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Im Laufe meines Lebens habe ich oft versucht, einer Familie die obere Lackschicht abzukratzen, um mehr zu erfahren, als die offizielle Geschichte hergibt, und jedes Mal habe ich bei ihren Mitgliedern bloß eine Verhärtung ausgelöst, ähnlich der Reaktion eines menschlichen Organismus, dessen Nerven gereizt werden. Es gibt Ausnahmen. So manch ein Aufsässiger, der sich selbst an den Rand begeben hat oder von den anderen verstoßen wurde, gibt nur allzu gern die Geheimnisse der Seinen preis. Doch seine Leidenschaft, seine zerstörerische Wut ziehen seine Aussagen in Zweifel, und ich vermute, dass diese Art Eigenbrötler auf ihre Weise noch stärker als die anderen an der Familienlegende festhält.

Ich kenne nur ein Fragment aus dem Leben der Naus, jedoch nicht ihre Vergangenheit oder ihre Zukunft. Später stellte ich meiner Mutter und meinen Tanten Fragen, besonders Louise, die für die Rolle der Aufsässigen einige Zeit lang besonders geeignet schien.

»Woher kam eigentlich mein Großvater?«

Mit einer vagen Geste in Richtung Land antwortete man mir:

»Er war nicht von hier. Wir wissen es nicht so genau.«

»Hatte er denn keine Eltern?«

»Bei seiner Hochzeit war seine Mutter schon verstorben, aber sein Vater ist zur Zeremonie gekommen.«

Man hätte meinen können, dass Barnabé von irgendwelchen Wilden abstammte oder dass er ohne jedwedes frühere Leben einfach in Saint-Saturnin aufgetaucht wäre.

In Wahrheit kam er jedoch aus dem Perche, aus der Umgebung von Évreux, wo es große Wälder gab und wo sein Vater als Holzfäller arbeitete.

Lange Zeit habe ich geglaubt, dass derartiges in Familien aus Stolz oder Gleichgültigkeit verschwiegen wird. Nun aber vermute ich, dass es sich um eine Art der gemeinschaftlichen Abwehr handelt.

Über der Kommode gegenüber der Feuerstelle hingen damals zwei vergrößerte Fotografien in ovalen schwarzen Holzrahmen mit goldener Verzierung. Die eine zeigte meine Großmutter im Brautkleid, und schon als kleiner Junge erkannte ich, dass Tante Louise ihr nahezu aufs Haar glich.

Die andere Fotografie zeigte Barnabé Nau in einer eindrucksvollen Dragoner-Uniform. Der Vergrößerung lag wohl ein Gruppenbild im Kasernenhof zugrunde, denn sein Gesicht war verschwommen, seine Augen leer. Den Fotografen hatte das wenig gekümmert, mit Buntstiften hatte er die Details des Helms und der Schulterklappen nachgezeichnet.

Als Kind muss ich Geflüster gehört haben. Ich könnte es schwören, wenngleich es später alle abstritten. Wie sonst hätte ich sicher sein können, dass zwischen meinem Großvater und der restlichen Familie eine tiefe Kluft lag? Er wurde mit Respekt behandelt, denn er war der Mann, der Brotverdiener. Die Frauen zogen ihm die Stiefel aus, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, und blieben beim Essen am Tisch stehen, um ihn zu bedienen.

Dennoch war und blieb meine Großmutter eine Prêteux, es war unerheblich, dass sie zum armen Zweig gehörte und als Mädchen auf den Feldern die Kühe der anderen Familien hatte hüten müssen. Es gab noch andere Prêteux, nicht nur im Dorf, auch in den umliegenden Ortschaften. Sie waren allseits bekannt. Ihre Namen standen auf Geschäftsfassaden und alten Grabsteinen.

Welche Umstände trieben Barnabé Nau dazu, sich nach seinem Wehrdienst als Tagelöhner in der Gegend zu verdingen? Auf welchem Tanz, welcher Hochzeit, welcher Beerdigung lernte er meine Großmutter kennen? Niemand hatte das ergründen wollen, und erst als mir zufällig das Familienstammbuch in die Hände fiel, fand ich heraus, dass Clémence, meine älteste Tante, bereits fünf Monate nach der Hochzeit ihrer Eltern geboren wurde.

Im Grunde wurde Nau weder von der Gemeinde noch von den Seinen angenommen, und ich bin mir sicher, dass sein Tod für alle eine Erleichterung war.

Trotz allem hatte es eine Zeit gegeben, in der das Haus den Eindruck eines mehr oder weniger glücklichen Familienlebens vermittelt haben musste. Fünf Töchter und ein Sohn kamen dicht nacheinander auf die Welt, und ich konnte nie herausfinden, wo sie alle schliefen. Die Aussagen sind widersprüchlich, vielleicht weil es sich mit den Jahren geändert hatte und jeder die Erinnerung an einen bestimmten Moment behielt.

Tante Clémence, die Älteste, blieb am längsten im Haus, denn sie half meiner Mutter bei der Erziehung der Jüngeren. Sie war achtzehneinhalb Jahre alt, als sie sich den Traum aller Mädchen im Dorf erfüllen konnte und in die Stadt zog. Sie entschied sich für Cherbourg. Sie war ein ruhiges, geduldiges, geradezu geruhsames Mädchen, und der Sinn stand ihr nach einer gewissen bürgerlichen Ordnung, einer gewissen Gepflegtheit, und es war wohl kein Zufall, dass sie sich in den Dienst eines Arztes stellte.

Béatrice war die zweite, die das Haus verließ, jedoch in die andere Richtung, denn sie entschied sich für Caen, wo sie im Alter von fünfzehn Jahren, noch ebenso mager wie Louise, Brot für eine Bäckerei auslieferte.

Raymonde wiederum, die ständig lachte und der alle Jungen der Gegend auf den Fersen waren, arbeitete zunächst in Bayeux und folgte dann, soweit ich weiß, einem Lebensmittelhändler nach Caen – und der ließ sie dort sitzen.

Von meiner Mutter Antoinette, der vierten, hieß es:

»Die weiß genau, was sie will.«

Sie tanzte aus der Reihe. Schon als Mädchen hatte sie den Ruf, nicht so recht zur Sippe zu gehören. Auch dazu suchte ich später nach Informationen, fand aber nur Bruchstücke der Wahrheit.

»Sie hat nach ihren eigenen Regeln gelebt.«

»Sie war ein Sturkopf. Nie hat sie es eingesehen, wenn sie im Unrecht war.«

Allerdings auch:

»Sie war verschlossen

Wie auch in anderen Familienlegenden lag in alldem sicher ein Funken Wahrheit. Als meine Mutter mit fünfzehn Jahren Saint-Saturnin verließ und nach Cherbourg ging, ähnelte sie wohl Tante Louise, so wie ich sie kannte: mit den gleichen schwarzen Wollstrümpfen, die man damals trug, den rötlichen Haarzöpfen, der etwas zu spitzen Nase und einem Blick, der die Menschen reizte, weil er sich nicht abwehren ließ.

»Sie war schon immer starrsinnig gewesen!«

Auch hier erahne ich ein schwer zu entwirrendes Drama. Doktor Huguet, für den Clémence arbeitete, hatte zwei kleine Kinder und fragte meine Tante, ob sie nicht eine jüngere Schwester habe, die für sie sorgen könnte. Man schickte meine Mutter zu ihnen. Schon wenige Wochen später, an einem Sonntag, den Clémence wie jeden Monat in Saint-Saturnin verbrachte, war Geflüster im Haus zu hören, wurden jedes Mal wissende, bestürzte Blicke ausgetauscht, wenn der Vater auftauchte.

Antoinette Nau, kaum fünfzehneinhalb Jahre alt, hatte ohne jede Vorwarnung ihre Arbeit bei Doktor Huguet aufgegeben, und niemand wusste, was aus ihr geworden war.

Ich erinnere mich dunkel an einen Brief: Der Doktor hatte, um sich seiner Verantwortung zu entziehen, ihren Eltern geschrieben. Nau hatte das Papier entdeckt, das man vor ihm zu verstecken versuchte. Dass er nicht lesen konnte, war ein Familiengeheimnis. Es demütigte ihn so sehr, dass er vorgab, schlecht zu sehen. Zuweilen ließ er sich sogar von einer seiner Töchter einen Aushang im Dorf vorlesen, lernte ihn auswendig und tat dann später so, zum Beispiel in Anwesenheit des Briefträgers, als läse er ihn gerade halblaut.

Was den Brief des Arztes anbetraf, so hatte man den Vater angelogen und, wenn ich mich recht erinnere, behauptet, Antoinette hätte sich den Scharlach eingefangen. Einige Wochen später hatte Clémence ihre Schwester zufällig in einer Hafenkneipe gesehen, wo sie als Kellnerin angeheuert hatte.

Doch in Saint-Saturnin, wo jede Familie ihre Töchter zum Arbeiten schickt, sobald sie alt genug sind, gilt es als unehrenhaft, in einer Kneipe zu arbeiten. Eine Anstellung in einem Saisonhotel, wo man in wenigen Monaten große Mengen an Trinkgeldern einnehmen kann, ist hingegen ein Aufstieg. Auch die Arbeit in einem Restaurant ist zulässig, zumindest solange dort häufig Handelsreisende verkehren, wie im Cheval Blanc oder im Lion d’Or.

Monatelang setzte meine Mutter keinen Fuß nach Saint-Saturnin, und eines schönen Tages reiste meine Großmutter nach Cherbourg, allerdings erfolglos, denn ihre Tochter gab die Stelle als Kellnerin nicht auf.

Fand man sich damit ab? Verzieh man ihr, weil sie die umfangreichsten Geldanweisungen schickte? Hin und wieder kam sie nach Hause, am selben Sonntag wie ihre Schwestern und ihr einziger Bruder Lucien, der mit seinem Zeugnis zwar seine Schulbildung weiter hätte verfolgen können, aber ab seinem fünfzehnten Lebensjahr zum Arbeiten auf einen Bauernhof geschickt wurde.

Auf all das werde ich wahrscheinlich zurückkommen. Ich versuche, einen Zeitraum der Familiengeschichte zu fassen zu bekommen, der meiner Geburt voranging und den ich, so gut ich konnte, nachgezeichnet habe.

Über das Leben meiner Mutter in Cherbourg herrscht bei ihren Schwestern und allen, die ich danach fragen konnte, nur Schweigen, vielsagendes Schweigen.

Ich weiß nicht mehr, welche meiner Tanten sagte:

»Das hatte sie im Blut.«

Ich habe lang gebraucht, um zu verstehen. Der Sinn stand ihr nicht nach einem mehr oder weniger verruchten Dasein, vielmehr hatte sie sozusagen eine angeborene Sehnsucht nach dem Leben, nach dem Ambiente der Kneipen, ich würde sogar behaupten, nach einer bestimmten Art Kneipe, wie man sie an großen Häfen findet. Ich könnte schwören, dass meine Mutter ihren Geruch und die vertrauten Geräusche liebte, die offensichtliche Unordnung, diese gewisse Trägheit, die durch die Luft wabert und alle Gesten und das Leben verlangsamt, diese »Übergänge« ohne Beginn und Ende, diese Männer, die von nirgendwoher kommen und in alle Himmelsrichtungen wieder fortgehen.

Es besteht kein Zweifel daran, dass sie einige dieser Männer in ihrem Mansardenzimmer empfing, doch das speiste sich aus demselben wehmütigen Verlangen, und trotz allem blieb sie scharfsinnig. Ihre Schwestern täuschten sich nicht: Sie hatte immer gewusst, was sie wollte.

Sie wollte eine eigene Kneipe, einen Tresen, hinter dem sie als Wirtin stehen konnte, und ich frage mich, ob sie als Kind wohl auch meinen Großvater in der Dorfschenke abholen musste. Diese dicke Frau, die ich dort sah, musste damals in der Blüte ihrer Jahre gewesen sein und den alkoholgeschwängerten Männern die Stirn geboten haben. Bei uns hingegen mussten Frau und Töchter aufrecht stehen und den Vater bedienen …

Das soll keine Erklärung sein. Höchstens ein beiläufiges Fragezeichen.

Diese Sehnsucht meiner Mutter nach dem Kneipenleben ist in meinen Augen durchaus bedeutsam, weil ich ihr gewissermaßen entsprungen bin – oder zumindest ist ihr die Tatsache geschuldet, dass mein Name wider Erwarten Steve Adams lautet und ich britischer Staatsbürger bin. Außerdem verbrachte ich deswegen einen Teil meiner Kindheit in einem braunen Backsteinhaus an einem Ort namens Tattenham Corner im Süden Londons.

Ich habe darauf verzichtet herauszufinden, ob der Mann namens Gary Adams wirklich mein Vater ist oder ob diese Zuweisung der Vaterschaft nur Teil der Pläne von Antoinette Nau war, »die genau wusste, was sie wollte«.

Er trug die korrekte zweireihige Uniform der englischen Handelsmarine, von dunklem, ein wenig traurigem Blau, und fuhr an Bord eines Schiffs der Cunard Line, das, glaube ich, Queen Victoria hieß, zwischen Southampton und New York hin und her, mit Zwischenhalt in Cherbourg.

Ein Laie hätte in ihm nur einen jungen blonden Marineoffizier mit rosigen Wangen und schüchterner Gestalt gesehen, doch in Cherbourg, wo man sich bestens mit der Schifffahrt auskennt, vor allem in den Kneipen, konnte man auf den ersten Blick erkennen, dass es sich bei ihm um den Second Purser handelte, also um einen Angestellten, der im Büro des Zahlmeisters für Geschäftsbücher und Buchhaltung verantwortlich war.

Später, in Tattenham Corner, lernte ich ihn gut kennen, in seiner zweiten Ehe, und darum vermute ich, dass meine Mutter weniger Erfahrung hatte, als man gemeinhin dachte.

Vielleicht irre ich mich, aber ich bin fest davon überzeugt, dass meine Mutter nie einen Marineoffizier wollte, wie es sich so viele Mädchen erträumen, nur um dann bei jeder Überfahrt in einem beschaulichen Häuschen auf einem Hügel auf ihn zu warten.

Später überquerte ich selbst einmal den Atlantik, und indem ich mich mit den Abläufen auf einem Überseeschiff vertraut machte, glaubte ich, das Ganze verstanden zu haben. Neben all jenen, die sich um den Betrieb des Schiffs kümmern, Kapitän, Offiziere, Matrosen, Mechaniker, gibt es tatsächlich noch ein ebenso zahlreiches Bewirtungspersonal, vom Purser über die Barkeeper und Zimmerdamen bis hin zu den Oberkellnern und Kabinenstewards.

Nun, in Boulogne wie auch in Biarritz und im Mittelmeerraum werden einige kleine Kneipen, Bars und Restaurants von Leuten geführt, die ihre ersten Schritte in Reedereien gegangen sind.

An Bord der Queen Victoria gehörte Gary Adams zu diesem Bewirtungspersonal, wenngleich er niemanden an den Tischen oder an der Bar bediente, und es bestand keinerlei Zweifel daran, dass er mit seinen Ersparnissen eines Tages ein eigenes Unternehmen gründen würde.

Für diese Hochzeit gibt es wohl einen naheliegenderen Grund. Meine Mutter war, wie unsere Papiere bezeugen, schon einige Monate mit mir schwanger. War sie sicher, dass Adams der Vater war? Das bezweifle ich, aber ebenso fraglich war, wer es sonst hätte sein können.

Jedenfalls heirateten sie zwischen zwei Überfahrten in Abwesenheit der Familien Nau und Adams; als Trauzeugen dienten zwei Kameraden meines Vaters und zwei Stammgäste aus der Kneipe, in der meine Mutter arbeitete. Weil Adams der anglikanischen Kirche angehörte und meine Mutter auf dem Papier römisch-katholisch war, heirateten sie nicht kirchlich.

Meine Mutter arbeitete bis zum Tag meiner Geburt weiter und wurde in einer Droschke zum Entbindungsheim gebracht. Währenddessen fuhr mein Vater gerade in Richtung der Küste von New York. In Saint-Saturnin wusste man von nichts und erfuhr die Wahrheit erst Monate später.

Keine andere Zeit im Leben meiner Mutter kam einem bürgerlichen Dasein derart nahe. Sie wohnte in einer kleinen Dreizimmerwohnung nahe der Kathedrale, in der ihr Ehemann sie nur für eine Nacht im Monat, manchmal auch nur für wenige Stunden, besuchen konnte, wenn nicht gerade an seinem Schiff in Southampton die turnusmäßigen Wartungsarbeiten durchgeführt wurden und er ein paar Tage freihatte. Meine Wiege stand neben dem Eichenholzbett, und in der Küche gab es einen echten Ofen, den meine Mutter jeden Morgen polierte, bevor sie mich im Kinderwagen über die Märkte schob.

Sie spielte die Rolle der Mutti, der Ehegattin. War Gary Adams bewusst, dass es ein Schauspiel war und dass kein Ernst, keine Ehrlichkeit in alldem lag?

Er wollte sich mit dem, was er für seine Familie hielt, in einem Vorort von Southampton niederlassen, wo er geboren war und wo auch seine Eltern lebten.

Meine Mutter allerdings wollte ihn mit aller Kraft davon überzeugen, seinen Dienst bei Cunard zu quittieren und mit ihr eine Kneipe oder eine Gaststätte auf dieser oder jener Seite des Ärmelkanals zu eröffnen. Dabei hatte sie einen Vorteil auf ihrer Seite: Adams war der Schifffahrt bereits müde geworden. Einzig seine Stelle im Büro des Zahlmeisters hatte nichts mit Bewirtung oder Limonade zu tun. Mein Vater war kein Mensch der Geselligkeiten, sondern ein Mensch der großen Bücher, der peniblen Zahlenreihen und der Buchhaltung.

Beide hatten sich getäuscht, meine Mutter in der Hoffnung, ihren Mann hinter einen Tresen in Cherbourg oder anderswo verfrachten zu können, er wiederum in der Vorstellung, er könne sich mit Frau und Kindern in einem englischen Vorort niederlassen und von dort jeden Morgen einen Zug zu einem Büro von Cunard nehmen.

Welche Zerwürfnisse hatte es gegeben? War es zu Streit und Auseinandersetzungen gekommen? Wie ich meinen Vater kenne, sei es auch nur ein wenig, ist das unwahrscheinlich, denn er fürchtete sich enorm vor Vehemenz und jedwedem Gefühlsausbruch.

Eines Tages, einige Monate nach meiner Geburt, ging er wie üblich von Bord und fand die Wohnung nahe der Kathedrale leer vor. Seit einer Woche lebte ich bei meinen Großeltern in Saint-Saturnin, wo ich zum Schnuckelchen meiner Tante Louise geworden war, während meine Mutter in Cherbourg das schwarze Kleid und die Kellnerinnenschürze wieder angezogen hatte.

Mein Vater besuchte mich einige Male auf dem Land, zuerst mit meiner Mutter, dann allein, denn nach einem Jahr einigten sie sich darauf, die Scheidung einzureichen.

Mein Vater gab die Schifffahrt auf und nahm eine Stelle am Gesellschaftssitz in der Regent Street an. In dem Restaurant, wo er seine einsamen Mahlzeiten aß, lernte er eine Frau kennen, die wie er in Anstellung arbeitete und ihn um einen Kopf überragte.

Geduldig und ohne viel Aufhebens bekam er, was er wollte: Eine friedliche Ehefrau und wohlerzogene Kinder in einem Haus in Tattenham Corner, das allen anderen in der Straße glich, und fast dreißig Jahre lang fuhr er jeden Morgen zur selben Zeit mit demselben Zug und denselben Weggefährten in Richtung Waterloo Station.

Ist es nicht verblüffend, dass meine Mutter, »die genau wusste, was sie wollte«, ihren Plan nie in die Tat umgesetzt hat?

Aus Gründen, die ich ihr nie entlocken konnte, nahm sie im Alter von fünfundzwanzig Jahren eine Arbeit als Köchin bei einem Untersuchungsrichter auf, nicht in Cherbourg oder einer anderen Hafenstadt, auch nicht in Caen, nicht in Paris, sondern in einem ruhigen, flachen Ort namens Niort, in Deux-Sèvres, mitten im Nirgendwo.

Ausgerechnet Tante Louise, das Küken der Familie, war am Ende diejenige, die in einem Hotel mit Gaststätte arbeitete, und heute, als Witwe von vierundsechzig Jahren, führt sie es noch immer: das Hôtel des Flots in Port-en-Bessin, wenige Kilometer entfernt von ihrem Geburtsort Saint-Saturnin.

Ich komme auf etwas zu sprechen, das mich anscheinend einige Zeit meines Lebens schwer umgetrieben hat, denn oft habe ich die Menschen um mich herum eingehend beobachtet und zu etwas befragt, das ich »die Phasen« nenne; damit meine ich die Beziehungen zwischen einem Individuum oder einem Paar und seiner Umwelt.

Nehmen wir zum Beispiel drei verheiratete Schwestern, die in derselben Stadt wohnen und ein gutes Verhältnis zueinander haben. Nahezu immer verlaufen die Kontakte zwischen den Haushalten nach einem ungleichmäßigen, unvorhersehbaren Rhythmus. Unterdessen treffen sich eine Zeit lang zwei Schwestern und zwei Schwäger mit ihren Kindern an einem oder zwei festen Tagen in der Woche, sie vergessen geradezu den Rest der Familie, und urplötzlich, einige Monate oder gar Jahre später, sind zwei ganz veränderte Schwestern einander nähergekommen.

In diesem Sinne gibt es für ein Kind, das für solche Phänomene empfänglicher ist als ein Erwachsener, nahezu immer eine Tante-Clémence-Phase, eine Tante-Raymonde-Phase, viele weitere noch, und jedes Mal erlebt es ein neues Wohnviertel, neue Gerüche, neue Gewohnheiten.

Verhält es sich später nicht ebenso mit Freundschaften, die plötzlich ohne Grund lang im Schatten liegen, wenn sie sich nicht gleich ganz verflüchtigen?

Wenn dies auf sesshafte Menschen zutrifft, die ihr gesamtes Leben in derselben Straße, derselben Gemeinde verbringen, dann trifft es auf mich in umso größerem Maße zu, denn meine Kindheit war in alle Richtungen durcheinandergewirbelt.

Ich habe nun zunächst von der Nau-Phase berichtet, so nenne ich die Phase von Saint-Saturnin, denn Barnabé Nau spielte dort in meinen Augen die Hauptrolle.

Von der Cherbourg-Phase, den Monaten, die ich in einem Kinderwagen oder einer Wiege verbrachte, als meine Mutter nahe der Kathedrale wohnte und von meinem Vater bei jedem Zwischenhalt der Queen Victoria besucht wurde, kann ich nicht viel berichten, weil ich meine Umwelt zu dieser Zeit noch nicht wahrnahm.

Es gibt auch noch eine weitere Phase, die ich nicht selbst erlebt habe, von der ich aber dennoch berichten möchte, weil ich ihr eine gewisse Bedeutsamkeit zuschreibe: jene zweifelsohne glücklichste Phase im Leben meiner Mutter, die Zeit vor und nach ihrer Ehe, in der sie das schwarze Kleid und die weiße Kellnerinnenschürze trug.

Warum ist dieses Bild meiner Mutter, die ich später doch recht gut kennenlernte, das einzige, das mich Zuneigung für sie empfinden lässt? Die Person, zu der sie hinterher in Niort wurde, in diesem komfortablen, etwas düsteren Haus des Richters Gérondeau, widerte mich stets an, ebenso wie auch ich sie derart anwiderte, dass wir einander zu hassen glaubten.

Ich will gar nicht erst versuchen, das zu erklären, denn ich kenne diejenigen, die Freud gelesen oder von ihm gehört haben und den Ödipuskomplex hervorholen werden. Das lässt sie weise, scharfsinnig wirken, aber letztlich ersetzt es nur ein Fragezeichen durch ein anderes Fragezeichen, ein Unbehagen durch ein anderes Unbehagen.

In Saint-Saturnin betrachtete ich als kleiner Junge vor allem Louise, in deren Zimmer ich wohnte. Ich beobachtete, wie sie lebte, wie sie sich vor meinen Augen an- oder auszog. Indem ich sie betrachtete, entdeckte ich den Unterschied zwischen Jungen und Mädchen, und so manch farbentsättigtes Bild aus der Fahlheit unseres Zimmers bleibt für immer in meine Netzhaut eingebrannt.

Nun, wenn ich mir später meine Mutter in Cherbourg vorzustellen versuchte, wenn ich mir manch geflüstertes Wort konkret vor Augen führen wollte, griff ich ganz selbstverständlich auf Louises Bild zurück, über das ich frei verfügen konnte.

Ist es nicht bemerkenswert, dass Louise sich, teils mit denselben Mitteln, den Traum ihrer Schwester erfüllt hat? In Saint-Saturnin, wenn ich schlief und mein Großvater sternhagelvoll vor sich hin schnarchte, stieg sie hin und wieder durchs Fenster und traf sich mit einem Jungen, der sie auf den Feldern erwartete. In Port-en-Bessin hörte sie damit nicht auf, hatte einen gewissen Ruf weg, was sie jedoch nicht daran hinderte, im Hôtel des Flots als Wirtin anzufangen, nachdem die Frau des Inhabers gestorben war.

Das habe ich Tante Louise nie übel genommen, im Gegenteil, ich fand sie immerzu anregend, auch sexuell. Sie hatte hohle Wangen und eine spitze Nase, und ihr Körper war nichts Besonderes, keineswegs hübsch. Dennoch, wenn sie ausgestreckt und kalkweiß im Halbdunkel lag, war er für mich mit all seinen Geheimnissen, Schwächen und Blutergüssen der Inbegriff einer Frau.

So stellte ich mir meine Mutter vor, wie sie in Cherbourg, gehüllt in ihr schwarzes Kleid, die Gäste einer Kneipe bediente, und wenngleich es ein recht prosaisches Bild ist, empfand ich es als poetisch; es hat mich enttäuscht, irritiert, dass ich in einer gänzlich anderen Atmosphäre wieder auf sie traf, in der sie für einen kaltherzigen, peniblen Herrn die Rolle eines Mädchens für wirklich alles spielte.

Zwischen Cherbourg und Niort liegt eine Kluft, eine tiefe Leere. Etwas Schwerwiegendes ist passiert, etwas von so großer Tragweite, dass meine Mutter mit fünfundzwanzig Jahren von einem auf den anderen Tag die Zukunft hinter sich ließ, die sie sich erträumt hatte und für die sie Gary Adams hatte sitzenlassen.

Niemand, weder sie selbst noch meine Tanten, hat mir je den wahren Grund verraten. Diese Angelegenheit war in der Familie derart tabu, dass, sobald man auch nur eine entfernte Andeutung machte, plötzlich Totenstille herrschte und jemand zu husten begann. Erst seit kurzem denke ich, den Grund zu kennen, und nicht ich bin auf ihn gestoßen, sondern ein Polizeibeamter aus meinem Bekanntenkreis, mit dem ich darüber redete, ohne zu verraten, um wen es mir ging:

»Das war im Jahr 1913?«

»1913 oder Anfang 1914, ich weiß es nicht genau, jedenfalls kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs.«

Dieser Beamte war älter als ich und daher zu dieser Zeit schon im Dienst gewesen.

»Wissen Sie, so wie heutzutage gab es auch damals schon regelmäßig jähe Wellen der Moral. Dann sammelt die Polizei alle leichten Mädchen ein. Damals schickte man sie zum Arzt und schrieb sie ins Register …«

Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber das ist die einzige Erklärung für ihre Flucht aus Cherbourg nach Niort, für den Schutz, den sie im Haus eines Untersuchungsrichters zu finden hoffte.

Womöglich war die Sittenpolizei nicht bis nach Port-en-Bessin vorgedrungen, oder war Tante Louise wohl zu jung? Sie wurde zu der Zeit nicht mehr für mich gebraucht, deshalb ließ man sie fortgehen. Ich blieb allein bei meinem Großvater und meiner Großmutter. Hin und wieder ging ich ins Dorf.

An die Kriegserklärung habe ich keinerlei Erinnerung, ebenso wenig an meine ersten Schulkameraden. Von meiner Mutter hieß es schon seit ihrer Kindheit:

»Die weiß genau, was sie will.«

Und von mir hieß es:

»Der redet zwar nicht so viel, denkt dafür aber umso mehr.«

Manche Menschen bezeichneten mich auch als »Schlitzohr«. Ich war aber kein Schlitzohr, und sonderlich viel gedacht habe ich auch nicht. Vielmehr lebte ich von Bildern, an denen ich mich mitunter stundenlang sattsah: ein schattiger Fleck unter einem Apfelbaum im benachbarten Obstgarten, die zuckende Nase eines essenden Kaninchens, die blaue Schürze meiner Großmutter beim Wäschewaschen. Vielleicht erfasste ich die Dinge, doch ich tat es unbewusst, behäbig, und analysierte nicht.

Später dann, auf dem Lycée, war ich zwar keineswegs ein schlechter Schüler, doch vieles kostete mich große Mühe, nicht nur die Mathematik, sondern jedwedes abstrakte Konzept. Ich brauchte Bilder. Mein ganzes Leben ist eine Art Bilderbuch, und wie in einem Bilderbuch sind manche Seiten bunt, manche schwarz-weiß.

Allgemein gesprochen ist Saint-Saturnin schwarz-weiß, als hätte der Himmel über Jahre hinweg tief und trüb über schlammigen Straßen gehangen, als hätte sich die Regentonne rechts neben der Tür mit tintenschwarzem Wasser gefüllt.

Ein Detail vermag zu verdeutlichen, wie vage meine Erinnerung an Fakten und Zahlen ist. Ich wurde 1908 geboren, das bezeugen meine amtlichen Papiere. 1911 holte mein Vater mich erstmals für einige Wochen zu sich nach England. Er hatte bereits wieder geheiratet, ein erstes Kind bekommen, das etwa drei oder vier Monate alt sein musste, und lebte in jenem Haus in Tattenham Corner, das er bis zum Ende seiner Tage bewohnen würde.

An diese Reise habe ich keine Erinnerung und weiß nur, was mir davon berichtet wurde, insbesondere, dass es der Frau meines Vaters in höchstem Maße unangenehm war, den ganzen Tag mit einem Kind zu verbringen, das sich nur in einer ihr unbekannten Sprache auszudrücken wusste.

Es war Sommer. All meine Reisen nach England fanden in den Sommerferien statt, weshalb Tattenham Corner und London mir in bunten Farben in Erinnerung blieben.

Doch nicht davon möchte ich berichten. Mein Vater blieb für mich ein Seefahrer, ein Marineoffizier, weil er auf Schiffen gearbeitet hatte und noch immer bei Cunard angestellt war, vielleicht auch weil ich eine Fotografie von ihm in Uniform gesehen hatte.

In meiner Kindheit erschütterten zwei geschichtsträchtige Seefahrtkatastrophen die Welt. Die erste, der Untergang der Titanic, ereignete sich im April 1912, ich habe es nachgeschlagen. Da war ich etwa vier Jahre alt. Die zweite, die Torpedierung der Lusitania – sie gehörte übrigens zu Cunard –, ereignete sich während des Krieges, im Mai 1915, als ich sieben Jahre alt war.

In beiden Fällen waren die Zeitungen voll von kitschigen Lithographien und Zeugenberichten, die die Vorstellungskraft ins Wirbeln brachten, über die Musikkapelle, die nicht aufhörte zu spielen, und die Offiziere, die bis zum endgültigen Untergang des Schiffs auf ihren Posten blieben.

Davon war ich derart ergriffen, dass ich eine Zeit lang außerstande war, mir meinen Vater anders vorzustellen als in Uniform und strammer Haltung auf dem von Wellen umspülten Deck.

In meiner Erinnerung jedoch sind die beiden Katastrophen untrennbar miteinander verbunden, und ich weiß nicht, ob es die erste war, die mich im Alter von vier Jahren derart aufgewühlt hat, oder die zweite im Alter von sieben.

In meinem Kopf gab es nur einen gewaltigen Untergang, den mein Vater hätte miterleben können. Das wäre sogar so wahrscheinlich gewesen, dass er mich während des Krieges mehrfach besuchen kam, in Uniform wie auf dem Porträt, jedoch nicht in der Uniform eines Pursers der Cunard Line, sondern in jener der Marine Seiner Majestät.

Im Jahr 1916 oder 1917 erlitt er tatsächlich einmal Schiffbruch unweit der norwegischen Küste; er wurde an Bord eines Lazarettschiffs nach Schottland gebracht und war, als ich ihn drei oder vier Monate später besuchte, noch immer im Genesungsurlaub und ging auf zwei Stöcke gestützt.

Wenn ich mich recht entsinne, unternahm ich während des Krieges drei Reisen nach Tattenham Corner, von denen eine etwas ausgedehnter war, und begann in dieser Zeit Englisch zu sprechen, nachdem ich es bereits ein wenig in der Schule gelernt hatte.

In Frankreich hatte mein Onkel Lucien den Bauernhof, auf den er von seinen Eltern geschickt worden war, verlassen und war der Armee beigetreten, und ich erinnere mich an ihn in einer horizontblauen Uniform.

Mein Großvater war nicht eingezogen worden und hatte mehr zu tun, als er leisten konnte, und auf den meisten Höfen waren es die Frauen, die die Knochenarbeit übernahmen.

Zu dieser Zeit, um 1915 oder 1916, heiratete meine älteste Tante Clémence, die bei dem Arzt in Cherbourg im Dienst stand, einen Werftarbeiter.

Warum hat man mich aus Saint-Saturnin weggeholt und ihr anvertraut? All das wurde heimlich in Briefen besprochen, denn meine Mutter verließ Niort nur selten. Vielleicht ging es dabei um meine Schulbildung? Oder darum, dass mein Großvater mehr und mehr trank und sie sich allmählich vor ihm fürchteten?

Clémence lebte nur für ihren Haushalt, einen Haushalt, der so sehr wie nur irgend möglich ihrer Idealvorstellung eines Haushalts entsprach. Das Haus war konventionell, wie ein Puppenhaus oder ein Katalogmodell, und in einer neuen Straße an der Stadtgrenze gelegen. Vor meinen Augen sehe ich vor allem noch die Küchenanrichte aus Pechkiefernholz, die sie bei einem Schreiner aus der Nachbarschaft hatte anfertigen lassen, und die emaillierten Dosen, mit denen die Regale bestückt waren, in großen Buchstaben beschriftet mit »Mehl«, »Salz«, »Gewürze«, »Kaffee« und so weiter.

In der Schwangerschaft trug sie stolz ihren dicken Bauch vor sich her, im Gesicht hatte sie ein Engelslächeln, und hin und wieder durfte ich meine Hand auf ihr geblümtes Baumwollkleid legen.

»Spürst du das? Er bewegt sich! Dein kleiner Cousin sagt dir hallo.«

Ihr Ehemann hieß Pajon, Louis Pajon, und sollte bald zum Werkmeister ernannt werden. Er war ein eher kleiner und schmaler, aber auch drahtiger und zäher Kerl, der seine Abende mit Handwerksarbeiten im Haus verbrachte und es nur sonntagnachmittags zum Fußballspielen verließ.

Das Kind kam zur Welt, ein Junge, wie meine Tante es vorausgesehen hatte. Die Geburt fand im Haus statt, nur die Hebamme war da, weil keine Zeit blieb, den Arzt zu rufen, und ich hörte alles durch die Zimmertür.

Meine Mutter kam für drei oder vier Tage nach Cherbourg. Wir warfen einander verstohlene Blicke zu, und in dieser Zeit spross meine Überzeugung, dass sie mich nicht liebte.

Ich habe meine Meinung später nicht geändert. Ich glaube, wir waren beide enttäuscht. Meinetwegen? Womöglich. Ich hätte sie gern gefühlvoll, ungeordnet erlebt, wie ich sie mir immer in ihrer Kneipe vorgestellt, wie ich auch Tante Louise kennengelernt hatte. In ihrer Selbstsicherheit wirkte sie wie ein Block, ein Monolith, und ich nahm es ihr übel, dass sie sich verändert hatte.

Kaum angekommen bei ihrer Schwester, die noch im Wochenbett lag, nahm sie die Zügel in die Hand wie eine Frau, die das gewohnt ist und um ihre Kompetenzen weiß. Damals trug man noch lange Kleider. Es waren die letzten ihrer Art, und unter ihrem trug sie ein steifes Korsett, einen wahren Panzer, der mir jedes Verlangen raubte, mich ihr in die Arme zu werfen.

Ich sehe auch die goldene Taschenuhr noch vor mir, die sie an einer Kette um den Hals trug und die die Bewunderung meines Onkels Pajon auf sich zog, denn sie war ein Schmuckstück, das man sich in seiner Welt nicht ohne weiteres auf der Hälfte seines Lebenswegs leistete.

Sie sah sich meine Schulhefte und mein Zeugnis an. Dann sprach sie mit meinem Onkel und meiner Tante über meine Zukunft, ohne mich nach meiner Meinung zu fragen.

Vielleicht hat sie mich ja doch auf ihre Weise geliebt und ich war ihr ein schlechter Sohn?

Ich hatte das Haus in Niort noch nicht gesehen, aber mir schon eine Vorstellung davon gemacht, und aufgrund des Wortes »Richter«, aufgrund der Adresse Place de la Brèche stellte ich mir ein großes eckiges Gebäude aus grauem Stein vor, mit einem Tor und einem Gitterzaun. Im Arbeitszimmer des Untersuchungsrichters vermutete ich sogar Buntglasfenster wie in der Kirche und dunkelroten Teppichboden überall, auch auf der Treppe.

Eine meiner Tanten hörte ich sagen:

»Es gibt zehn große Zimmer für nur zwei Leute. Zum Glück steht Antoinette eine Putzfrau zur Seite.«

Da ich das Häuschen in Saint-Saturnin gewohnt war, wo das Leben auf beschränktem Raum stattfand, hatte ich gleich meine Mutter und ihren Richter vor Augen, wie sie in der Leere der rathausähnlichen Räumlichkeiten umherirrten.

Hatte meine Mutter ihrem Arbeitgeber meine Existenz verheimlicht und sie ihm erst später offenbart? War nicht vielleicht er derjenige, der seine Gründe hatte, mich nicht sehen zu wollen? Ich weiß es nicht. Wir sind uns der Dinge sicher, die uns nur im Entferntesten etwas angehen, und wenn es um das geht, was uns direkt betrifft, können wir uns oft lediglich auf Hypothesen berufen.

Ich könnte die Lücken mit Vermutungen auffüllen, aber lieber lasse ich Monate, ganze Jahre frei. Über meine Schulzeit in Saint-Saturnin habe ich nicht berichtet, denn sie beschränkt sich für mich auf blaue Kittel, auf Schreie in einem Hof mit nur einem Baum und eine Lehrerin mit Mundgeruch, die mich, vermutlich wegen meines gottesleugnerischen Großvaters, auf dem Kieker hatte.

In der Gemeindeschule von Cherbourg bestand der Hof ganz aus Stein, wie auch der Boden in den Klassenzimmern. Es gab keine Bäume, sondern hohe Gitterstäbe, und die Prüfungen schloss ich zumeist mit dem fünft- oder sechstbesten Ergebnis ab.

Während ich bei ihr lebte, bekam Tante Clémence ein weiteres Kind, ein Mädchen diesmal, doch da ich schon größer war, legte sie meine Hand nicht mehr auf ihren Bauch.

Zucker, Schokolade und andere Lebensmittel wurden rationiert; grob gesagt umfassen meine Erinnerungen an den Krieg vor allem das Bild meines Vaters in der Uniform der britischen Marine, meine Aufenthalte in Tattenham Corner, wo meine Stiefmutter ihr drittes Kind erwartete, und dann noch Lucien, meinen jungen Onkel, der bei seinem letzten Militärurlaub Pfeife rauchte.

In Saint-Saturnin bin ich wohl das letzte Mal nach dem Waffenstillstand gewesen, denn gegenüber dem Rathaus stand ein Kriegerdenkmal mit zwölf in Stein eingravierten Namen und einem bronzenen Soldaten mit erhobenem Gewehr.

Mein Großvater hatte sich noch nicht erhängt. Ich war elf Jahre alt, als jene, die über mein Schicksal verfügten, in einem Briefwechsel entschieden, dass ich die zwei Monate der großen Ferien erneut in England verbringen würde.

Tante Clémence vertraute mich einem Schiff von Cunard an, und in Southampton, auf der anderen Seite des Kanals, erwartete mich meine Stiefmutter mit ihren drei Kindern, von denen das älteste nur zwei Jahre jünger war als ich.

Gemeinsam stiegen wir in einen Zug, den ich inzwischen schon gut kannte, und abends kam mein Vater, der sich einen roten Zweifingerbart hatte wachsen lassen, zu uns nach Tattenham Corner.

Der Grenzgänger

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