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14.

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Anja war nach dem Frühstück in den Schülerbus gestiegen und mit nach Mellrichstadt gefahren. Martin hatte die ersten beiden Stunden frei. Geschenkte Zeit für sie beide von acht bis halb zehn. Sie hatten sich in einem Stehcafé beim Bäcker in der Nähe des Bahnhofs verkrochen. Zweites Frühstück. Cappuccino und Quarkschnecke. Ein paar Küsse. Eilig, peinlich berührt, wenn jemand das winzige Café betrat. Geflüsterte Gespräche, damit die Bäckerin nichts mithörte.

Sie waren beide volljährig, aber vor allem Anja hatte keine Lust auf Gerede. Im Internat konnten sie sich höchstens in ihrem Zimmer treffen, natürlich hinter dem Rücken der Nonnen. Zum Glück mussten sie die Heimlichkeiten nur noch für kurze Zeit durchhalten. Ende Mai würde Martin das Abi in der Tasche haben, Anja Ende Juli ihr FSJ beenden. Danach hätten sie ausreichend Zeit füreinander.

Dennoch fühlte Anja sich niedergeschlagen, als sie kurz vor halb zehn durch die leeren Straßen zum Bahnhof hinüberging. Irgendwie bedrückte sie zu vieles in letzter Zeit. Die böse Einsamkeit schlich feixend heran. Mellrichstadt gab nicht viel her. Grenzland eben. Man war abgehängt hier oben. Der Frühling ließ auf sich warten. Der Wind trieb ein paar Schneeflocken vor sich her. Dabei stand Ostern vor der Tür. Ob das Wetter sich endlich drehte? Sie hatte keine große Lust, zu ihren Eltern zu fahren. Das stete Schweigen zwischen den beiden, das stille Leiden der Mutter, die unterdrückte Wut des Vaters, worauf auch immer, konnte sie kaum aushalten.

Am Bahnhof zerrte sie das Rad, mit dem Martin gestern zur Schule gefahren und das er für sie hier abgestellt hatte, aus einem Pulk anderer Drahtesel. Sie stülpte die Kapuze über den Kopf und schlüpfte in ihre Handschuhe. In einer Stunde wäre sie im Internat. Sie fröstelte. Ein warmes Bad könnte sie dann gebrauchen. Bestimmt hätte sie Zeit dafür, bis die ersten Schüler gegen eins zurückkamen. Dummerweise hatte sie heute Nachmittag Sportaufsicht. Kirsten war krank, und auch Anja spürte ein leichtes Kratzen im Hals. Sie schwang sich auf den eiskalten Sattel. Verdammt! Dieser Winter musste endlich aufhören, der stets wolkenverhangene Himmel aufbrechen. Sie sehnte sich nach Sonnenschein. Wo sie nächstes Jahr um diese Zeit wohl sein würde? Sie hatte sich bereits nach Studienplätzen umgesehen. Deutsch für Lehramt wollte sie studieren, was das zweite Fach betraf, hatte sie bislang keine Entscheidung getroffen. Geschichte würde sie interessieren, Politikwissenschaft oder Geografie. Das Problem, dachte sie, während sie langsam aus der Stadt hinausradelte, sich gegen den Wind lehnend, besteht darin, dass man sich gegen so viele spannende Dinge entscheiden muss.

Aber der Beruf Lehrerin, der sollte es sein. Ihr Vater würde toben. Insofern tat ihr der Abstand zu daheim und besonders zu ihrem Vater gut. Im Internat ließ man sie spüren, dass Eduard Mähling ein angesehener und geschätzter Mann war. Er galt als Spendenkönig. Wie er zu den Beträgen kam, die er in schöner Regelmäßigkeit den Nonnen überschrieb, verstand Anja nicht ganz, obwohl seine Generosität ihr im Alltag zum Vorteil bei den Nonnen gereichte. Im Familienkreis klagte ihr Vater seit Jahren über das Geschäft, dass der Umsatz einbrach und mit Papier und Kartonagen nicht mehr das Geld zu verdienen war, das einst Gewinne garantiert hatte. Lächerlich: Er glaubte tatsächlich, sein Gejammer würde das Unternehmen für seine Tochter attraktiver machen. Dabei hatte sie ihm längst reinen Wein eingeschenkt. Sie würde die Firma nicht übernehmen.

Außerhalb des Städtchens musste Anja sich mit aller Kraft gegen den Wind stemmen. Bald taten ihr die Oberschenkel weh. Sie wünschte, sie hätte ihren Walkman mitgenommen. Erst gestern hatte sie mit Kirsten Songs aus dem Radio aufgenommen, kichernd hatten sie versucht, den Moment abzupassen, in dem die Musik startete, und sich jedes Mal geärgert, wenn die Stimme des Moderators über die ersten Takte quatschte. Mit Kirsten war alles unbeschwert. Sie hatte keine Angst, Fehler zu machen. Anders, wenn sie sich mit Martin traf. Sie fürchtete oft, sie könnte ihn abstoßen mit ganz unerwarteten Dingen, er könnte Eigenheiten an ihr entdecken, die er nicht mochte. Irgendwie hatte sie sich das Verliebtsein einfacher vorgestellt.

Die Straße wurde steiler. Die Schaltung des alten Rads ließ sich nur noch in den zweiten und dritten Gang bewegen. Anja stellte sich auf die Pedale und trat kräftig. Vielleicht wäre sie schneller, wenn sie zu Fuß ginge und das Rad schob? Wenigstens schneite es nicht. Am Straßenrand türmten sich schmutzige Schneereste, vermischt mit Split, und auf den Wiesen lag der verharschte Schnee wie ein Panzer. Der Schweiß lief ihr in den Nacken, sie hätte am liebsten die Kapuze heruntergerissen, wollte jedoch einer Erkältung keinen Vorschub leisten. Hoffentlich hatte Kirsten sie nicht angesteckt! Schade, wenn ihr soziales Jahr vorbei wäre, würde sie Kirsten wahrscheinlich aus den Augen verlieren. Selten hatte Anja sich auf Anhieb so gut mit jemandem verstanden. Ob die Freundschaft Bestand hätte, wenn sie an verschiedenen Orten studierten? Kirsten hatte neulich davon gesprochen, nach Berlin zu gehen. Und Martin? Er wollte Zivildienst leisten, hatte bereits eine Stelle in Bad Königshofen in Aussicht, wo seine Mutter lebte. Leider gab es dort keine Uni …

Ein Wagen schoss an ihr vorbei. Anja schreckte aus ihren Gedanken. Sie musste husten. Bitte keine Erkältung, jetzt kamen doch die Ferien!

Endlich wurde die Straße wieder flacher. Sie konnte im Sattel sitzend trampeln. Als die Internatsgebäude in Sicht kamen, atmete sie erleichtert auf. Schweißnass stellte sie das Rad im Geräteschuppen neben der Turnhalle ab und huschte in den zweiten Stock hinauf. Im Sekretariat in der ersten Etage brannte Licht. Sie hörte die Stimme der Sekretärin, die hektisch versuchte, jemanden am Telefon abzuwimmeln. Ansonsten war es still im Haus, wie jeden Vormittag. Unvorstellbar der Radau, der in spätestens zwei Stunden das alte Gebäude erfüllen würde. Auf der Treppe fielen ihr Wassertropfen auf. Wahrscheinlich hatte eine der Schwestern die Blumenstöcke auf den Fenstersimsen gegossen.

In ihrem Zimmer warf sie den Anorak auf das Bett und sah auf die Uhr. Sie hatte länger als eine Stunde von Mellrichstadt nach Hause gebraucht. Kein Wunder, bei dem Gegenwind. Entschlossen griff sie nach Handtuch und Shampoo. Sie würde ein Bad nehmen, sicher wäre das die beste Chance, die heranziehende Erkältung abzuwehren.

Das Badezimmer lag am Ende des Flurs. Ein hässliches altes Ding, grau gekachelt bis zur Decke, mit einer Reihe Waschbecken an der Wand und dahinter einer altmodischen Badewanne. Anja freute sich auf die Dusche zu Hause. Einer der wenigen Vorteile eines Heimatbesuchs in den Ferien.

Als sie den Korridor entlangging, stieg ihr der Geruch von Fichtennadeln in die Nase. Sie sollte nach Kirsten schauen! Wahrscheinlich war sie auch auf die Idee mit dem Bad gekommen und hatte sich nun ins Bett verkrochen. Sie kehrte um, ging die paar Schritte zu Kirstens Zimmertür. Hob die Hand, um zu klopfen. Nein. Besser, sie weckte ihre Freundin nicht. Kirsten hatte heute Morgen wirklich elend ausgesehen, wenn sie schlief, würde sie sich wenigstens erholen.

Anja ging zum Bad und öffnete die Tür. In grauem Dämmerlicht lag die Waschbeckenstraße da. Der Geruch nach Fichtennadeln wallte ihr entgegen. Fenster und Spiegel waren beschlagen. Am Rand eines Waschbeckens lagen Anziehsachen. Anja erkannte Kirstens Pulli und die geflickten Jogginghosen. Langsam machte sie ein paar Schritte. Die abgestandene, warme Luft war ihr plötzlich unangenehm. Als bekäme sie kaum Atem.

Sie glaubte, draußen auf dem Gang ein Geräusch zu hören. Drehte sich kurz zum. Die Tür war nur angelehnt. Da war niemand.

Anja spürte, wie heftig ihr Herz pochte, und schob es auf die anstrengende Fahrradtour. Ihr war, als befinde sich jemand im Raum. »Hallo?«, rief sie halblaut. Sie guckte hinter die Trennwand.

Kirsten lag in der Wanne. Unter Wasser. Ihr braunes Haar trieb darin wie die Tentakeln eines großen Tieres.

*

Rhöner Nebel

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