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Computer machen Musik in Wien und in Zürich (1987 – 1988)

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Die große Mathematische Musiktheorie wird durch einen kleinen Computer namens »MDZ71« aus Darmstadt unterstützt. Dieser MDZ71 wird in Wien von Herbert von Karajan gelobt, und er gibt auch ein Konzert in Zürich.

Das Darmstädter Institut GRIS von José Luis Encarnação hatte in Mitte der 1980er-Jahre enorm an internationaler Bedeutung gewonnen. Das war vor allem den Beiträgen zur Entwicklung – und internationalen Etablierung – eines der ersten internationalen ISO-Standards für Informationstechnik, dem »Graphical Kernel System« (GKS) zu verdanken. Dieser Standard mit der Nummer ISO/IEC 7942 war ein »Application Programming Interface« (API) für die Darstellung und Interaktion mit vor allem zwei-dimensionalen Vektorgraphiken. Pixel-basierte Rasterbilder spielten nur eine Nebenrolle. Das GKS war unabhängig von Hardware-Plattform und Programmiersprache definiert. Die Arbeiten am GKS brachten GRIS eine hervorragende internationale Vernetzung und eine erhöhte Aufmerksamkeit für Auftragsforschungsprojekte sowohl der öffentlichen Hand als auch der gewerblichen Wirtschaft.

José Luis Encarnação hatte die Bedeutung der Arbeiten von GRIS für die akademische Forschung und für Anwendungen in der Wirtschaft absolut treffsicher erkannt. Er betrieb bereits im Jahr 1984 die Gründung des Vereins »Zentrum für Graphische Datenverarbeitung e.V.« (ZGDV). Geschäftsführer des ZGDV wurde Herbert Kuhlmann. Damit griff Encarnação an der THD eine bereits aus den USA bekannte Idee auf. Das ZGDV war als ein »Industrial Programme« dafür da, den Dialog und Wissenstransfer mit prospektiven Projektpartnern aus der Wirtschaft zu intensivieren und zu institutionalisieren. Dieser Grundgedanke sollte Jahre später im Sinne des systematischen »Wissenstransfers« der Hochschulen eine konsequente Weiterentwicklung erfahren.

Es verwundert nicht, dass auch die »Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung e.V.« auf GRIS und das ZGDV aufmerksam wurde. Die Fraunhofer-Gesellschaft hatte ihre Zentralverwaltung in München, die eigentliche Facharbeit wurde in Dutzenden von dezentral lokalisierten und organisierten Instituten ausgeführt. Nach entsprechenden Verhandlungen und Vorbereitungen nahm zu Beginn des Jahres 1987 die »Fraunhofer-Arbeitsgruppe (für) Graphische Datenverarbeitung« (FhG-AGD bzw. AGD) in Darmstadt ihre Arbeit auf. Die Existenz der AGD war seitens der Fraunhofer-Zentralverwaltung zunächst auf fünf Jahre befristet, sozusagen zur Bewährung. Die Frage war, ob diese »Graphische Datenverarbeitung« einen nachhaltigen Auftragsforschungsmarkt finden würde.

Für die personelle Ausstattung der neuen AGD suchte der – nun frisch gebackene – Fraunhofer-Institutsleiter Professor Encarnação natürlich Mitarbeiter. Er konnte vier Abteilungsleiter für die AGD gewinnen, einer davon war Detlef Krömker. In seiner Abteilung »Animation und Simulation« sollte es um die Erforschung computergenerierter realistischer Bilder und Filme auf der Basis räumlicher Szenen gehen. Das Raffael-Projekt war eine erste Grundlage für diese Forschungsrichtung. So wurde ich mit Beginn des Jahres 1987 ein wissenschaftlicher Mitarbeiter, abgekürzt »WissMA«, bei der AGD, in der Abteilung von Detlef Krömker. Ich blieb also auch nach dem Studium in Darmstadt.

Der »speed of life« in der entstehenden Informationsgesellschaft nahm deutlich zu, die Zahl der Studierenden am Institut GRIS wuchs erheblich. Wir WissMA vertraten Professor Encarnação manchmal in seinen Vorlesungen und Seminaren, denn er konnte den akademischen Lehrbetrieb an der TH Darmstadt unmöglich noch selbst und allein erledigen. Und so kam es – nach meinem eiligen Studium – zu der einigermaßen absurden Situation, dass Kommilitonen, mit denen ich vor einigen Wochen noch gemeinsam die Bank im Hörsaal gedrückt hatte, mir nun als Hörer in den Vorlesungen und Seminaren gegenüber saßen.

Guerino Mazzola war nach dem Ende der Symmetrie-Ausstellung am Sonntag, 24. August 1986, um exakt 18:00 Uhr, demonstrativ pünktlich und sofort aus Darmstadt nach Zürich abgereist. Ich habe in der Rückschau schon den Eindruck, dass sein intellektueller Anspruch nicht immer für eine gedeihliche Arbeitsatmosphäre in der Darmstädter Kulturszene gesorgt hat. Ich hielt weiter zu ihm persönlichen Kontakt. Ab und an gab es ein Telefonat. Man sollte die Wichtigkeit und die Rolle des sozialen Kontextes für eine erfolgreiche akademische Projektarbeit keinesfalls unterschätzen. Ich würde nach all den Jahren durchaus die Meinung vertreten, dass ein funktionierendes Projektteam eher eine sinnvolle Projektaufgabe findet, als umgekehrt, dass sich für eine gegebene Forschungsaufgabe ein sozial funktionierendes Projektteam finden lässt.

So gegen Ende des Jahres 1986 stellte Guerino Mazzola eine neue Projektidee vor. Es sollte ein Musikcomputer mit einem »Graphical User Interface« (GUI) gebaut und »Music Designer MDZ71« genannt werden. Damit hatten wir bei der AGD einen der ersten Projektaufträge, gar einen internationalen, nämlich aus der Schweiz. Mazzola hatte für sein MDZ71-Projekt einen Sponsor finden können. Das war Toni Hauswirth, »a truly international business man«, der auf einer Insel in der Südsee lebte. Er fiel bei den bodenständigen Fraunhofer-Kollegen auf, weil er als Rechnungsadresse ein Postfach in Panama City angab. Einige Jahre später war er der Sponsor der Nationalmannschaft der Fidschi-Inseln bei den Olympischen Winterspielen im Jahr 2002 in Salt Lake City – never mind.

Man konnte im Laufe des MDZ71-Projekts den Eindruck gewinnen, Guerino Mazzola sei ein Jünger des Pythagoras. Er war gleich diesem davon überzeugt, dass sich im Prinzip große Teile der Welt, und gar schon Teilbereiche der Musik, mit mathematisch-topologischen Strukturen beschreiben lassen müssten. Er hatte bereits 1985 das Buch »Gruppen und Kategorien in der Musik« publiziert. Der MDZ71 sollte das darin entwickelte, sehr radikal-generelle Verständnis von Tonereignissen aufgreifen. Die Dimensionen der Töne waren Höhe, Dauer, Einsatzzeit, Klangfarbe, die entsprechend parametrisiert die Elemente einer Partitur sind. Tonereignisse sollten in dem dadurch aufgespannten multi-dimensionalen »Raum der Töne« mit beliebigen geometrischen Abbildungen und Operationen in allgemeiner Form manipulierbar sein.

Mazzola hatte schon als Kind klassischen Klavierunterricht und seit den 1970er-Jahren trat er auch im Metier des »Free Jazz« auf. Diese »Mathematische Musiktheorie« von Guerino Mazzola war mir sofort sehr sympathisch, hatte ich doch seit meinem elften Lebensjahr Unterricht in Trompete und war bei einem Posaunenchor in der Nähe meines Wohnorts, im Nachbarort Breuberg, in der Kirchmusik engagiert. Von daher wusste ich durchaus, was eine Partitur ist. Mein generelles Interesse an Neuer und Elektronischer Musik war ebenfalls sicher kein Nachteil für das MDZ71-Projekt.

Die Basis der Entwicklung des MDZ71 sollte das »Musical Instrument Digital Interface« (MIDI) sein. Das MIDI war – und ist – ein Industriestandard, damals vor allem unterstützt vom Synthesizer-Hersteller Roland. Mit MIDI können Steuerinformationen zwischen elektronischen Instrumenten-Komponenten, wie Keyboards oder Synthesizern, ausgetauscht werden. Die MIDI-Daten sind lediglich »symbolische« Steuerdaten, keine digitalen Audiosignale. MIDI-Daten modellieren etwa die Betätigung von Keyboard-Tasten und können an einen Synthesizer gesendet werden, der das geforderte Tonereignis dann produziert, was wiederum über einen Lautsprecher hörbar gemacht werden kann. MIDI-Daten sollten im MDZ71 als Partitur visualisiert und fast beliebig editiert und transformiert werden können, um etwa Töne auf die andere Tonhöhe oder Einsatzzeit zu bringen oder ihnen eine andere Klangfarbe zuzuweisen.

Für den Aufbau des MDZ71 war im Jahr 1987 ein kleiner PC namens »Atari ST« der Firma »Atari Corporation« ideal. Dieser hatte standardmäßig eine MIDI-Schnittstelle. Der Atari ST hatte außerdem ein Basissystem »Graphics Environment Manager« (GEM), das die Programmierung einer graphischen Bedienoberfläche für den MDZ71 ermöglichte. Die Graphik war allerdings nur schwarz-weiß, mit einem Bit pro Pixel.

In den Jahren 1987 bis circa 1989 gab es zwar schon E-Mail und die AGD konnte sie auch benutzen, das brachte aber nicht viel, weil man dafür noch zu wenige Kommunikationspartner hatte. Die kritische Anzahl der E-Mail-Teilnehmer war noch nicht erreicht. Eine Fraunhofer-Visitenkarte aus diesen Jahren führte noch keine E-Mail-Adresse auf, wohl aber eine Telex-Nummer. Die allermeisten Arbeitsunterlagen wurden im MDZ71-Projekt zwischen Zürich und Darmstadt per Briefmarkenpost zugeschickt. Ein modernes Echtzeit-Kommunikationsmittel war damals das Telefax, das man aber nur für Dokumente von wenigen Seiten Umfang gebrauchen konnte.

Die Deutsche Bundespost bot sogar einen Schnellbrief-Dienst an, den »Teletex-Brief«. Dazu konnte man als Absender von einem Postamt aus einen Brief per Fax an einen Empfänger schicken, der selbst kein Fax haben musste. Die Post suchte ein Postamt in der Nähe des Empfängers. Dorthin wurde das Fax geschickt, und dann der Thermopapier-Ausdruck dem Empfänger im Briefumschlag per Postboten zugestellt. Wir hatten damals bei der AGD für das Posttechnische Zentralamt (PTZ) in Darmstadt ein kleineres Projekt im Umfeld des Teletex-Briefs. Es ging darum, Monitore für die Darstellung von diesen Teletex-Briefen auszusuchen, um diese Dokumente ohne Ausdruck – von Postamt zu Postamt – weiterleiten zu können. Das Problem war als Gegenstand der Angewandten Forschung schon interessant, weil anscheinend niemand bis dahin auf den Gedanken gekommen war, ein Fax auf einem Bildschirm darstellen zu wollen.

Für den Musikcomputer MDZ71 wurde der Atari ST über das MIDI-Protokoll mit einem Yamaha-Synthesizer TX802 verbunden, der die – damals hochmoderne – Frequenz-modulierte Synthese von Tönen ermöglichte. Der TX802 realisierte damit die Klangfarbe von Tonereignissen als Elemente eines unendlich-dimensionalen Funktionenraums. Für die Implementierung der eigentlichen MDZ71-Software konnte ich meinen ehemaligen Kommilitonen Christof Blum gewinnen, der damit seine Diplomarbeit realisierte. Für den MDZ71 wurde eine Verallgemeinerung »Score« des bekannten Prinzips der Partitur programmiert. Die Parameter der Tonereignisse wurden als geometrische Parameter modelliert und dargestellt. Es war dann möglich – aber freilich nicht immer sinnvoll, etwa die Tonart eines Stücks zu verändern oder die Abspielgeschwindigkeit. Man konnte auch, einfach so, die Parameter komplett austauschen, etwa Einsatzzeit versus Tonhöhe, was dann eine aleatorisch anmutende Musik im Ergebnis ergab.


Der Musikcomputer MDZ71 auf der Basis des Atari ST und des Yamaha-Synthesizers TX802. Das ist der Aufbau auf einem Tisch im Gebäude der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde, wenige Minuten vor der Vorführungfür Herbert von Karajan im Mai 1988. Die Fotographie wurde von Christof Blum zur Verfügung gestellt.

Während des MDZ71-Musikcomputer-Projekts sollte ich, wie so viele andere Kolleginnen und Kollegen sicher auch, eine wichtige Erfahrung machen. Die Programmierung des MDZ71 wurde nicht – mehr – von mir selbst ausgeführt. Ich war unversehens in die Rolle eines »IT-Projekt-Managers« hinein geraten: Ich plante, wer von den Programmierern wann und was realisieren sollte, motivierte die Programmierer und kontrollierte das Ergebnis. Ich fand mich so in der Rolle wieder, die Projektergebnisse gegenüber Guerino Mazzola und anderen Interessierten zu vertreten. Ich hatte ohne große Absicht die Ebene eines quasi »Meta-Informatikers« erreicht, mit einer kleinen Projekt- und Personal-Verantwortung. Das war ein Quantensprung.

Am 24. und 25. Mai 1988 fand ein Symposium der Herbert-von-Karajan-Stiftung bei der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien statt. Wir hatten dort einen Vortrag zur Präsentation des MDZ71 eingereicht. Guerino Mazzola hatte es zudem arrangiert, dass sich Herbert von Karajan, der im Jahr 1988 der wohl bekannteste Musiker der Welt war, den MDZ71 persönlich und exklusiv vorführen lassen wollte. Wir hatten den MDZ71 für den Termin in einem Büro des Wiener Musikvereinsgebäudes aufgebaut. Herbert von Karajan »rauschte heran« mit seinem Hofstaat von der Deutschen Grammophon. Karajan hatte ein irrwitziges Auto, einen Porsche 959. Das könnte damals das wohl schnellste Serienauto der Welt gewesen sein. Unvergesslich ist mir unsere MDZ71-Vorführung. Der bereits schwer gehbehinderte von Karajan trug einen dunkelblauen ausgebeulten Trainingsanzug. Wir durften bei dieser Begegnung leider keine Erinnerungsfotos aufnehmen, die Herbert von Karajan persönlich gezeigt hätten.

Dr. Christof Blum, Eschborn

Exkurs – Über Musik mit Menschen und Maschinen

Wenn man das so liest, so wird einem bewusst, wie gut sich die Geschichte der Digitalisierung mit ihren verschiedenen Entwicklungsstufen der vergangenen 40 Jahre anhand der technischen Entwicklungen in der Musik erzählen lässt.

Im MDZ71 wurden Tonereignisse verarbeitet, deren Merkmale nahe an der Notenschrift liegen. Ein Ereignis wird durch Tonhöhe, Einsatzzeit, Dauer und Lautstärke beschrieben. Der angeschlossene Synthesizer erzeugte hieraus Klänge mithilfe von Schwingungsgeneratoren. In gleicher Weise, wie sich die graphische Datenverarbeitung der 1980er-Jahre in Richtung digitaler Bildverarbeitung entwickelte, zog die digitale Signalverarbeitung in der Musik ein. Das Pendant des Pixels ist das Sample. Digitale Signalverarbeitung ermöglicht nicht nur die Reproduktion beliebiger natürlicher Klänge sondern auch eine stark komprimierte Signalspeicherung, wie sie dem MP3-Format zugrunde liegt.

Wie kein weiteres Kürzel steht »MP3« für den digitaltechnikbedingten Umbruch einer ganzen Branche. Physische Tonträger gehören seitdem der Vergangenheit an. Musik ist immateriell geworden. Nein, die MP3-Erfinder kommen nicht aus dem Silicon Valley, sondern vom Fraunhofer-Institut in Erlangen. Freilich hat effiziente Signalverarbeitung nichts mit »Verstehen« zu tun. Auch dies kann am Beispiel der Musik gut illustriert werden. Die populäre Shazam-App »erkennt« in Sekundenschnelle gespielte Musiktitel und nennt Interpreten und Namen des Stückes. Schier endlos scheint die Musikdatenbank zu sein, auf die hier zugegriffen wird. Und der Abgleich erfolgt beeindruckend schnell. Wer aber meint, die App verstehe etwas von Musik, der irrt.

Das Thema »Computer machen Musik« ist heute so spannend wie in den 1980er-Jahren. Technische Innovationen und geändertes Nutzungsverhalten sind grundsätzlich eher lose miteinander gekoppelt. Das soll heißen, dass nicht jeder technologische Quantensprung unmittelbar die Welt verändert, aber im Einzelfall können vergleichsweise kleine technische Fortschritte eine Lawine an Verhaltensänderung hervorrufen. Die Flut an Bildern und Tönen, von denen wir heute umgeben sind, war vor 40 Jahren so nicht vorstellbar. Auch wenn auf Technikebene in weiten Teilen »nur« quantitative Effekte (Netzbandbreite, Prozessorleistung) die Entwicklung prägten, auf Nutzungsebene vollzogen sich fundamentale Veränderungen. Jedem Hobbymusiker steht heute im Internet eine weltweite Bühne bereit. Die Explosion an Kreativität ist spürbar. Musik ist überall. Und mit dem neuen Licht kommt auch ein neuer Schatten, denn die Musik ist nicht mehr ortsgebunden. Die weltweite Bühne steht in weltweiter Konkurrenz. Musik ist billig. Ist sie damit auch »wertlos« geworden? Wie kann ihr Wert geschützt werden?

Freilich ist die Flut an Quellen und Kanälen und die Überwindung von Ortsgebundenheit und klassischen Redaktionsprozessen in der Musik vergleichsweise die kleinere Herausforderung für die Menschheit, bedenkt man die sich im Zeitalter der »Fake News« zuspitzende Frage der Vertrauenswürdigkeit von Nachrichtenkanälen. Hätten wir uns vor 40 Jahren die gesellschaftliche Brisanz vorstellen können, die von Kurznachrichtendiensten ausgeht? Es scheint, als liege trotz Informationsflut der Höhepunkt der Aufklärung bereits hinter uns. Musik hilft zur Beruhigung und Versöhnung. Heute wie damals. Digital wie analog.¶

Der MDZ71 spielte in Wien das Stück »Der Dichter spricht« aus dem Zyklus »Kinderlieder« von Robert Schumann. Guerino Mazzola hatte die Papier-Partitur – Ton per Ton – in den MDZ71 eingetippt. Aber bevor wir zur eigentlichen Vorführung der Möglichkeiten des MDZ71 kommen konnten, den geometrischen Manipulationen der »Score«, schritt von Karajan bereits nach den ersten Takten heftig ein. »Das ist falsch, das Stück ist ja ganz falsch gespielt!« Er hatte das Stück in der Originaltonart h-moll erwartet. Offenbar hatte er insoweit ein absolutes Gehör. Guerino Mazzola zeigte, dass es dem MDZ71 per lineare Translation sehr einfach möglich ist, die Tonart eines Stücks komplett zu ändern. Der durchaus Technik-affine Herbert von Karajan war am Ende der Vorführung schon beeindruckt, er meinte, mit dem System MDZ71 könnte man ihn »die ganze Nacht allein lassen«.

Abends dann saßen Guerino Mazzola, Christof Blum und ich auf den allerbesten Plätzen »Balkon Mitte« im großen Goldenen Saal im Musikvereinsgebäude in Wien. Wir hatten für den Abend eine Einladung der Herbert-von-Karajan-Stiftung erhalten. Diesen Saal kennt das internationale Publikum als den Aufführungsort der berühmten Neujahrskonzerte der Wiener Philharmoniker. Wir hörten die Berliner(!) Philharmoniker in Wien(!) mit »Ein Heldenleben« von Richard Strauss. Von Karajan hatte einen Fahrradsattel als einen Sitz am Dirigentenplatz montieren lassen, weil er nicht mehr so gut stehen konnte. Einer der Einsätze der Posaunen nach einer Generalpause misslang, das Dirigat des Perfektionisten Herbert von Karajan war an dieser Stelle einfach zu unpräzise. Diesen Fehler sollte ich als Amateur-Musiker – der aber immerhin das Strauss-Stück einigermaßen kannte – mein Leben lang im Ohr behalten. Der große Herbert von Karajan war offenbar auch nicht unfehlbar – er hatte sich im Dirigat vertan.

Der MDZ71 erfuhr durchaus eine seriöse Rezeption. Am 3. September 1988 wurde das Stück »Der Saitensprung des Ludwig van B« des US-amerikanisch-tschechischen Komponisten Jan Beran im Kunsthaus Zürich uraufgeführt. Es war ein »multimediales« Klavierkonzert, extra für den MDZ71 komponiert. Parallel zu den Tonereignissen lief eine Diashow mit Bildern des Schweizer Künstlers Jakob Sollberger, die dieser dafür ebenfalls extra erstellt hatte. Die Vorführung musste per »full-size panic action« noch einmal neu gestartet werden, weil sie von einem – in Zürich wirklich sehr seltenen – Stromausfall unterbrochen worden war.

Professor Dr. Guerino Mazzola, Minneapolis

Exkurs – Über Musik-Computer auf CD und auf der Bühne

Wenn ich das so lese, dann werde ich an die Episode vom bestandenen »Turing-Test« für Musik-Computer erinnert.

Für mich als Protagonisten des MDZ71 war Jan Berans Komposition für meinen Musikcomputer ein großer Erfolg, ein »proof of concept«, wie man zu sagen pflegt. Aber sie war stilistisch »far out«. Eine Kritik in einer namhaften deutschen Musikzeitung meinte, es würde einem beim Anhören »ganz blümerant«. Zudem war es für mich als Jazz-Pianisten ohnehin wünschenswert, den MDZ71 für den Jazz einzusetzen.

Natürlich war diese Idee damals noch problematisch, da improvisierende Musiksoftware noch nicht entwickelt war. Und auch im Jahr 2020 funktioniert sie noch nicht noch nicht befriedigend. Daher entschied ich mich für das Stück mit dem Titel »Synthesis« für eine Lösung, wo alles Nichtimprovisierte vom MDZ71 übernommen würde, während ich die Improvisationen auf dem Klavier vorzutragen hätte. Der MDZ71 sollte alle Perkussionsinstrumente und den Bass übernehmen. Mit den Synthesizern von Yamaha RX5, TX802 und Roland R-8M wurden so 122 Instrumente angesteuert. Die vier Sätze der Komposition mit den Bezeichnungen »Earthquake«, »Liquid Colors«, »Poem of Wind« und »Burning Spears« wurden alle nach einem motivischen Prinzip, einer Art Leitmotiv, gestaltet, nämlich der mathematischen Klassifikation aller drei-elementigen Motive in 26 Klassen. Die Details kann man in meinem Buch »The Topos of Music« aus dem Jahr 2018 (Band II, Kapitel 51) nachlesen. Diese Motive wurden als melodische Elemente, aber auch rhythmisch als Perkussionsgestalten benutzt.

Im Frühjahr 1990 benötigte ich für die Ausarbeitung der MDZ71-Komposition »Synthesis« vier Monate. Die gleichnamige CD wurde in einem einzigen »Take« im Studio aufgenommen und dann veröffentlicht, ohne irgendeinen Hinweis auf die computerisierten Perkussionsteile. Um meine Improvisation zur Software-generierten Musik zu erlernen, benötigte ich drei Monate intensiver Einarbeitung. Die Software konnte ja nicht auf Improvisation reagieren, ich als Pianist musste also alles verinnerlicht haben, was der Computer mir vorspielen würde.

Was auf die Veröffentlichung der Synthesis-CD folgte, war durchaus eine Art »Turing-Test« für musikalische Intelligenz. Die Kritiken der CD waren nicht durchaus positiv, man warf mir vor, eine Art »Cecil Taylor im 4/4-Takt« zu spielen, es wäre zu viel Präzision jenseits der offenen Stilistik des Free Jazz. Der musikalische Hintergrund dieses Verdikts war in Wirklichkeit, dass ich mit dieser CD eine Art Synthese von Miles Davis und Cecil Taylor angestrebt hatte. Das war natürlich eine – eine weitere(!) – Todsünde für alle Musik-Puristen. Trotzdem wurde die hervorragende Aufnahmequalität gelobt. Letztes war kein Kunststück, denn die ganzen Perkussionsinstrumente waren ja direkt elektronisch wiedergegeben worden. Das erkannte niemand, im Gegenteil wunderte man sich über die Präzision der Perkussion.

Der Kern dieses Turing-Tests für Musikcomputer ereignete sich aber beim Internationalen Jazz-Festival in Zürich im Herbst 1991. Hier wurde ich eingeladen, die Komposition »Synthesis« auf der Bühne aufzuführen. Man sah also mich als den Pianisten am Flügel samt dem Atari-MDZ71-Computer und sonst nichts. Der bekannte Jazz-Kritiker und Drummer Nick Liebmann von der Neuen Zürcher Zeitung unterhielt sich nach diesem Konzert mit mir und meinte, diese Performance mit dem Computer sei ja nicht schlecht, aber die CD mit den lebenden Musikern finde er besser. Liebmann hatte also als Schlagzeuger die synthetischen Klänge der Synthesizer nicht erkannt. Er hatte auch nicht bemerkt, dass alle Perkussion programmiert war und nicht durch musizierende Menschen aufgeführt wurde.

Dieser »bestandene Turing-Test« war für mich ein Beweis, dass Mensch und Maschine sehr wohl kreativ und auf hohem Niveau zusammenarbeiten können, dass aber die Intelligenz durch und durch dem Menschen anheimgestellt bleibt.¶

Welche Lektionen hatte man beim MDZ71-Projekt gelernt? Es wurde verstanden, dass ein Teil dessen, was man unter »Musik« begreift, als Tonereignisse von einer Maschine erzeugt, gespeichert, manipuliert und wiedergegeben werden kann. Die Maschine kann sogar zu den Tonereignismengen neue, geometrische Perspektiven – im Sinne von Mazzolas Interpretation des Yoneda-Lemmas – ausrechnen. Es würde sich in naher Zukunft eine »algorithmische Musik« sogar automatisch oder halbautomatisch erzeugen lassen – und damit weit über das hinausgehen, was man bislang unter Elektronischer und Synthesizer-Musik verstanden hatte.

Im täglichen Leben fand eine ganz andere Art der Digitalen Musik Einzug. Die verschiedenen Formen von Automaten-gestützter Musik popularisierten sich gegen Ende der 1980er- und in den 1990er-Jahren tatsächlich. So entwickelte beispielsweise die Musikkultur des »Techno« eine eigene Faszination und eine immense ökonomische Bedeutung. Es wurde im Umfeld des MDZ71-Projekts aber auch verstanden, dass Musik nicht nur aus einer Menge von Tonereignissen besteht, die formal als Daten modelliert werden können. Es fehlt etwa ein geschlossenes mathematisches Modell der Klangfarben. Maschinen haben zudem immer noch keine Chance, einige der echten Musik-Instrumente, wie etwa Blechblasinstrumente, spielen zu können. Nach all den Jahren habe ich den Verdacht, dass der bestimmungsgemäße Gebrauch etwa einer Trompete weiterhin eine exklusive Angelegenheit von »echten Menschen« bleiben wird. Die Roboter können das nicht.

GLOBALE PROVINZ

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