Читать книгу John K. Rickert - Gabriele Steininger - Страница 6

Kapitel 1

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Schritte hinter ihm, lenkten seine Aufmerksamkeit auf die Person, die den Raum in diesem Moment betrat.

Daniel Mac Fleed drehte sich verärgert um. Außer James Graham, dem Daniel gestattete sich hier aufzuhalten, kannte er nur eine Person, die dreist genug war ungefragt in diese Lagerhalle zu treten. Der schlaksige, dünne Kerl stand amüsiert bei den ersten Fässern und ließ seinen Zeigefinger durch die Staubschicht auf dem Holz gleiten. Mac Fleed war nicht erfreut und nicht überrascht, ihn hier zu sehen.

"Was für attraktive Ware", sagte der Eindringling.

"Sie ist unverkäuflich", brummte Mac Fleed ihn an. Ärgerlich sah er seinem Gegenüber in die mausgrauen Augen.

Was für eine ungewöhnliche Farbe, für einen schwarzhaarigen Mann, dachte er. Zusammen mit dem kantigen Gesicht, verliehen sie ihm ein hartes, unerbittliches Aussehen. Liam Hogan hatte sich lange nicht mehr sehen lassen. Hatte ihn in Ruhe gelassen.

Jetzt war er wieder da. Ein unverschämtes Grinsen im Gesicht, so, als wären sie beste Freunde. Zusammen mit Daniels Vergangenheit stand er zwischen seinen Schätzen und warf einen Schatten über sein Leben, den er scheinbar nicht loswerden konnte.

"Du freust dich ja gar nicht mich zu sehen, Daniel." stellte er fest.

"Ich habe dir tausendmal gesagt, dass ich dich hier nicht sehen will!", schrie ihn Mac Fleed an.

"Mein Gedächtnis ist nicht mehr das Beste." Spott lag in Liams Worten.

"Es scheint immer noch gut genug, um den Weg hierher zu finden."

"Ich kann mich auch noch an eine Zeit erinnern, in der du mich zuvorkommender empfangen hast."

"Das ist lange her."

"Das ist wahr."

"Was willst du hier? Nach all den Jahren?"

"Ich dachte, wir könnten unsere Geschäftsbeziehung wieder aufleben lassen." sagte Liam. Das Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden. Wenn es ums Geschäft ging, war er immer ernst.

"Nein." Daniels Antwort war knapp und eindeutig.

"Ist das dein letztes Wort?", fragte Hogan nach.

"Ja. Das ist es." Er hatte einen festen Blick, als er das sagte. Nichts und niemand würde ihn je wieder zu solchen Geschäften bringen. Er war jung gewesen und zugegeben auch etwas naiv, als er sich damals auf Hogan eingelassen hatte.

Diamantenschmuggel in doppelten Böden von Whiskeyfässern. Nie hatte er verstanden, warum sie die Ware von Afrika erst nach Irland schafften, bevor sie in seinen Fässern nach Amerika und später in die ganze Welt verschifft wurden. Es war ihm auch egal gewesen, denn jede Nacht hatte er nur einen Gedanken. Den maroden Betrieb wieder auf die Beine zu bringen und nicht erwischt zu werden.

"Dann musst du mit den Konsequenzen leben." Einen enttäuschten Eindruck machend, drehte er sich um.

"Lebe wohl, alter Mann", sagte er und ging.

"Lass dich nicht mehr hier blicken!", rief Daniel ihm hinterher. "Dann musst du mit den Konsequenzen leben…", äffte er Hogan nach. Sein ganzes Leben lang lebte er schon mit den Konsequenzen. Seit ihm sein Vater, Thomas Mac Fleed, das Anwesen vermacht hatte, lebte er schon mit den Konsequenzen.

Der Hof bestand aus drei Wohngebäuden und einer kleinen Whiskey-Brennerei, als er ihn übernommen hatte. Mit ein bisschen Schafzucht und dem Verkauf von Selbstgebrannten bestritten sie ihren Lebensunterhalt. Im letzten Jahr seines Lebens, hatte sein Vater den Betrieb heruntergewirtschaftet. Es war harte Arbeit gewesen, ihn wieder konkurrenzfähig zu machen. Daniel hatte alles getan, um die finanzielle Lage wieder in den Griff zu bekommen. Der Schmuggel war für ihn die einzige Chance, die Familie und das Unternehmen durch diese Zeit zu retten. Niemand hatte geahnt, welche dunklen Geschäfte im Schwarz der Nacht zwischen Whiskeyfässern ihren Gang genommen hatten.

"Mister Mac Fleed?" James Grahams tiefe Stimme dröhnte über den hinteren Hof durch die offene Tür. Daniel schritt durch sie hindurch und kam seinem Angestellten entgegen.

"Was ist denn, James?", fragte er den zwei Meter großen Mann, der über das Pflaster in seine Richtung eilte.

"Mister Mac Fleed, ist alles in Ordnung?" Außer Atem blieb er vor seinem Chef stehen.

"Ich habe einen Mann gesehen, der nicht hier her gehört."

Es war nichts in Ordnung. Nicht mehr.

"Alles in Ordnung. Er ist nicht von hier, hat nach dem Weg gefragt", log er. James sah ihn verwirrt an. "Du kannst wieder an deine Arbeit gehen."

Am Abend saßen Isabella und ihre Tochter mit Daniel im Salon. Seine Frau war in ihre Stickarbeit versunken, Sarah hatte ihre Nase hinter einer Zeitschrift versteckt. Die Gedanken des Brennereibesitzers schweiften wie der Dunst seiner Pfeife in andere Sphären. Holly, seine Tochter aus erster Ehe mit Emma Mac Laughlin, hatte sich bereits in ihre Räume zurückgezogen. Emma hatte ihm auch noch einen Sohn geschenkt. Über ihn wollte er im Moment nicht nachdenken.

Dafür dachte er an seinen ersten Hochzeitstag. 1983, am 6 ten Juni, hatte Thomas Mac Fleed seinen Jüngsten enterbt und vom Hof gejagt. Matthew war dem Schicksal seiner Schwester Sophie gefolgt. Diese hatte das Elternhaus schon 1978 verlassen. Der Alte war kein nachsichtiger Mann gewesen und seit je her mit den Quinns zerstritten. Das Sophie sich mit Harry Quinn eingelassen hatte, konnte er nicht dulden. Die Schwester hielt den Kontakt zu Mutter und Bruder, wann immer es einen Zeitpunkt gab, an dem sich Thomas nicht auf dem Gelände befand. Matthew tauchte komplett ab. Keiner wusste, wo er sich aufhielt, was er machte, oder ob er je wieder das Anwesen betreten würde. Emma hatte es das Herz gebrochen, ihre Kinder auf diese Weise verlieren zu müssen.

Sie war am 18ten Mai 1984, drei Tage vor der Geburt von Jack, gestorben. Jack. Die Parallelen waren nicht zu übersehen. Daniel hatte ihn, wie sein Vater Matthew, von Doubthill gejagt, wie einen räudigen Köter. Mehrmals war er seit dem wieder zu Besuch gewesen und hatte versucht, seinen Vater zu beschwichtigen. Jedes Mal eskalierte es zu einem neuen Streit, in dessen Wortwechsel Daniel Dinge sagte, die er nie sagen wollte. Um sich zu entschuldigen, stand ihm sein eigener Stolz im Weg. Er erinnerte sich, wie sehr er vor sich selbst erschrak, als er in Erwägung gezogen hatte, seinen Sohn zu enterben. Holly war sechs Wochen alt, als Thomas Mac Fleed starb. Da Daniel jede Hilfe gebrauchen konnte, die er bekommen konnte, hatte er nichts dagegen, dass seine Geschwister in die beiden anderen Häuser einzogen.

Es war, als wäre ein Fluch von dem Anwesen genommen worden. Eine Verwünschung, die mit Thomas Mac Fleed zu Grabe getragen und für immer im Erdreich versunken war. Die ganze Familie baute Doubthill auf. Der kleine Flecken Land hatte sich innerhalb kürzester Zeit in ein stattliches Anwesen verwandelt.

Daniel Mac Fleeds Leidenschaft für seinen Beruf, begründete sich lediglich zum Teil in der Familientradition. Das Geschäft wurde seit Generationen vom Vater in die Hände des Sohnes vererbt. Daniel übernahm ihn ebenfalls, auf diese Weise, von seinem Vater. Er liebte die Traditionen. Obwohl er sich in jungen Jahren überhaupt nicht begeistern konnte. Lehrte ihn die Zeit doch, die Weisheiten des Alters zu schätzen. Sein Interesse wuchs mit den Jahren, in denen er den Handel und die Brennerei führte. An manchen Tagen wünschte Daniel sich, er hätte besser aufgepasst. Vorrangig nach dem Tod seines Vaters, dachte er an die Zeit, in der er versucht hatte ihm alles zu erklären. Bevor Emma Mac Fleed starb war er noch nicht von Gram und Trauer zerfressen.

Nach dem Tod seiner Frau, hatte Thomas eine Vorliebe für schottischen Whiskey entwickelt. Knapp ein Jahr nach der Beerdigung kostete diese ihn, durch einen Herzinfarkt, das Leben. Er regte sich immer auf, wenn er trank - und wenn er sich aufregte, dann trank er. Es war ein Teufelskreis, der das Unternehmen um ein Haar in den Ruin getrieben hätte.

Daniel hingegen, entwickelte eine gänzlich andere Leidenschaft für Whiskey. Eifersüchtig bewachte er die Fässer auf dem Land der Mac Fleeds. In eigens für diesen Zweck errichteten Gebäuden, lagerten und reiften sie. Ein kleines Imperium, welches der junge Daniel aus dem Nichts erschaffen hatte. Insgesamt zehn Hallen waren seit dem Tod von Thomas Mac Fleed erbaut worden. Wenn Daniel sich auf seinen täglichen Rundgängen durch die Reihen seiner Schätze befand, glich er mehr denn je den alten Fässern. Ihre Bäuche in die Zwischenräume hängend, stapelten sie sich auf den Stellböcken. Ein ganz besonderer Geruch durchzog die Lagerstätten. Am liebsten roch er den, welchen das älteste Gebäude in sich trug. Es war die hinterste Halle, neben der alten Brennerei. Zur Zeit seiner Vorfahren war es eine Stallung gewesen. Im zweiten Weltkrieg verschont, hatten sich die normalen Zeichen der Zeit auf ihm abgezeichnet. Nach den Jahren der Zerstörung wurde es dem Bedarf angepasst und umgebaut. Zwischen den Whiskeysorten stehend, sog er den Duft der wuchtigen Eichenfässer tief in seine Lungen. Über Jahre hatte das Holz die Aromen des Weines in sich aufgenommen. Diese durchzogen jetzt die bernsteinfarbene Flüssigkeit in ihrem Inneren. Hier lagen die größten Werte. Fässer, in denen besondere Weine gereift waren. Fässer, die ihn selbst an Alter übertrafen, und die einst sein Großvater noch befüllt hatte. Sorgsam, fast liebevoll strich er mit der Hand über die hölzernen Rücken. Ein friedliches Lächeln zog sich über seine Lippen. Dies waren seine Schmuckstücke, seine Kronjuwelen, deren Inhalt goldbraun vor einem Kaminfeuer aus den Gläsern leuchtete und funkelte.

Er alleine besaß den Schlüssel. Außer ihm betrat nur eine einzige Person dieses Gebäude. James Graham, ein langjähriger Mitarbeiter, der sich in guten, wie auch in schlechten Zeiten als loyaler Freund erwiesen hatte. Deshalb und nur deshalb, genoss er dieses Privileg, sich in der Halle voller Raritäten bewegen zu dürfen, die Daniel wie seinen Augapfel hütete.

Manchmal legte Mac Fleed seinen Kopf auf eines der Fässer, schloss die Augen und lauschte auf das, was ihm der Inhalt zuflüstern würde. Dabei stieg ihm der Duft, den die Poren des Holzes absonderten, in seine Nase. Auch in dem Moment, als eine Gestalt durch die offene Tür schlich, ruhte sein Ohr auf einem besonders alten Whiskey. Er hatte die Augen geschlossen und murmelte versonnene Worte in Gälisch. Mac Fleed achtete nicht auf seine Umgebung. Seine Aufmerksamkeit galt seinem Schatz. Erst als es zu spät war, er sich umdrehte, weil er dachte ein Geräusch gehört zu haben, sah er seinem Mörder ins Gesicht. Mit erhobenem Hammer stand er vor ihm. Kurz spürte er den Schmerz, den das Mordwerkzeug, auf seinen Schädel treffend, verursachte. Knochensplitter drangen in sein Gehirn. Ein Geräusch, wie vom Knacken einer Nuss war zu hören. Ein gurgelnder Laut quoll aus Daniels Kehle, der mit einem entsetzten, ungläubigen Gesichtausdruck auf dem Boden zusammenbrach. Zuckend blieb er zwischen den Fässern liegen.

Behandschuhte Finger durchsuchten ungeduldig die Innentaschen seiner Weste. Hastig zogen sie ein kleines, schwarzes Buch daraus hervor. Die Person entfernte sich angewidert von dem Toten, aus dessen klaffender Wunde Blut und Hirnmasse trieften. Eilig entfernten sich die Schritte von der Leiche. Die Tür wurde sanft in ihr Schloss gezogen. Dann war es still.

"Wo waren sie gestern zwischen zweiundzwanzig und null Uhr?" O'Connell bemühte sich die Frage nicht vorwurfsvoll klingen zu lassen. Isabella Mac Fleed war erst seit Stunden Witwe. Ihr Mann war nicht aufgrund absehbarer Umstände gestorben, er wurde ermordet.

"Ich habe geschlafen", gab sie mit einer unglaublichen Gefühlskälte zurück.

"Wann war das?"

"Ich zog mich gegen zwanzig Uhr in meine Räume zurück."

"Gibt es dafür Zeugen?"

"Ich denke nicht. Vielleicht meine Tochter, Sarah. Sie befand sich auf dem Flur, als ich schlafen ging."

"Sie haben also für die Tatzeit kein Alibi", stellte der Inspektor fest.

"Was wollen sie damit sagen?" Die Frage klang gelangweilt.

Viele Male hatte O'Connell die Hinterbliebenen von Mordopfern erlebt. Trauer zeigte sich in den verschiedensten Formen. Einige zerflossen in Tränen, andere befanden sich in einer Art Schockzustand. Entsetzten, Hass, Wut, Erleichterung. All das hatte er in den Gesichtern gesehen. Niemals war ihm eine derart abnorme Gleichgültigkeit begegnet, wie er sie jetzt auf Isabella Mac Fleeds Antlitz erblickte. Für sie schien der Mord an ihrem Gatten allenfalls lästig zu sein. O'Connell ersparte sich den weiteren Anblick und konzentrierte sich auf seine Notizen.

"Genau das, was ich soeben gesagt habe. Sie haben für die Tatzeit kein Alibi."

"Es ist lächerlich, anzunehmen ich hätte meinen Mann getötet." Der Inspektor glaubte eine leichte Echauffiertheit in ihrer Stimme zu vernehmen.

"Warum hätte ich das tun sollen?" Die Frage kam so sachlich, dass O'Connell die Vermutung wieder fallen ließ.

"Eifersucht wäre doch ein gutes Motiv", stellte er in den Raum.

"Wenn das eine Anspielung auf die vielen Affären meines Mannes sein soll, dann muss ich sie enttäuschen. Wäre das für mich ein Motiv gewesen, dann hätte ich ihn wohl schon viel früher umbringen müssen. Sein letzter Seitensprung liegt über zwei Jahre zurück. Wenn sie die Einzelheiten dazu erfahren möchten, dann fragen sie Amee Mac Logan." Der Inspektor notierte sich den Namen.

"Warum Amee Mac Logan?", fragte er nach.

"Sie ist die Besitzerin des Kolonialwarenhandels im nächsten Ort", lautete die Erklärung.

Die ganze Familie wurde verhört, wobei Sarah die Anwesenheit ihrer Mutter bestätigte. Sie hatte gegen elf nach ihr gesehen, bevor sie sich mit einem neuen Buch aus ihrem Zimmer wieder in den Salon zum Lesen begeben hatte.

"Sie hat fest geschlafen. Meinen sie, jemand der gerade einen Mord begangen hat, könnte so ruhig vor sich hinträumen?" O'Connell war sich nicht ganz sicher, ob er dieser Aussage seine Zustimmung geben konnte. Nicht mehr, seit er Isabella Mac Fleed kennengelernt hatte.

Matthew Mac Fleed hatte den Abend mit seiner Schwester und deren Mann verbracht. Die drei waren bis ein Uhr nachts zusammengesessen, bevor Matthew das Haus verlassen hatte. Zugleich bestätigten sie Sarahs Geschichte, die bei offenen Vorhängen bis nach der Verabschiedung von Matthew im Salon gelesen hatte. Vom Fenster des Wohnzimmers überprüfte O'Connell die Aussicht auf das Hauptgebäude. Auch ohne seine Brille, die er aus falschem Stolz nicht trug, erkannte er jede einzelne Person, die sich im Augenblick in dem Raum aufhielt. Holly Mac Fleed war in der fraglichen Zeit bei Freunden. Zu viert waren sie in Dublin um die Häuser gezogen.

Jeder der Fleeds schien nach der Befragung ein Alibi zu haben, bis auf Jack, der verstoßene Sohn. Mit einer haarsträubenden Geschichte von einer weggeworfenen Zugfahrkarte und einem Versöhnungsplan seinen Vater betreffend, war er ihm mit seiner unverschämten Ausdrucksweise sofort ein Dorn im Auge. O'Connell konnte es noch nicht beweisen, dass er den alten Mac Fleed umgebracht hatte. Es gab allerdings auch keine Hinweise, dass es nicht so gewesen sein konnte. Die Ermittlungen würden dies aber noch hervorbringen. Die Spurensicherung war noch nicht fertig mit der Halle, in welcher der Tote aufgefunden wurde. Da konnte noch einiges gefunden werden, was ihn überführte.

"Eine trauernde Witwe, zwei entsetzte Töchter, eine Schwester nebst Mann und Kind und eine konfuse Haushälterin..." Bernards Gesichtsausdruck spiegelte Verwirrtheit wieder. Sich dabei am Kopf kratzend, dachte er nach.

"Alle zur fraglichen Zeit mit Alibis, so sicher wie der Regen auf den Sonnenschein folgt und jeder von ihnen hat ein Mordmotiv", murmelte er vor sich hin.

"Worum geht es denn in diesem Buch?", John Rickert legte die Zeitung beiseite. Es war in seinen Augen ein Phänomen, wie sich die Todesfälle in bestimmten Jahreszeiten häuften. Während im Sommer so gut wie niemand starb, konnte man im Herbst Seitenweise davon lesen. Todesanzeigen waren ein Hobby des Detektivs. Eine von hundert brachte ihm einen Fall ein.

John sah seinen Tischnachbarn fragend an. Bernard Burgauer war nicht einfach ein Mitbewohner, mit dem er die Wohnung teilte. Er war sein bester Freund. Schwul, aber sein bester Freund, und dieser seufzte gerade in einer Art und Weise, die John sehr gut kannte.

Immer wieder berichtete er ihm über den Inhalt der Kriminalromane, die er las. Ob John das hören wollte, oder nicht. Im Gegenzug konnte John ihm die ganze Freude an seinem Lesestoff verderben, wenn er sein spezielles "Halbinteressen-Gesicht" aufsetzte.

Kam Bernard an einer Buchstelle an, wo keiner der Verdächtigen der Mörder sein konnte, tat er es. John platzte, eben diesen gefürchteten Gesichtsausdruck tragend, mit der Lösung heraus. Anfangs dachte Bernard, sein Freund würde die Täter zufällig erraten. John war ein guter Detektiv und konnte unmöglich immer Recht behalten. Er musste sich irgendwann irren.

Den Mörder zu entlarven war für ihn bisher ein Kinderspiel. Bernard hatte es nur ein einziges Mal erlebt, dass John falsch gelegen hatte. Doch er revidierte einen Tag später seine Meinung und nannte den richtigen Namen.

Er seufzte wiederholt, bevor er begann seinen Freund in die Geschichte einzuweihen.

"Es geht um einen Weinhändler aus Kalifornien, der eines Tages erschlagen in seinem Weinkeller aufgefunden wird. Alle Verdächtigen haben ein Motiv, allerdings auch ein Alibi."

"Du sagtest etwas von einer Haushälterin?"

"Ja. Sie haben eine. Claire. Ein bisschen konfus und ungeschickt, aber eine Seele von Mensch."

"Haben sie außerdem noch andere Angestellte?"

"Nein. Ich denke nicht. Es gibt eine Firma für die Lieferung. Durch und durch ein Familienbetrieb."

"Wie passend", bemerkte John ironisch, der in diesem Moment lustlos an seinem Marmeladenbrötchen herumkaute, welches er zum Lesen zur Seite geschoben hatte. Es dauerte einen Augenblick, bis Bernard die Anspielung auf die Ereignisse der letzten Woche verstand.

"Ah, der Mac Fleed Mord." Johns Andeutung traf ins Schwarze. Der Mord an Daniel Mac Fleed war das reale Pendant. Wie Kartoffelbrei und weiße Rüben zu Haggis, passte die Geschichte des Buches zu den aktuellen Umständen.

Seitdem der Mord in den hiesigen Zeitungen die Schlagzeilen füllte, bewegte sich das schriftstellerische Werk die Bestsellerlisten stetig nach oben. Dieser Zusammenhang war unübersehbar.

"Du hast Recht. Es scheint einige Parallelen zu geben. Die Polizei tappt bei dem Fall ja immer noch im Dunkeln."

Nachdem John zweimal von dem Marmeladenbrötchen abgebissen hatte, ließ er den Rest auf dem Teller liegen. Angeekelt verzog er das Gesicht.

"Ich werde mich wohl nie an den Geschmack von Orangen-Marmelade gewöhnen."

Bernard räusperte sich.

"Was ist?"

"Keine Marmeladendiskussionen jetzt!", warnte er seinen Freund. "Dieses Thema haben wir in Deutschland schon begraben. Wo bleibt deine Einschätzung? Wer ist der Mörder?" Er sah ihn herausfordernd an.

"Ich habe keine Ahnung. Dafür bin ich mit dem Fall Mac Fleed nicht vertraut genug. Ich weiß lediglich was in der Presse steht und das ist weder ausreichend, noch exakt genug, um über den Mord ein Urteil zu fällen."

Bernard schüttelte den Kopf.

"Ich meine nicht den Mord, der in der Zeitung steht."

"Ach so, du meinst das Buch?" John konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er fand es amüsant, seinen Freund immer noch Büchermorde vorziehen zu sehen, während die wahren Verbrechen vor der Tür stattfanden.

"Ich tippe mal auf die Haushälterin."

"Wieso die Haushälterin?" Johns Interpretation des Mörders verwirrte ihn noch mehr. "Welches Motiv sollte die denn gehabt haben?"

"Hm, wie wäre es mit verschmähter Liebe?"

Der Detektiv wischte sich die klebrigen Finger an seiner Serviette ab und trug das Geschirr in die Küche.

Absurd. dachte Bernard, während er seinen Mitbewohner in der Küche klappern hörte. Er schüttelte den Kopf und widmete sich erneut seinem Kaffee und dem Buch.

John verbrachte den Sonntag mit "Süßem Nichtstun", was für ihn die Hölle bedeutete. Das hieß, er wetzte mit einer furchtbaren inneren Unruhe von einem Zimmer in das nächste. Dort warf er einen Blick aus dem Fenster, der ihn nicht zufriedener werden ließ und tigerte dann in den nächsten Raum. Hatte sich Johns Wanderung durch die Wohnung nach dem Lunch noch in Grenzen gehalten, wurde sie am Nachmittag für seinen Freund unerträglich. Bernard wurde dadurch so in seiner Konzentration auf sein Buch gestört, dass er es entnervt zuklappte. Er legte es neben dem bequemen Ohrensessel auf den kleinen Beistelltisch. Nach einer beobachtenden Minute stand er auf und begann John durch die Räume zu folgen. In der Küche kam die Odyssee zum Stillstand.

"John! Was ist heute los mit dir?", fragte ihn Bernard.

"Wie? Was soll denn los sein?" Überrascht sah er seinen Freund an. Ihm selbst war sein Verhalten nicht sonderlich aufgefallen.

"Ich folgte dir jetzt schon von der Bibliothek ins Wohnzimmer, von dort aus ins Bad, ins Schlafzimmer bis hierher in die Küche. In jedem Raum siehst du aus dem Fenster, um ihn kopfschüttelnd wieder zu verlassen. Du bist wie ein umtriebiger Geist, der verflucht ist auf der Erde zu wandeln, bis er den Schlüssel zu seiner Erlösung gefunden hat. Beinahe hört man schon die Ketten rasseln." Dabei wurde Bernard selbst ein Gespenst, verdrehte die Augen und wiegte die Hände in der Luft.

"Entschuldige. Es tut mir leid, wenn ich dich dadurch gestört habe. Heute ist irgendwie ein seltsamer Tag. Ich weiß nicht warum, aber ich warte die ganze Zeit darauf, dass etwas passiert."

Bernard hatte einen Einfall.

"Was hältst du von einer guten Tasse Tee? Es ist noch nicht fünf Uhr, angesichts dieser Umstände würde ich es aber vorziehen, wenn wir es heute vorverlegen."

Tee. Warum war er nicht darauf gekommen? Es gab nichts Besseres, als eine gute Tasse Tee und ein oder zwei Sandwichs um sich wieder besser zu fühlen.

"Tee ist eine sehr gute Idee."

Bernard setzte den Kessel auf die Herdplatte, während John die Tassen aus der Vitrine holte und den Kühlschrank öffnete.

"Kann es sein, dass dich dieser Mac Fleed Fall nicht zur Ruhe kommen lässt? Ich meine, mein Kriminalroman wird es nicht sein", vermutete er. John lachte. Der Roman war es mit Sicherheit nicht, der ihn durch die Räume wandern ließ.

"Ich denke, es ist der Umstand nichts zu tun zu haben. Ich finde es schrecklich, tatenlos herumsitzen zu müssen, wenn ich keine Aufgabe habe die mich fordert."

"Ich dachte, du hättest einen Auftrag? Von dieser Frau, wie hieß sie doch noch gleich?"

"Anne Dickens?"

"Ja, diese Brünette, mit dem ausgeprägtem Oberkörper?" Grinsend machte Bernard eine ausladende Bewegung vor seinem Brustkorb.

"Du meinst wohl die, mit den Monstertitten?", lachte John.

"Ich wollte mich nur gewählt ausdrücken." Er zwinkerte seinem Freund zu und brühte den Tee auf. Bernard kannte die Vorlieben von John, was die Frauenwelt betraf.

Der Duft von Pfefferminze stieg in die Luft und erfüllte den Raum.

"Der Fall ist nicht wirklich eine Herausforderung", klärte John ihn auf, während er Sahne und Zucker auf das Tablett stellte. "Ihr Mann hat sie wegen einer jüngeren Dame verlassen und jetzt will sie über A L L E S Bescheid wissen. Ehrlich gesagt ist mir das zuwider. Ich bin Detektiv und kein x-beliebiger Hinterhofschnüffler. Hätte ich einen lukrativeren Auftrag, würde ich ihr die Akte in die Hand drücken. Sie kann sich damit ein Fotoalbum basteln. Dann hat sie länger Spaß daran."

Patrick Doyle stand im Regen vor der Kanzlei. Das Wasser lief ihm oben in den Kragen hinein und kam am Hosenaufschlag wieder heraus. Er fühlte sich, wie ein Schiffbrüchiger sich fühlen musste, der gerade aus dem Meer kroch. Seine Hand drückte leicht gegen die schwere Eingangstür, die mit einem leisen Klicken erstaunlich leicht nachgab. Er brauchte dringend einen Anwalt, denn man würde versuchen ihn zu betrügen.

Das Vorzimmer war nett eingerichtet. Heller, als man es von außen vermuten konnte. Der Raum strahlte mit seinen cremefarbenen Tönen, die überall zu finden waren. Luftig leichter Voile an den Fenstern, nahm der schwarzen, geradlinigen Sitzgelegenheit die Strenge.

Alles vermittelte ein Gefühl der Leichtigkeit und willkommen zu sein. Über die Ordner, die auf dem Tresen aufgereiht waren wie Zinnsoldaten, ragte ein blonder Schopf. Lucy hob ihren Kopf, als er vor ihr stand.

"Guten Morgen, wie kann ich Ihnen helfen?", fragte sie mit einer Stimme, die Eisberge zum Schmelzen gebracht hätte. Patrick war im Moment nicht dafür empfänglich.

"Ich bin Patrick Doyle. Ich brauche einen Anwalt." Seine Stimme klang hart.

"Mister Doyle, haben Sie einen Termin?" Ihre stahlblauen Augen sahen ihn fragend an. Sie lächelte immer noch freundlich.

"Nein. Ich habe keinen Termin. Aber es ist dringend."

"Dann sollten wir einen Termin machen", stellte Lucy fest und klickte mit der Maus auf dem Pad ein paar Mal hin und her.

"Hören Sie, Fräulein. Ich habe keine Zeit einen Termin zu machen." Er wurde ungeduldig. Es war die fünfte Kanzlei, die er heute aufsuchte.

"Es ist wirklich dringend und ich brauche jetzt einen Anwalt. Sofort. Nicht morgen, nicht übermorgen und auch nicht in einer Woche." Die Empfangsdame ließ sich nicht aus dem Konzept bringen, klickte noch einmal, tippte auf der Tastatur in den PC ein und hob, immer noch lächelnd, den Kopf.

"Mister Doyle, würde es ihnen in einer viertel Stunde passen?"

Erstaunt sah er sie an. Patrick hatte mit Vielem gerechnet. Seit Stunden war er im Regen unterwegs und wurde überall abgewiesen. Wenn man einen Rechtsverdreher brauchte, waren Termine in Dublin nur in einem Acht Wochen Turnus möglich. Und jetzt, hier, sollte er innerhalb einer viertel Stunde einen bekommen. Erstaunen und Freude, doch noch Erfolg zu haben, mischten sich in seine Antwort.

"Ja. Ich nehme den Termin."

"Möchten Sie eine Tasse Kaffee, solange Sie warten?", erkundigte sich Lucy. Der Mann tat ihr leid. Er sah furchtbar aus, in seinen durch und durch nassen Klamotten.

"Ja gerne, Miss, wie heißen Sie eigentlich?" Patrick klang jetzt freundlicher. Lucy zeigte mit dem Finger auf das kleine Schildchen, welches zwischen den Ordnern kaum zu sehen war.

"Gut. Lucy White. Ich würde mich über eine Tasse heißen Kaffee von Ihnen wirklich freuen, während ich warte." Patrick lächelte. Es war das erste Mal seit Tagen.

Die junge Frau verschwand hinter einer Tür, um kurz darauf mit einer dampfenden Tasse Kaffee und einem Teller mit Keksen wieder aufzutauchen. Patrick ließ die heiße Flüssigkeit seine Kehle hinunterlaufen und schob sich einen der Cookies in den Mund. Gleichmäßig klackerte die Tastatur von Lucy, die sich wieder ihrer Arbeit zuwandte. Es hatte eine beruhigende Wirkung. Hier zu sitzen, in der trockenen Wärme, Kaffee zu trinken und Kekse zu essen. Langsam entspannte er sich und wurde ruhiger. Es roch angenehm nach Leder und Papier. Kurz schloss er die Augen und legte seinen Kopf in den Nacken.

Die Tasse war leer, als er Stimmen und leise Schritte auf dem Teppich vernahm. Eine Tür wurde geschlossen und ein Mann im Anzug kam mit einer Frau den Flur entlang. Sie trug ein blaues Kostüm, eine strenge Frisur und sah erstaunlich adrett aus. An der Theke angekommen, verabschiedete sich Bernard Burgauer von seiner Klientin, die sich freudestrahlend von ihm trennte.

"Lu? Mach doch bitte die Rechnung fertig und schicke sie Misses Mac Ginty."

"Mache ich, Mister Burgauer. Geht heute noch zur Post." Bernard drehte sich in Patricks Richtung.

"Und wie kann ich Ihnen helfen?", fragte er den triefnassen Mann.

"Das ist Patrick Doyle. Er braucht einen Anwalt. Dringend", meldete sich Lucy hinter ihrer Ordnerwand.

John hatte sich auf der Chaiselounge ausgebreitet. Sein Arm hing an der Seite herunter. Die Fingerspitzen berührten gewachstes Parkett, welches sich im Fischgrätenmuster durch die kleine Bibliothek zog. Lässig lag die andere Hand über seiner Stirn. Wahrlich, dieser Arbeitstag hatte ihm den letzten Nerv geraubt und in diesem Moment wollte er weder jemanden sehen noch hören.

Beide Arme bepackt mit Einkäufen, öffnete Bernard umständlich die Wohnungstür. Es hatte Vorteile, wenn man im ersten Stock wohnte und der Arbeitsplatz direkt in der Etage darunter lag. Großeinkäufe gehörten nicht dazu. In der Küche angekommen, stellte er die vollen Tüten ab und rief nach John. Keine Antwort. Er ging durch die Wohnung und fand seinen Freund im Halbschlaf in der Bibliothek.

"John?", fragte er leise. Von der Chaiselounge kam ein brummender Laut.

"Du schläfst doch nicht etwa?"

Umständlich hievte sich der junge Mann in eine sitzende Position und rieb sich das Gesicht mit beiden Händen.

"Nein, ich schlafe nicht", murmelte er in die Handflächen hinein.

"Bist du krank? Fehlt dir irgendetwas?" Besorgnis schwang in Bernards Stimme.

"Nein. Ich bin okay. Wie kommst du darauf?"

"Weil ich dich noch nie so gesehen habe. Zumindest nicht zu dieser Uhrzeit." Der Anwalt hatte die Augenbrauen hochgezogen und wartete auf eine Antwort - die auch prompt kam.

"Ich hatte einfach einen Fuck-Tag." Bernard hasste diese Ausdrucksweise, sah sie John in diesem Moment aber nach.

"Dann habe ich Neuigkeiten, die dich aufmuntern könnten." Bernard setzte sich grinsend neben seinen Freund.

"Ich glaube, mich muntert nichts mehr auf." Johns resignierter Ton, konnte seinen Freund nicht beirren.

"Oh doch. Das wird es", sagte er bestimmt. "Vergiss die Beschattungssache und hör mir zu. Es gibt einen Fall für dich. Einen verdammt interessanten noch dazu." Bernard erzählte ihm von dem neuen Mandanten, der ihn heute in seiner Kanzlei aufgesucht hatte.

"Und dieser Patrick Doyle, sagst du, ist sich sicher? Ein zweites Testament?"

Der Anwalt war in der Küche verschwunden, um die Einkäufe zu verstauen, weshalb beide ihre Stimmen erhoben hatten.

"Ja, ist er. Seine Mutter, Olivia Doyle, war Daniel Mac Fleeds Geliebte. Er hat Patrick in Briefen an Sie als seinen Sohn anerkannt." Er musste an das Bündel blauer Briefumschläge denken, mit dem Doyle vor seiner Nase herumgewedelt hatte. Sie waren feucht. Doch man konnte sie, trotz

der leicht verschwommenen Tinte, immer noch gut lesen. Jetzt hingen sie über der Heizung in seinem Büro, um zu trocknen.

Inzwischen hatte der Detektiv sich an den kleinen Tisch in der Küche gesetzt.

"Du musst nicht mehr so schreien. Ich bin direkt hinter dir."

Bernard erschrak, als John mit dem Sprechen begonnen hatte. Er hatte ihn noch in der Bibliothek vermutet und nicht kommen gehört.

"Das heißt, wir haben einen verschollenen Erben. Mit dem Anrecht auf einen Pflichtteil", stellte er fest.

"Ja, so sieht es aus. Laut Mister Doyle ist es mehr, als der bloße Pflichtteil. Es ist mein Auftrag zu prüfen, wo sich dieses zweite Testament befindet und seinen Erbanspruch durchzusetzen. Patrick Doyle befürchtet einen Betrug."

"Normalerweise liegt so ein Dokument bei einem Notar." Johns Bemerkung war überflüssig. Bernard war mit Nachlässen bestens vertraut.

"Es liegt ein Testament vor. Die Sozietät Conner & Mac Gail in Dublin vertritt die Mac Fleeds seit Jahrzehnten." Bedeutungsvoll senkte Bernard die Stimme. "Die Anwälte, Notare und Steuerberater dort sind allesamt Koryphäen auf ihren Gebieten. Die Verlesung ist im Übrigen auf nächsten Montag angesetzt. Mac Fleeds letzter Wille hat ein paar sehr außergewöhnliche Klauseln. Die Polizei hat diesen Termin festgesetzt."

"Die Polizei?" Ungläubig sah John den Anwalt an.

"Ja. Die Polizei. Näheres werde ich erst morgen erfahren, wenn ich mich mit Conner persönlich unterhalten kann."

"Rechnen die Erben mit dieser Überraschung? Ich meine, mit dem zusätzlichen Erben?", fragte John, mit sarkastischem Unterton in der Stimme.

"Ich denke nicht. Meines Wissens ist ihnen nicht bekannt, dass Daniel Mac Fleed uneheliche Kinder hatte."

"Sagtest du Kinder?" John zog die Augenbrauen hoch. "Oder habe ich mich verhört?"

"Nein. Hast du nicht. Wenn man der momentanen Lage, den Briefen und Patrick Doyle Glauben schenken kann, ist da ein weiteres uneheliches Kind, von dem niemand weiß."

"Oder nur nicht wissen will", gab John zu bedenken.

"Was ist jetzt meine Rolle in dieser Schatzsuche? Welchen Auftrag soll ich dabei erfüllen? Soll ich das Haus nach dem Testament durchsuchen?"

"Nachdem ich Conner & Mac Gail über den neuesten Stand der Dinge informiert hatte, wie gesagt, die Verlesung ist auf den nächsten Montag festgesetzt, bleiben uns sechs Tage. Wir müssen beweisen, dass es erstens - mehr Erben als gedacht gibt. Zweitens – ein weiteres Testament existiert und vielleicht können wir, drittens - sogar den Mord aufklären. Denn, wer das Testament hat, könnte auch der Mörder sein."

"Na prima!", rief John aus, warf die Hände in die Luft und ließ sie auf seine Schenkel fallen. "Wenn es sonst nichts ist."

"Immerhin kannst du den Beschattungsfall ad Acta legen." lachte Bernard.

Damit hatte er Recht, auch wenn es nur ein kleiner Trost war.

Bernard war ein guter Anwalt. Mit seinen Gesetzen, Regeln und Richtlinien befand er sich vollkommen in seinem Element. Praktische, realistische Einschätzungen eines Verbrechens waren aber sein Handycap. Sogar bei seinen geliebten Krimis, vermochte er nicht vor der Auflösung zu erkennen, wer der Mörder war. Was für John keinerlei Problem darstellte, wie er oft bewiesen hatte. Der Denkansatz seines Freundes, das ominöse Testament könne sich in den Händen des Mörders befinden, war nicht schlecht. Existierte dieses Dokument wirklich und wurde beiseite geschafft, wäre es eine logische Schlussfolgerung. Der Mörder, mit dem Motiv, den Erbteil nicht zu schmälern, hätte es zumindest kurz in seinen Besitz bringen müssen. Dieses wiederum, ließ ihn unter den Erben vermuten.

Verdächtig wären alle, die einen Teil des Kuchens bei der Verlesung am Montag bekommen würden. Doch war dieses Schriftstück der Antrieb für den Mord, oder gab es noch andere Hintergründe? In diesem Fall würde man den Kreis der vermutlichen Täter erweitern müssen. Immerhin bestand die Möglichkeit, es mit einem intelligenten Menschen zu tun zu haben. In Johns Hirn fing es an zu arbeiten, Motive, Täter und Hintergründe tauchten in seinem Kopf auf. Er brannte darauf, mit den Ermittlungen anfangen zu können.

Bernard hatte sich den mit dem Fall Mac Fleed beauftragten Inspektor, O'Connell, in sein Büro bestellt. Der Mittvierziger war mit dem Anwalt und auch mit John gut bekannt. Auch wenn er John Rickert nicht besonders leiden konnte, was in dessen Beruf begründet lag.

"Schnüffler" waren ihm zuwider. Anständige Polizeiarbeit war durch nichts zu ersetzen. Detektive hingegen, verbogen Recht und Ordnung und wurden zum Teil auch kriminell, um an Ihr Ziel zu gelangen. Für sie heiligte der Zweck die Mittel, womit O'Connell nicht konform gehen konnte. Lucy schenkte dem Inspektor ein freundliches Lächeln und er nahm gerne den Kaffee an, den sie ihm anbot. Er zwinkerte ihr zu, so wie ein Vater es getan hätte, um zu sagen: >Das hast du aber gut gemacht, mein Kind<. Bernards Vater, ein waschechter Moore, hatte den Namen seiner deutschen Frau angenommen. Der Inspektor stammte aus einer Generation, die das nicht verstand. Auch der Vorname des Anwalts war eindeutig nicht irischer Herkunft. Doch er mochte den jungen Mann. Er war immer so warmherzig, wenn er ihm begegnete. Es fehlte ihm nach O'Connells Meinung die Härte. Verbrecher zu verteidigen war kein Geschäft für sanfte Männer.

Bernard bekam den Besuch über die Sprechanlage angekündigt. O'Connell war da. Er atmete tief durch und versuchte, der aufkeimenden Aufregung Herr zu werden. Ein Unterfangen wie dieses erforderte einen klaren Kopf. Nachdem er den Inspektor fünf Minuten hatte warten lassen, stand er auf. Dann wollen wir die Hunde mal von der Leine lassen, dachte er und ging durch die Tür in Richtung Wartebereich.

"O'Connell." Die Stimme riss den Kriminalisten aus seinen Gedanken und löste seinen Blick, von einem der modernen Kunstdrucke, die an den Wänden hingen. "Bernard Burgauer. Wir haben uns seit Monaten nicht mehr gesehen. Das lässt auf eine Veränderung in ihrem Klientel hoffen."

"Ja, doch. Seit letztem Jahr spezialisiere ich mich auf Erbrecht und Scheidungen. Das Risiko, einen Verbrecher zu vertreten, sinkt dadurch enorm."

"Dann dürfen Sie aber nur die Männer vertreten", scherzte O'Connell.

"Gehen wir in mein Büro." schlug Bernard vor und wies dem Beamten den Weg. O'Connell folgte dem Anwalt und nahm in dem geradlinig eingerichteten Raum Platz. Bernard bot ihm Wasser an, was der Inspektor dankend ablehnte.

"Nun, was gibt es so Dringendes zu besprechen?"

Bernard setzte sich ihm gegenüber. Er konnte sich nicht erinnern, je in den eigenen Räumen auf einen Beamten der Polizei getroffen zu sein. Viele Male war er jedoch ihm in Verhörräumen begegnet, wenn er seine Klienten vertreten oder abgeholt hatte. Seine Anfangszeit als Anwalt war kein Vergnügen gewesen.

Er befand sich nicht in der finanziellen Lage, seine Mandanten aussuchen zu können. Etliche Fälle hatte er nur angenommen, um die Mindesteinnahmen zu sichern. John, der das Haus vor 3 Jahren gekauft hatte, war eine großartige Stütze bei der Gründung seiner Existenz gewesen. Immer wieder steckte er ihm während des ersten Jahres die Miete für die kleine Kanzlei wieder zu, wenn sie auf seinem Konto verrechnet war. Seine Detektei hingegen, die sich auf der anderen Seite des Hauses befand und zum Hinterhof hinausging, lief von Anfang an gut. Dublin schien mehr Detektive, als Anwälte zu benötigen.

"Der Fall Mac Fleed", antwortete Bernard knapp.

"Was ist mit dem Fall Mac Fleed?" O'Connell zog skeptisch eine Augenbraue hoch.

"Wie stehen die Ermittlungen im Moment?", fragte Bernard direkt.

"Sie wissen doch, dass ich darüber nicht sprechen darf." Ein väterlicher Gesichtsausdruck erschien auf O’Connells Antlitz.

"O'Connell, ich will mit Ihnen kein Katz und Maus- Spiel veranstalten. Ich sage es Ihnen gerade heraus, persönlich und vertraulich. Der Kreis der Erben hat sich um ein, vielleicht auch zwei Personen erweitert."

O'Connell wurde blass.

"Wie meinen Sie das?" Wenn es stimmte, was Burgauer da von sich gab, konnten seine Ermittlungen umsonst gewesen sein.

"Bei mir hat sich gestern ein Mandant gemeldet, der mir glaubhaft versichern konnte, ein Sohn von Mac Fleed zu sein." Bernard Burgauer schob dem Inspektor die Briefe von Daniel Mac Fleed an seine Geliebte über den Tisch.

Der Kriminalinspektor zögerte kurz, auf ein Nicken des Anwaltes hin, fing er an sie zu lesen. Seine Gesichtszüge sprachen Bände.

"Ein weiterer Erbe?" Jetzt war O'Connell aufgebracht.

"Wo kommt der jetzt her?"

"Aus Yale." Bernard hatte sich in seinem Sessel zurückgelehnt. Die Murmel rollte. Er musste nur noch dasitzen und zusehen, in welches Loch sie fallen würde.

"Aber, das würde ja bedeuten, wir hätten nicht alle Mordverdächtigen in die Ermittlungen mit einbezogen? Nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft? Am Ende ist Jack Mac Fleed nicht der Mörder?" O'Connells Gesichtsfarbe wechselte von weiß zu rot, um dann erneut an Blässe zu gewinnen. Bernard hingegen, zog die Erkenntnis aus dem Gespräch, auf die er es abgesehen hatte. Mac Fleeds Sohn war der Hauptverdächtige. Der einzige Grund, warum er noch nicht hinter Gittern saß, waren fehlende Beweise. Diese hatte sich der Inspektor bis spätestens Montag erhofft.

"Und dieser eventuelle weitere Erbe, von dem Sie vorher gesprochen haben?"

"Leider konnte mir mein Mandant keine Angaben machen." Der Anwalt beobachtete O'Connell, der seine normale Gesichtsfarbe wieder erlangt hatte. Man konnte sehen, wie das Räderwerk hinter seiner Stirn in Schwung kam.

"Das ist aber noch nicht alles", setzte Bernard fort.

"Nicht? Was gibt es denn noch?"

Bernard holte einen Brief aus der Schublade, den er bis jetzt zurückgehalten hatte. Er reichte ihn O'Connell über den Tisch.

Mein lieber Sohn,

ich weiß, Deine Mutter hat nicht sehr viel von mir erzählt und es war bestimmt nicht leicht für Dich, ohne Vater aufzuwachsen. Dennoch habe ich Dich geliebt, an Dich gedacht und mich gesorgt.

Nun, da Du diesen Brief in Deinen Händen hältst, muss ich eines gewaltsamen Todes gestorben sein und mein letzter Wille wurde nicht geachtet.

Ich will Dich hiermit wissen lassen, dass es ein Testament gibt, in dem Du bedacht bist. Es ist mir bewusst, was Du meinetwegen erlitten hast, wird dadurch nicht wieder ungeschehen.

Es wurde am 16.03.2013 unterschrieben und trägt den Stempel der Brennerei.

Ich werde es immer im Geheimsten verwahren, so wie ich Dich und Deine Mutter immer in meinem Herzen verwahrt habe.

Da ich jetzt nicht mehr bin, kann ich mich nicht darum kümmern, euch zu eurem Recht zu verhelfen. Ihr müsst das Testament finden.

In Liebe,

Daniel Mac Fleed.

O’Connell hatte den Brief zweimal gelesen.

"Gut, das ist ein Indiz. Ein schriftlicher Hinweis auf ein weiteres Testament. Ich verstehe nicht ganz, worauf sich der Verdacht eines weiteren Erben begründen sollte?"

"Die letzte Zeile." Bernard deutete auf die Stelle im Brief, den der Inspektor auf den Tisch gelegt hatte.

"Olivia Doyles Tod war dem Verfasser nicht unbekannt. Er hat den Brief Jahre nach ihrer Beerdigung geschrieben. Da Patrick der einzige Sohn von Fleeds Geliebter ist, muss er bei den Formulierungen >>EUCH<< und >>IHR<<, ein weiteres Kind angesprochen haben.

"Gibt es einen Umschlag zu diesem ominösen Nachtodesbrief?"

"Natürlich." Bernard reichte ihm den Umschlag, zusammen mit einem Fax des Notariats. Das Wasserzeichen von Conner & Mac Gail prangte auf dem edelschweren Papier des Kuvertes.

"Die Notare bestätigen, den Brief auf Anweisung geschickt

zu haben. Die Bedingungen dafür waren der gewaltsame Tod von Daniel Mac Fleed und die Nichteinreichung des Zweiten Testaments. Diese beiden

Faktoren mussten zutreffen."

O'Connell überlegte kurz und kratzte sich die gerunzelte Stirn mit dem Daumen. Die Kanzlei Conner & Mac Gail hatte ihm wichtige Informationen vorenthalten. Ein anderer Störfaktor drängte sich in den Vordergrund.

"Hätte der alte Mac Fleed einen Herzinfarkt gehabt, wäre Patrick Doyle leer ausgegangen. Wenn das Testament in diesem Fall nicht aufgetaucht wäre. Das passt nicht zu der Aussage in dem Brief."

"Für diesen speziellen Fall hätte es eine Barauszahlung gegeben, die bei den Notaren hinterlegt ist. Und zwar in Höhe von zwanzigtausend Euro", klärte ihn der Anwalt auf.

"Das bedeutet, Patrick Doyle hätte in jedem Fall geerbt. Dann hat er doch kein Motiv? Es sei denn, er wusste nichts von diesen Zwanzigtausend." Die Sache wurde langsam kompliziert. Der Inspektor machte einen leicht überforderten Eindruck.

"Auf jeden Fall muss ich bei Conner & Mac Gail den Termin für die Verlesung des Testaments canceln. Die Notare hatten mich informiert, dass eine Verlesung erst in Frage käme, wenn der Mord aufgeklärt sei. So wie ich das jetzt einschätze, haben Sie das gewusst." Er sah sein Gegenüber strafend an. Bernard hatte keine Ahnung von dieser Regelung, die zu Mac Fleeds letztem außergewöhnlichem Willen gehörte, ließ es sich aber nicht anmerken. Verwundert hatte er erfahren, die Polizei wäre für die Festlegung des Termins verantwortlich, jedoch fehlte ihm der Hintergrund. Für ihn und John bedeutete es mehr Zeit. Die Befristung von sechs Tagen war hinfällig. Mehr wollte er mit diesem Gespräch nicht erreichen.

John K. Rickert

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