sind eben so.»

«Tote?»

«Ja. Dass sie nicht mehr lebt, ist nicht zu übersehen.»

Die resolute Köchin stapfte los, um sich selbst ein Bild von der Situation zu machen. Die jungen Dinger reden manchmal wirres Zeug, wusste sie, da ist es besser nachzusehen, ehe ich die Herrschaft in Angst und Schrecken versetze. Außerdem ist nie auszuschließen, dass Gerlinde von dem Alkohol genascht hat, der heute großzügig ausgeschenkt wurde, drängte sich ihr ein neuer Verdacht auf. Doch hinter der Tür zum grünen Zimmer fand sie alles so vor, wie Gerlinde behauptet hatte. Was nun?

«Du arme Kleine! Erst stirbt die Mutter, der Vater reist ins Ausland – und nun stirbst du hier ganz allein. Nun, nicht ganz allein wohl. Was wolltest du hier eigentlich?»

Die Köchin beschloss, den Hausdiener in dieses schreckliche Geheimnis einzuweihen. Der werde schon wissen, was zu tun sei. Sie trat von hinten an ihn heran und flüsterte eindringlich: «Karl! Im grünen Zimmer liegt das gnädige Fräulein. Ich fürchte, es ist tot.»

Karls Augen sahen für einen Moment so aus, als wollten sie aus den Höhlen springen.

Barbara wich instinktiv einen Schritt zurück, wohl um nicht getroffen werden.

«Was? Fräulein Loliot ist tot? Das kann doch gar nicht wahr sein. Vorhin war sie doch noch bester Stimmung», antwortete er ungläubig.

Aus den anderen Räumen klangen Musik und das leichte Geplauder der Gesellschaft bis in die Küche. Für die drei Wissenden hatten diese Geräusche keinen fröhlich beschwingten oder gar beschwipsten Klang, sondern waren völlig unpassend. Eine surreale Szenerie. Während die wichtigsten Köpfe der Stadt hier feierten, kühlte oben, wenige Meter von der Gesellschaft entfernt, der Körper des Mündels der von Weitershausens langsam aus.

«Wie soll ich das den Herrschaften erklären?», lamentierte Karl. «Das Haus ist voller Gäste. Alle warten gespannt darauf, wer in diesem Jahr das Stipendium erhalten wird. Da kann ich doch unmöglich einfach nach der Polizei schicken. Obschon – in so einem Fall ist man wohl dazu genötigt.» Karl hob verzweifelt die Hände in die Luft.

«Ich glaube, ich weiß, was wir tun könnten», ließ sich unerwartet Gerlinde wieder vernehmen, die so lange geschwiegen hatte, dass die beiden anderen nun erschrocken zusammenfuhren.

«So?» Das klang drohend, und die Köchin sah auch so aus, wie sie sich mit in die Hüften gestemmten Fäusten und verkniffener Miene vor dem Mädchen in Positur schwang. «Was musstest du auch ins grüne Zimmer gehen? Ohne deine elende Neugier wären wir jetzt nicht in diesem Schlamassel!», fuhr sie Gerlinde ungerechterweise an.

Karl schob die Köchin beiseite und fragte sanft: «Was können wir denn tun, Gerlinde?»

«Der Doktor ist unter den Gästen. Sprich ihn an! Er wird dich unauffällig in den oberen Stock begleiten, er ist stets diskret, das liegt an seinem Beruf. Bring ihn zu der Toten! Er wird wissen, was zu tun ist.»

«Ein sehr vernünftiger Vorschlag!», lobte Karl, griff nach dem Tablett mit den vorbereiteten Getränken und brach zum Rauchsalon auf.

«Ich brauche mehr Licht!», forderte der Kommissar Fritz Ganter, der eine Stunde später neben der Leiche stand. «Wer hat sie gefunden?»

Aus dem Erdgeschoss dudelte noch immer Tanzmusik zu ihnen herauf. Unpassend, fast beleidigend. Plötzlich verstummte sie. Offensichtlich hatte endlich jemand das Grammophon ausgeschaltet. Doch die unheimliche Stille, die nun folgte, war nicht weniger belastend.

Gerlinde schob sich, von eiserner Köchinnenhand gestoßen, zögernd vor. «Ich.»

«Aha!»

«Als ich die Gästezimmer noch einmal kontrollieren wollte.»

«Und?»

«Nun, es war eindeutig, dass ich ihr nicht mehr helfen konnte. Ihr Arm war schon kühl. Außerdem …» Gerlinde wies anklagend auf das Heft des Messers, das sich wie ein Fleck vom weißen Mieder des Opfers abhob. Im hellen Licht der Lampen war nun auch der große Blutfleck gut zu erkennen. Ausgehend von der Stelle auf dem Mieder, hatte er sich als riesige Lache neben und unter dem zarten Fräulein ausgebreitet. Du meine Güte, dachte Gerlinde unwillkürlich, das kriege ich nie mehr aus dem Teppich raus.

Fritz Ganter machte sich ganz andere Sorgen. Er sah in die Runde und erkannte lauter bekannte Gesichter. Dresdens Prominenz war hier versammelt, nur gehobene Gesellschaft. Warum schickt man ausgerechnet mich zu diesem Fall?, fragte er sich entmutigt. Ich bewege mich nur ungeschickt in solchen Kreisen. «Als Sie sahen, dass es einen Mord gegeben hatte, was taten Sie dann?», erkundigte er sich tapfer weiter.

Die Versammelten stöhnten auf. Ein Mord! Ungeheuerlich!

«Ich schloss die Tür hinter mir und ging in die Küche, um es der Köchin zu erzählen. Danach hat der Hausdiener den Arzt der Familie …» Das Mädchen verstummte.

Der Tatortphotograph drängte sich durch die Versammelten, stieß mit seinem Stativ einige der Damen und Herren zur Seite. «Entschuldigung, ich muss hier durch!» Während Ganter ungerührt das Gespräch fortsetzte, begann der Mann seine Vorrichtung aufzubauen.

«Hm. Wann wurde Fräulein Loliot zum letzten Mal gesehen?

Hat jemand bemerkt, wann sie sich von der Gesellschaft entfernt hat?», versuchte Ganter einen professionellen Vorstoß auf ungefährlichem Gebiet.

Allgemeines Diskutieren setzte ein. Nach ausführlichem Hin und Her kam man überein, dass die junge Frau nach dem Wechsel von der Tafel in die Bibliothek nicht mehr in der Runde der Damen gesehen wurde.

Ein junger Mann drängte sich zwischen den Leibern hindurch und sank nach einem Blick auf die Tote schluchzend gegen den Türrahmen. Seine Schultern zuckten wild. Er barg sein Gesicht in den Unterarmen und ächzte leise den Namen des Opfers.

«Und wie ist Ihr Name?», erkundigte sich Ganter selbst für seine Ohren bemerkenswert unfreundlich. Er hatte eigentlich Mitgefühl in seine Stimme legen wollen – das war gründlich fehlgeschlagen.

«Das ist der Sohn des bekannten Lyrikers Franz Koch», zischte ihm Gerlinde hastig zu. «Xaver Koch.»

«Wie soll ich ihn erkennen können? Er sieht den Türrahmen an!», patzte Ganter zurück, dem allerdings weder Franz Koch noch dessen Sohn ein Begriff waren.

Der Photograph hatte inzwischen sein Stativ direkt über dem Körper der Toten in Position gebracht und die Kamera oben im Gestänge befestigt. Jetzt sah er sich suchend im Raum um, nahm ein Fußbänkchen und stellte es neben die dünnen Metallbeine, die nun an der Seite der jungen Frau auf dem Teppich standen, kletterte hinauf und richtete die Linse ein. Danach schoss er das erste Bild.

Die Gastgeberin schluchzte, dem Herrn des Hauses standen Tränen in den Augen, der ganze Flur war erfüllt von eifrigem Getuschel. Dem Stimmengewirr entnahm Ganter, dass man sich nun dem Vater der Getöteten widmete.

«Der arme Mann! Erst stirbt ihm die Frau, und nun ermordet jemand die Tochter. Wie tragisch», übernahm eine resolute Stimme die Einleitung, und schnell stimmten alle in das Jammern und Wehklagen ein.

«Er überlässt sie der Pflege durch den Freund, um sie vor Unbill zu schützen, und dann …»

«Er wird untröstlich sein, wenn er davon erfährt.»

«Was für ein schreckliches Schicksal! Alle Lieben verloren …»

«Wann er wohl davon hören mag? Ist er nicht irgendwo in Afrika?»

«Wie kann man jemanden eine solche Nachricht schonend beibringen?»

«Er hatte so große Pläne mit Mireille …»

Und dann übertönte die Stimme des Dichtersohnes alle anderen: «Ich habe sie so geliebt! Alles Glück hat mich für immer verlassen! Ohne sie kann ich nicht weiterleben!» Er taumelte in Richtung Treppe, wurde von vielen Händen aufgehalten und sank schließlich auf den Stufen erneut in sich zusammen.

Auch das noch, stöhnte der Ermittler innerlich auf. Vater im Ausland, das Haus voller Gäste und ein heulender Liebestoller – das wird ja immer besser!

«Jemand muss Franz Koch informieren. Er soll ihn abholen kommen, sonst tut er sich am Ende tatsächlich noch etwas an. Er ist hoffnungslos romantisch veranlagt, will mir scheinen!», fuhr der Hausherr dazwischen, und Karl eilte zur Haustür, um dem Lyriker einen Wagen zu senden.

Ganter erkannte, dass er nun eingreifen musste. «Herr von Weitershausen, ich brauche einen ruhigen Raum, in dem ich mich mit Ihren Gästen unterhalten kann. Dieses Zimmer wird verschlossen, den Schlüssel nehme ich an mich, und ein Beamter wird davor Posten beziehen. Wo kann ich mit Ihren Gästen sprechen?» Fritz Ganter legte eine Extraportion Autorität in seine Stimme.

Während Gerlinde dem Ermittler den Schlüssel reichte, kam ein uniformierter Beamter hinzu, der bisher dafür Sorge getragen hatte, dass die Gesellschaft auf dem Flur blieb und nicht in das Mordzimmer drängen konnte. «Jürgen Brummler», stellte er sich knapp vor und bezog sofort steif seinen Platz direkt neben der Tür.

«Sie soll einfach so da liegen bleiben? Die ganze Nacht?», empörten sich einzelne weibliche Stimmen.

«Unser Arzt wird sie zu gegebener Zeit zur Leichenschau abholen», verkündete Ganter ruppig und scherte sich diesmal nicht um das protestierende Stöhnen.

«Gerlinde wird Sie ins Speisezimmer führen. Dort sind Sie bei Ihren Gesprächen ungestört», erklärte von Weitershausen und gab dem Hausmädchen ein Zeichen. «Ich denke, der Tisch ist bereits abgeräumt, und andere Spuren unseres Festes muss ich Sie bitten zu übersehen. Es war ein glücklicherer Ausgang geplant», sagte der Gastgeber bitter. «Versammeln Sie sich doch bitte alle in der Bibliothek. Auf diesen Schock brauchen wir eine kräftige Stärkung», forderte er dann lauter, machte eine raumgreifende Armbewegung, und artig setzte sich die Gästeschar in Bewegung. Eine mitleidige Seele klaubte den Sohn des Lyrikers von den Stufen und trug ihn davon.

«Herr von Weitershausen, ich würde die Gespräche gern mit Ihnen beginnen», erklärte Ganter, der gleichzeitig versuchte zu ignorieren, dass ihm schon bei diesen Worten der Schweiß ausbrach. Wie sollte das erst während der Befragung werden?

«Gut.» Von Weitershausen gab sich entschieden aufklärungsbereit. «Wenn Sie nur erlauben, dass ich zuvor die Gäste mit dem Notwendigsten versorgen lasse, stehe ich Ihnen sofort zur Verfügung.»

Ganter nickte nur. Was blieb ihm anderes übrig?

«Seit wann lebte Mireille Loliot in Ihrem Haushalt?»

«Seit mehr als einem Jahr. Mein guter Freund, Jean Loliot, reiste in wichtigen geschäftlichen Angelegenheiten ins Ausland. Seine Firma produziert leistungsstarke Motoren und Antriebssysteme. Er ließ seine Tochter in unseren Händen zurück.» Der Hausherr barg für einen Augenblick sein Gesicht in den auffallend großen Händen, schluchzte trocken auf und atmete mehrfach tief durch. In einer Geste der Verzweiflung strich er sich die schweißfeuchten Haare aus der Stirn, dann sah er Ganter mit sengendem Blick an. «Ich weiß gar nicht, wie ich ihm je wieder unter die Augen treten kann – nachdem ich auf so entsetzliche Weise versagt habe.»

«Warum nahm er seine Tochter nicht mit auf die Reise?», hakte Ganter nach, ohne auf die Äußerung von Weitershausens zu reagieren.

«Mit Mireilles Gesundheit stand es nach dem Tod ihrer Mutter nicht zum Besten. Das Mädchen war schwach, ihre Konstitution angegriffen. Der Hausarzt der Familie riet Jean dringend davon ab, ihr die Strapazen einer solch abenteuerlichen Reise zuzumuten.» Er schluchzte erneut. «Doch nun sieht es so aus, als wäre es allemal besser für das Mädchen gewesen, ihren Vater zu begleiten!»

«Was kann Fräulein Loliot im Gästezimmer gewollt haben? Fühlte sie sich vielleicht nicht wohl?»

«Doch. Mireille genoss solche Empfänge immer von ganzem Herzen. Sie liebte es, Menschen zu treffen, war bester Laune. Sie war sehr gebildet, für ihr Alter verblüffend belesen und auch noch ausgesprochen attraktiv. Ihre Anmut, ihr Liebreiz verzauberten die Gäste. O Gott!» Jetzt konnte der Hausherr die Tränen nicht länger zurückhalten.

Fritz Ganter schwieg, während sein Gegenüber um Fassung rang. Nicht aus gesprächstaktischen Gründen, sondern weil er schlicht nicht wusste, wie er auf diesen emotionalen Ausbruch reagieren sollte. Seinem täglichen Umgang entsprach mehr der rauhe Handwerker, der einfache Mann von der Straße oder der arbeitslose und entwurzelte Kriegsheimkehrer, der verwirrt nach einem neuen Einstieg ins Leben suchte. Ratlos strich Ganter sich übers Kinn, knetete es, streichelte die Stoppeln gegen den Strich. «Mireille Loliot muss die Gesellschaft nach dem Dessert und vor der Ankunft in der Bibliothek verlassen haben. Hat sie jemand aus dem Raum begleitet?»

Heimar von Weitershausen putzte sich die Nase, straffte den Rücken und warf Ganter einen vernichtenden Blick zu. «Dies ist ein offenes Haus! Wir saßen in entspannter Runde beim Essen, erwarteten die Gäste, die danach zu einer kleinen Feier dazustoßen sollten. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich jeden meiner Gäste ständig im Auge behalte! Wenn Mireille von jemandem begleitet werden wollte, um sich zum Beispiel im Garten die Füße zu vertreten, wäre das allein ihre Entscheidung gewesen! Ich unterstelle doch niemandem unlauteres Benehmen!» Empörung sprach aus seiner Haltung, Wut aus den Augen, die nur Sekunden zuvor in Tränen zu schwimmen schienen.

«Sie missverstehen mich. Mich interessiert, ob ihr jemand folgte. Ungebeten.»

Darüber dachte Heimar von Weitershausen lange nach. Dann formulierte er sorgfältig und mit Bedacht: «Retrospektiv glaube ich mich daran erinnern zu können, dass ich Xaver Koch, den Sohn des Lyrikers Franz Koch, auch habe aus dem Raum gehen sehen. Zumindest stieß er erst mit Verspätung zu uns im Rauchsalon.»

Der junge Mann wirkte auf Ganter, als habe er einmal beobachtet, wie ein wahrhaft Trauernder sich gebärdet, und spiele diese Szene jetzt theatralisch nach. Bühnenreif, schoss es dem Ermittler durch den Kopf, durchaus vorzeigbar. Doch Misstrauen hatte sich im Herzen des Beamten breitgemacht. «Sie sprachen von Ihrer großen Liebe zu Fräulein Loliot.»

«Ja, es ist wahr!» Zum wiederholten Mal fuhr seine Hand über die Stirn, als prüfe er, ob er Fieber habe. Eine Geste ohne Kraft. Mutlos. Leblos.

«Sie hatten dem Fräulein Ihre Gefühle bereits gestanden?», bohrte Ganter weiter.

«Nein.» Die Antwort war nur ein Hauch.

Normalerweise hätte Ganter seinen Zeugen jetzt heftig angefahren, ihn ordentlich angeblafft – aber das war angesichts dieser Gesellschaft wohl nicht angebracht. Diplomatie war eher vonnöten, zumal er nicht wusste, wie dieser seltsame junge Mann auf einen harten Anwurf reagieren würde. Er nahm einen geschmeidigen Anlauf: «Sehen Sie, Herr Koch, es würde meine Arbeit tatsächlich sehr erleichtern, wenn Ihre Antworten weniger einsilbig ausfielen. Mit Ein-Wort-Sätzen ist mir nicht geholfen. Sie sollten also mit Informationen nicht so sparsam umgehen.»

Xaver Koch sah ihn verwirrt an. Dann bettete er seinen Kopf auf den Unterarmen und schluchzte dem Tisch zu: «Ich habe sie so geliebt, so unendlich geliebt!»

Ob Pose oder echtes Gefühl – es war das Letzte, was Ganter noch zu hören bekam. Er schickte ihn hinaus.

In der Tür wandte Koch sich noch einmal um und fixierte den Beamten mit einem Blick, in dem ein bedrohliches Maß von Irrsinn flackerte. «Fragen Sie den Hausdiener!», kreischte er schrill. «Der darf immerhin jederzeit in jeden Raum. Und das Messer! Fragen Sie ihn nach dem Messer!» Dann rauschte er davon.

Konrad Benno Katzmann lag in seinem Bett, starrte die Decke an und fühlte sich unendlich alt.

Aus dem Nebenzimmer drangen leise Geräusche zu ihm herüber. Frieda, die der Kleinen ein Schlaflied vorsang, das von süßen Träumen erzählte und eine ruhige Nacht prophezeite. Bauchschmerzen, hatte seine Frau gesagt, das wäre in diesem Alter durchaus nicht ungewöhnlich. Helga würde sie einfach wegschlafen, und am nächsten Morgen sei alles vergessen.

Konrad schloss die Augen. Finanziell hatte sich die Krise bei ihm nicht allzu schmerzhaft ausgewirkt, überlegte er zufrieden. Auch Frieda wusste, dass es ihnen viel besser ging als den meisten ihrer Bekannten und Freundinnen. Er hatte bemerkt, dass sie nicht mehr ausging und die anderen auch nicht mehr in ihre Wohnung einlud. Offensichtlich war ihr der relative Wohlstand peinlich. Konrad gegenüber allerdings behauptete sie, ihr Rückzug läge an seiner chronisch schlechten Laune, er verbreite eine negative Stimmung und ihre Freundinnen fühlten sich in seiner Gegenwart gehemmt. Sicher, er war nun viel mehr zu Hause als früher. Recherchieren für spannende Artikel – das war Schnee von vorgestern. Nachdem die Leipziger Volkszeitung ihm als Chefreporter gekündigt hatte und er sich ein neues Aufgabenfeld hatte suchen müssen, blieb ihm nun mehr Zeit für seine kleine Familie.

Seine Finger tasteten nach Harrys weichem Fell. «Na, wir beide! Durch dick und dünn sind wir zusammen gegangen, ich verdanke dir sogar mein Leben. So etwas schweißt zusammen. Und dich stört es auch nicht, wenn ich zu Hause bin.»

Harry war in die Jahre gekommen. Unbestreitbar. Seine Schnauze war grau, er ging nicht mehr so gern spazieren wie früher und brauchte morgens eine Weile, bis er den Körper in Schwung gebracht hatte.

Konrad lächelte nachsichtig. In ein paar Jahren würde es ihm selbst auch so ergehen. «Weißt du was, Harry? Ich glaube, ich langweile mich. Gut, die LVZ musste uns entlassen, ist ja auch nicht so, dass ich nun gar keine Reportagen mehr schreibe und verkaufe, aber so aufregend wie früher ist unser Leben nicht mehr. Mir fehlt ein bisschen Abenteuer. Geht es dir nicht auch so?» Harry grunzte wohlig unter den kraulenden Händen. Konrad wertete das als Zustimmung. «Na siehst du! Dachte ich mir schon. Dieser Reisebildband war einen Versuch wert, verkauft sich ja auch ganz gut. Der Heinz freut sich auch schon auf den zweiten Band. Nach Leipzig nun eben Dresden.» Harry rollte sich träge auf den Rücken, damit Konrad sich dem Bauch widmen konnte. Der Streichler lachte warm. «Das hast du schon immer gemocht! Seit ich dich aus der Elbe gefischt habe.» Sanft fuhr er durch Harrys Locken. «Du, ich verrate dir was: Ich bin nicht zum Ehemann und Vater geboren! Aber das bleibt unter uns. Wenn Frieda davon erfährt, regt sie sich nur unnötig auf. Wer kann schon wissen, ob ich nicht doch anpassungsfähig werde im Laufe der Jahre?»

Als Frieda eine halbe Stunde später ins Wohnzimmer kam, war Konrad mit Harry ausgegangen. Sie seufzte, räumte das Glas und die zerknitterte Zeitung weg, legte die Wolldecke zu einem ordentlichen Rechteck zusammen und fühlte sich irgendwie ausgeschlossen – aus Konrads Denken, seinem Fühlen, seiner ganzen Welt.

Der Sohn der Familie machte einen ruhigen Eindruck. Keine Tränen, kein Schluchzen, stattdessen ein klarer, wenn auch besorgter Ausdruck in den Augen. Verständlich, dachte Ganter, immerhin wurde in diesem Haus ein Mord begangen, da gab es Grund genug, sich Sorgen zu machen. «Mireille Loliot war etwa in Ihrem Alter?»

Der junge Mann nickte schweigend.

«Sie lebte in diesem Haus wie Ihre leibliche Schwester. Sie verstanden sich gut?»

«Es ergaben sich nur selten Kontakte. Mireille lebte ihr eigenes Leben, und das recht intensiv. Für Brüder – egal, ob leiblich oder nicht – war darin nicht viel Platz. Wenn wir uns trafen, unterhielten wir uns, gelegentlich sind wir auch zusammen ausgeritten. Ich mochte ihre Fröhlichkeit.» Ferdinand von Weitershausen zuckte mit den Schultern. «Mein Vater sah es nicht gern, wenn wir uns trafen. Möglicherweise wollte er verhindern, dass wir uns zu nahe kamen.» Ein scheues Lächeln huschte um seine Lippen und verschwand.

«Wäre diese Verbindung nicht eher sinnvoll gewesen?», fragte Ganter.

«Mein Vater hatte andere Vorstellungen.»

Ganter beschloss, dieses Thema zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu vertiefen. Vielleicht konnte er später noch einmal darauf zurückkommen. «Ist Ihnen aufgefallen, dass Fräulein Loliot die Tafel verließ?», wechselte er das Thema.

«Ja. Sie ging kurz nach dem Dessert.»

«Und wer folgte ihr?» Ganter beugte sich weit über den Tisch, als habe er Angst, er könne sonst die Antwort verpassen.

«Das lässt sich nur schwer sagen. Zu diesem Zeitpunkt begann die Gesellschaft insgesamt sich aufzulösen. Einzelne Grüppchen bildeten sich, manche suchten die Waschräume auf, andere wollten sich nach dem üppigen Essen im Garten ein wenig die Beine vertreten. Zum Glück hatte der Wachmann aufgepasst und nahm gerade noch rechtzeitig den sehr angriffslustigen Hund an die Leine.» Ferdinand schüttelte verärgert den Kopf. «Auch so eine Idee meines Vaters, um gegen Bettler vorzugehen. Wie leicht hätte einer unserer Gäste zerfleischt werden können!»

«Haben Sie beobachtet, wer unmittelbar nach Fräulein Loliot die Tafel verließ?», hakte Ganter nach.

«Xaver Koch, Hubertus Berlinger, Frau von Andergast und ihr Gatte und vielleicht noch eine Handvoll Leute.» Ferdinand schluckte hart. «Hätte ich geahnt, dass einer von ihnen Mireille töten will, dann wäre ich aufmerksamer gewesen!», setzte er vehement hinzu.

«Sie ist Ihnen nicht gleichgültig gewesen.» Das war eine Feststellung, keine Frage. Ganter besaß eine gute Beobachtungsgabe, und ihm war das Flackern im Blick seines Gegenübers nicht entgangen.

«Natürlich nicht», flüsterte der Sohn des Hauses. «Sie haben sie doch gesehen! Eine schöne junge Frau. Und doch auf eine besondere Weise unberührbar. Ich glaube, in all den Monaten streifte meine Hand nur zweimal ihren Arm. Ich mochte ihre Art, mir gefiel es, nicht mehr allein ‹Kind› in diesem Haus zu sein. Und doch verband uns tatsächlich nicht mehr als das.»

«Wussten Sie von einer Beziehung zu Xaver Koch?», fragte Ganter.

«Nein. Geheimnisse blieben unsere Geheimnisse, wir tauschten sie nicht untereinander aus. Eine Verliebtheit fiel mir bei ihr nicht auf. Und gerade Xaver Koch wäre eine ungewöhnliche Wahl gewesen. Ihr Vater wäre sicher nicht mit dieser Verbindung einverstanden gewesen.»

«Die Mordwaffe ist eine ungewöhnliche Klinge. Haben Sie die zuvor im Haushalt Ihrer Familie gesehen?», schnitt Ganter abrupt ein neues Thema an.

Der junge Mann dachte darüber nach, kaute an der Unterlippe und meinte dann bedauernd: «Nein. Allerdings schwärmte Mireille für diese Art kunstvoll gestalteter Gegenstände. Sie meinte immer, große Kunst zu schaffen sei das eine, eine größere Herausforderung jedoch sei es, den alltäglichen Dingen eine besondere, unverwechselbare Seele zu schenken. Deshalb solle mein Vater das Stipendium diesmal an jemanden vergeben, ‹der Licht und Sonne in die Tage der Menschen trägt›. Sie sehen schon, Mireille hatte manchmal unorthodoxe Vorstellungen und eine blumige Art, sie zu formulieren.»

«Ich nehme an, Ihr Vater schloss sich dieser Meinung nicht an.»

«Natürlich nicht. Er möchte als Kunstkenner in die Geschichte Deutschlands eingehen, nicht als Förderer von Gebrauchskunst oder Kunsthandwerk. Da macht er deutliche Unterschiede.» Der sachliche Ton hatte etwas an Schärfe gewonnen. Ferdinand von Weitershausen erhob sich mit einer angedeuteten Verbeugung. «Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, würde ich mich gern wieder um die Gäste kümmern. Wie Sie sich vorstellen können, herrscht allgemeine Aufgeregung. Meine Mutter benötigt meine Hilfe.»

«Einen Moment noch! Welche Pläne hatte Jean Loliot denn mit seiner Tochter? Ist Ihnen darüber Näheres bekannt?»

«Nein. Aber eines kann ich mit Gewissheit sagen: Es waren völlig andere als die, die mein Vater für Mireille verfolgte», spuckte der Sohn des Hauses unerwartet zornig in den Raum, machte kehrt und verschwand.

Sehr interessant, dachte Ganter. Wie mag er das wohl gemeint haben?

Frau von Weitershausen tupfte ununterbrochen mit einem blütenweißen Taschentuch am unteren Lidrand entlang. Schniefte. Weinte. Wischte erneut.

«Frau von Weitershausen, was für ein Mensch war Mireille Loliot?»

Die Gastgeberin schwieg. Aber wenigstens hatte sie zu schniefen aufgehört, während sie offensichtlich auf eine Antwort sann, und das war Ganter mehr als willkommen.

«Wie soll ich das wissen?», hauchte sie unerwartet. «Ich kann doch nicht lesen, was hinter ihrer Stirn vorgeht.»

«Und ihr Verhalten? Ich möchte mir gern ein Bild von ihr machen können. Beschreiben Sie die junge Dame doch bitte!»

Gundula von Weitershausen richtete ihren Oberkörper steil auf und fixierte die Augen ihres Gegenübers, während sie unemotional aufzählte, als lese sie eine Einkaufsliste vor: «Unschuldig, freundlich, wohlerzogen. Wie man es von einem Mädchen dieser Klasse erwarten darf. Die Dienstboten waren geradezu begeistert von ihrer Bescheidenheit und ihrer unkomplizierten Art. Sie fügte sich sehr unauffällig in unseren Haushalt ein, fühlte sich im Schoß unserer Familie offensichtlich geborgen.» Wieder ein Schluchzer.

Ganter suchte misstrauisch nach Tränenspuren, fand aber keine. Aha, dachte er griesgrämig, schon wieder eine Bühnendarbietung. «Wussten Sie von der Liebe zu Herrn Koch?»

«Aber natürlich nicht!» Gundula von Weitershausen schüttelte energisch den Kopf. «Wenn es tatsächlich eine Verbindung gab, so ist es den beiden gelungen, sie geheim zu halten. Möglicherweise sollte Jean es als Erster erfahren, wer weiß. Ach, der arme Mann! Er vertraute uns Mireille an, damit sie ihre angegriffene Gesundheit … Und nun starb sie in unserer Obhut!» Neue Tränen. Wischen. Tupfen.

«Sie starb nicht einfach so – jemand hat sie ermordet», stellte Ganter klar. Sprachliche Vertuschungstechniken wollte er nicht zulassen. Seiner Meinung nach sollte die Familie so früh wie möglich damit beginnen, sich mit der neuen Situation auseinanderzusetzen. Außerdem erschwerten wortreiche Verschleierungen seine Ermittlungen.

«Seien Sie nicht so roh!», tadelte ihn die Dame wie erwartet. «Es ist für uns alle ein grässlicher Hieb des Schicksals.» Sie schniefte.

Hier kam er nicht weiter, wurde dem Ermittler klar. «Hieb des Schicksals», wie albern! «Stich des Mörders» träfe es eher, hörte er seine innere Stimme höhnen. Er beschloss, sie so gut zu ignorieren, wie es eben ging. «Ich brauche die Namen aller Personen, mit denen Fräulein Loliot näher bekannt war.»

Ein gequältes Nicken war die Antwort. «Karl wird Ihnen eine Liste ins Bureau bringen.»

Ganter spürte den Worten nach und befand, dies war ein Versuch, ihn in Zukunft aus dem häuslichen Milieu in der Villa der von Weitershausens herauszuhalten. Nun, überlegte er, das wird nicht gelingen. «Waren Sie selbst auch damit einverstanden, dass die junge Dame in Ihr Haus zog?»

«Selbstverständlich. Das arme Kind hat nach dem plötzlichen Tod der Mutter nicht recht ins Leben zurückgefunden, war immer schwächlich und ohne Antrieb. Seit sie in Dresden lebte, ging es ihr sichtbar besser. Wir sorgten für reichlich Abwechslung in ihrem Alltag und viel Bewegung an der frischen Luft. Langsam bekam ihr Gesicht Farbe, und sie nahm auch wieder zu. Besondere Freude hatte sie an den täglichen Ausritten. Natürlich unternahm sie diese nicht allein, unser schwedischer Pferdepfleger Arne begleitete sie immer. Das ist ihr sehr gut bekommen», erklärte die Gastgeberin in rechtfertigendem Ton, als habe man ihr vorgeworfen, das Mädchen sei von den Weitershausens bewusst dem Hungertod überlassen worden.

Der Dresdner Ermittler konstatierte, dass die Familie sich hartnäckig um die unangenehme Realität herumdrückte. «Wann wird Herr Loliot zurückerwartet?»

«Genau wissen wir das nicht. Allerdings hofften wir, ihn zu Mireilles Geburtstag in der kommenden Woche hier begrüßen zu dürfen.»

«Sie haben keinen engeren Kontakt gehalten?», staunte Ganter.

«Doch, natürlich. Telegramme und Briefe. Auch Mireille hat ihm regelmäßig geschrieben. Deshalb wissen wir auch, dass er seine Planung für die neue Fabrik besser und schneller umsetzen konnte als erhofft. Über seine Reisepläne jedoch hat er nichts verlauten lassen.»

«Was, wenn nun eine wichtige Entscheidung hätte getroffen werden müssen, das Fräulein zum Beispiel krank geworden wäre?»

«Sie ist rechtlich unser Mündel. Alle Entscheidungen treffen wir.» Sie merkte, dass sie im Präsens gesprochen hat, und schlug die Hände vor den Mund. «Aber das hat ja nun keine Bedeutung mehr.»

Wortlosigkeit richtete sich im Raum ein.

Plötzlich änderte sich der Gesichtsausdruck der Gastgeberin. Gerade noch schmerzverzerrt, wandelten sich die Züge hin zum Arroganten, ihr Blick wurde kalt, und ein neuer Ton hielt Einzug. «Ich hoffe, die dramatische Entwicklung wird unser gutes Verhältnis nicht belasten. Es wäre mehr als bedauerlich, wenn der heutige Abend unsere langjährige Freundschaft zerstörte und unsere Geschäftsbeziehungen belastete.»

Ganter hörte ihr fassungslos zu. Konzentrierte sich darauf, den Mund nicht unvorteilhaft und dümmlich offen stehen zu lassen. Vorsichtshalber griff er mit der Rechten an sein Kinn. Da wäre ich aber gern dabei, wenn die Familie Weitershausen auf den Vater des Opfers trifft, dachte er sarkastisch. Ganz friedlich wird das wohl kaum abgehen. Ich würde glauben, dass diese Leute mein Kind nicht gut betreut haben. Ich könnte ihnen das nie im Leben verzeihen. Mein Gott, Ganter, diesen Fall kriegst du nie gelöst. Diese Leute fühlen und handeln völlig anders als du! Neben einem Mordopfer stehend, denken die nicht an den Schmerz des nächsten Verwandten, sondern an die Geschäftsbeziehungen, die nicht gestört werden sollen, mahnte seine innere Stimme, und ein schwarzer Verdacht keimte in ihm auf: Er war in der letzten Zeit einige Male hart bei seinen Vorgesetzten angeeckt – hatte man ihm diesen Fall zugewiesen, damit er scheiterte? Sollte so seine Laufbahn beendet werden?

Konrad schlenderte auf seinem Heimweg nach dem Besuch der Eckkneipe langsam durch die Wolfsgasse. Je näher er seiner Haustür kam, desto lustloser schritt er aus. Harry trottete schweigend nebenher, so als wolle er ihn beim Denken nicht stören.

«Weißt du was, Harry? Fritz haben wir schon lange nicht mehr besucht. Das machen wir morgen! Der wird sich freuen, wenn wir mal wieder bei ihm auftauchen. Vielleicht nehmen wir unsere Damen mit, dann können sich die Mütter über Kindererziehung austauschen, während wir Männer uns mit wichtigen Angelegenheiten auseinandersetzen, Politik zum Beispiel. Und so viel Arbeit wird er auch nicht haben, dass er uns kurzerhand vor die Tür setzt.» Konrad nickte seinem Hund zu. «Eine Runde noch, dann müssen wir wirklich hoch!»

Nach einer halben Stunde standen sie erneut vor dem Hauseingang. «Das war’s für heute. Morgen gehen wir bei Fritz vorbei. Vielleicht muss Frieda einfach mehr unter Leute.»

Konrad bückte sich und hob den kurzbeinigen Begleiter auf den Arm, trug ihn die breite Treppe hoch bis in die Wohnung.

Alles dunkel.

«Psst!», flüsterte er Harry ins Ohr. «Die Damen schlafen wohl schon. Da wollen wir sie mal lieber nicht wecken.»

Harry verstand. Trollte sich leise auf seinen Platz neben dem noch warmen Ofen.

Konrad kroch wenig später zu Frieda ins Bett. Seine Frau murrte leise im Schlaf, warf sich herum und wandte ihm den Rücken zu. Auch gut, dachte Konrad trotzig, dann muss ich nicht mit dir reden. Worüber auch?

Als der Morgen zu dämmern begann, war Fritz Ganter müde und zerschlagen auf dem Weg nach Hause. Wenigstens ein frisches Hemd für den neuen Arbeitstag würde er brauchen. Auf der Fahrt überlegte er, was er nun an greifbaren Informationen über die Ermordete bekommen hatte. Wenig. Immer freundlich sei sie gewesen, stets sauber und ordentlich, pünktlich, zuvorkommend. Eine junge Frau ohne die geringste schlechte Eigenschaft. Neid, Missgunst oder intrigantes Gehabe seien ihrem Wesen fremd gewesen, hatte man ihm unisono versichert. Sie wusste sich zu benehmen, war von gutmütigem Wesen, hatte man zu Protokoll gegeben. Wo sollte da eine polizeiliche Ermittlung ansetzen?

«Tja», murmelte Ganter in den Tagesanbruch, «und doch war irgendjemand der Auffassung, du habest den Tod verdient. Aber wer tötet einen Engel?»

Im Schoß der Familie

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