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Der Pilot und die Nichte

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Paul schickte an einen guten Freund und Ex-Patienten seines verstorbenen Vaters eine Nachricht, mit der dringenden Bitte, ihn nach Marrakesch zu fliegen. Unbedingt heute noch, schrieb er.

Der Bekannte fühlte sich Pauls Vater immer noch zu tiefst verpflichtet. Sein Gesicht, das in Jugendjahren durch einen schweren Motorradunfall verunstaltet worden war, hatte der Chirurg, durch zahlreiche und über einige Jahre hingezogene Operationen, wieder herzustellen gewusst. Die geschickte Hand, das außergewöhnliche Können und der unersättlich berufliche Ehrgeiz, des inzwischen Verstorbenen, hatten ihn damals von seiner Verunstaltung erlöst. Er nahm gerne die Gelegenheit wahr, Paul einen Gefallen zu erweisen. Außerdem fehlte ihm für dieses Jahr noch eine gehörige Anzahl an Flugstunden, die er benötigte, um seinen Flugschein nicht erneuern zu müssen.

Vier Stunden später saß Paul in der kleinen Maschine mit dem Flugziel Marrakesch. Das Flugzeug eignete sich sogar für Atlantikflüge, dadurch benötigte man keine Genehmigung für eine Zwischenlandung um aufzutanken, falls man über den Großen Teich wollte. Auch bei dem Marokko-Flug war nur die Angabe des Zielflughafens und die Bestätigung einer Landeerlaubnis nötig, zu der Rückmeldung dieser Bestätigung kam es allerdings nicht.

Der Pilot kannte die Maschine sehr gut, er hatte sie oft, zusammen mit seinem verstorbenen Freund, geflogen. Sie hatten dieses Hobby gemeinsam genossen und gemeinsam finanziert. Erst vor kurzem war die Wartung organisiert worden. Er hatte sich sofort bereit erklärt, Paul den Wunsch zu erfüllen, ihn spontan nach Marokko zu fliegen.

Seine Nichte war für einige Tage zu Besuch bei ihm, sie wurde gebeten ihn als Copilotin zu begleiten. Es galt in dieser Familie als selbstverständlich, dass auch sie eine Flugerlaubnis besaß, nicht außergewöhnlicher, als ein Sturzhelm zum Mountainbike. In der Eile einen anderen Copiloten aufzutun, wäre nicht einfach gewesen. Außerdem freute der Onkel sich auf diesen Extra Trip mit seiner Nichte. Er hatte sich drei, eventuell auch vier Tage von seinen Verpflichtungen als Konzernchef zurückziehen können, sich abgeseilt, wie er es augenzwinkernd vor der Nichte ausdrückte. Er konnte nicht ahnen, dass ihn dieses Abseilen in die Ewigkeit führen würde.

Als sie am Flughafen ankamen, stand Paul schon an der Maschine, er begrüßte die beiden kurz und dankbar. Der Pilot zeigte großes Mitgefühl für den „armen Paul“, stellte keine weiteren Fragen, sondern klopfte ihm nur herzhaft auf die Schulter, so dass Paul leicht in die Knie sackte. Ja, dieser Junge war verdammt schwach, das hatte der Blitzpilot in seiner Erregung vergessen.

Sie wurde ihm als die Nichte, Doktor Penélope Palownak, vorgestellt. Ihre Mutter sei Polin gewesen, erfuhr Paul. Die schöne Nichte Penélope hatte einen kurzen Schreckensschrei von sich gegeben und sich abrupt abgewandt. Beide Männer blickten erschrocken auf ihre zuckenden Schultern. Ihr Onkel erkundigte sich, ob sie eine Zahnschmerzattacke hätte. Sie verneinte mit einem Kopfschütteln und blieb einige Sekunden länger abgewandt, um ihre Tränen zu verbergen. Sie hatte nur eine Stunde Zeit gehabt, sich für diesen gefürchteten Augenblick innerlich zur Ruhe zu rufen. Obwohl sie zuvor, mehr als ein halbes Jahr auf diese Begegnung gewartet hatte, sich sehr darum bemüht hatte, war dieser Moment nun doch schwer zu ertragen. Pauls Gegenwart hatte sie für einige Sekunden unkontrollierbar erregt, zum beinahe Davonlaufen erschüttert. Dann nahm sie sich zusammen, drehte sich um, lächelte verkniffen und meinte, sie sei total okay, abflugbereit und bester Laune.

Dieses unerwartete Wiedersehen und Erkennen hatte ihr nur kurz die Fassung geraubt. Sie kannte dieses Gesicht, hatte es sich tiefer eingeprägt als ihr eigenes. Sie hatte es damals, voller Anteilnahme und sehr intensiv, einige Minuten lang betrachtet, um wenige Stunden danach, mit Entsetzen das grausame Missverständnis festzustellen. Ein Entsetzen, das sie niemandem beschreiben konnte, das sie tief verwundet und gleichzeitig geheilt hatte.

Paul war in die Maschine gestiegen, er sah diese Frau zum ersten Mal in seinem Leben. Sie machte einen schüchternen Eindruck auf ihn, beinahe ängstlich. Sie war sehr schön, hatte kurzes, blondes Haar, blaue Augen und sehr helle Haut mit dekorativen Sommersprossen. Kein griechisches Profil. Ihr schöner Nacken war sorgfältig ausrasiert. Eine Penélope stellte Paul sich anders vor, mit dunkelhaariger Mähne, ein wenig versteckt wollüstig und auf jeden Fall sehr entschlossen. Es erstaunte Paul, dass ihm ihre Nackenrasur aufgefallen war.

Paul war der einzige Passagier an Bord, die restlichen fünf Passagiersitze waren unbesetzt. Ein Luxus, den er sich ohne Zögern leistete, ganz gegen seine Gewohnheit. Einen regulären Flug nach Marrakesch hätte er erst in zwei Tagen buchen können, das schien Paul unendlich weit entfernt. Etwas trieb ihn an, als sei der Teufel hinter ihm her. Und das war er wahrhaftig!

Während sich die beiden Piloten im Cockpit eifrig zu unterhalten schienen, hatte Paul sich in die hinterste Sitzreihe zurückgezogen und versuchte zu schlafen. Der Onkel bestritt hauptsächlich das Gespräch, verstrickt in seinen Beteuerungen, sich so bald wie möglich von seiner Frau scheiden zu lassen, um seine Dolmetscherin zu heiraten. Penélope lachte ihn aus und war gleichzeitig völlig abwesend, ohne dass er es bemerkte. Sie saß in Gedanken hinten bei Paul, und sie war vor Schreck und Elend bleich wie eine Kirchenkerze im Scheinwerferlicht.

Seine Geliebte sei eine attraktive Eurasierin, ereiferte sich inzwischen ihr Onkel, er fühle sich in ihrer Gegenwart um herrliche zwanzig Jahre jünger und ihr erregend unterlegen. Natürlich nur auf einem Sektor, beeilte er sich süffisant lächelnd hinzuzufügen.

„Und sie benebelt offensichtlich deinen Verstand“, murmelte die Nichte schwach.

„Meine Geliebte und zukünftige Frau, eine weibliche Vollkommenheit“, strotzte er in viertausend Metern Höhe. Sie sei gefügig, tolerant und ebenfalls mit Intelligenz und Humor gesegnet. Eigenschaften, welche die Nichte ihrem Onkel in Gedanken absprach. Er schwelgte, seine Worte trieften und verweilten anhaltend im Bereich exotisch-erotisch, während sich die geballte Wolkenformation über ihnen schüttelte.

Die Affäre war sein gehütet geglaubtes Geheimnis, endlich konnte er sich gründlich aussprechen. Die lange Flugzeit war ideal dafür, keine Ablenkungen, keine unerwünschten Zuhörer, denn der „Junge“ im Heck konnte ihn bei dem Fluglärm nicht hören, außerdem schien er zu schlafen.

Als die Auserwählte sich am frühen Nachmittag süß und heftig von ihrem Chef verabschiedet hatte, sah sie ihn das letzte Mal. Wenige Stunden später geriet der kleine Jet in eine Schlechtwetterfront. Ein Hurrikan hatte sich über den Atlantik zusammengebraut, das galt in dieser Gegend als äußerst ungewöhnlich. Er war mit seinen Ausläufern in die Vorgebirgsebene des Atlas gefegt, hatte den Piloten gezwungen östlich auszuweichen und über die Gebirgskette zu fliegen. Der Onkel lamentierte noch über die Klimawende und hielt sich dabei über die Unverantwortlichkeit der Menschheit auf, als sei er nicht ein Teil davon.

Das kleine Flugzeug wurde von der heftigen Randzone des Unwetters erwischt und geriet außer Kontrolle. Seine Schwärmerei, das Gute oder Schlechte daran, alle Ziele, Anmut und Erotik, wurden im Nu vom Griff des Todesschreckens getilgt.

Man sah weit und breit keine Fläche. Eine unsanfte Notlandung, in der zerklüfteten Topographie des Gebirges, stand bevor. Oder ein Absturz. Ein kurzer Schreck, wenige Sekunden und dann aus und vorbei?

Nein, dieser Unfall bestand nicht aus einem plötzlichen Absturz, die Maschine sank zwar unaufhaltsam, aber der Schreck zog sich einige Minuten in die Länge. Der Konzernchef rief nicht in höchster Not nach dem Namen seiner Verehrten, er sehnte sich nicht nach ihrem Kuss, kein letzter Liebesschwur rollte über seine zitternden Lippen, seine Leidenschaft war brutal abgewürgt. Er war einzig, von Angst um sich selbst besetzt und versuchte hektisch in aussichtslosem Bemühen eine Bruchlandung zu vermeiden. Diese erwies sich über der zerklüfteten Gebirgsfront als unumgänglich. Seine schöne Nichte Penélope ging ihm dabei ebenso aussichtslos zur Hand. Beide waren zu wenig Profis, um diese prekäre Situation fachgerecht zu meistern.

Penélope hatte keine Panik, nur stumme Angst, und sie spürte hautnah die menschliche Einsamkeit. Sie erkannte schnell das sinnlose Bemühen des Piloten und wunderte sich über den lang empfundenen Zeitraum des fallenden Fluges. Sie zwang sich zur Ruhe. Und dann dachte sie noch einmal mit all ihrer Inbrunst an Paul und bat ihn um Verzeihung. Sie drehte sich um, sah nach hinten und versuchte seinem Blick zu begegnen, doch Paul war nicht zu sehen, er lag schlafend in den Sitzen.

„Es tut mir leid, es tut mir so entsetzlich leid!“ Diesen Satz, wie ein Gebet hervorgestoßen, wiederholte sie laut, unzählige Male. Die letzten Minuten, kein sinnloses Nichts. Sie schienen alles für sie zu sein, alles was ihr blieb und jetzt noch wichtig war.

Diese Gedanken übertönten ihre Angst, sie flogen an der schönen Penélope vorbei und hindurch, langsam wie ein eiliger Vogelschwarm. Sie empfand jeden flatterigen Flügelschlag, jedes einzelnen imaginären Vogels separat. Jeden einzelnen, wie ihre eigenen hektischen Atemzüge.

Und dann kam der Aufprall. Bäume flogen durch das Cockpit, Äste schlugen auf sie ein, sie schrie auf und verlor das Bewusstsein. Ihr Onkel war sofort tot. Und Paul? Dem Todkranken, dem so sterbenselend während des Fluges gewesen war? Er hatte sich unterwegs mehrere Male übergeben müssen, und er hatte sich völlig erschöpft auf die beiden hintersten Sitze gelegt.

Kein und Aber oder die gestohlene Zunge

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