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Mannesstolz

Georg von Rotthausen

published by epubli GmbH, Berlin

Copyright: © by Georg von Rotthausen

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Inhaltsverzeichnis:

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Zwei Jahre später

Etwa vier Monate später

Knapp sechsdreiviertel Jahre später, zwei Wochen vor dem Morgen, an dem das Unheil verstummt sein wird, nur um damit weiteres heraufzubeschwören

Einen Tag später

13 Tage später

1. Tag

2. Tag

3. Tag

4. Tag

5. Tag

Am Tag zuvor

6. Tag

7. Tag

8. Tag

Am Tag nach der Aufklärung

Epilog

Danksagung

Schlußerklärung

Kontakt zum Autor

Georg von Rotthausen

Mannesstolz

“Die Liebe ist ein Wunder, das immer wieder möglich ist. Das Böse eine Tatsache, die immer vorhanden ist.”

Friedrich Dürrenmatt

Prolog

In einer schmalen Einbahnstraße kommt es zum Gegenverkehr. Ein Verkehrsteilnehmer hatte nicht damit gerechnet und erlebt eine böse Überraschung, als drei Verkehrsteilnehmer den Verkehr in die verkehrte Richtung lenken und es so zu einem verkehrten Verkehr kommt, der ihm auf fatale Weise verkehrt vorkommt. Das verkehrte Verhalten der drei Verkehrsteilnehmer hatte ihn derart gefesselt, daß er nicht mehr ausweichen konnte und nun inmitten des verkehrten Verkehrs nicht umhin kann, zu denken, daß sei alles reichlich verkehrt und er selbst sei auch verkehrt − irgendwie, denn so hat er noch keinen Verkehr erlebt und so verkehrt verkehrt. Gemessen an seinem Alter ist er schon recht lang Verkehrsteilnehmer, aber dieser Verkehr an diesem schönen 11. September neben einem sonst eher verkehrsberuhigten, ja idyllischen kleinen bayerischen See ist ein gefährlich verkehrter Verkehr, der mit einem harten Schlag endet und sein bisheriges Verkehrsverhalten ins Gegenteil verkehrt. Dies wird sich alsbald gegenüber den drei Verkehrsteilnehmern zeigen, nachdem sie Verkehrsflucht begangen haben. Er bleibt nach dem Verkehrszusammenstoß liegen. Am Ende der Einbahnstraße lassen sie Blut zurück. Es rinnt in das klare Wasser des idyllischen bayerischen Sees, wo es glücklicherweise keine Rauschwirkung auf Haie hat, denn die haben sich zurückgezogen, nachdem unbändige Naturgewalten ihren Lebensraum trockenfallen und zum Aufmarschgebiet des gefährlichsten Lebewesens unter der Sonne werden ließen. Aber eine Wirkung hat es, das vergossene Blut des verkehrten Verkehrs: Es verkehrt eine Seele und vermählt einen schlafenden Hai mit der gefährlichsten Gefahr. Unter der besten Tarnung, der Schönheit, erwacht das Böse.

*

Zwei Jahre später.

Ein junger blonder, blauäugiger Bursche schlingt sich ein großes Badetuch um die Hüften, betätigt die Spülung und verläßt den Raum. Sein Gesichtsausdruck läßt erkennen, daß er gerade an etwas sehr lustiges denkt. Es ist ein fröhlicher, unbekümmerter Junge, ein hübscher Kerl gar, den sich jede Mutter als Freund für ihre Tochter und für sich selbst als Schwiegersohn wünscht, wenn sie ihn schon nicht als eigenen Sohn hat − oder als Geliebten genießen kann.

In der Dusche trifft er auf ein bekanntes Gesicht. Sonst ist niemand da. Er nimmt sein Tuch ab, legt es auf einen Schemel und dreht die Brause an. Während er sich unter dem langsam heißer werdenden Wasserstrahl hin und her dreht, wird er genau beobachtet, was er zunächst nicht bemerkt. Ohne zu seinem Nachbarn zu sehen fragt er ihn:

„Auch nicht nach Hause gefahren? −−− Ich muß noch auf die nächste Prüfung lernen, zu Hause habe ich keine Ruhe, die Mädels eben”, und er lacht. Es kommt keine Antwort, was ihn nicht weiter stört. „Kannst Du mich mal hinten einseifen?” Er dreht sich um. „Denkst wohl auch gerade an scharfe Dinger, wie? Geile Pracht, Mann!” Sein ebenmäßiges Gesicht ist ein einziges breites Lächeln, seine eigene Männlichkeit schickt sich an, zu erblühen.

Sein Nachbar sagt noch immer nichts, nimmt aber sein Duschgel und seift ihn ein − erst wohltuend, dann fest und gründlich.

„Du, da mach’ ich’s selber, danke.”

Er wird unvermittelt gegen die Kachelwand gestoßen …

„He, was soll das?”

Da wird er hart im Genick gepackt, mit dem Gesicht gegen die Wand gedrückt und sieht nur den erhobenen rechten Zeigefinger, der ihm wortloses Stillhalten befiehlt, während es ihn im selben Augenblick heiß durchfährt, und seine linke Wange reibt an den kühlen Kacheln … und reibt … und reibt ... und reibt … und eine Seele wird verwundet, während ein schönes Lächeln stirbt.

*

Etwa vier Monate später.

In einer Hamburger Villa, in Eppendorf, um genau zu sein, nicht wirklich groß, aber groß genug, um noch als Villa zu gelten, nicht an der Pfeffersackmeile, aber doch vornehm genug, um die Bewohner für wohlhabend zu halten, läßt ein schönes Mädchen sich zwei Tage vor Heiligabend ein heißes Bad ein. Es ist fast ein wenig zu heiß, aber es soll seine Wirkung nicht verfehlen, und ein langes Badeerlebnis hat sie ohnehin nicht vor, die junge Schöne. Sie hat etwas ganz bestimmtes im Sinn: sie will baden wie eine römische Adlige. Das Haus ist ruhig, außer ihr ist niemand da. Sie hat ihr hübsches Zimmer aufgeräumt und ihre Kleidung sorgfältig aufs Bett gelegt. Sie wendet sich vor dem Betreten des Bades, das sich gleich an ihr Zimmer anschließt, um, läßt ihren Blick schweifen, als wolle sie sich vergewissern, daß alles in Ordnung ist und ihr niemand folgt, dann geht sie ins Bad, wo sich die hellblaue Wanne mit dem dampfenden Wasser füllt. Sie hat keinen Blick für den schönen Raum, bleibt vor dem hellblauen Waschbecken stehen, betrachtet sich im Spiegel, löst ihre Haare, schüttelt sie aus und nimmt etwas aus dem Toilettschrank.

An der Wanne stellt sie das Wasser ab, verzieht etwas das Gesicht, als sie ihren rechten Fuß kurz eintaucht, aber dann mit heftig eingesogener Atemluft in die Wanne steigt, kurz innehält und sich dann langsam setzt. Die eingetauchte Haut rötet sich augenblicklich. Sie legt den kleinen Gegenstand in die Seifenschale an der Wandseite, lehnt sich mit dem Kopf zurück und schließt die Augen. Sie schwimmt in ihren Gedanken. Sie weiß genau was sie will, ist völlig mit sich einig und absolut ruhig.

„Jetzt werde ich zu meinem Kind schwimmen, so wie es davongeschwommen ist − in meinem Blut. Ich habe es nicht halten können, so wie ich mich nicht mehr halten kann. Niemand kann mich halten, niemand. Mein Blut wird mich zu meinem Kind bringen und dann trennt uns niemand mehr. − Es muß gelingen, da kein Freund mir hilft, ganz alleine muß ich auf die Reise gehen. − Lebt alle wohl, ich muß zu einem Wiedersehen, muß sehen, ob mein Kind doch lächelt.”

Sie greift zur Seifenschale. Ganz in Gedanken tritt die Schöne ihre Reise an. Kurz zucken ihre Mundwinkel, begleitet von einem kurzen Zusammenkneifen ihrer Augen. Und wie so manches Mal bei einer Überlandtour sie ihren linken Arm im Übermut in den Fahrtwind hielt, so hält sie ihn nun hinaus aus der Wanne als wolle sie zum letzten Mal im Diesseits fröhlich winken. Mit Blut kam sie ins Leben, mit Blut geht sie auf die Reise, einem Leben nach, das nicht bei ihr bleiben konnte − und langsam schwinden ihr die Sinne. Zuletzt hört sie ein Kinderlachen. Es verschönt ihr sterbendes Gesicht mit einem letzten Lächeln.

*

Knapp sechsdreiviertel Jahre später, zwei Wochen vor dem Morgen, an dem das Unheil verstummt sein wird, nur um damit weiteres heraufzubeschwören.

Ein schöner junger Mann, blond, blauäugig, dessen ebenmäßige Gesichtszüge für sein Alter ein wenig zu ernst wirken, bleibt an einem Briefkasten an der Ecke der Straße, in der er wohnt, stehen, prüft die Leerungszeiten, sieht auf seine Armbanduhr, nickt unmerklich, hebt die Klappe an der Vorderseite hoch und wirft einen hellblauen Briefumschlag ein.

„So, das ist erledigt.”

Als er weitergeht, begegnet ihm ein Ehepaar mittleren Alters, das, seiner angesichtig, zeitgleich ein ehrliches Wie-schön-Sie-zu-sehen-Lächeln aufsetzt und seinen Gruß erwartet, der ausbleibt. Er geht wie abwesend an ihnen vorbei. Leicht konsterniert bleiben beide stehen.

„Moin, Herr …”

Der Rest bleibt dem Mann im Halse stecken. Beide sehen sich verwundert an.

„Hast Du Töne, geht einfach vorbei.”

„Hast Du seinen Gesichtsausdruck nicht gesehen?” Dem geht’s nicht gut.”

„Sagen Sie, Herr …”, ruft der Mann ihm nach.

„Laß ihn. Der Junge will nicht reden. Ich geh’ morgen mal zu ihm hin.”

„Vielleicht hat Warendorff ihn angesch …, ich meine angepfiffen”, verbessert er sich, nachdem seine Frau ihm blitzschnell das Sag-es-ja-nicht-Augenbrauensignal gegeben hat. „Mann, der muß lernen, das zu ertragen.”

Beide sehen ihm kurz nach und gehen weiter. Fünf Schritte später hat er es schon abgehakt, sie macht sich Sorgen.

Der junge Mann hat inzwischen das Haus erreicht, in dem er wohnt, betritt es und ist froh, daß niemand von den Nachbarn ihn gesehen hat, als er seine Tür aufschließt. Er wirft den Schlüsselbund auf den Schuhschrank gegenüber dem Flurspiegel, ohne die Tür wieder abgeschlossen zu haben. Für einige Augenblicke lehnt er sich gegen die Haustür und schließt seine Augen.

Dann stößt er sich ab, legt seine weiße Schirmmütze auf die Hutablage der Garderobe und geht in sein Schlafzimmer. Dort entkleidet er sich vollständig, legt fein säuberlich alle Stücke weg und betrachtet noch einmal sein textiles Statussymbol mit dem goldenen Streifen und Seestern darüber. Er war so stolz darauf, als er es das erste Mal tragen durfte. Bald wäre der zweite Streifen dazugekommen. Und dann hängt er es weg.

„So, das ist erledigt.”

Er betritt seine kleine Küche und richtet sich ein Abendbrot. Es ist wie jeden Abend, wenn er zu Hause sein kann. Nicht zu viel und nicht zu wenig, er achtet sehr auf seine Figur, beim Training und bei dem, was er zu sich nimmt. Er ißt mit Genuß, atmet nach dem letzten Bissen und letztem Schluck Weißbier tief durch, trägt ab, reinigt das Geschirr und stellt alles ordentlich weg. Eine Pantry muß immer klarschiff sein.

„So, das ist erledigt.”

Nach einem letzten Blick umher geht er in sein Wohnzimmer und setzt sich an den alten Schreibtisch, den sein Vater ihm geschenkt hatte. Zwei Briefe schreibt er, mit ruhiger, schöner Handschrift, faltet jeden Bogen sorgfältig, steckt jeden in einen Umschlag, den er anleckt und verklebt und zusätzlich petschiert. Er muß schmunzeln: Nicht nur die Briefe sind petschiert − er ist es auch. Aber bald ist er frei.

„So, das ist erledigt.”

Mit einem tiefen Durchatmen läßt er sich in seinen Lieblingssessel fallen, lehnt sich zurück und schließt die Augen. Sein Kopfkino springt an und spielt ihm die schönsten Filme seines Lebens vor, so schön, daß sein Lächeln für eine kurze Weile zurückkehrt und er sich selber zu lieben beginnt. Nach dem Höhepunkt atmet er tief durch.

„So, das ist erledigt.”

Nach einem letzten Blick umher geht er in sein Bad und holt sein Reisemittel heraus. Er will es gleich verwenden, aber vorher genießt er eine heiße Dusche, die ihn reinigt und doch nochmals an den Beginn erinnert, so wie sie ihn jedes Mal erinnerte, wo es begann und wie es begann − sein Unheil, seine Schmach, sein Verderben.

Nach zehn Minuten trocknet er sich ab und hängt die Handtücher fein säuberlich auf.

„So, das ist erledigt.”

Er nimmt sein Reisemittel in die Hand, blickt sich ein letztes Mal um und geht in sein Schlafzimmer, denn das will er nun tun − schlafen.

Er schlägt das Oberbett zurück, setzt sich auf die Bettkante. Die Uhrzeit nimmt er nicht mehr wahr; sie ist unwichtig geworden. Zwei Kopfkissen türmt er auf und setzt sich dagegen. Er macht mit der linken Hand eine Faust, an seinem sehnigen Arm zeigt sich die Reisestrecke, mit der leeren Spritze schickt er eine Luftblase los, zieht die Nadel heraus, ein kleiner Blutstropfen quillt hervor, er läßt die Spritze fallen, lehnt sich zurück und schließt die Augen.

„So, das ist er ...”

*

Einen Tag später.

Zwei junge Männer rennen zur Mittagszeit auf das Haus zu, in dem der schöne, junge Mann wohnt. Als der erste gerade läuten will, wird die Haustür geöffnet, und beide drücken ohne Rücksichtnahme hinein.

„He, können Sie nicht aufpassen?” Ein empörter älterer Mann sieht ihnen böse nach.

Nein, es schert sie nicht. Beide stürmen zwei Stockwerke hoch und beginnen, an der Tür des schönen, jungen Mannes zu klingeln und gegen sie zu hämmern.

„Mach’ auf, mach’ endlich auf. Mann, mach’ keinen Scheiß!” Beide sehen sich entsetzt an.

„Kannst Du nicht aufschließen oder sie einfach eintreten?”

„Fußmatte!”

Der das sagt bückt sich und findet einen Sicherheitsschlüssel. Gerade als sie die Tür öffnen, kommt der Nachbar heraus.

„Was machen Sie da, was soll das? Ich kenn‘ Sie nicht”, aber er bekommt keine Antwort. „Sie, ich hol’ die Polizei!” ruft er noch, findet aber kein Gehör.

Die jungen Männer sind längst in die Wohnung gestürmt, sehen jeder in ein anderes Zimmer und erstarren, als sie den schönen, jungen Mann entdecken. Einer tritt mit weit aufgerissenen Augen, stoßatmend an das Bett heran, fällt auf die Knie und ergreift die rechte Hand des Gesuchten.

„Das zahlt er mir, das zahlt er mir. Ich schwöre Dir, das zahlt er mir.”

Der in der Tür stehengebliebene junge Mann wendet sich entsetzt ab, sucht einen Stuhl und entdeckt im Wohnzimmer auf dem Tisch zwei Briefe und daneben einen Siegelring. Die Briefe sind adressiert an „Vater und Mutter” und „S.”

*

13 Tage später.

Es ist eine klare Mondnacht. Sie ist warm. Der Ort liegt ruhig. Der Tag war heiß. Man könnte noch immer in Shorts am Strand spazierengehen, den angenehm warmen Sand unter seinen Füßen spürend, Hand in Hand mit dem liebsten Menschen, oder auch allein, wenn einem das lieber ist. Doch es ist ruhig. Kein lebhaftes Schwatzen mehr vor den Strandcafés und kleinen Gaststätten. Kein Liebespärchen, das lieber im warmen Sand liegt als in den Federn oder daneben oder wo auch immer.

Bis Mitternacht wird es still. Es ist nicht Westerland drüben auf jener schmalen, ach so mondänen Nordseeinsel, wo es schon teuer ist ein kühles Bier auch nur anzusehen, geschweige denn sich servieren zu lassen und die kühlen Blonden manchen Mann erst um den Verstand und dann sein letztes Geld bringen, wo es auch nach Mitternacht noch lebhaft zugeht. Es ist auch kein Weltbad, wie es einst Zoppot vor Danzig in Westpreußen war, wo die große Welt verkehrte, als noch Traverser Schöner aufspielte, das Kasino gesellschaftlicher Treffpunkt war, Blumenkorsi die Menschen entzückten und selbst im Winter schöne Frauen in ihren Pelzen auf Seesteg und Promenade die Aufmerksamkeit auf sich zogen, ehe die Welt verrückt wurde und die Schüsse des Linienschiffes „Schleswig-Holstein” den Untergang der alten Ostseewelt ankündigten, weil dumme Führer vieler Staaten meinten, man müsse Clausewitz allzu wörtlich nehmen und sich wieder einmal zeigen, was man rüstungstechnisch drauf hatte. Ausgerechnet „Schleswig-Holstein” mußte dieses Schiff heißen, mit dem es losging, ein schönes, ein stolzes Schiff, mit einem fähigen Kommandanten, der es bis zum Vizeadmiral bringen sollte, und der doch nicht ahnen konnte, daß nun gerade seine Artillerie nicht nur die feindliche Stellung auf der Westerplatte vor dem deutschen Danzig niederkämpfte, sondern auch dazu beitragen sollte, wenn auch indirekt, daß wunderschöne Ostseebäder wie Rauschen, Cranz und Kolberg ihren Glanz verlieren würden und deutsche Urlauber sich andere Ziele suchen müßten. Und so kam es, daß ein kleines Ostseebad in Ostholstein, obwohl es schon zu Kaiser Wilhelms Zeiten, dem mit dem Es-ist-erreicht-Schnurrbart, ein kleines Ostseebad in Ostholstein war, ausgerechnet der Artillerie der „Schleswig-Holstein” und weltumspannender Dummheit es verdankte, nachdem man sich wieder beruhigt hatte und vom Wirtschaftswunder erholen mußte, einen für ruhige norddeutsche Verhältnisse ungeheuren Aufschwung zu nehmen, als viele Gäste, die nun nicht mehr nach Rauschen, Cranz und Zoppot fahren konnten, sich Ersatz suchten und neben manch weiterer Perle in der Kette der holsteinischen Badeorte in der Lübecker Bucht auch und ungemein treu in dieses kleine Ostseebad hinter dem Eutiner Staatsforst fahren sollten. Manche kamen wohl auch von der Seeseite her, dann lag und liegt es natürlich vor dem Eutiner Staatsforst. Aber immerhin liegt es da, denn glücklicherweise hat die große Flut von 1872 es verschont, sonst läge es nicht mehr da, wäre verschwunden, wie einst Vineta. Das immerhin kennt man noch als Sage, das kleine Ostseebad wäre nie eines geworden und das weggespülte Fischerdorf hätte man völlig vergessen, man erzählte sich wohl nicht einmal mehr eine Sage davon, denn es hat keine. Es käme niemand, denn die Leute müßten ja ihre Kurtaxe woanders abgeben, ob es ihnen paßt oder nicht, und die Wasserstandseiche im Eutiner Staatsforst würde auch niemand kennen, denn es hätte niemand den Wasserstand von 1872 dort angezeichnet, und dann würde sie niemand Wasserstandseiche genannt haben − warum auch. Es wäre niemand da, den es interessiert hätte, höchstens den Förster des Eutiner Staatsforstes, der die Wasserstandseiche, die nie zu diesem Namen gekommen wäre, kurzerhand verkauft hätte, um die öffentliche Kasse mit seiner guten Holzwirtschaft zu entlasten. Eine unbekannte Wasserstandseiche hätte sich vortrefflich zu Möbeln verarbeiten lassen, die dann von einem Menschen mit Geschmack gekauft worden wären, der nie etwas von einer Wasserstandseiche erfahren hätte, aber möglicherweise nun in diesem kleinen Ostseebad Urlaub machte und nach ihm seine Kinder und Enkel, die allesamt die Wasserstandseiche mindestens einmal in ihrem Leben bestaunt haben und sich fragten, warum denn dort das Wasser so hoch stand und das kleine Ostseebad noch steht. Das, was damals nicht weggespült wurde, haben heimatlose Bürgermeister zur Förderung des Baugewerbes und ihres Egos nach und nach abreißen lassen, denn wenn die Flut 1872 das kleine Ostseebad erreicht hätte, wäre ja sowieso alles weg gewesen. Warum also diese Aufregung?

Und so liegt das kleine Ostseebad ruhig und ahnungslos da. Fast so ruhig wie im Winter, wenn außer den wenigen Einheimischen und der Atmosphäre einer wunderbaren Ruhe kaum jemand da ist. Die wird dann noch ruhiger, die Atmosphäre, wenn die gar nicht so ruhigen Winterstürme, die sehr stürmisch sind, wie ihr Name schon sagt, drei Meter hohe Schneewehen aufwehen, denn dann gilt: Keen een rin un keen een rut. Man tut dann gut daran, vorher ausreichend eingekauft zu haben, denn der kleine Eckladen am Ring, so emsig seine Besitzer auch sind, hat auch nicht alles. Und selbst wenn er alles hätte − man muß erst einmal hinkommen, wenn die Schneewehen aufgeweht sind, und das ist gar nicht so einfach, wenn es von achtern und von vorn weht, als wäre man am Kap Hoorn. Beneidenswert sind die, die am Ring wohnen und es nicht weit haben, aber auch die müssen bannig aufpassen, daß der Wind, der nichts anderes kann als zu wehen, sie nicht am Laden vorbei die Waldstraße entlangweht und sie erst am Waldrand zum Stehen kommen und der Förster in seinem schmucken neuen Forsthaus sich wundert, wer denn da zu Besuch vorbeigeweht kommt. Die Verlegenheitsausrede, man wolle bloß ein Ster Holz kaufen, kommentierte er nur noch kurz mit einem gemurmelten „Bregenklöterig, hm?” und ermahnte etwas deutlicher „Bliev to Huus, dat weiht ut Noord!” − und Tür zu, denn es weht. Seine liebe Frau mag es gar nicht, wenn es ihr weiter hinten im Haus das gute Geschirr vom Tisch fegt.

Manchmal aber versuchen die Stürme das nachzuholen, was die Flut von 1872 nicht geschafft hat. Sie peitschen das Wasser, was soll man im Winter auch anderes damit machen, denn zum Baden ist es viel zu kalt, aber schöne hohe Wellen lassen sich auftürmen und damit spülen sie schon mal den ganzen Strand weg oder versuchen, den Landesdeich zu durchbrechen. Dann wird es etwas unruhig, die Schäden müssen repariert werden, und dann beruhigt man sich wieder, damit man die Kraft und Ruhe hat, die Gäste mit der ruhigen Freundlichkeit zu empfangen, die das kleine Ostseebad auszeichnet, damit die anfänglich immer noch etwas aufgeregten Gäste, die aus weniger ruhigen Gegenden und Lebensumständen kommen, langsam die Ruhe finden, derethalben sie angereist sind, um davon nach ihrer Abreise etwas mitzunehmen, um die unruhigen Gegenden und die Lebensumstände, aus denen sie gekommen sind, etwas ruhiger zu machen und sich selbst natürlich auch. Und wenn sie denn alle wieder fort sind, finden die Einheimischen erneut die Ruhe, die sie brauchen, um die Kraft zu sammeln, den langsam wieder unruhig gewordenen Binnenländern im kommenden Jahr wieder zu der Ruhe zu verhelfen, wenn die Unruhe sie erneut an die Küste treibt. Die Einheimischen freuen sich übrigens jedes Jahr, wenn die Gäste wieder all das Geld mitbringen, das zu verdienen sie die Ruhe hatten, nachdem sie in dem kleinen Ostseebad zur Ruhe gekommen waren, und es nun da lassen, und das wiederum beruhigt die Einheimischen ungemein, denn sie leben ganz gut davon, auch wenn sie es nicht immer zugeben mögen. Im übrigen haben die Einheimischen hier die Ruhe weg. Das gehört in dem kleinen Ostseebad einfach dazu.

Und so ist auch dies eine ruhige Nacht, noch warm von der Hitze des Tages, milde erleuchtet von einem ohne Wolken behinderten silbernen Mond. Noch ahnt niemand, daß Gottes Nachttischlampe die Ruhe vor dem Sturm bescheint.

Eine schlanke junge Frau geht im matten Licht auf die Promenade zu. Die leichte Brise in der Nähe des Strandes läßt sie ebenso leicht frösteln, wobei sie sich, unbewußt natürlich, nicht sicher ist, ob es nicht die zitternde Aufregung dessen ist, worauf sie sich freut − zu freuen glaubt.

Sie bleibt in dem schmalen Schatten stehen, den das Strandcasino wirft. Ihr Blick richtet sich auf die Seebrücke und die sich auf der angebauten Badeinsel abspielende Szene, derer sie nun Zeugin wird, was sie nicht erwartet hat.

Sie sieht fünf junge Männer, die der Reihe nach nackt ins Wasser springen. Nackte junge Männer findet sie schön, aber das hier ist ihr zuviel. Sie verschränkt die Arme vor der Brust, schaut enttäuscht, wippt mit beiden Füßen einige Male auf und ab, schaut zu Boden, sieht noch einmal zu den im Wasser tobenden jungen Männern hin. Dann dreht sie sich um und geht, gesenkten Hauptes, mit verschränkten Armen, den Weg zurück, den sie gekommen ist. Am Seemannsdenkmal wendet sie sich noch einmal um, hört einen kurzen Augenblick dem fröhlichen Getobe zu, dreht sich in Richtung des Theehauses und beginnt zu laufen, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her. Hinter dem Landesdeich verschluckt die Nacht die Lebensfreude.

Daß ein weiteres Augenpaar die Szenerie beobachtet, hat sie nicht bemerkt. Sie selbst ist nicht unentdeckt geblieben und seit ihrem Erscheinen im Blickfeld gehalten worden. Nun, da sie fort ist, wenden sich diese Augen, verborgen im Schatten eines Korbes schräg gegenüber der Badeinsel, wieder den nackten jungen Männern zu und verfolgen funkelnd das lebhafte Treiben.


*

Die junge Frau kommt atemlos zurück in ihre Ferienwohnung. Sie schließt ab, läßt den Schlüssel stecken, lehnt sich tief atmend gegen die Tür. Nach ein paar Augenblicken drückt sie sich ab, geht ins Wohnzimmer, zieht die Jalousien herunter und wirft sich in einen Sessel. Sie sieht traurig aus, starrt an die Decke. Nach einem Augenblick springt sie auf, murmelt „Was soll’s”, geht in ihr kleines Schlafzimmer, entkleidet sich, sucht das Bad auf und steigt unter die Dusche.

Sie dreht sich unter dem prasselnden Wasser, hält ihr Gesicht hinein, ihre langen schwarzen Haare fließen an ihrem Rücken herunter. Ihre schöne Haut schimmert golden im Badezimmerlicht, gespendet von einer der letzten Glühbirnen, ist übersät von immer wieder sich erneuernden Wassertropfen, die wie kleine Kristalle blinken. Ihre Hände gleiten über ihre wohlgeformten Brüste, ihren flachen Bauch, suchen ihren schwarzen Schoß, als wollten sie das Geschenk nachliefern, das am Strand nicht gegeben wurde.

Abrupt dreht sie das Wasser ab, steigt hinaus, trocknet Haare und Körper. Sie wirft ihren Bademantel über und windet sich einen Handtuchturban.

In der Küche macht sie sich den letzten Tee des Tages, setzt sich und schreibt Tagebuch, begleitet von einem leisen Weinen, dessen sie sich nicht erwehren kann. Nachdem ihre Erinnerungen notiert sind, läßt sie ihren Bademantel auf der Küchenbank zurück. Die Schöne legt sich schlafen und entflieht der Enttäuschung der Nacht in die sanften Arme des Schlafes.

*

1. Tag

Die kleine Uhr neben ihrem Bett zeigt 6.30 Uhr. Nicole liest blinzelnd die Zeit ab, rekelt sich noch einmal und kehrt aus der Traumwelt in die noch stille Wirklichkeit des Morgen zurück. Das Haus ist noch ganz ruhig. So wie es sich in einem Haus in dem kleinen, ruhigen Ostseebad gehört.

Sie steht auf, kämmt sich die Haare sorgfältig durch. Nicole geht, nackt wie sie ist, in die Küche, läßt die Jalousie hochlaufen und trinkt ihren morgendlichen Orangensaft am Fenster stehend. Sichtlich besser gelaunt schaut sie anschließend in den Spiegel, nickt sich selbstzufrieden zu; sie schaut sich um, entdeckt ihren weißen Bademantel, zieht ihn über, schlüpft in ihre Strandsandalen, steckt ihr kleines Portemonnaie ein und verläßt das Haus.

Es ist noch niemand auf den Straßen. Die Bäckereien öffnen erst um sieben; den Brötchenkauf plant sie für den Rückweg. Sie geht die Strandstraße entlang, kommt an dem schön renovierten Theehaus vorbei, passiert das Seemannsdenkmal, wo sie kurz stehen bleibt und in die Morgensonne blinzelt. Sie reckt und streckt sich, als wäre sie gerade aufgestanden. Dann steckt sie beide Hände in die Bademanteltaschen und schlendert vorbei an den kleinen Becken mit den plätschernden Wasserspielen über die Bodensteine mit dem Wellenmuster weiter Richtung Haupteingang Promenade und Strand, wobei sie sich rechts hält.

Nicole biegt um die Ecke des Strandcasinos, bleibt kurz stehen, sieht sich um, stellt mit einem feinen Lächeln fest, daß sie allein ist, löst den Gürtelknoten, faßt in Brusthöhe die Aufschläge und öffnet sie, als wolle sie die ersten Sonnenstrahlen einfangen. Die ersten Schwalben sausen im Tiefflug über die Promenade und dem Sand zwischen den Strandkörben.

Nicole bewundert die Manövrierfähigkeit der pfeilschnellen kleinen Vögel, sieht ihnen einige Augenblicke zu. Noch sitzen gelassene Möwen auf den Strandkörben, einige stolzieren durch die Korbreihen, um nach Essensresten zu suchen, die die Badegäste am Abend zuvor absichtlich in den Sand geworfen hatten und bei der ersten Aufpickrunde übersehen worden waren.

In Scharen sitzen große weiße Möwen und die kleineren Schwarzkopfmöwen auf der Seebrücke. Die ersten Gäste werden sie verscheuchen und auf Abstand halten. Wehe, wenn diese Möwen es lernten, den Menschen die Eistüten aus der Hand zu picken, wie die aufdringliche Bande auf Sylt es bereits gelernt hat.

Nicole vergewissert sich erneut, unbeobachtet zu sein, läßt die Aufschläge los, nimmt leicht Anlauf und springt auf den Sand, der noch etwas feucht von der Nacht ist, und strebt einem Strandkorb in der ersten Reihe zu. Einige der Möwen fliegen auf und machen sich davon. Beim Näherkommen sucht sie etwas in den Taschen, bleibt kurz stehen, prüft nochmals − und murmelt leise vor sich hin: „Jetzt habe ich doch den Schlüssel vergessen”, geht aber weiter und zwar gezielt auf den Strandkorb H 55 zu. Nicole wundert sich im Stillen, daß links neben dem etwas nach rechts gedrehten Korb das Gitter steht, will aber nicht weiter darüber nachdenken, läßt den Bademantel heruntergleiten, hängt ihn am Gitter auf und geht weiter zur Wasserlinie.

Nicole schaut nochmals links und rechts, sich absichernd, daß sie allein ist, prüft mit den Füßen die Wassertemperatur und bekommt eine leichte Gänsehaut.

„Ach was”, macht sie sich selber Mut und geht hinein. Es kostet sie etwas Überwindung, aber mit leisem Juchen schaufelt sie sich das frische Wasser an den Oberkörper, ihre schönen Brustwarzen sind augenblicklich aufgerichtet und fest. Dann taucht sie kurz unter, kommt wieder hoch und ist schließlich so weit fortgekommen, daß sie mit einem Sprung nach vorn in das ruhige Ostseewasser gleitet und kraulend Distanz zum Strand gewinnt.

Nicole zieht weiter draußen einige Bahnen, kehrt zur Sandbank zurück, wo sie in Hocke kurz verweilt und die verwaiste Badeinsel betrachtet, auf der sie zum Mondscheinschwimmen einen einzigen schönen Mann zu treffen trachtete, der ihrer offensichtlich nicht gedacht und sich stattdessen mit vier Kameraden getroffen hatte. Sie nimmt sich vor, ihn deshalb energisch zur Rede zu stellen. Jetzt sitzen dort nur einige Möwen, die die nackte Schöne zwar im Auge behalten, aber für ihre Erotik ganz sicher keinen Blick haben. Was zählt menschliche Schönheit für eine Möwe? Die wird erst interessant, wenn sie ihr einen Keks entgegenhält.

Nicole wendet sich dem Ufer zu, schwimmt noch einige Züge, richtet sich auf − und entdeckt, daß aus ihrem Strandkorb zwei Beine herausragen, als hätte sich jemand hineingesetzt und wäre eingeschlafen. Sie verläßt die See, nimmt ihre am Körper klebenden Haare mit der Rechten zusammen, läßt sie durch ihre geschlossene Hand laufen, um das Wasser herauszudrücken und läßt sie überrascht los, denn sie bemerkt beim Näherkommen, daß es sich um Männerbeine handelt. Nicht behaart, aber doch Männerbeine. Zu einer anderen Tageszeit hätte sie vielleicht gedacht „Hm, schöne, trainierte, lange Beine, da hängt bestimmt ein großer hübscher Kerl dran und noch ‘was anderes Großes”, aber daran denkt sie jetzt am frühen Morgen, einsam am Strand, überhaupt nicht. Um nicht Opfer einer unerwünschten Betrachtung ihrer Nacktheit zu werden, unterläßt sie jeden Anruf, geht seitwärts auf ihren Korb zu, nimmt ihren Bademantel vom Gitter, wirft ihn über, bindet den Gürtelknoten, geht herum, holt Luft, um ein herzhaftes „Sagen Sie mal, was machen Sie in meinem Korb?” anzubringen − reißt schreckgeweitet ihre Augen auf und vergißt ihre Worte in einem gellenden Schrei.

*

Auf dem mittlerweile belebten Strand stehen zahlreiche Personen um den Strandkorb H 55 herum. Nebenan, im H 76, bemüht sich eine junge Kriminalbeamtin um die schöne Frühschwimmerin, die noch immer völlig aufgelöst ist. Ein Notarzt fragt sie:

„Möchten Sie ein Beruhigungsmittel?”

Sie schüttelt mit dem Kopf und macht eine abwehrende Handbewegung. „Nein, nein, es geht bald wieder.” Sie zittert am ganzen Körper, ist mit verschränkten Armen ein einziges ‚,Geht doch alle weg!“

Der Kriminalkommissar Frederic Langeland, ein großer blonder Mann von 30 Jahren, versucht, Neugierige fernzuhalten. Er ist sonst ein fröhlicher Typ, locker, tolerant, läßt auch mal Fünfe gerade sein, aber die Sensationsneugier einiger Leute geht ihm an diesem Morgen auf die Nerven. Wer genau hinhört, erkennt einen leichten, einen wirklich nur leichten dänischen Akzent.

„Herrschaften, gehen Sie zu Ihren Körben oder in Ihre Quartiere. Außer einem Toten gibt es hier nichts zu sehen” und macht wegwinkende Handbewegungen. Als einige Kinder zu nahe kommen wird er energisch und lauter „… und halten Sie Ihre Kinder fern, das ist hier kein Spielfilm!”

„Na hören Sie mal, wofür zahlen wir denn Kurtaxe?”, protestiert ein bauchiger Mann.

„Sicher nicht, um eine Leiche anzusehen und unsere Arbeit zu stören” − und sein Ton wird deutlicher − „Entfernen Sie sich!”

Langeland beobachtet kopfschüttelnd, wie der Dicke sich grummelnd zurückzieht. Auch andere Neugierige verlaufen sich, von Uniformierten mit ausgebreiteten Armen zurückgedrängt.

Recht aufgeregt kommt eine weibliche Person gehobenen Alters heran:

„Was ist hier los? Wer hat hier das Kommando?“

An der noch nicht vollständigen Absperrung versucht einer der Beamten aus Grube gar nicht erst, das nahende Ungewitter aufzuhalten, denn er weiß, was, bzw. wer da kommt, und macht angesichts der ihm entgegengeworfenen gebieterischen Handbewegung „Weg da!” schleunigst Platz. Sie stürmt an Langeland vorbei, der ihr mit Stirnrunzeln nachsieht. Dann wendet er sich dem gehorsamen Beamten mit stumm-fragend erhobenen Händen zu und formuliert lautlos „Wer ist das?”, worauf mit lautloser Lippenformulierung zurückkommt „Die Bürgermeisterin”; dazu die Handbewegung, er solle bloß nichts sagen.

Das „Ungewitter” ist 63 Jahre alt, von asketischer Figur, mittelgroß, mit einer flotten Kurzhaarfrisur, die fast jedem Sturm standhält, auch im Gemeinderat oder im Landratsamt, wo immer es stürmisch werden kann; einmal gewuschelt − wieder in Ordnung. Man sieht es gerade nicht, aber sie kann sehr freundlich dreinschauen − wenn sie will, aber sie kann auch verbal draufhauen, wie Blücher bei Waterloo. Keine Gefangenen! Sie drückt sehr viel für ihren Ort durch, plündert jeden erreichbaren Zuschußtopf. Als sie bei der Einweihung der neuen Promenade 2003 einen Staatsminister aus Kiel unentrinnbar vor sich hatte, da machte sie ihm coram publico schon klar, wieviel Geld sie für die neue Seebrücke benötigte, was der dann auch mit einem breiten Schmunzeln und einem Beckenbauer’schen „Schau’n wir mal” beantwortet hatte. Sie schaffte es dann tatsächlich, das entsprechende Geld aus den Kieler Rippen zu leiern und die neue Seebrücke steht; mit ein paar Schwierigkeiten, aber sie steht. Fragt sich nur, wie lange, bei den Winterstürmen. Und wenn Jugendliche einen Arbeitsplatz suchen oder erst einmal eine Lehrstelle brauchen, da ist sie zur Stelle und hilft. Hin und wieder müssen gleichaltrige Einheimische, mit denen sie zur Schule ging und sie gut kennen, sie ein wenig einnorden, aber das gehört zum menschlichen Miteinander dazu. Man ist ja im Dorf, man kennt sich. Aber bei der Straßenumlage, da wird sie zum Tier, langt gnadenlos zu. Da kann es schon mal sein, daß sie Hausbesitzern sagt, sie sollen halt verkaufen, wenn sie es sich nicht leisten können. Sie hängt sich wirklich ’rein, ist ständig auf Achse im Dienst an der Gemeinde, obwohl sie „nur” eine Ehrenamtliche mit Aufwandsentschädigung ist. Da beneidet sie schon ihren Kollegen in Grömitz, der rund 7.700 Einwohner verwaltet und ein fixes Gehalt bezieht. Und dann erst die lieben Beamten im Landratsamt, die alles besser wissen − mit Gehalt. Aber sie ist überall präsent, stellt ihre Plakate nicht nur zur Wahl auf. Aufmerksame Gäste, die Einheimischen sehen das schon gar nicht mehr, finden vor vielen Häusern ihren Namen auf kleinen Schildern. Man kann nämlich Ferienwohnungen bei ihr mieten. Da ist sie sehr geschäftstüchtig, und wer sie sehen will, und das muß man schließlich, wenn man eines der hübschen Feriendomizile ergattern will, der trifft sie dort, wo einst das schöne weiße Hotel zur Post stand, ungefähr da, wo man früher das Hotel betrat und rechts in den großen Speisesaal ging. Doch an diesem Morgen ist sie Bürgermeisterin, und nur Bürgermeisterin, mit der ganzen Energie ihrer Amtsführung.

Sie entdeckt ein ihr bekanntes Gesicht.

„Ah, guten Morgen, Hans …”

„Guten Morgen, Hanne!” erwidert der Angesprochene, geht der Bürgermeisterin entgegen, und beide geben sich die Hand.

„… was ist passiert?” bohrt die Bürgermeisterin nach, „Kannst Du mir mal sagen…?” Sie sieht Hans von Greiff fragend an.

Ein großer Mann von 44 Jahren, imponierende 1,90 Meter groß, in heller, sommerlicher Kleidung, mit Rembrandt auf dem Kopf, tritt heran. Er hat ein angenehmes Gesicht, mit gepflegtem Schnurrbart und Spanischem Dreieck, man könnte ihn fast als „schönen Mann” bezeichnen. Seine kräftigen, gepflegten Hände zieren an den Ringfingern ein breiter goldener Ehering rechts und ein alter Siegelring links. Er wirkt noch etwas abgespannt, zeigt dabei immer noch leichte Züge von Verärgerung.

Man hatte ihn an seinem freien Tag aus dem Bett geholt, wohlgemerkt nach einer heißen Liebesnacht. Auch nach fast 20 Ehejahren hat er sich nicht auf gelegentliche Alibi-Blumensträuße zurückgezogen, seiner schönen Frau seine Liebe zu zeigen; er weiß sehr wohl, daß Frauen bei plötzlich mitgebrachten Rosensträußen eher zu einem kaum noch fortzubringenden Mißtrauen neigen, und wenn sie sich noch so erfreut geben. Es wird immer mit brüllender Schweigsamkeit die Frage aufkommen, ob der Kerl ’was angestellt hat oder sich frische Jugend bei einer Jüngeren holt. Rosen sind ja ein so offensichtliches Ablenkungsmanöver. Seine Maren pflegt seit Jahren ihre hübschen Portulac-Röschen, die im Sommer so fleißig blühen, egal, wo sie bisher einen Garten zur Verfügung hatte; nun auch auf dem Grund ihres neuen Heims. Das genügte. Sie hatte sich dem, kaum, daß das Haus eingerichtet war, mit Feuereifer gewidmet. Und ebenso hatten sie sich in der vergangenen Nacht geliebt. In den Sommerferien mußte auch sein geliebtes Frauchen, wie er sie für sich gern nennt, nicht auf die Zeit achten. Lehrerprivilegien eben. Ihre drei Teenager hatten es längst gelernt, sich ohne elterliches Gluckenverhalten das Frühstück zu machen. Also waren beide eng aneinandergekuschelt beim Morgengrauen eingeschlafen, in der Zuversicht, irgendwann am Vormittag miteinander aufzuwachen und fortzusetzen, was sie in der Nacht so stürmisch begonnen hatten. Das Telephon war leise gestellt. So hatte er es nicht gehört, aber die Haustürklingel, obschon ein schöner Dreiklang − er haßte diese schnarrenden Terrorklingeln, wie er sie schon als Kind empfunden hatte, aller früheren Quartiere − bedient von seinem Kollegen Fritz Langeland, hatte ihn erbarmungslos aus seinen Liebesträumen geholt und mürrisch an die Haustür geführt − der Einfachheit halber nackt wie er war. Langeland hatte sich nicht einmal geräuspert. Dessen dänische Toleranz übersah das einfach. Die Meldung einer Tötung ließ ihn aufwachen, allerdings auch seinen Kollegen anmaulen, warum er nicht den Diensthabenden vom KDD aufgescheucht habe. Der sei anderweitig unterwegs − Raubüberfall, mal wieder bei einer Tankstelle. Er solle Malle aus dem Bett holen, der wohne ja gleich „um die Ecke”. Malvoisins Gesicht verzog sich und er selbst wieder ins Haus. Langeland hatte anschließend auf einer praktischerweise vor der Tür stehenden Bank gewartet, während sein Chef sich in aller Ruhe zurecht machte. Der Tote würde ihm eh keine Fragen mehr beantworten. Warum also eine unnötige und wegen der Störung nicht gewollte Eile an den Tag legen? Warum? So hatte er sich der norddeutschen Ruhe hingegeben. Man jümmers suutje. Die Hingabe an seine Frau war dagegen bedeutend temperamentvoller ausgefallen. Jetzt lag sie zusammengerollt friedlich schlummernd da, als er sich angezogen und noch einmal nach ihr gesehen hatte. Ein leise schnurrendes Kätzchen. Kein Vergleich zu der wilden Katze wenige Stunden zuvor. Er nahm sich die Zeit dieses weibliche Wesen zu betrachten, das er so unendlich liebte und das ihn so sehr liebte. Er kann das zwar nach all den Jahren noch immer nicht begreifen, aber warum soll er auch? Er findet es einfach nur schön. Dann riß er sich los. Fruchtsaft mit einem Tropfen besten griechischen Olivenöls, kaltgepreßt, selbst-verständlich, und grüner Tee mußten sein. Ohne das war er morgens kein Mensch. Er hatte noch drei Löffel seines am Abend zuvor angesetzten Matjestopfes genascht und war dann zum Dienst erschienen. Herr von Greiff stellt ihm die Bürgermeisterin vor:

„Herr Kollege, ich darf Ihnen unsere Bürgermeisterin vorstellen: Frau Hanne von Bauwitz.”

Der Angesprochene nimmt seinen Hut ab.

„Hanne, ich darf Dir meinen Kollegen vorstellen: Kriminalhauptkommissar von Malvoisin … oder schon Erster?“

„Seit kurzem, aber ‚Erster’ ist für mich nur eine geradezu österreichische Rangverliebtheit, Generalobersargträger und dergleichen. Oder dieser Quatsch mit Stabshauptmann oder Stabskaleu. Es kommt auf den Mann an, nicht auf den Dienstgrad, aber lassen wir das”

„Na, da ist ja die ganze preußische Rangliste beisammen …” Die Bürgermeisterin hat ihre „spitzen” fünf Minuten. Malvoisin bleibt gelassen, verneigt sich kurz.

„Ja, ja, 400 Jahre Franzosen, 300 Jahre Preußen, aber das ist jetzt auch unwichtig.”

„Sagen Sie mal, sind Sie nicht gerade erst zugezogen?”

„Ganz richtig, Madame, vor einem guten Jahr.”

Er seufzt leise, hört an ihrer rauchigen Stimme, daß sie an der Kette hängt, und ein kurzes Einziehen der Luft bestätigt ihm: sie ist Raucherin.

„Keine Zeit, sich vorzustellen.”

„Das kann man doch von einem vielbeschäftigten Gemeindeoberhaupt nicht erwarten.”

Frau von Bauwitz sieht Malvoisin indigniert an. Der hält das aus, fragt:

„Madame, sind Sie schreckhaft?” und sieht das Gemeindeoberhaupt forschend an.

„Junger Mann, ich bin fast 40 Jahre verheiratet, mich erschreckt gar nichts mehr! Aber ich habe es schon einmal gefragt: Was ist hier los?”

Greiff wirft hinter vorgehaltener Hand leise ein: „Harte Admiralstochter…”

„Na dann kommen Sie mal …”

Malvoisin wendet sich dem H 55 zu und die Bürgermeisterin stapft im Sand hinter ihm her.

Malvoisin bleibt stehen und wendet den Blick dem Korbinneren zu. Bauwitz tritt heran − und der schreckgeweitete Blick wird von einer Ohnmacht ausgelöscht. Ehe Malvoisin und Greiff zufassen können liegt Bauwitz im Sand.

Malvoisin murmelt: „Da fehlen wohl noch 10 Ehejahre zur Abhärtung, wie?”

Beide Männer knien nieder, um die am Boden liegende Bauwitz aufzuheben, doch kaum angefaßt, berappelt sie sich und wehrt die helfenden Hände ab.

„Laßt mich, ich kann das allein!”

Bauwitz steht auf und sieht, etwas nähertretend, zur Sitzseite des H 55.

Im Strandkorb sitztliegt, etwas zur Seite geneigt, ein großer junger Mann, dem ersten Augenschein nach 23 bis 26 Jahre alt, durchtrainierter Körper, kurze pechschwarze Haare, Dreitage-Bart, nackt bis auf eine knappe Badehose. Um den Hals hängt ein Seil mit Henkerknoten, etwas oberhalb sauber abgeschnitten. Die weiße Badehose ist blutgetränkt. Daß sie mal ganz weiß war, ist kaum noch zu sehen.

Malvoisin bemerkt Unruhe hinter sich, sieht sich um und bemerkt, daß Strandgäste immer näher kommen

„Habt Ihr schon mal ’was von Tatortsicherung gehört? Mann, Weber …” − ein Polizeihauptmeister macht sich straff −

„… haben Sie vergessen, wie man absperrt?”

„Natürlich nicht, Herr Hauptkommissar!” erwidert der Gerüffelte fast empört.

„Na − und wo ist die Absperrung? Wenn die Leute die Bänder nicht respektieren, dann verschafft dem Respekt!” Er wird lauter. „Ausführung!” und zeigt auf die Promenade und auf den Strandbereich um den Fundort herum.

Weber winkt zwei Kollegen heran, und sie machen sich zu Dritt an die Verbesserung der Absperrung. Einige frühe Gäste protestieren, da sie den Strandabschnitt verlassen sollen.

Weber ruft einem Kollegen zu:

„… und notiert die Namen und Adressen der Leute, Urlaub und zu Hause!”

„Verstanden!” kommt es zurück.

Ein älterer Herr gibt sich empört:

„Junger Mann, ich bin der Oberlandesgerichtsrat Dr. Ach …”

Weber unterbricht, gibt sich betont höflich, aber etwas spitz:

„Auch im Ruhestand, Euer Ehren, sollte Ihnen noch erinnerlich sein, daß Tatorte von Unbeteiligten zu räumen sind.”

Er macht eine zum Gehen auffordernde Handbewegung.

„Impertinent!” schimpft der Fortgewiesene.

„Komm’, Lieber …” spricht ihn seine vornehm aussehende Gattin an, „… Die jungen Leute machen doch nur ihren Dienst. Früher warst Du streng, jetzt ist man es mit Dir. Polizei ist Polizei. ”

„Nichts für ungut, Herr Hauptwachtmeister”, brummt Ach vor sich hin. Der überhört das -wacht. Aber wer zählt schon am Morgen grüne Sterne …

Weber reicht der Richtergattin galant den Arm, um beim Überstieg auf den Absatz der Promenade behilflich zu sein, nimmt auf festem Boden leicht Haltung an, legt die Hand an die Schirmmütze.

„Danke, junger Mann!” schnarrt der alte Richter und wendet sich mit seiner Frau am Arm zum Gehen. „Untergrabe nicht immer meine Autorität …“ hört Weber noch und atmet durch. Die Absperrung läuft weiter.

Ein Mann mit Brille und Arzttasche stapft auf den H 55 zu.

Malvoisin fragt etwas ungehalten:

„Ist die Spurensicherung endlich da?”

„Nein!” ruft ein Kollege.

„Verdammt, wo bleiben die denn heute?”

Malvoisin wirft einen Blick auf die Seebrücke:

„Weber! WE-BER!”

„Ja?”

„Mann, Weber, holen Sie mir die Neugierigen von der Brücke und machen Sie da dicht!”

„Jawohl, Chef!” ruft Weber zurück und rennt mit Absperrband zur Brücke. „WEBER!“

Der erneute Anruf bremst ihn in vollem Lauf und ein winkender Zeigefinger holt ihn zu Malvoisin zurück. „Die Gaffer haben vermutlich Spuren auf der Brücke hinterlassen. Personalien aufnehmen, merken Sie sich genau, was die Männer an Kleidung tragen. Bestellen Sie sie ein. Fingerabdrücke und Faserproben nehmen, am besten gleich. Ausführung.”

Hauptmeister Weber strebt nun auf die Neugierigen zu, die merken, daß sie gemeint sind und sich verdrücken wollen.

„Halt, bleiben Sie stehen.” Weber hat die Männer erreicht und setzt das dienstlichste aller Gesichter auf. „Weisen Sie sich bitte aus.” Die Männer sehen sich und dann den Polizisten fragend an.

„Wir gucken doch nur. Endlich ist schon morgens richtig ‘was los”, meint einer.

„Sie haben einen Tatort betreten und weisen sich jetzt bitte aus.”

Achselzuckend ziehen die Männer ihre Börsen aus den Gesäßtaschen und zeigen ihre Ausweise vor. Weber notiert. „Und wo wohnen Sie in Kellenhusen?”

Die Männer sagen es ihm und verstehen noch immer nicht.

„Sie kommen bitte unverzüglich mit nach Grömitz. Dort werden Ihre Fingerabdrücke und Gewebeproben Ihrer Kleidung genommen. Reine Routine.”

„Warum das denn? Glauben Sie etwa …?”

„Ich und der Hauptkommissar glauben gar nichts, aber sie haben Fingerabdrücke auf dem Brückengeländer hinterlassen, wie sicher auch die Täter. Wir müssen sicher sein, Sie ausschließen zu können.

„Wie bitte?”, protestiert einer der drei.

„Wir hatten schon den Fall, daß Täter sich dreist unsere erste Ermittlungsarbeit angesehen haben. Also, bitte, meine Herren. Den ganzen Vormittag wird es nicht dauern. Es sei denn, Sie möchten nach Lübeck mitkommen.” Weber macht eine einladende Handbewegung.

„Das haben wir jetzt von Deiner verdammten Neugier!”

„Hättest ja nicht mitzukommen brauchen”, kommt es patzig zurück.

„Also bitte, wir drehen keinen Film, das ist echt! Bitte verlassen Sie jetzt die Brücke und warten Sie hinter dem Strandcasino bei unseren Dienstfahrzeugen.”

Maulend gehen die drei Männer weg.

„Immer wenn es interessant wird, und jetzt auch noch Fingerabdrücke abgeben, verdammte Scheiße.”

„Früher schickten uns die Eltern ’raus, jetzt verscheuchen einen die …”, mault einer weiter. „Schlucks ’runter, der kann Dich noch hören. Auf B-U-L-L-E paßt sicher ‘was im Bußgeldkatalog, oder hast Du Geld zuviel?”

Eifriges, stummes Kopfschütteln.

Derweil kommt der Arzt am H 55 an.

„Moin, Malle.”

„Moin, Klinge.” Die Männer geben sich die Hand. Der gerade Eingetroffene ist der Leiter der Rechtsmedizin in Lübeck, Prof. Dr. Karl Anderson, wegen seines scharfen Berufes von einigen ganz wenigen „Klinge” genannt, von denen er sich das auch gefallen läßt. Er ist ein jovialer Herr, 60 Jahre alt, für sein Alter ungewöhnlich schlank, mit schlohweißen, vollen Haaren, mit einem schönen, weißen, kurz geschnittenen Bart und erstaunlicherweise fast schwarzen Augenbrauen, was ihm hin und wieder die schmunzelnd, hinter vorgehaltener Hand geäußerte Verdächtigung einträgt „Ob er wohl färbt?” Er weiß das, aber es stört ihn nicht, denn er weiß, daß er nicht färbt, im Gegensatz zu manchen Politikern, die auch mit über 60 und 70 Jahren angeblich schwarze Haare haben, die so gar nicht zu ihrer Parteifarbe passen. Ihm genügt es, daß seine süße kleine Frau ihn immer noch attraktiv findet. Anderson hat sich einen gelassenen Humor zugelegt, gewachsen in all den Jahren, gewachsen mit jeder Leiche. Und er findet seinen Beruf immer noch hochinteressant. Andere Menschen lesen Bücher, er liest Menschen.

„Was hast Du denn heute Schönes?” Der Rechtsmediziner sieht Malvoisin fragend an.

„Na, sieh selbst” und deutet auf den Toten.

„Oh, eine Hinrichtung!”

Hier müßten jetzt hochgezogene Augenbrauen folgen, aber die wollen nicht. Gelassenheit.

„Wieso Hinrichtung?”

„Na, Henkerknoten, oder kennst Du so etwas nicht mehr?”

„Ja, richtig.”

Malvoisin nimmt den Rembrandt ab, kratzt sich am Kopf.

„Oder hast Du gedacht, der Tote hat sich den Knoten selbst geknüpft?”

„Na, wenn er tot war, konnte er wohl kaum noch Knoten knüpfen! Sei nicht so pingelig!”

„Wenn unsereins nicht pingelig wäre, wie Du das nennst, würdet Ihr manchen Toten als natürlichen Fall bestatten!”

Anderson sieht Malvoisin nun doch mit hochgezogenen Augenbrauen über den Brillenrand schauend an, während er sich die Einweghandschuhe überstreift. Der Professor prüft mit beiden Händen den Hals.

„Genickbruch?” greift Malvoisin der Diagnose vor.

„Sicher! Wenn der Knoten richtig gesetzt wurde − knack und weg!” Anderson macht eine ruckartige Doppelhandbewegung, als würde er einen stärkeren Zweig durchbrechen wollen.

„Tatzeit?” Anderson legt für einige Sekunden seine rechte Hand auf den Oberkörper des Toten.

„Ungefähr Mitternacht, nicht später als zwei Uhr, aber Du weißt ja …”

„Ja, ja, nach der Obduktion …”

Anderson besieht sich den Oberkörper des Toten nochmals.

„Er hat Salz auf der Haut, also war er im Wasser und hat nicht mehr geduscht.”

Dann sieht er nach dem großen Blutfleck auf der weißen Badehose, die sorgfältig zugebunden ist, löst den Knoten, zieht sie leicht herunter − ein dichter schwarzer Pelz ist zu sehen. Er zuckt zusammen, dreht sich um.

Anderson wendet sich aufgerichtet an Malvoisin:

„Ich habe das mal in einem Mafiafilm gesehen, aber noch nie im Dienst. Schau Dir das an − er ist kein Mann mehr!”

„Wie bitte?”

Malvoisins Mimik zeigt Ungläubigkeit, er beugt sich zu dem Toten vor, Anderson zieht die nun schlabberige Badehose herunter − Malvoisin prallt zurück. Das Ungläubige in seiner Mimik weicht dem blanken Entsetzen.

„Mein Gott, wer macht denn so ‘was?” stößt Malvoisin hervor.

„Wenn Du mich fragst, mein Lieber, jemand der sehr haßt oder sehr liebt − und Du weißt, das liegt nicht weit auseinander!”

Der Professor zieht die Handschuhe aus. Im Hintergrund stapfen die Sargträger der Rechtsmedizin heran.

„Kann ich ihn mitnehmen?” fragt Anderson.

„Nein, noch nicht. Die Spusi war doch noch nicht hier −” Malvoisin ringt mit der Fassung.

„Weber! − WE-BER!”

Der Gerufene eilt herbei.

„Ja, Herr Hauptkommissar?”

„Mensch, rufen Sie das K6 an! Wo bleiben die denn?”

„Mach’ ich.”

Weber zieht sein Funktelephon, tippt die Nummer ein, hält sich das Gerät ans rechte Ohr, wartet.

„K6? − Weber, Einsatzort Kellenhusen. Mensch, wo bleibt Ihr denn? Malvoisin wird schon grätig! − Was, Trecker? − Dann fahrt doch ‘rum! − Ende!”

„Übrigens, er ist nicht hier gehenkt worden -”

Malvoisin ist noch etwas verwirrt: „Wie?”

„Der Strandkorb ist nicht hoch genug, um ihm das Genick zu brechen.”

„Schlaumeier, das weiß ich auch!”

„Na, ich mein’ ja nur. Ein Galgen steht hier weit und breit nicht, aber such’ doch mal die Seebrücke ab … Von den Aussichtstürmen wird ihn keiner hergeschleppt haben, hm?”

„Verstehst Du das, Klinge?” Malvoisin grübelt.

„Hals durch, Messer im Bauch, Kopfschuß, aber Hängen und … Du weißt schon … ab − wer macht denn so etwas?”

„Malle, Du wiederholst Dich! − Na ja, Fräulein Kronborg wird sich freuen. Endlich hat sie mal etwas Schönes auf dem Tisch, nicht immer nur Wasserleichen und erbbereinigte Opas, obwohl das Seil des Glockenspiels fehlt …”

„Klinge! − Dein Humor ist wie immer unübertrefflich!”

Malvoisin sieht ihn mit hochgezogener rechter Augenbraue an.

Der Professor grient, wie nur ein langgedienter Profi seines Faches in des Todes Nachbarschaft lächeln kann und geht weg.

Weber kommt heran und meldet Malvoisin:

„Herr Hauptkommissar …”

„Ja?”

„K6 meldet unterwegs Treckerhindernis.”

„Wie bitte?“ Er zieht eine gespielt gleichgültige Miene, innerlich ist er sauer. „Na ja, wi hebbt jo Tiet. Gott schuf die Zeit, hat der ‘was von Eile gesagt?” Weber muß grinsen.

Nun schaltet sich rauchig die Bürgermeisterin wieder ein.

„Und was wird hier jetzt weiter passieren, Herr Kommissar? Der Strandbetrieb muß weiterlaufen! Wir verlieren sonst Gäste und Kurtaxe!”

Malvoisin wird deutlich.

„Frau Bürgermeisterin, hier laufen erst einmal unsere Ermittlungen und sonst gar nichts. Es hat ein junger Mensch sein Leben verloren, und ich will zum Donnerwetter wissen, warum!”

„Aber unser guter Ruf”, protestiert sie.

„Erstens haben wir auch einen guten Ruf zu verlieren, oder wollen Sie, daß die Tat nur deshalb nicht aufgeklärt wird, weil wir zu früh Ihre Gäste hier herumlaufen lassen und wertvolle Spuren vernichtet werden? Und zweitens ist das hier ein Tatort und Sie stehen im Weg. Also bitte!” Malvoisin macht eine verabschiedende Handbewegung mit Aufforderung zum Gehen.

„Impertinent!”

Die Bürgermeisterin stapft mit zorniger Miene davon.

„Oh, diese Verwaltungsleute”, murmelt Malvoisin leise und schüttelt den Kopf.

Malvoisin wendet sich zunächst an die junge Kriminalbeamtin.

„Sie können gehen, Frau Kollegin, ich übernehme jetzt hier.”

Die Angesprochene steht vom Strandkorb auf und entfernt sich. Malvoisin spricht betont leise die schwarzhaarige Schöne im H 76 an.

„Mein Name ist Malvoisin, Kripo Lübeck. Ich leite hier die Ermittlungen. Darf ich fragen, wie Sie heißen?”

Sie schaut hoch, sieht ihn verweint, aber gefaßt an:

„Nicole. Nicole Neumayer.”

„Sind Sie im Urlaub hier?”

„Ja, wir haben Semesterferien.”

„Oh, Sie studieren?”

„Ja, Kunstgeschichte und Französisch.”

„Wo?”

„In Tübingen.”

„Ah, aus dem Ländle, hört man aber gar nicht …”

„Nein, ich bin aus Essen. Meine Eltern leben noch dort. Sie kommen bald her.”

„Sie haben hier eine Ferienwohnung?”

„Ja, im Haus Lehmann”

„Ah, bei Mama Lehmann.”

„Sie kennen sie?”

„Oh ja. Bitte gehen Sie jetzt, ruhen Sie sich aus, halten sich aber zu unserer Verfügung.”

Malvoisin wendet sich ihr im Weggehen nochmals zu.

„Wie lange haben Sie den Korb H 55 schon?”

Nicole steht auf.

„Eine Woche.”

„Haben Sie den Toten schon vorher gesehen, ich meine, als er noch lebte?”

Malvoisin sieht sie forschend an.

„Oh ja, er gehört zu den Rettungsschwimmern. So wie der sich vor der Rettungsstation immer aufbaute war er nicht zu übersehen. Na ja,” − sie schaut traurig − „ein Angeber, aber ein schöner Typ war er schon, irgendwie. Ist ja auch groß, äh, war …”

Sie schnieft.

„Dankeschön. Wir kommen auf Sie zu. Übrigens, wie lange bleiben Sie noch?”

„Drei Wochen.”

Nicole verschränkt die Arme und will weggehen.

„Fritz! FRITZ!”

Malvoisin sieht sich nach seinem Assistenten um. Er spricht Nicole nochmals an.

„Ich danke Ihnen für Ihre Auskunft. Sollte Ihnen doch noch etwas einfallen, hier haben Sie meine Karte. Bitte melden Sie sich gleich. Auch Kleinigkeiten sind wichtig.”

Nicole nimmt wortlos die Karte, steckt sie ein und entfernt sich.

Langeland dreht sich in die Richtung des Rufes. „Komme!” Er stapft auf seinen Chef zu. „Der Gast da hinten …“ Malvoisin folgt der angedeuteten Blicklinie Langelands Kopfdeuten. „… ist gestern abend noch am Strand spazieren gegangen, hat aber nichts gesehen, was uns weiterhelfen könnte. Aber …?”.

Langeland sieht Malvoisin fragend an.

„Fritz. Ruf’ mal die Schiffsdienste in Timmendorfer Strand an, daß sie heute vormittag hier nicht anlegen können. Die Brücke bleibt dicht.”

Langeland verzieht sein Gesicht.

„Na, das Gemaule wegen des entgangenen Umsatzes hör’ ich schon.”

„Mach’s einfach.”

Langeland zückt sein Handy.

Inzwischen „eilt” die Spurensicherung herbei. Malvoisin entdeckt sie und geht gleich den ersten Kollegen an.

„Moin Hans. Mensch, wo bleibt Ihr denn? Das ist hier doch nicht Brigadoon, das auf keiner Karte verzeichnet ist!”

„Das mag ja sein, aber wir hatten drei Trecker vor uns und immer Gegenverkehr.”

„Hat man Euch das Blaulicht weggenommen?”

„Hast Du vergessen, wo wir hier sind?”

Hans Nielsen sieht ihn grinsend an.

„Vertell mol de Buern wat ‘ne Einsatzsirene is! Und wenn ich dem zugerufen hätte, wir müßten zu einem Tötungsdelikt, da sagt der glatt zurück: ‚Man jümmers sinnig, de is doch al dood, de hett nix mehr to vertellen’ und dann tuckert der gemütlich weiter. In Lübeck kannst de Lüüd mit Blaulicht beeindrucken, aber hier doch nich‘. Man jümmers suutje un damit is allens seggt.”

Jetzt kann selbst Malvoisin sich ein Grienen nicht verkneifen und sagt bloß noch schulterklopfend: „Nu mook mol Dien Kram.”


Malvoisin läßt die Spurensicherung ihre Arbeit machen und stapft zum Strandkorbhäuschen der Frau Horch. Sie steht bereits aufgeregt an der Sperre, neben ihr ihr Lebenspartner, der pensionierte Kriminalrat von Greiff.

„Herr von Malvoisin, was ist denn nun los hier? Stimmt das mit dem Toten? Mein Mann sagte mir gerade, wir müßten mit bis zu sechs Stunden Sperre rechnen. Kommt das wohl hin?”

Marga Horch bleibt auch angesichts der ungewöhnlichen und aufregenden Situation bei ihrer ruhigen und liebenswürdigen Art, die ihre Gäste so sehr an ihr schätzen. Nur ihr Gesicht weiß nicht so recht, ob es nun blaß oder von rötlich frischer Farbe sein soll. So wechselt es sie hin und her.

„Moin, moin, liebe Frau Horch.”

Malvoisin bleibt vor ihr stehen.

„Es ist leider so. In Ihrem Korb 55 befindet sich die Leiche eines jungen Mannes … Moment.” Er unterbricht sich selbst.

„Weber! WE-BER!”

Augenblicke später.

„Herr Hauptkommissar …”

„Hier haben Sie mein Handy. Bild vom Toten, dann wieder zu mir. Hier draufdrücken.“

„Für wie dämlich hält er mich! Jawohl, Herr Hauptkommissar! Bild vom Toten.“

Weber stapft zum H 55 und verdreht die Augen.

Malvoisin wendet sich Horch und Greiff zu.

„In diesen unmittelbaren Abschnitt des Strandes einschließlich der Brücke können Ihre und dritte Gäste bis zum Ende der Spusi-Arbeit nicht. Es geht nicht anders.“

„Sie werden sicher den Strandkorb mitnehmen müssen, Herr Kollege.“

„Oh ja, das müssen wir, Herr Kriminalrat. Selten können wir einen Tatort abtransportieren, aber hier können und müssen wir. Sie bekommen ihn so bald als möglich zurück.“

„Dürfen wir die Lücke mit einem Reservekorb auffüllen?“, fragt Frau Horch, besorgt über den möglichen Verdienstausfall. Dreißig €uro die Woche oder acht €uro Tageskorb − das ist auch Geld.

„Aber selbstverständlich“, beeilt sich Malvoisin, sie zu beruhigen. „Sobald die Spusi ihre Arbeit beendet hat, der Sand durchgesiebt ist und wir abgezogen sind, steht dem nichts im Wege.“

Horch und Greiff verständigen sich wortlos mit Blicken. Der Mann hat seinen Auftrag.

„Herr Hauptkommissar. Bitte, Ihr Handy mit Bildern des Toten.“

Hauptmeister Weber reicht Malvoisin das photographierende Telephon. Der hält es Horch und Greiff hin.

„Kennen Sie den jungen Mann?“

Das Vermieterehepaar betrachtet das Bild im Anzeigenfeld genau.

„Tjoo“, setzt Frau Horch an. „Das ist doch einer der Rettungsschwimmer. Der zog alle Blicke auf sich, über ein Meter neunzig groß. Weißt Du nicht, wie er heißt?“ Marga Horch sieht ihren Mann an.

„Jo, doch. Den hat hier mal jemand ‚Malte‘ gerufen, aber weiter weiß ich auch nicht.“

Malvoisin ist zufrieden.

„Danke. Sie haben uns schon sehr geholfen. Ich muß dann mal.“

Malvoisin setzt seinen Rembrandt auf, verneigt sich kurz.

„Denn tschüs zusammen, Und falls Ihnen zu dem Toten etwas einfällt …“

Greiff macht stumm das Handzeichen des Telephonierens.

„Danke. Wir sehen uns.“

„Und viel Erfolg“, lächelt Frau Horch Malvoisin an.

„Tja, mal sehn.“

Malvoisin wendet sich ab und kehrt zum H 55 zurück.

„Nee, is dat nich allens gresig“, hört er sie noch murmeln. Er sagt nichts, er sagt nie viel, ist in Gedanken schon auf dem Weg zum Strandkorblager.

„Hans, was habt Ihr?”

„Eine Reihe Fingerabdrücke, wenig frisches. Abgeriebene Sonnencreme, ein paar schwarze Haare in der Korbritze. Und auf den ersten Blick hat der Tote Salz auf der Haut …”

„Das sagte Klinge schon, und die schwarzen Haare sind entweder vom Toten …”

„Es sind lange Haare.”

„… dann sind sie sehr wahrscheinlich von der Korbmieterin.” Malvoisin sieht sich um. „Kann Anderson den Toten jetzt mitnehmen?”

„Photos haben wir, sonst auch alles. Übrigens, neben der Brücke muß einer sein Brett vor dem Kopf verloren haben. Erste Kollegenbefragungen haben nichts ergeben. Keiner vermißt eines.” Er grinst schelmisch. Malvoisins rechte Augenbraue fährt hoch. Ihm ist gerade nicht nach Witzen. Nielsen räuspert sich. „Wir nehmen es mal mit. Man könnte es für eine Planke halten, doch es ist nicht glatt. Aber ab dafür. Das Sandaussieben dauert noch ‘n Weilchen. Bringt vermutlich nur jede Menge alter Kippen, die die Schweinigels einfach in den Sand stecken. Methode ‚Wozu ‘nen kleinen Aschbecher festhalten, wenn ich für den großen Kurtaxe zahle‘.” Malvoisin sieht sich um und entdeckt, was er sucht.

„Hans, die Korbmieterin steht da hinten am Strandkaufhaus. Nicole Neumayer heißt sie. Lauf man fix hin und laß Dir ‘ne Haarprobe geben; dann könnt Ihr sofort vergleichen.”

Hans Nielsen rennt gleich los. Er erwischt die junge Frau noch. Sie sieht ihn erst überrascht an, zupft sich dann aber doch gleich Haare aus und läßt sie in die ihr hingehaltene Plastiktüte gleiten. Nielsen bedankt sich, Nicole verschränkt die Arme und geht mit gesenktem Kopf über den Vorplatz am Seemannsdenkmal vorbei zur Strandstraße. Sie will nur noch ins Bett und heulen.

An ihr vorbei strömen die Badegäste, ein paar Senioren Arm in Arm, junge Eltern mit quicklebendigen Kindern, schöne Mädchen, hübsche Burschen, einige viel zu dicke Teenager. Sie hat für niemanden einen Blick übrig. Neben dem Strandkaufhaus baut die Obstverkäuferin ihren Stand auf. Sie hat schon gehört, was passiert ist. „Wird der wieder lebendig, wenn ich mich jetzt aufrege”, denkt sie bei sich. „Der kauft mein Obst nicht mehr und die 20 Neugeborenen von Hamburg heute morgen auch nicht, aber die Gäste, die heute zum Strand kommen. Also bau ich mein gutes Obst auf − fertig.” Gemütsruhe ist etwas Wunderbares.

Der Tote wird in den Sarg gelegt. Der wird geschlossen und weggetragen.

Professor Anderson sieht dem Abtransport kurz hinterher und wendet sich Malvoisin zu.

„Du hast meinen Bericht heute abend, bekommst eine schöne Bettlektüre.”

„Hau schon ab!”

Malvoisin spricht seinen stumm das Geschehen beobachtenden Kollegen Hauke Tewes an.

„Kommst Du, Mokwi? DLRG.“

„Jou.“

Malvoisin und sein schweigsamer Kollege stapfen im Sand auf die Promenade zu und wenden sich dort in Richtung der DLRG-Station. Die Spusi-Leute betreten gerade die Seebrücke und suchen auf beiden Seiten die Geländer ab.

*

„Was ist denn da los?“

„Haben Sie schon gehört was da passiert ist?

„Einen Toten soll es gegeben haben!“

Einige Leute sind stehengeblieben und beobachten jenseits der inzwischen funktionierenden Sperre, was am sonst so beschaulichen Strand los ist. Es kommen erste Gäste, um sich über die Absperrung zu beschweren, aber sie müssen wieder gehen. Drei Kinder nörgeln:

„Mami, warum dürfen wir nicht an den Strand?”

„Keine Ahnung. − Frau Horch, was ist denn hier los?”

„Frau Hansen, wir haben einen Toten …”

„Bitte was? Um Gottes Willen, was ist denn passiert?”

Herr von Greiff übernimmt.

„Kommen Sie bitte gegen Mittag wieder, dann ist der Strand sicher wieder frei”, und sieht sie freundlich an.

„Kommt Kinder, wir gehen zum Waldspielplatz” und zu Horch und Greiff gewandt, „… und den halben Tag bekommen wir doch erstattet, nicht wahr?”

Herr von Greiff macht gute Miene zum bösen Spiel. „Selbstverständlich, Frau Hansen, immer Dienst am Gast!”

„Na, wenn das so ist, sehr freundlich”, und schiebt damit ihre Kinder in Richtung Strandcasino und Ausgang.

„Hört von einem Toten und denkt nur ans Geld.” Greiff schüttelt verständnislos den Kopf.

Ein die Szene beobachtender Mann meint trocken zu seiner Frau:

„Na Liebling, dann machen wir heute unseren Ausflug nach Fehmarn.”

Horch und Greiff verschwinden kopfschüttelnd im Strandkorbhäuschen.

*

Malvoisin, begleitet von seinem Assistenten Hauke Tewes, genannt Mokwi, der zu ihm aufgeschlossen hat, nähert sich der DLRG-Station. Es ist baulich eine optische Beleidigung.

Malvoisin kannte die wunderbar altmodische Lesehalle seit seiner Kindheit. Auf dem Platz vor ihr fanden früher die sommerlichen Platzkonzerte statt. Wie oft war er mit anderen Kindern dem Blasorchester zur Waldstraße entgegengelaufen und hatte den Musikern in ihren marineähnlichen, blauen Jacken mit goldenen Knöpfen und den weißen Mützen bis zur Promenade Marschgeleit gegeben. Die Einheimischen waren dagegen, aber ein traditionsloser Bürgermeister ließ den hübschen Bau in einer Nacht- und Nebelaktion abreißen. Malvoisin konnte sich damit nie abfinden. Aber es war ja auch das schöne alte Hotel zur Post am Ring beseitigt und gegen belanglose Architektur ausgetauscht worden. Die alte Schule, die Heimatmuseum werden sollte, verschwand über Nacht. Gewachsene Geschichte wird gegen geltungssüchtige Bürgermeister immer verlieren. Daß künftige Generationen damit bestohlen werden − wer fragt danach. An dem Betonmonster hochschauend murmelt vor sich hin:

„Der Kasten wird auch nicht mehr schöner… dat süht ut as hinscheten.”

Vor dem Bau steht ein etwa 45jähriger Mann mit roter DLRG-Kleidung und Fernglas in der Hand.

Malvoisin und Tewes grüßen knapp.

„Moin! − Moin.”

Der DLRG-Mann sieht sie kaum an.

„Moin!”

„Wir suchen den Chef der Mannschaft …”

Der DLRG-Mann sieht Malvoisin und Tewes prüfend an.

„Sie haben ihn gefunden.”

Malvoisin zückt seinen Ausweis.

„Kripo Lübeck, Malvoisin. Das ist mein Kollege Tewes. Können wir hineingehen?”

Der DLRG-Mann ruft hinter sich.

„Hannes, komm’ ‘raus und übernimm die Aufsicht!”

Ein etwa 22jähriger tritt heraus, der Stationsleiter hält Malvoisin die Tür auf.

„Nach Ihnen.”

Alle drei gehen hinein. Im Büro des Leiters nehmen sie Platz. Malvoisin legt vorher seinen Rembrandt auf einen freien Stuhl. Der DLRG-Leiter sieht Malvoisin erwartungsvoll an und wirft einen neugierigen Blick auf den Rembrandt. „Was ist das denn für ein Hut? Seltsames Teil.” Malvoisin unterbricht Kallweits Hutgedanken, legt gleich los.

„Sie heißen bitte?”

„Kallweit, Harm Kallweit.”

„Oh, ostpreußische Familie?”

„Sie kennen sich aus?”

„Sind selber aus der kalten Heimat …”

„… aber der französische Name Mal…”

Malvoisin betont, besonders die nasale letzte Silbe: „Mal - vua - sän, Hugenotten, Sie wissen?”

„Wir hatten mal einen Kapitän zur See als Nachbarn, der hieß de la Sauce, war aber ein Ur-Berliner −”, er unterbricht sich selbst, „… aber Sie sind sicher nicht wegen Fragen der Namenskunde hier?” Kallweit sieht Malvoisin fragend an.

„Nein, allerdings nicht.” Malvoisin wird ernst. „Es ist heute im Strandabschnitt der Frau Horch, Sie wissen, rechts von der Seebrücke, wenn man Richtung Wasser sieht …”

„Sicher weiß ich, wo das ist …”

„Also, es ist dort heute morgen ein junger Mann in einem Strandkorb gefunden worden. Sicher über ein Meter neunzig groß, sehr gut trainiert, schwarze Haare, Dreitagebart, weiße Badehose. Kennen Sie den?”

„Das hört sich nach unserem Malte Kröger an, allerdings hat er keine weiße Badehose − was ist mit ihm? Hat er zu toll gefeiert?”

Tewes macht sich Notizen.

„Wenn es das mal nur wäre. Er ist tot.”

Kallweit reagiert ungläubig.

„Bitte keine schlechten Scherze, Malte war kerngesund und durchtrainiert …” Er runzelt die Stirn.

„Er wurde ganz ohne Zweifel getötet.”

Kallweit springt auf und schreit.

„Ermordet? Was? Wer ermordet denn einen von meinen Männern?”

„Bitte nicht so laut. − Das herauszufinden sind wir hier.”

Kallweit setzt sich wieder, ist sichtlich fassungslos. „Das gibt es doch gar nicht! Er war sehr selbstbewußt, vielleicht auch ein Angeber, wie halt die jungen Böcke so sind, ein Weiberheld, aber deswegen ermordet …?”

„Sie glauben gar nicht, welch nichtige Anlässe schon einen Menschen das Leben gekostet haben.” Malvoisin sieht Kallweit forschend an. „Aber Sie sagen, er war ein Weiberheld; hatte er eine feste Freundin?”

Kallweits Fassungslosigkeit verschwindet hinter einem breiten Grinsen.

„Eine? Da konnte man schon den Überblick verlieren, aber ich glaube nicht, daß eine dabei war, die ihm die Wäsche gewaschen hätte, meist kurze Bekanntschaften von Mädels, die hier Urlaub machten.”

„Wie lange kommt, äh, kam Kröger als Rettungsschwimmer?”

„Drei Jahre.” Kallweit überlegt. „Ja, drei Jahre müssen das jetzt sein.“

„Was machte er sonst? Beruf oder Studium?”

„Malte war Leutnant zur See, jetzt der Reserve, vorher Z 4. Kam aus einer Marinefamilie …”

„Ach ja? Wo leben seine Eltern?”

„Zur Zeit ist der Vater Kommandeur der Marineunteroffizierschule in Plön, Kapitän zur See…”

Tewes geht dazwischen: „Den kennt wi.”

Malvoisin sieht ihn überrascht an.

„Hest dat vergeten? Dat is de Kaptein ut W’haven west, de een Mord op siene Fregatte hadd hett. Fief Johr is dat her, in Travemünde, as de Marine op Besoek west is. De seute Deern, de op Maat mookt hett.”

Tewes macht die eindeutige Handbewegung des Kragenumdrehens. Malvoisins Miene und Kopfnicken zeigen, daß er sich erinnert.

Sein Kollege hat mit diesen Ausführungen schon eine Volksrede gehalten. Der 50jährige Tewes ist von der schweigsamen Sorte. Wie groß sein Wortschatz ist, das behält er eisern für sich. Er ist glatt rasiert, hat kurzgeschnittene, dunkelblonde, glatte Haare, die an der Stirn schon im Rückzug begriffen sind. Das komme vom vielen Nachdenken, wird er manchmal vorsichtig angefrotzelt. Knapp 1,80 m groß ist er, so ganz genau weiß er das selbst nicht, trotz amtlicher Eintragung in seinem Ausweis. Es ist ihm obendrein egal. Sein Körper ist durchtrainiert, 82 kg schwer, aber dennoch mit einem leichten Bauchansatz verziert, der, wie mal seinen seltenen Ausführungen zu entnehmen war, eben zu einem Mann seines Alters gehört. Bugzier müsse sein, Bauch dürfe man ruhig sehen, alles andere sei ja nur ein Plättbrett. Woran sollte sich seine Frau denn festhalten, wenn sie kuscheln wollte? In ein Loch fassen? Das war nichts für Tewes, der wegen seiner Standardantwort auf Anweisungen, „Mook wi”, von fast allen im K1 offen, von anderen besser nur dann “Mokwi” genannt wird, wenn er es nicht hört, „sünst ward he füünsch”.

„Füünsch” sieht bei ihm dann so aus, daß er mehr als zwei bis drei Sätze sagt und dem Gefüünschten mindestens ein Jahr keinen Kööm mehr anbietet. Er denkt viel nach und wenn er es für richtig hält, teilt er die Ergebnisse auch mit. Sonst nicht. Mit „Flipcharts” und übertechnisiertem Schnickschnack kann er nicht viel anfangen. Warum all diese Anglo-Amerikanismen? Englisch ist zwar für ihn auch nur ein weiterentwickelter deutscher, genauer gesagt plattdeutscher Dialekt, aber „Dat is hier Düütschland, keen Kolonie vun de Plum-Pudding-Lüüd”, sagt er immer, wenn er dazu mal etwas sagt. Dies ach so moderne “Ich-bin-ja-so-gebildet”-Geschwafel kann er nicht ausstehen, das ist für ihn alles Tüünkram. Und warum große Papierfahnen verschwenden, wenn man etwas an der Tafel mit Kreide aufschreiben und wieder abwischen kann? Tewes hat das Schreiben noch mit einem Griffel auf einer kleinen Schiefertafel gelernt, Schreiblinien auf der einen, die Rechenkästchen auf der anderen Seite, angebunden ein Schwämmchen, das ihm die Mutter vor dem Schulgang naß machte und in den Schultornister steckte, das Pausenbrot in fettsicherem Butterpapier und einen Apfel dazulegte, und ihn mit einem Kuß auf die Stirn auf den Weg schickte. Ermittlungsergebnisse besieht er sich an der „Tafel”, wie er immer noch sagt. Und dann denkt er nach.

Eine Seele von Mensch ist er zu Hause. Seine hübsche, fleißige Frau ist ihm die genau richtige Gefährtin. Zuviel sabbelnde Männer mag sie nicht, für den Tratsch ist sie zuständig. Sie weiß alles aus dem Dorf. Tewes nennt sie seine küssende Datenbank. Seine seute Deern ist ihm alles. Nein, nicht so ganz. Die beiden haben nämlich den Kampf gegen den Bevölkerungsschwund bislang erfolgreich aufgenommen. „Suus Kinners hebbt wi”, womit das Ehepaar Tewes immer wieder Erstaunen auslöst, wenn sie es mal jemandem sagen, der das noch nicht weiß, „un Nummer söben hebbt wi jüst mookt” kommt neuerdings als Zusatzinformation. Kein Mensch kann sich erklären, woher Tewes das Temperament dafür aufgebracht hat, aber irgendwie muß es ja geklappt haben. Die Jungs haben seine Züge, die Mädchen ihre, so wie sich das gehört. Das heißt, ein Junge, der Erstgeborene, hat eher etwas von seiner Mutter, das hübsche Lachen und das Plappermaul, aber die Kraft des Vaters wird er haben, das zeigt sich jetzt schon. De groote Lütte ist gerade mal 14, aber bei seinem Thorbjörn würde das nicht mehr lange dauern, so wie der jetzt schon Holz hackt; stolz, mit nacktem Oberkörper, damit man seine wachsenden Muskeln und den rinnenden Schweiß auch ja sehen kann. Dabei sieht Hauke Tewes seinem Sohn gern zu und raucht gemütlich seine Pfeife. Thorbjörns Augen glänzen, wenn der Blick seines Vaters anerkennend auf ihm ruht, und wenn die Mädchen aus der Nachbarschaft vorbeikommen und kichernd zu tuscheln beginnen, wenn sie seine beginnende „männliche Schönheit” betrachten, na, dann legt der Junge eine Axt drauf und spaltet die Stammstücke noch schneller. De Deerns schall rohig weten wat för’n statschen Kerl he is. Und sein Vater hat bannig viel Kraft, dem muß er nacheifern. Schweigsamkeit heißt ja nicht gleich Muskelschwund. Beim Spielen mit seinen Lütten ist Hauke Tewes die liebevolle Geduld in Reinkultur. Da blüht er auf, kugelt sich am Boden herum und lacht. Und wie er lachen kann, wenn er lacht. Dabei muß er schon nichts reden. Im Dienst wird er fürs Lachen nicht bezahlt. Thema beendet.

Kallweit fährt fort: „Richtig. Mein Bruder und er sind Crewkameraden. Ging ja durch alle Medien. Großvater war übrigens ein hohes Tier, Vizeadmiral, Befehlshaber Ostseezugänge, ist aber vor zwei Jahren gestorben. Die Mutter ist Lehrerin. Nach dem Ende seiner Verpflichtung hat er in Kiel Politikwissenschaften und Geschichte studiert. Wollte in zwei Jahren fertig sein, dann zu seinem Onkel nach Berlin, der ist MdB, nebenher seinen Doktor machen und dann ganz in die Politik.”

„Sie sind aber gut informiert.”

„Auch Männer unterhalten sich hin und wieder.”

Tewes brummt leise vor sich hin.

„Un snackt to veel.”

Kallweit hat Tewes’ Gebrummel akustisch nicht verstanden.

„Bitte?”

„Nix.”

Malvoisin fährt fort. „Der Tote hat am rechten Ringfinger einen weißen Ringschatten, nur der Ring fehlte. Wissen Sie etwas davon? Verheiratet war er ja wohl nicht.”

„Oh, sein Seepferdring ist weg?“

„Seepferdring?”

„Ach, das ist ein Erkennungszeichen; die Seepferde sind so eine Art Jungmännerbund. Wir haben noch vier davon hier, allesamt Reserveseeoffiziere aus einer Crew.”

„Wo sind sie?”

„Zwei wohnen hier, einer hat sich eine Wohnung in Grönwohldshorst genommen, der andere hier nahe beim Wald, müßten eigentlich gleich kommen.”

„Könnten Sie die beiden hier im Quartier herunterholen?”

Kallweit geht zur Tür und ruft hinauf: „Jens! − Timo! Kommt mal ‘runter in mein Büro!” Er setzt sich wieder. „Ich kann es noch gar nicht fassen − Malte tot. Wie denn, ich meine, wie hat man ihn umgebracht?”

„Er wurde gehenkt und dann noch …”

„Gehenkt? Wie das denn …?”

„Na, Strick, Sie wissen doch …”, setzt Malvoisin zu einer eher ironisch gemeinten Erklärung an.

In dem Augenblick kommen zwei großgewachsene, braungebrannte junge Männer herein. Malvoisins erster Blick schätzt beide auf mindestens 1,85 m. Kallweit stellt den nur in Badehose gekleideten als Timo Claasen vor, den in Badehose und offenem kurzärmeligen Hemd als Jens Jensen. Beide haben dunkelbraune, kurzgeschorene Haare, Jens trägt einen Schnurrbart, eher ungewöhnlich für einen jungen Mann seines Alters.

Jens und Timo rufen fast gleichzeitig: „Moin, Harm!”

Timo mault.

„Was holst Du uns denn schon ‘runter, was ist denn los?”

Ihr Chef antwortet ernst.

„Jungs, es ist etwas passiert, etwas sehr schlimmes …”

Beide sehen ihn fragend an.

„Malte ist tot.”

Jens und Timo lachen laut los, wenden sich einander zu und geben sich „die Fünf”.

Jens verschluckt sich fast vor Lachen.

„Hat ihn endlich ein Frauenzimmer geschafft − Mann, was für ein geiler Tod!”

Er stützt sich lachend mit beiden Händen auf seine Knie.

Timo muß husten.

„Wo … wo ist er denn, auf welchem Lager hat es ihn denn dahingerafft? Den wecken wir schon wieder auf!”

Beide Rettungsschwimmer zeigen lachend ihre weißen Zähne.

Kallweit wird unwirsch.

„Hört auf! Malte ist umgebracht worden und …” − er deutet auf die sich erhebenden Männer − “… das sind die Kriminalbeamten, die den Fall untersuchen, Herr von Malvoisin − und das ist sein Kollege Tewes.”

Jens und Timo schauen plötzlich sehr ernst.

Jens faßt sich an den Kopf.

„Malte tot − umgebracht − wann denn, wo?”

Malvoisin nimmt die beiden jungen Männer scharf ins Auge.

„Heute nacht zwischen Mitternacht und zwei Uhr. Wo waren Sie da, meine Herren?”

Jens und Timo sehen sich an und wenden sich dann wieder Malvoisin zu.

Jens gibt sich entrüstet.

„Verdächtigen Sie etwa uns?”

„Beantworten Sie meine Frage!”

Timo gibt sich lässig.

„Wir waren beide ungefähr … “

Malvoisin unterbricht ihn.

„Nicht ungefähr, genau!”

Timo sieht Jens kurz an, wendet sich dann zurück. „Wir waren 23.20 Uhr hier, haben noch ein kleines Bier getrunken und sind dann zu Bett.”

Malvoisin sieht beide jungen Männer an.

„Haben Sie Zeugen dafür?”

Jens übernimmt.

„Nur uns selbst. Wir waren in Grömitz mit zwei Mädels unterwegs, konnten für die Nacht aber nicht bei ihnen landen und sind zurück. Harm hat bereits geschlafen.”

Kallweit bestätigt es sofort.

„Das ist richtig. Ich habe mich schon gegen ½ 11 hingelegt und war gleich weg. Habe die Jungs nicht mehr gehört.”

„Wissen Sie, wie die Mädchen heißen?”

Timo beeilt sich. Auskunft zu geben.

„Lisa und Hanna, wie weiter wissen wir nicht, aber sie wohnen im Roten Langhaus. Bleiben noch eine Woche, glaube ich. Haben ihren Strandkorb direkt an der Seebrücke.”

Malvoisin wendet sich Tewes zu.

„Du fährst mit Fritz nach Grömitz und schaust Dir die beiden Mädchen an …”

„Jou, Deerns ankieken, mook wi!” Er will gehen.

„Hiergeblieben. Wir müssen uns erst Malte Krögers Quartier ansehen.”

Er wendet sich Kallweit zu.

„Wo finden wir seine Unterkunft?”

„Hier in der Station.” Er steht auf. „Wenn ich vorgehen darf?”

„Wir bitten darum.”

Tewes und Malvoisin gehen Kallweit hinterher.

Timo und Jens bleiben zurück, sehen sich ernst an.


*

Kallweit, Malvoisin und Tewes betreten Krögers Unterkunft.

Es ist ein kleines Zimmer mit spärlicher Einrichtung. Etagenbett, Tisch, zwei Stühle, zwei Schränke. An den Wänden hängt die unvermeidliche Galerie nackter Mädchen. Auf dem Tisch liegen ein Männermagazin und ein Päckchen Spielkarten, daneben steht ein lederner Würfelbecher.

Malvoisin sieht sich um.

„Na ja, die übliche Jungmännerbude.” Dann sieht er Kallweit an. „Mit wem teilte er sich das hier?”

„Mit unserem Andreas.” Kallweit ergänzt auf Malvoisins fragende Mimik hin: „Andreas Asmussen.”

„Wo ist dieser Asmussen?”

„Hat Dienst auf dem Hochsitz. Heute abend finden Sie ihn bestimmt beim Beachvolleyball am anderen Ende des Strandes Richtung Grömitz.”

„Das obere Bett ist unberührt; hat Kröger oben geschlafen?”

„Ja, er wollte sich beim Aufstehen nicht den Kopf stoßen, und Asmussen ist nicht so groß.”

„Verstehe.” Er wendet sich Tewes zu. „Wir gehen erst mal. Du hast in Grömitz zu tun, ich muß nach Plön, es dem Vater beibringen.”

Malvoisin rüttelt an Krögers Schrank.

„Hm, verschlossen. Haben Sie einen Zweitschlüssel?”

„So weit ich weiß, nicht.”

„Auch gut. Wir besorgen uns die Durchsuchung und kommen wieder. Asmussen kann vorerst hier nicht wieder ‘rein, notfalls muß er anderswo nächtigen. Kann man das Zimmer abschließen?”

„Schlüssel steckt von innen.”

„Ah, ich sehe.”

Malvoisin tritt an die Tür, zieht den Schlüssel, geht hinaus, Tewes und Kallweit folgen ihm.

Malvoisin schließt von außen ab, steckt den Schlüssel ein.

„Mokwi, Abfahrt!”

Malvoisin macht eine hinausschickende Kopfbewegung. Tewes geht.

„Herr Kallweit, ich danke Ihnen erst einmal für Ihre Auskünfte. Halten Sie sich bitte zur Verfügung. Sollten Sie sich aus Kellenhusen − wo wohnen Sie?”

„Hier am Ort, in der Waldstraße, im alten Zollhaus.”

„Gut. Falls Sie sich länger als zum Einkaufen aus dem Ort entfernen wollen, sagen Sie bitte vorher Bescheid. Hier haben Sie meine Kontaktdaten.” Er reicht ihm seine Visitenkarte. „Und jetzt geben Sie mir bitte eine Vertretung für Ihren Herrn Asmussen mit, den jungen Mann muß ich jetzt von seinem Hochsitz herunterholen.”

Kallweit sieht Malvoisin mit Mißbilligung an, aber er fügt sich und geht in einen Nebenraum.

„Inga, kommst Du mal eben.”

„Wat is’, Harm? Ich sitze gerade über dem Monatsbericht.”

Sie sieht Kallweit fragend an, an ihm vorbei zu Malvoisin, dann wieder zu Kallweit.

„Inga, das ist Hauptkommissar von Malvoisin von der Kripo Lübeck. Er hat die Leitung bei der Untersuchung zu …” Kallweit senkt den Kopf, weiß nicht weiter.

Malvoisin greift ein. Inga ist inzwischen aufgestanden.

„Es ist heute morgen Ihr Kollege Malte Kröger tot hier am Strand …” Weiter kommt er nicht. Inga schlägt die Hände vors Gesicht, stößt hinter ihren Händen, so daß es gedämpft klingt, „Malte? Tot?” hervor.

„Ja, es ist so, leider.”

Kallweit tritt auf sie zu und nimmt sie in die Arme. Die junge Frau, fast noch ein Mädchen, nimmt die Hände herunter, birgt ihren Kopf an Kallweits Schulter. Malvoisin fällt auf, daß sie nicht weint. „Warum weint sie nicht? Die Weiber brechen doch sonst wegen der kleinsten Kleinigkeit in Tränen aus!”

Inga löst sich. Malvoisin betrachtet sie. Die Rettungsschwimmerin ist nach seiner Schätzung etwa 21, 22 Jahre alt, höchstens 23, hat hellbraune, gelockte, schulterlange Haare, ist etwa 1,72 m groß, wie er schätzt, hat eine schlanke, aber gut trainierte Figur, maximal 55, 56 kg, ein wenig V-Kreuz, wie sich das auch bei Schwimmerinnen nach häufigen Training bildet, und sie ist bildhübsch − mit grünen Augen. So hübsch, daß sie unter den jungen Burschen sicher für viel Unruhe sorgt. Und diese grünen Augen! Nach seinem ersten Eindruck könnte sie ohne weiteres in das Beuteschema des Malte Kröger passen, so wie er ihm bislang beschrieben wurde.

„War’s das?”

Es klingt fast kalt, wie Inga die Frage an Kallweit stellt. Malvoisins Autorität scheint sie innerhalb des Dienstgebäudes nicht zu interessieren.

„Sie fragt gar nicht wo und wann und wie es passiert ist. − Und ihre Augen haben etwas Trauriges. Sie hat bestimmt keinen Freund. Wäre sie verliebt, würden ihre Augen leuchten.”

Malvoisin erinnert sich sehr genau an die glänzenden Augen seiner Maren, als sie ihr erstes Liebesfeuer durchlebten − und an ihr Leuchten bei jeder Auffrischung. Nein, dieses Mädchen ist keinem geliebten Mann zugetan.

„Nein, geh’ bitte mit dem Herrn Kommissar zum Hochsitz und löse Andreas ab. Er hat einige Fragen zu beantworten.”

„Okay.”

Inga, die einen roten Dienstbadeanzug trägt, geht flugs zurück in den Nebenraum, holt sich eine rote Jacke, streift sie über und kommandiert: „Gehen wir.”

Kallweit und Malvoisin sehen sich an und Malvoisin wiederholt: „Gehen wir.”

*

Vor dem DLRG-Gebäude flanieren viele Urlauber in beiden Richtungen hin und her. Kinder betteln um Eis oder „Mami, krieg’ ich was Süßes? Der Bonbonladen is’ doch gleich da vorn.” „Du hattest gestern schon eine ganze Tüte Weingummi! Selber schuld, wenn schon alles weg ist.”

Das einsetzende Geplärr erinnert Malvoisin in Dankbarkeit, daß es noch ein paar Jahre dauern wird, ehe Enkelkinder ihn so angehen werden und mit Schaudern, daß die Wünsche seiner Kinder heute leicht über das Volumen von süßen Tüten hinausgewachsen sind. Dennoch muß er grinsen.

„Bleiben wir jetzt hier stehen und sehen den Gästen zu?”

Inga wirkt etwas ungehalten.

„Oh, nein. Ich wurde nur gerade an etwas erinnert. Aber sagen Sie bitte, wann haben Sie Malte Kröger zum letzten Mal gesehen, ich meine lebend?”

„Lebend? Warten Sie …” Inga überlegt kurz. „Das war gestern beim Schichtwechsel.”

Sie prüft Malvoisons Gesichtsausdruck, ob er mit der Antwort zufrieden ist, und der verbale Schuß ins Blaue kommt augenblicklich.

„Und tot?”

„Bitte?”

„Ja, tot. Tatsächlich ohne Telephonanschluß.”

„Wie kommen Sie denn darauf?”

„Ja, wie komme ich denn darauf?” Malvoisin setzt eine selbstverwunderte Mimik auf. „Sie können ihn ja gar nicht gesehen haben, tot meine ich, sonst hätten Sie es sicher gleich gemeldet, nicht?”

„Eben, hätte ich wohl.”

“Mit der Deern stimmt ‘was nicht. Die ist so gelassen.”

„Aber wollten wir nicht den Hochsitz ablösen?”

„Ich nicht, aber Sie sollen, damit ich den Hochsitz-Sitzenden etwas fragen kann. Zeigen Sie ihn mir bitte, den Hochsitz meine ich. Den, der darauf sitzt, finde ich dann schon selber.”

„Witzbold. Aber gern. Gehen können Sie allein?” Inga sieht ihn mit einem spöttischen Lächeln an. „Die Krückstockprüfung habe ich mit 40 mit Auszeichnung bestanden,” spöttelt er, „hab’ ihn heute nur vergessen. Aber vielleicht geht’s auch so.” Ehe Inga etwas sagen kann, setzt ihr Malvoisin seinen Rembrandt auf, macht einen Handstand und „läuft” auf den Händen bis zur Promenadenkante, macht einen Überschlag in den Sand und dort einen eleganten Spagat. Hinter ihm wird von erstaunt stehen gebliebenen Urlaubern applaudiert.

Ein Vater ermahnt seinen kleinen Sohn: „Siehst Du, das schafft man, wenn man regelmäßig trainiert.” „Kann das bis nach den Ferien warten?”

Malvoisin steht auf, klopft sich den Sand ab und fragt die verdutzt dreinschauende Inga mit der Vorbemerkung: „Prima, es geht noch. − Wo ist denn nun der junge Mann?” Er nimmt ihr seinen Hut wieder ab und setzt ihn auf.

„Äh, ja, da vorn.”

Sie zeigt die Richtung an, kann noch immer nicht glauben, was sie da gerade gesehen hat und stapft durch den Sand weiter.

Am Hochsitz faßt Inga einem jungen Rettungsschwimmer an die nackten Füße, um auf sich aufmerksam zu machen: ihr Kollege hat etwas mit dem Fernglas fixiert und zum Funk gegriffen: „Sven, bist Du mit dem Boot gerade in der Nähe? − Höhe Wachtturm Südstrand? Dann gib Gas! An der weißen Boje kämpft einer − Danke. Verstanden.” Er sieht herunter. „Inga, hast Du nicht mitbekommen? Notfall, ins Wasser mit Dir. Weiße Boje geradeaus.” Inga will gerade ihre Jacke abwerfen und losrennen, als zwei junge Männer in DLRG-Badehosen mit Rettungsmitteln am Hochsitz vorbeistürmen und ins Wasser hechten. Gerade als die Hochsitzwache etwas sagen will, stutzt sie wieder, springt vom Sitz herunter, wirft die Jacke ab und stürmt ihrerseits ins Wasser. Inga und Malvoisin verfolgen den Einsatz aufmerksam. Im Hintergrund hat das DLRG-Boot den gemeldeten Notfall erreicht, auch die beiden Rettungsschwimmer sind kurz vor ihm. Derweil kommt der junge Mann mit einem kleinen nackten Jungen, vielleicht fünf Jahre alt, auf dem Arm aus dem Wasser. Der Lütte war von einer kleinen Welle umgeworfen worden, die der Rest der Wasserteilung eines weit draußen vorbeifahrenden Fährschiffes war; es hatte ihn über eine für ihn zu tiefe Stelle getrieben, wobei er etwas Seewasser geschluckt und sich im übrigen nur erschrocken hatte. Als er seine aufgeregt herbeieilende Mutter sieht, steht er weinend da und streckt ihr seine Ärmchen entgegen. „Oh mein Kleiner, ich hab’ Dir doch gesagt, daß Du nicht so weit hineingehen sollst, wenn ich nicht bei Dir bin.”

Sie nimmt das heulende Elend auf den Arm, geht tröstend mit ihm weg und vergißt ganz, sich bei dem Rettungsschwimmer zu bedanken. Der geht tropfnaß auf Inga und Malvoisin zu.

„Tschuldigung, was wolltest Du?” Er schüttelt seine blonde Mähne aus. Malvoisin kneift ein Auge, hat etwas Ostsee abbekommen.

„Ich? Gar nichts.” Inga deutet auf Malvoisin. „Der Herr Kommissar von … Wie noch mal?” „Malvoisin, Kripo Lübeck.”

Inga verzieht sich auf den Hochsitz, nachdem sie ihre Jacke wieder übergezogen hat. Die Sonne brennt ganz ordentlich.

„Kripo?”

Der junge, etwa 20jährige Retter holt tief Luft. Für einen kurzen Augenblick kommen seine wohlgeformte Brustmuskulatur und sein Waschbrettbauch besonders gut zur Geltung. Er atmet aus und stemmt die Arme in die Seiten. „Womit kann ich Ihnen helfen?”

„Sie kennen einen Malte Kröger?”

„Ja, sicher, mein Stubengenosse, hier im Quartier. Was ist mit ihm?”

Der junge Mann sieht Malvoisin in einer Mischung aus Überraschung und kritischer Prüfung an. „Kripo? Hat er ‘was ausgefressen? Wo ist er?”

Der junge Mann schaut um sich, als erwarte er, den Angesprochenen im Strandgewusel zu entdecken.

Malvoisin faßt sein Gegenüber ernsten Gesichtes fest in den Blick.

„Er ist tot. Heute morgen im Strandabschnitt Horch nahe der Brücke in einem Strandkorb aufgefunden.” Es geht wie ein Schlag durch den Körper des Blonden. Der junge Mann zeigt ungläubiges Entsetzen. Er hatte den Auftrieb am Morgen nicht mitbekommen.

„Nein, das muß ein Irrtum sein. Malte kann nicht tot sein.” Er schwankt, fängt sich, rudert abwehrend mit den Armen. „Nein, Malte doch nicht. Er ist doch kerngesund und kräftig. Das kann nicht sein.”

Drumherum laufen Strandgäste, als wäre nichts besonderes passiert. Eine junge Frau kommt aus dem Wasser, geht zu einem Strandkorb gleich neben den beiden und entledigt sich ihres nassen Bikinis. Trocknet sich ab und schert sich den Teufel ob ihrer Nacktheit, einer beachtlichen Nacktheit, wie Malvoisin augenwinkelbeobachtend feststellt, aber im Moment interessiert ihn mehr das Verhalten des ohne Zweifel geschockten jungen Rettungs-schwimmers. Doch es folgt sogleich die nächste kleine Ablenkung.

Zwei etwa zehnjährige Jungs laufen selbstbeschäftigt zwischen ihnen durch. Der eine mit Badehose und einer weiteren in der Hand, der andere nackt und lamentierend.

„Hej, Du Blödmann! Gib meine Badehose her.” „Hol sie doch, hol sie doch. Alle könn’ Dein’ Pimmel sehn.”

Er dreht sich hämisch grinsend nach seinem Verfolger um, stolpert, fällt hin und der nackte Junge stürzt sich auf ihn. Eine wilde Rauferei beginnt. Niemand nimmt Notiz, bis auf zwei kichernde Mädchen, die die Köpfe zusammenstecken und sich dann ausschütten wollen vor Lachen. Malvoisin hat die beiden Raufbolde zusätzlich im Blickfeld.

Der junge Rettungsschwimmer sinkt fassungslos auf die Knie und hämmert mit den Fäusten in den Sand.

Die Rauferei ist beendet, der nackte Junge hat dem Hosenräuber die Badeshorts wieder entrungen und schleudert dem am Boden liegenden, schwer atmenden Unterlegenen eine Handvoll Sand ins Gesicht.

„Da! Du Wichser!”

Der Unterlegende versucht, sich aufzurichten, wischt sich den Sand aus den Augen und spuckt aus. Der nackte Junge steht auf. Und wie es so geht − seine Erregung ist zu sehen: er hat für sein Alter einen enormen Ständer. Wutentbrannt will er mit hochrotem Kopf so an Malvoisin vorbei, der ihn kurzerhand am Arm festhält.

„Hallo, hallo, junger Mann! So kannst Du hier aber nicht ’rumlaufen. Was sollen denn die Mädchen denken?”

„Laß mich los, das ist mir scheißegal.”

Er tritt Malvoisin vors Schienbein, was den nicht beeindruckt.

„Anziehen.”

Der scharfe Ton läßt ihn Malvoisin trotzig ansehen, aber gehorchen, und mit ausgebeulten Shorts stürmt der Junge davon.

„Wat dat nich all gifft.”

Jetzt reibt er sich doch das getroffene Schienbein. Dem kleinen Rauhbein konnte er natürlich nicht zeigen, daß der Tritt mit nacktem Fuß sehr wohl wehzutun begann.

Kopfschüttelnd wendet sich Malvoisin wieder dem erschütterten Rettungsschwimmer zu.

Im Hintergrund lachen die beiden etwa 12jährigen Mädchen immer noch. Eine meint: „Aber süß ist der schon.” Und sie werfen sich mit einem neuen Lachanfall in den Strandkorb zurück.

„Malte war doch nicht krank. Oder? Heimlich, oder so?”

Der junge Mann sieht Malvoisin verzweifelt an. „Nein, ich vermute nicht. Wir wissen noch nichts genaues, aber Kraft und Training nützen oft nicht viel, wenn man getötet wird.”

„Wa …!?”

Der Blonde erstarrt.

„Getötet, Malte? Warum denn? Wer?”

Der junge Mann ist völlig durcheinander.

„Kommen Sie mal mit. Wir setzen uns hinten an einer ruhigen Stelle gegen den Deich …”

Malvoisin schiebt den Blonden mit sanftem Druck in Richtung Promenade.

„Wie heißen Sie übrigens?”

Er hat es zwar schon von Harm Kallweit gehört, will aber die Bestätigung haben.

Der Blonde sieht Malvoisin mit leerem Blick an. „Asmussen. Andreas Asmussen.”

*

Tewes und Langeland kommen in Grömitz auf die Promenade. Sie bleiben stehen, blicken sich um. Vor ihnen pulsiert das Strandleben. Beide Männer orientieren sich direkt vor der langen Seebrücke, fassen gleichzeitig etwas mit ihren Blicken auf und betreten den Strand.

Wie aus dem Nichts kommt ein übereifriger Kontrolleur und hält sie an. Ein kleiner dicker Mann, nicht einmal 1,70 m hoch, dafür mit hoher Stirn und einem Blick, der ihn besonders wichtig erscheinen lassen soll. Das braucht er auch, wenn er durch die Strandkorbreihen wuselt und die Schuhpaare an den Körben zählt. Kein Kurtaxpflichtiger ist ihm je entgangen.

„Darf ich um Ihre Ostseecard bitten!”

Langeland hält ihm seinen Dienstausweis unter die Nase: „Dauerkurkarte!”

Der Kontrolleur reagiert verdutzt.

„Oh, is’ ‘was passiert?”

„Noch nicht, wird aber gleich!”

Langeland sieht ihn in einer Mischung aus streng und amüsiert an.

„Oh.”

Langeland und Tewes gehen weiter. Der Kontrolleur wendet sich einem Strandkorb zu, sieht sich aber nochmals um, als könne er den Höhepunkt seines Tages noch nicht ganz verarbeiten.

„War das Dein Bruder?”

„Wieso?” Tewes‘ Mimik zeigt keinerlei Bewegung. Dafür grinst Langeland umso breiter.

„Der hat einen ähnlich sprudelnden Wortschatz wie Du!” Tewes hält eine Antwort nicht für nötig.

Beide gehen auf einen Strandkorb zu vor dem zwei junge Bikinischönheiten in der Sonne liegen.

Tewes und Langeland bleiben, die Sonne im Rücken, vor den Mädchen stehen, werfen ihre Schatten auf sie.

Die Schwarzkurzhaarige legt eine Hand über die Augen.

„He, was soll das?”

Ihre blondlanghaarige Freundin richtet sich leicht auf, stützt sich auf Ellenbogen und Unterarme, schaut die Männer kritisch prüfend an.

Langeland scannt die beiden Schönheiten augenblicklich ein. Darin ist er geübt, geradezu ein Spezialist. Die Mädchen sind jede etwa 22 Jahre alt, zwischen 1,72 und 1,75 m groß, zwischen 56 und 58 kg leicht, haben beide eine wunderschöne, makellose Haut; die zahlreichen Sommersprossen auf den Schultern und unter den Augen der Blonden, die trotz ihrer Sonnenbräune zu erkennen sind, empfindet er als süße Attraktion. Wie braun beide bereits sind, sieht er an den ganz schmalen weißen Hauträndern an den Bikinioberteilen, als sich beide Mädchen bewegen. Die Blonde hat eine sehr süße Büste, gerade richtig für seinen Geschmack als Mann, die Schwarze hat etwas mehr zu bieten, wenn sie es denn böte. Als Polizist interessiert es ihn nicht, aber als Mann stellt er zufrieden fest, daß der Unfug der Piercings bei diesen beiden Schönheiten zu keiner Beeinträchtigung geführt hat, denn sie haben beide keine Ringe oder ähnliche Verunstaltungen in ihren atemberaubend schönen Bauchnabeln. Langelang bedauert sehr, dienstlich vor diesen Evatöchtern zu stehen. Beide haben sehr schöne Ohrläppchen, ungestochen, einfach nur natürlich schön; die dazugehörigen süßen Ohren nähme er zu gern als Ausgangsort einer erotischen Expedition über diese weibliche Landschaft, aber er ist ja dienstlich da. Und diese herrlichen Beine! Welch vortreffliche Endpunkte seiner Betrachtung, und gleich doppelt vorhanden. Eine glückliche Stunde − optisch allemal. Er weiß gar nicht, wie er sich losreißen soll. Verweigert sich jeden Gedanken daran, wie es wäre, sich wenigstens bei einem dieser göttlichen Wesen zum Paradies vorschmusen zu dürfen − und dann denkt er ihn doch, diesen Gedanken, der ihn von aller Dienstbeflissenheit abhalten könnte. Oh, wie beneidet er für einen kurzen Augenblick seinen Kollegen Hauke Tewes, diesen altgedienten Ehekrüppel, der sich tatsächlich seit 15 Jahren mit nur einer Frau zufriedengibt. Der sieht diese weiblichen Schätze ganz sicher nicht mehr. Für den sind das nur zu befragende Personen, jede für sich ein Neutrum. Der kleine Neidanfall weicht tiefem Bedauern. Oh, heiliger Ehestand!

„Sind Sie Lisa und Hanna?”

Die Langhaarige ist reserviert und mißtrauisch. „Wer will das wissen?”

Langeland beugt sich vor und zeigt seinen Dienstausweis.

„Mein Name ist Langeland, das ist mein Kollege Tewes, Kripo Lübeck.”

Die Kurzhaarige wirkt plötzlich ängstlich.

„Haben wir falsch geparkt?”

„Vielleicht, aber da kämen die blauen Kollegen. Von uns bekommen Sie Besuch, wenn das Auto weg ist ...”

Die Langhaarige springt auf, die Kurzhaarige erhebt sich etwas langsamer.

„Was, mein Auto ist gestohlen?”

Langeland beschwichtigt sofort.

„Nein, nein, keine Sorge.”

Die Langhaarige setzt sich in den Strandkorb, während die Kurzhaarige in kessem Ton nachfaßt. „Würden Sie vielleicht etwas weniger kryptisch reden?” Dabei verschränkt sie mit verstimmter Mimik die Arme.

„Wir sind von der Mordkommission.”

Die Kurzhaarige lacht auf, wendet sich zur der Langhaarigen. „Sag’ mal, Lisa, wann haben wir unseren letzten Kerl umgebracht?”

„Im Bett?”

Die Kurzhaarige grinst breit.

„Wo sonst!”

Lisa verkündet selbstbewußten Tones:

„Herr Langeland, wir sind Sonnenanbeterinnen, keine Gottesanbeterinnen, die ihre Männchen fressen!”

Die Kurzhaarige ergänzt:

„So viele gute Typen gibt es nicht. Die paar pflegt man, aber frau bringt sie nicht um!”

„Das ist gut zu hören, Mädels, aber das wollten wir eigentlich nicht wissen.”

Langeland wendet sich der Langhaarigen zu.

„Sie heißen also Lisa − und weiter?”

„Lisa Neumann, aus Lübeck. Möchten Sie meinen Ausweis sehen?”

„Gute Idee! Und Sie?” Er wendet sich an die Kurzhaarige.

„Hanna Thorstensen, auch Lübeck.”

Sie faßt in ihre Badetasche, zückt den Ausweis, hält ihn Langeland hin, der erst ihn, dann den von Lisa betrachtet, dann zurückgibt und lächelt. Er findet seine persönlichen Scan-Ergebnisse fast auf den Punkt bestätigt. Bei den Körpergewichten ist er sich auch ohne Nachwiegen sicher. Die jungen Frauen sehen sich fragenden Blickes und achselzuckend an, verstehen nicht, warum der Kriminale beim Betrachten ihrer Ausweise so blöde grinst, wie sie unabhängig voneinander denken.

„Sie kennen zwei Rettungsschwimmer, die in Kellenhusen Dienst tun?”

Hanna wird patzig.

„Was gehen Sie unsere Männerbekanntschaften an?”

Tewes ermahnt sie.

„Vertell em dat, mien Deern, sünst ward he füünsch!”

Lisa springt ein.

„Wir kennen zwei Typen aus Kellenhusen, sind aber keine Einheimischen, glaube ich.”

Hanna bekennt, „Wenn Sie Timo und Jens meinen, ja, die beiden kennen wir.”

„Geht doch. − Waren beide gestern mit Ihnen zusammen?”

Beide Mädchen nicken bejahend.

„Wann sind die beiden gegangen?”

Die Freundinnen sehen sich an, wenden dann beide den Blick zu den Männern zurück, und Hanna antwortet mit Teilecho.

„Wann sind die beiden gegangen? Das muß so gegen 22.30 Uhr gewesen sein, vielleicht etwas später. Wir lagen jedenfalls um 23.15 Uhr in den Betten, hatten beide keine Meinung mehr.”

Lisa bestätigt es.

„Ja, das kommt hin. Die beiden hatten sich Hoffnungen auf mehr gemacht, aber gleich am ersten Abend mögen wir mehr als Flirten auch im Urlaub nicht. Da sind sie abgezogen. Und wissen Sie, wir mögen es nicht, wenn junge Burschen meinen, jedes Mädchen wollte bei einer ausgebeulten Badehose gleich nachsehen, ob es echt oder eine Prothese ist.”

Die Wortwahl, Lisas kesser Gesichtsausdruck − Langeland muß sich beherrschen, nicht laut aufzulachen, senkt seinen Kopf, um sein Grinsen zu verbergen. Tewes bleibt äußerlich ungerührt.

Hanna bohrt nun selbst.

„Herr Langeland. Auch auf die Gefahr für neugierig gehalten zu werden, wozu müssen Sie wissen, wann die Jungs mit uns zusammen waren?”

„Wir ermitteln in einem Tötungsdelikt, und die beiden gehören zum Kreis der Verdächtigen.”

Die jungen Frauen sehen sich erschrocken an.

„Meine Damen, ich muß Sie bitten, heute nachmittag in der Polizeistation Grömitz Ihre Aussagen zu Protokoll zu geben.”

Hanna mault.

„Waaas, jetzt im Urlaub?”

„Mädchen, der Tod macht keinen Urlaub! Bis zur Gildestraße ist es von hier nicht weit. Hausnummer eins, wenn ich mich richtig erinnere.”

Er sieht Tewes an. Der nickt.

„Jou.”

„Und Sie verlassen ansonsten Grömitz nicht ohne unsere Erlaubnis. Moin!”

Die Männer stapfen davon. Die Mädchen sehen sich mit verzogenen Mienen an.


*

Malvoisin und Andreas Asmussen haben sich an einem ruhigen Abschnitt des Landesdeiches niedergelassen. Der Blonde hockt zusammen-gekauert im Gras, hat die Beine angezogen, auf den Knien die Arme verschränkt und seine Stirn darauf abgelegt. Er ist stumm.

Malvoisin sieht ihn, aller Professionalität zum Trotz, mitfühlend an. Ihm fällt jetzt der markante Ohrring auf, den Andreas rechts trägt: offenbar aus Gold, an die Rundung ist ein die Schwingen ausbreitender Adler angeschmiedet, der einen Fisch in seinen Fängen hält.

„Geht’s wieder? Können Sie mir ein paar Fragen beantworten?”

Andreas sieht auf. Aus seinen wassergefüllten Augen laufen zwei dicke Tränen die Wangen herunter. Sie tropfen auf seine Badehose ab, die schon fast wieder trocken ist und bilden zwei unter anderen Umständen peinliche Flecken. Aber die Sonne ist heiß und gnädig.

„Wann haben Sie Ihren Stubenkameraden zum letzten Mal gesehen, und wo?”

Andreas überlegt kurz.

„Das war unter der Dusche, nach Dienstschluß.”

Malte stand unter dem starken Wasserstrahl, den er sich, die Hände flach gegen die krankenhausweißen Kacheln des Duschraumes gelegt, auf den Rücken prasseln ließ. Er war bereits braungebrannt, nutzte er doch jede Gelegenheit, sich der Sonne auszusetzen. Andere Männer hätten jetzt eine „weiße Hose” an, aber die Haut seiner Lenden war hellbraun. Er sonnte sich auf dem elterlichen Grundstück immer „ohne” und hielt sich während des DLRG-Dienstes in seinen freien Stunden fast immer am Lensterstrand auf, am FKK-Strand genau gesagt, wo er es liebte, mit seinen optischen männlichen Qualitäten aufzufallen. Malte hatte ruhend einen Mannesstolz von sagenhaften 19 Zentimetern vorzuweisen, was ihm in Lenste gar das Angebot eines Headhunters der Porno-Industrie eingebracht hatte. Von 3.000 €uro Tagesgage war da zu hören und bei gleichbleibend guter Figur könne er 20 Jahre dick im Geschäft sein. Er sollte aber fast nur in Schwulenfilmen mitmachen, und das lehnte er dann doch ab, obwohl, die Versuchung war für ihn groß, auch des Geldes wegen. Es war keineswegs so, daß er es nicht liebte, sich gut gebaute Typen anzusehen und beim „Schwänzevergleichen”, wie er es nannte, sich immer wieder zu freuen, daß er nie etwas wirklich vergleichbares entdeckte, aber „Arbeit” ganz ohne Mädchen wäre ihm zu öde gewesen. Dickbäuchige Typen interessierten ihn nicht, die mit kleinen roten Pavianärschen für ihn am Strand und in der Sauna nur peinlich wirkten. Schlanken Burschen sah er sehr wohl nach; aber sein Beuteblick traf unter all den Hausfrauen, die er eher geringschätzig betrachtete, manch ein schönes Mädchen, manch attraktive junge Frau − und er war erfolgreich. Malte hatte durchaus etwas von einem eitlen Pfau, gepaart mit Arroganz, denn er war sich seiner Wirkung bewußt. Gerade diese gewisse Arroganz wirkte auf manche weibliche Wesen seltsam magisch anziehend − und nicht nur bei weiblichen. In seiner Schulzeit hatte ihm seine „Größe” allerdings teils bösartigsten Neid eingebracht. Eselsschwanz, Pferdepimmel − und was ihn die anderen Jungs nicht alles geheißen hatten. Der pure Neid, aber eben auch die volle Ablehnung. Er war anders, paßte nicht ins gewohnte Schema. Und das erste Mädchen, mit dem er mit 15 Jahren schlafen wollte, war ängstlich weggelaufen, als er mit der vollen Erektion vor ihm stand. Nur sein damals einziger treuer Freund, der Malte hieß, wie er selbst, hatte keinen bösen Spott für ihn, denn er hatte ein ähnlich großes „Problem”. Daß sie beide erwachsen über 1,90 m groß werden würden, hatte man ihnen schon mit 14 gesagt. Kennengelernt hatten sie sich mit 11 Jahren, beim Wechsel auf das Barlach-Gymnasium in Kiel. Ihr erster Klassenlehrer hatte sie in die letzte Reihe gesetzt, da sie schon recht groß für ihr Alter waren und den kleineren Schülern die Sicht nach vorn nicht verstellen sollten. Eine dumme Entscheidung; man hätte sie ebenso vorn an eine der Ecken setzen können, aber die beiden fühlten sich „hinten” ganz wohl. Und als die Pubertät auch bei ihnen die Macht übernahm, konnten sie ungestört unter dem Tisch den jeweils anderen stimulieren, denn es machte ihnen bald Spaß, herauszubekommen, wie schnell der andere durch Hosereiben „groß” wurde. Geschickterweise machten sie das aber erst, wenn mindestens einer von ihnen bereits an die Tafel gerufen oder etwas abgefragt worden war; in ihrer Klasse war es noch üblich, bei einer Lehreransprache aufzustehen. Einmal war es aber schiefgegangen und Malte II, sie wurden zur Unterscheidung Malte I und Malte II gerufen, hatte Pech, mußte an einer Landkarte etwas zeigen, dabei „zeigte” er, gekleidet in eine enge, aber dehnbare Leinenhose, mehr als ihm damals lieb war − und das Gelächter der Klasse war niederschmetternd. Auch Malte II, ein hübscher blonder Junge mit stahlblauen Augen, sportlich und ein freundlich-lieber Typ, hatte kein Glück bei den Mädchen, obwohl ihm schon mal eine nachsah, aber vor beiden Maltes hatten in einer Beziehung alle Angst, denn ihre verstörende „Größe“ war natürlich durch den Sporthallentratsch und den Schwimmunterricht bekannt. Da sie aber endlich wissen wollten, wie es ist, wenn man es nicht selber macht, kam was kommen mußte und sie entjungferten sich auf ihre Weise gemeinsam. Da waren sie 16 und fanden es irgendwie obercool und einfach geil. Und danach trieben sie es miteinander, so oft sie nur konnten, fragten sich aber immer wieder, wie es wohl mit einem Mädchen sei, denn im Internet sahen sie sich zur „Vorbildung”, wie sie es nannten, gemeinsam einschlägige Pornos an. Dann kam die Trennung. Malte I’ Eltern hatten seine Verlegung auf ein renommiertes Internat in Bayern beschlossen und es hieß, Abschied zu nehmen. Sie schickten sich noch ein Jahr E-Mails und SMesse, aber dann kam der Entfernungseffekt: aus den Augen, aus dem Sinn. Malte lernte in Bayern seine erste Freundin kennen. Sie verließ ihn, als sie bemerkte, daß er bemerkte, daß die Mädchen nun doch auf ihn flogen, was Malte weidlich ausnutzte, da er einiges nachzuholen hatte, wie er meinte. Dann kam seine erste große Liebe, die bei ihm blieb.

„Woran denkst Du gerade?”

Malte zuckte zusammen und sah sich um. Neben ihm hatte Andreas unbemerkt die Dusche angestellt und drehte sich mit erhobenen Armen unter dem erfrischenden Brausestrahl.

„Woran soll ich denken?”

„Na, darum!”

Andreas zeigte durch Kopfnicken die Blickrichtung an: Maltes Erregung war nicht zu übersehen. Andreas’ Mimik ließ seine Bewunderung erkennen. „Spannendes Kopfkino?”

„Kann man sagen.”

„Muß ein tolles Mädchen sein.”

„Warum ein Mädchen?”

„Na, ein Typ wie Du …”

„Ja und? Du bist auch ein geiler Typ, aber mit einem Mädchen habe ich Dich noch nie gesehen, wenn man von der Süßen in Deinem Spind absieht.” „Laß sie aus dem Spiel!”

„Ah, sind wir da empfindlich?”

Andreas drehte sich weg und gab keine Antwort.

„Und was haben Sie danach gemacht?”

„Na, es war Feierabend.”

Andreas sieht Malvoisin mit einem „Was-willst-du-eigentlich-von-mir-Blick” an.

„Waren Sie allein oder sind Sie noch fortgegangen?”

„Ich habe einen Kumpel besucht.”

„Und wer ist das?”

„Rudolf Hartmann.”

„Und wo finden wir den?”

„Wir haben heute gemeinsam Wache auf dem Turm am Südstrand.”

„Wie lange waren Sie bei ihm, und wo?”

Andreas „sucht” kurz.

„In seinem Quartier in der Denkmalstraße. So etwa bis 22 Uhr. Dann bin ich zurück und hier in meine Koje gekrochen.”

„Wissen Sie, wo Malte Kröger gestern abend war?” „Nein. Ich habe die Dusche vor ihm verlassen. Wir haben uns noch gegenseitig den Rücken abgeschrubbt, und dann bin ich los. Malte setzt sich meist noch an den Boden und läßt sich beprasseln.” „Tja, Herr Asmussen, dann danke ich Ihnen für Ihre Kooperation trotz Ihrer emotionalen Angegriffenheit.”

Malvoisin erhebt sich und reicht Andreas die Hand, zieht ihn gleichzeitig hoch. Er begleitet ihn zurück zur DLRG-Station.

„Ihre Stube hier in der Station können Sie vorerst nicht benutzen. Wir müssen sie uns noch genau ansehen, die Spurensicherung muß hinein. Können Sie so lange bei Ihrem Kumpel unterkommen?” Andreas sieht Malvoisin erstaunt an.

„Aber ich habe doch all meine Sachen hier.”

„Na ja, nackt sind Sie ja nicht und in Badehose und DLRG-Jacke kann man auch mal durch den Ort laufen, nicht? Und vielleicht können Sie etwas mitnehmen, wenn wir gemeinsam die Besichtigung durchführen. Halten Sie sich bitte bereit. Den Ort dürfen Sie vorerst nicht verlassen. Und jetzt ruhen Sie sich am besten erst einmal aus. Ich rede mit Ihrem Chef. Moin.”

Andreas setzt sich auf eine Bank vor der Station, lehnt sich an die Wand und schließt die Augen. Eine ältere Dame kommt auf ihn zu.

„Hallo, junger Mann, sagen Sie mal …”

Er reagiert nicht. Sie tippt ihn an. Andreas öffnet die Augen.

„Junger Mann, können Sie mir die Luft- und Wassertemperaturen sagen? Wissen Sie, ich habe meine Brille vergessen, ich kleines Schusselchen, und ich möchte mich nicht erschrecken, wenn ich mich in die wilde See stürze.”

Die Vorstellung, die weißhaarige Dame „in die wilde See” stürmen zu sehen, bei Windstille und völlig glatter Oberfläche, entlockt Andreas ein erstes Schmunzeln nach den schrecklichen Nachrichten. „26 Grad Luft und 19 Grad Wasser, gnädige Frau, viel Vergnügen.”

Er setzt sich wieder.

„Oh, das ist ja wundervoll. Dann will ich mal gleich los.”

Sie wendet sich ihm nochmals zu.

„Wissen Sie, seit mein lieber Mann mich samt seiner Leidenschaftlichkeit verlassen hat, sind die Wellen das einzig Wilde, das mich noch umspült. Ein altes Mädchen wie ich muß nehmen, was es kriegen kann. Und im Training muß ich auch bleiben. Schließlich war ich 1943 die letzte Westpreußen-Meisterin im Fünf-Kilometer-Schwimmen. Ich bin zwar erst 92, aber man darf sich nicht aufgeben. Meine liebe Mama …” sie betont das zweite -a, „… war noch mit 104 nicht aus dem Wasser zu kriegen. Trainieren Sie auch jeden Tag, junger Mann?”

Schlagfertig antwortet Andreas:

„Aber selbstverständlich. Man muß doch mit Vorbildern wie Ihnen mithalten können.”

Die alte Dame strahlt ihn an.

„Das ist die richtige Einstellung, junger Mann, weiter so, und vielen Dank für Ihre freundliche Auskunft.”

Damit segelt sie davon, und Andreas ist sich sicher, eines der letzten Sportoriginale kennengelernt zu haben. Wenigstens hat er für einige Augenblicke den Schreck um Maltes Tod vergessen.

*

Malvoisin fährt an der Wache der Marineunteroffizierschule in Plön vor. Ein Bootsmann, dekoriert mit der Schützenschnur in Gold und dem Militärleistungsabzeichen in Silber kommt heraus. Er tritt an Malvoisins Auto heran, legt die Hand an die Schirmmütze, Malvoisin läßt das Fenster herunter.

„Guten Morgen! Ihren Ausweis bitte …”

„Guten Morgen… “ Er hält ihm den Dienstausweis hin. „Melden Sie mich bitte bei Ihrem Kommandeur an.”

Der Bootsmann verzieht keine Miene. „Fahren Sie …”

„Danke, Herr Bootsmann. Ich kenne mich hier aus.“ Der Bootsmann salutiert. Malvoisin fährt weiter. Der Bootsmann telephoniert in der Wachstube: „Vorzimmer Kommandeur! Wache. …”

Vor der Kommandantur stellt Malvoisin den Wagen ab. Ein junger Leutnant zur See kommt gerade aus dem Gebäude.

„Hier dürfen Sie nicht stehenbleiben!”

„Ich darf, Herr Leutnant, ich darf.”

Malvoisin schließt sein Fahrzeug ab, lächelt den Leutnant an und betritt zielstrebig das Gebäude.

Der verblüffte junge Mann sieht ihm nach und überlegt, ob das gerade vielleicht ein Admiral in Zivil gewesen sein könnte.

Malvoisin strebt dem Kommandeursbereich zu. Dabei kommt er an der Photogalerie der bisherigen Kommandeure vorbei. Vor einem Bild bleibt er kurz stehen.

„Moin Großpapa. Da bin ich mal wieder. Lang ist’s her. − Schön war’s immer bei Dir. − Und heute habe ich schlechte Nachrichten für Deinen Nachfolger. Üble Sache. − Übrigens, Deiner Schwester Priscilla geht es blendend. Aber das weißt Du sicher. Sie hat dieses Jahr wieder eine Weltreise auf der ‚Deutschland’ gemacht. 94 ist sie gerade geworden und ein Armutsfaktor für ihren Hausarzt. Und vermutlich hat sie wieder mal auf der Brücke nachgefragt, ob man nicht mal in Richtung der-und-der Insel den Kurs ändern könnte, weil sie dort noch nicht gewesen sei. Du weißt ja, der alte Kaptein Harmsen, der bei Dir als junger Kerl Ordonnanzoffizier war, der hat das tatsächlich auf einem anderen Dampfer mal gemacht, damals in den Fünfzigern, als Originale noch gefragt waren. Aber ganz so alt war Hein Harmsen damals noch nicht, und Tante Prissy war schon immer unwiderstehlich. Harmsen ist jetzt 102 und läuft in Övelgönne noch ganz munter herum. Er steckt sich jeden Tag seinen Kurs ab und den segelt er dann entlang, wenn ok op sien Fööt. Und den Deerns plinkert er immer noch zu. Denk mal an, und die plinkern sogar zurück. Dann setzt er sich auf die Kaimauer und singt ‚Das wäre noch mal ’was …’, und er hat jedes Mal begeisterte Zuhörer, vor allem, wenn er sein tampenstarkes Seemannsgarn vertellt. Du kanntest ihn ja gut. − Ach, und Maren ist mir die gute Frau geworden, wie Du es gesagt hast. Und wir haben drei wunderschöne Kinder: Christian, Karin und Tessa, aber das weißt Du sicher auch. − Ik harr nu wat to doon, Großpapa, da is mi bannig bang för. Kiek mol wedder in, wenn ok jüst in’n Geist. Weeßt, wi hebbt ’n scheunet Huus in Kellenhusen, wo wi fröher jümmers Urlaub mookt hebben. Un giff Großmama ’n Seuten. − Denn atschüs, Großpapa.”

Malvoisin berührt das erste Bild in der Galerie und zwei Tränen kullern seine Wangen herunter. Ein Obermaat kommt vorbei und besieht sich verwundert den Zivilisten, der die Galerie der Kommandeure betrachtet und plötzlich ein Taschentuch zieht, um sich das Gesicht abzuwischen und zu schnäuzen.

Malvoisin geht weiter und kommt zum Kommandeursbüro. Er tritt in das Vorzimmer ein. Eine ältere Sekretärin empfängt ihn.

„Zu wem möchten Sie bitte?”

„Guten Morgen. Malvoisin, Kripo Lübeck. “

Er zückt wieder seinen Dienstausweis, den die Sekretärin ungläubig betrachtet.

„Kriminalpolizei?”

Sie weiß nicht, worüber sie sich mehr wundern soll: das die Kripo im Haus ist oder über diesen Hut, den der Kriminale gerade abgenommen hat und in der linken Hand hält.

„Ja, so nennt sich meine Truppe.”

„Ach, richtig. Sie hat die Wache ja eben angekündigt. Aber der Kommandeur hat gleich einen Termin. Ich weiß nicht …”

„Richtig, mit mir, Würden Sie mich bitte anmelden!”

Er sieht sie auffordernd an. Die Sekretärin klopft kurz, tritt beim Kommandeur ein und meldet leicht verwirrt:

„Verzeihung, Herr Kapitän, da ist ein Herr von der Kriminalpolizei …”

„Kripo?”

Der Kommandeur sieht auf seine Armbanduhr.

„Na gut, ich lasse bitten.”

Die Sekretärin tritt zur Seite und gibt den Weg frei. Malvoisin tritt ein.

Der Kommandeur steht an seinem Schreibtisch, neben ihm erwartet ein Kapitänleutnant seine Anweisungen.

„Herr von Felsenstein, die Herren Lehrgruppenkommandeure zur Besprechung erst in einer halben Stunde.”

„Jawohl, Herr Kapitän!” Der Kaleu tritt ab.

„Kapitän zur See Kröger −” Er reicht Malvoisin die Hand. „Kripo? Hat einer meiner Männer etwas ausgefressen?”

Malvoisin mustert sein Gegenüber mit schnellem Blick.

Vor ihm steht ein etwa 50jähriger, drahtiger Mann, sicher 1,80 m groß. Er schätzt ihn auf das Idealgewicht seiner Größe von 80 Kilogramm. Kröger hat ein sympathisches Gesicht, marineüblich glattrasiert. Darin energische Züge, die keinen Widerspruch dulden. Seine vollen schwarzen Haare mit deutlich grauen Schläfen machen ihn neben seiner Gesamterscheinung zu einem attraktiven Mann. Er trägt den blauen Dienstanzug mit den vier goldenen Ärmelstreifen seines militärischen Ranges. Malvoisin registriert mit Kennerschaft das Einzelkämpferabzeichen an der rechten Uniformseite, an der linken das Militärleistungsabzeichen in Gold, das Kreuz der Ehrenritter des Johanniterordens, an der Ordensspange das Bundesverdienstkreuz I. Klasse, Bundesverdienstkreuz am Bande, den Verdienstorden des Landes Berlin, das Ehrenkreuz der Bundeswehr in Gold, das Deutsche Sportabzeichen in Silber, das Offizierkreuz der Französischen Ehrenlegion, die Königlich Großbritannische Victoria-Medaille, das Ritterkreuz des Königlich Norwegischen Olav-Ordens, das Hollandmarschabzeichen und darüber in goldener Stickerei das Tätigkeitsabzeichen des seefahrenden Personals.

„Malvoisin, Mordkommission Lübeck −” er hält Kröger den Dienstausweis hin.

„Mordkommission? Das hatten wir hier noch nicht. Aber nehmen Sie doch bitte Platz.”

Der Kommandeur weist einladend auf einen Sessel. Beide setzen sich. Der Kapitän sieht seinen unerwarteten Besuch fragend an.

„Malvoisin? Sind Sie der Sohn von Friedrich Malvoisin?”

„Ja, ich kann es nicht leugnen.”

Ein schwaches Lächeln huscht über Malvoisins Gesicht.

„Ich dachte es mir doch gleich. Die Ähnlichkeit ist unverkennbar. Wie geht es dem Herrn Admiral?”

„Ich denke gut.”

Kröger bemerkt, daß sein Gegenüber das Thema nicht sonderlich angenehm ist und setzt es nicht fort.

„Sieh an, sieh an. Das ist der Sohn von ‚Friedrich dem Großen’!”

Mit einem auffordernden Blick zeigt er, daß Malvoisin mit dem Grund seines Kommens herausrücken soll. Der ist dankbar, vom Vater-Thema weg zu sein.

„Herr Kapitän, kennen Sie einen jungen Mann namens Malte Kröger?”

„Mein Ältester. Was ist mit ihm?”

„Ich habe schlechte Nachrichten.”

Er räuspert sich. Todesbote war er noch nie gern, aber er hat es immer so damit gehalten, solche Schockmeldungen schnell herauszulassen, und so macht er es auch jetzt.

„Ihr Sohn ist tot.”

Malvoisin mustert sein Gegenüber.

„Wie, tot?”

Der Kapitän zieht seine Stirn kraus.

„Ihr Sohn wurde heute morgen ermordet am Strand von Kellenhusen gefunden.”

Kröger schließt kurz die Augen.

„Was ist passiert, wo ist mein Sohn? Was erzählt der da?”

„Ihr Sohn wurde in einem Strandkorb in der Nähe der Seebrücke mit einem Strick um den Hals gefunden. Er wurde gehenkt.”

Kröger wirkt gefaßt, lehnt sich zurück, verschränkt den linken Arm, stützt den rechten darauf und stützt seinen leicht gesenkten Kopf mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger.

„Hat man den Täter schon?”

„Nein, aber da ist noch etwas…”

Kröger richtet sich im Sessel auf.

„Was denn noch?”

Malvoisin muß sich erneut räuspern.

„Ihr Sohn wurde entmannt.”

Kröger springt auf und schreit.

„Was? Entmannt?” Der Kapitän senkt seine Stimme wieder und preßt hervor: „Welches Schwein …”

„Wir wissen noch nicht, ob es ein Mann oder eine Frau war oder beides.”

Kröger setzt sich wieder, scheint den ersten Schreck bereits überwunden zu haben und spricht deutlich leiser.

„Wo ist mein Sohn?”

„Er wurde in die Rechtsmedizin nach Lübeck gebracht.”

„Kann ich meinen Jungen sehen?” Der Kapitän wirkt auf Malvoisin erstaunlich gefaßt.

„Selbstverständlich. Darum hätte ich Sie ohnehin bitten müssen, um ihn zu identifizieren. Sind Sie abkömmlich?”

Kröger steht wortlos auf und tritt vor sein Büro. „Frau Meinrad, lassen Sie Fregattenkapitän Hendersmann bitten, mich für heute zu vertreten. Mein Sohn Malte ist tot …”

Frau Meinrad schlägt die Hände vors Gesicht.

„Um Gotteswillen, Herr Kapitän − weiß Ihre Frau schon? Der arme Junge!”

„Nein, sie weiß es noch nicht. Das bringe ich ihr bei, wenn ich aus Lübeck zurückkomme. Weisen Sie Kapitän Hendersmann kurz ein, im übrigen vorerst absolutes Stillschweigen, verstanden? Ach, und die Besprechung mit den Lehrgruppenkommandeuren findet morgen um 9 Uhr statt. Keine Begründung!”

Kröger sieht seine Sekretärin streng an.

Frau Meinrad schluchzt deutlich.

„Jawohl, Herr Kapitän, Stillschweigen, Besprechung morgen.”

Kröger setzt seine weiße Schirmmütze auf. „Lassen Sie uns fahren.”

*

Malvoisin und Kapitän Kröger betreten die Rechtsmedizin in Lübeck, wobei Malvoisin als ortskundig vorgeht. Er bedeutet Kröger, kurz zu warten. Malvoisin sucht Professor Anderson, den er an seinem Arbeitsplatz findet, angetan mit grüner Kleidung und Gummischürze.

„Hallo, Klinge!”

Anderson dreht sich zu ihm um.

„Ah, Malle. Ich wollte gerade mit der näheren Untersuchung unseres Gehenkten anfangen …”

„Warte noch. Ich habe seinen Vater draußen, um ihn zu identifizieren.”

„Oh ja, dann haben wir das hinter uns. Wie hat er die Nachricht aufgenommen?”

„Erstaunlich gelassen, nur das nicht.”

Malvoisin macht eine Schnittbewegung mit Zeige- und Mittelfinger.

„Verstehe.”

Malvoisin geht hinaus und holt Kapitän Kröger in den Obduktionssaal, führt ihn an den Untersuchungstisch; beide treten zum Kopfende. Anderson hebt das Abdecktuch hoch und schlägt es bis zum Brustkorb zurück. Kapitän Kröger tritt heran und betrachtet seinen Sohn.

„Herr Kapitän …?”

„Ja, Herr Kommissar, das ist mein Sohn Malte.”

Er stockt.

„Nein, das war mein Sohn.”

Kröger stockt erneut, betrachtet mit regungsloser Miene seinen Jungen.

„Das ist nur noch seine geschundene Hülle.”

Kapitän Kröger faßt das Abdecktuch an; es macht den Anschein, als wolle er es ganz wegziehen.

„Nicht, tun Sie sich das nicht an!”

Malvoisin faßt Kröger unwillkürlich am Unterarm. Der sieht ihn scharf an, worauf Malvoisin ihn losläßt, und preßt hervor:

„Ich habe meinen Sohn nackt gesehen, als er geboren wurde, ich habe ihn nackt gesehen, als ich ihn wickelte, ich habe ihn nackt gesehen, wenn ich ihn badete, ich habe ihn nackt am Strand gesehen, ich habe ihn nackt in der Sauna gesehen, ich habe ihn nackt gesehen, wenn er sich in meinem Garten sonnte …”

Kröger wird dabei immer lauter und schreit fast.

“…, und ich werde ihn nun nackt im Tode sehen!” Damit reißt er das Tuch weg, erstarrt, läßt es fallen, verfällt in Stoßatmung, zieht hörbar den Atem durch die Nase ein, schwankt, wehrt Malvoisin ab, als der ihn halten will, ergreift im selben Augenblick mit festem Griff dessen rechten Unterarm, wendet sich ihm zu. Sein Gesicht bebt, und er zischt:

„Finden Sie die Bestie, die das getan hat, und finden Sie sie schnell, ehe ich es tue.”

Kröger läßt Malvoisin los, der schweigend verharrt, den direkten, starren Augenkontakt ausgehalten hat, und geht hinaus.

„Puh, da möchte ich aber nicht in der Haut derjenigen stecken, die Du finden mußt, ehe der Mann sie erwischt!”

Malvoisin, sich fassend, wendet sich Anderson zu: „Wie kommst Du darauf, daß wir eine Täterin und nicht einen Täter suchen?”

„Oh, da gab es mal einen berühmten Fall in Japan in den 30er Jahren vor dem Krieg. Eine Sexsüchtige hat ihrem fleißigen Liebhaber das beste Stück abgeschnitten, nachdem sie ihn als übersteigerten Akt erwürgt hatte, und lief damit noch tagelang in Tokio herum. Das ein Mann das tut ist eher unwahrscheinlich, plagen uns doch alle heimlich, still und leise Kastrationsängste.”

Malvoisin ist erstaunt.

„Na, Du kennst ja tolle Schweinereien!”

Anderson bleibt gelassen.

„Das läppert sich im Laufe der Jahre. − Im übrigen sollten wir von mehreren Tatbeteiligten ausgehen …”

„Wie kommst Du darauf?”

„Wir haben hier einen zu Lebzeiten sehr kräftigen Mann vor uns, vermutlich bestens trainiert, sportlich. Der hat nicht einfach stillgehalten. Die erste Betrachtung hat ergeben, daß er keine Blutergüsse von Schlägen hatte, aber Druckstellen an den Handgelenken und Unterarmen, und eine Verletzung am Kopf, die geblutet hat; er ist also niedergeschlagen worden. Und er war an den Händen gefesselt − sieh hier an den Handgelenken − …”

„… und an den Füßen?”

„Nein, er konnte noch laufen. Merkwürdig ist, daß er zwei Holzsplitter in einem Fuß hatte. Er hat sie nicht mehr herausgezogen, also muß er sie kurz vor seinem Tod eingetreten haben. Er hat leichtere Hämatome an beiden Ober- und Unterarmen. Das kann von kräftigem Zupacken stammen, muß aber nicht zwingend auf einen bösartigen Kampf hindeuten. Das kann auch von hitzigem Sport herrühren. Beachvolleyball zum Beispiel. Aber jetzt lasse mich meine Arbeit machen, Du willst schließlich noch heute meinen Bericht haben. Und bring’ den Vater zurück, den Mann kannst Du im Moment nicht allein lassen.”

Professor Anderson wendet sich der Leiche zu, blickt nochmals auf.

„Übrigens, habt Ihr seine wertvollsten Zentimeter gefunden?”

„Nein, den Penis haben wir nicht.”

Anderson macht eine hinausschickende Kopfbewegung und wirft die kleine Kreissäge zum Öffnen an.

Malvoisin wirft nochmals einen Blick auf den Toten und murmelt:

„Nee, das muß ich nich’ haben, nich’ vorm Essen“ und verläßt den Obduktionssaal. Er ist gar nicht so sicher, ob er vor dem Abend überhaupt zum Essen kommt und ob dann sein wunderbarer Matjestopf noch vorhanden sei. Er kennt die Begeisterung seiner Lieben, wenn er einen Matjestopf angesetzt hat. Da muß er stets aufpassen, noch etwas abzukommen. Insgeheim schreibt er ihn für dieses Mal ab.

*

Malvoisin setzt Kapitän Kröger vor dessen Privathaus in Plön ab.

„Herr Kapitän, hat Ihr Sohn Malte bei Ihnen noch ein Zimmer gehabt?”

„Ja, warum?”

„Dürfte ich es mir ansehen?”

„Selbstverständlich, wenn es Ihnen hilft, die Mörder zu finden …”

„Sie sprechen in der Mehrzahl …?”

„Es müssen mindestens zwei gewesen sein, ein Einzelner hätte meinen Sohn nicht überwältigen können, völlig unmöglich. Und wäre sein Bruder in der Nähe gewesen …

„Ach, Sie haben noch einen Sohn?”

„Ja, Martin, mein Zweitgeborener.”

„Wo ist er?”

„Mein Kleiner ist an Bord der ‚Gorch Fock’ auf See …“ Er überlegt kurz. „… muß gerade in Höhe Gran Canaria auf der Rückreise sein.”

„Werden Sie ihn informieren?”

„Nein, warum sollte ich?! Er kann seinem Bruder nicht mehr helfen. Auch mein oder seiner Mutter Tod würde ihm nicht gemeldet werden. Unkonzentriertes Verhalten an Bord kann Menschenleben kosten. Es genügt, wenn er es zu Hause erfährt. Man ändert damit nichts mehr.” Kröger hält kurz inne, sieht, wie nach etwas suchend, gen Himmel. Dann fährt er fort.

„Übrigens, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich meine Frau vorher unter vier Augen informiere?”

„Nein, natürlich nicht. Ich warte am Wagen.” Malvoisin schließt den Wagen ab und lehnt sich dagegen, wobei er die Seite mit Blickrichtung auf das Haus behält. Kapitän Kröger geht zum Haus, betritt es und schließt die Tür.

Malvoisin kann vom Auto aus sehen, wie sich das Ehepaar im verglasten Terrassenbereich trifft. Der Kapitän spricht mit seiner Frau, die plötzlich aufschreit, die Arme hochreißt, schwankt, fällt. Kröger kann sie auffangen und auf ein Sofa legen. Er telephoniert, sieht anschließend nach seiner Frau. Kurz darauf kommt er aus dem Haus und auf Malvoisin zu, der von der anlehnenden in die aufrechte Haltung wechselt.

„Herr Kommissar, es tut mir leid, ich muß Sie bitten, später zu kommen. Ich mußte den Arzt rufen. Es ist zuviel für sie.”

„Ich bedauere, Herr Kapitän, aber bei einem Tötungsdelikt kann ich nicht warten. Ich muß das Zimmer Ihres Sohnes unverzüglich in Augenschein nehmen. Das duldet keinen Aufschub.”

Mannesstolz

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