Читать книгу Tante Jeanne - Georges Simenon - Страница 4

2

Оглавление

Später sollte sie sich noch an kleinste Einzelheiten, an einzelne Bewegungen und Handgriffe erinnern, nicht aber an deren genaue Reihenfolge. Wohl sah sie sich noch in dem etwas diffusen Sonnenlicht um zehn Uhr morgens den Türklopfer betätigen; da war sie noch eine alte Frau gewesen, die nicht mehr konnte, die um Gnade bettelte, einem streunenden Hund vergleichbar, der in Erwartung von Schlägen oder einem Löffel Suppe unentschlossen an der Schwelle eines Bauernhauses stehen bleibt, und vielleicht hatte sie sich noch leerer, noch schwindliger gefühlt, als sie dick und atemlos ihrer kleinen dunkelhaarigen Schwägerin die Treppe hinauf Gott weiß wohin folgte.

Aber warum hatte sie anschließend Louise das Glas Wasser, das Alice gebracht hatte, ins Gesicht geschüttet, anstatt es ihr zu trinken zu geben? Das war ein Reflex gewesen; irgendetwas in dem zuckenden Gesicht von Louise, die die Wand mit ihren Fingernägeln bearbeitete, hatte ihn ausgelöst.

Und die andere, die Schwiegertochter, die unter ihrem schwarzen Kleid nackt zu sein schien – und es bestimmt auch war – und die sich bis zu dieser Stunde weder gekämmt noch gewaschen hatte, hielt sich die Augen mit der linken Hand zu und streckte ihr mit der rechten Hand ein Küchenmesser entgegen. Sobald Jeanne es an sich genommen hatte, rannte Alice zur Treppe und rief:

»Ich kann keinen Toten sehen! Das halte ich nicht aus!«

»Rufen Sie wenigstens einen Arzt.«

»Doktor Bernard?«

»Irgendeinen Arzt. Einen, der schnell hier sein kann.«

Alice war offenbar sofort ans Telefon gestürzt, denn in der ersten Etage hörte man den Säugling weiter unentwegt schreien, was darauf schließen ließ, dass seine Mutter an ihm vorbei direkt ins Erdgeschoss gerannt war. Nachdem sie, wie Jeanne später erfuhr, vom Esszimmer aus telefoniert hatte, hielt es sie nicht länger im Haus, und sie war auf die Straße hinausgelaufen, um dort auf den Arzt zu warten.

Nach dem Guss mit dem kalten Wasser hatte Louises Gesicht einen Ausdruck von Fassungslosigkeit angenommen, der fast komisch wirkte. Einen kurzen Augenblick war Hass in ihren Augen aufgeglommen wie bei einem kleinen Mädchen, das Schläge bekommen hat. Sie hatte den Raum nicht sofort verlassen, war eine Zeit lang gegen die Wand gepresst stehen geblieben. Erst als Roberts Leiche ausgestreckt auf dem Boden lag und Jeanne sich umdrehte, um etwas zu sagen, stellte sie fest, dass sie mit dem Toten allein war.

Sie war ganz ruhig gewesen, hatte nicht das Gefühl gehabt, denken, überlegen, Entscheidungen treffen zu müssen. Sie hatte gehandelt, als habe man ihr vorgeschrieben, was sie zu tun habe. In einer Ecke des Dachbodens hatte hinter einem Stoß Bücher ein alter verrosteter Spiegel mit schwarz-goldenem Rahmen gelegen. Als sie ihn hervorholen wollte, musste sie feststellen, dass er viel schwerer war als vermutet. Mit Müh und Not hatte sie ihn zu ihrem Bruder hinübergezerrt, dabei einen Stapel Bücher umgestoßen und ihn dann schräg vor die violetten Lippen von Robert gehalten.

Unmittelbar darauf waren Schritte im Treppenhaus zu hören gewesen, schnelle, gleichmäßige, beruhigende Männerschritte. Eine Stimme sagte:

»Ich finde den Weg schon. Kümmern Sie sich um das Kind.«

Erst da nahm der Name, den sie gerade eben gehört hatte, vor ihrem inneren Auge Gestalt an. Früher war bei ihnen über lange Jahre ein Kellermeister beschäftigt gewesen. Er hatte eine Knollennase und hieß Bernard, doch aus unerfindlichen Gründen hatten sie ihn als Kinder Babylas genannt. Er war sehr klein, breit und dick, trug immer Hosen, die ihm zu weit waren und bei denen der Hosenboden bis auf die Schenkel hing, wodurch seine Beine noch kürzer wirkten. War Babylas nicht der Name eines dressierten Schweins gewesen, das sie mal im Zirkus gesehen hatten?

Er hatte am Stadtrand in der Nähe von Chêne Vert gewohnt und hatte sechs oder sieben Kinder gehabt, die ihn manchmal abends nach der Arbeit abholen kamen.

Als sie den Doktor sah, wusste sie, dass er eins dieser Kinder gewesen war. Bei ihrem Weggang war er noch ein kleiner Junge gewesen. Sein Vorname lag ihr auf der Zunge.

»Ich glaube, er ist tot, Doktor. Ich hielt es für besser, ihn vom Strick zu schneiden. Dabei konnte ich allerdings nicht verhindern, dass er mir wegrutschte und sein Kopf auf dem Fußboden aufschlug. Aber ich glaube, das ist nicht mehr wichtig.«

Er musste um die vierzig Jahre alt sein, und im Gegensatz zu seinem Vater war er groß und mager, hatte aber die gleichen blonden Haare wie Babylas. Er kniete sich auf den Fußboden und stellte seine Arzttasche neben sich. Obwohl er sich nicht um Jeanne kümmerte, sie nicht einmal gegrüßt hatte, wagte sie zu fragen:

»Sie sind doch Charles Bernard, nicht wahr?«

Der Name war ihr plötzlich eingefallen. Der Arzt nickte und warf ihr, während er sein Stethoskop ansetzte, einen schnellen Blick zu.

»Ich bin seine Schwester, Jeanne«, erklärte sie. »Ich bin heute Morgen angekommen, genauer gesagt gestern mit dem Abendzug, wollte aber hier nicht stören und habe im Anneau d’Or übernachtet.«

Plötzlich kam ihr in den Sinn, dass sie ja schon am Vorabend bei ihrem Bruder hätte anklopfen können und ihn dann noch lebend angetroffen hätte. In Gedanken sah sie wieder den halb erleuchteten Speisesaal vor sich und Raphaël, der ihr zu trinken gebracht hatte, und sie bekam ein schlechtes Gewissen, weil sie an die beiden Glas Cognac denken musste.

»Da ist nichts mehr zu machen«, stellte der Doktor fest und richtete sich auf. »Er ist schon länger als eine Stunde tot.«

»Er ist bestimmt hier heraufgestiegen, als meine Schwägerin auf dem Weg zur Kirche war.«

Das Babygeschrei war immer noch zu hören. Der Doktor runzelte unmerklich die Stirn und warf einen Blick in Richtung Treppenhaus.

»Louise war eben noch mit mir hier oben«, erklärte Jeanne. »Sie hat einen schweren Schock.«

»Wir gehen besser nach unten. Wissen Sie, ob er eine Nachricht hinterlassen hat?«

Von dem Zettel, unter dem Leichnam, war nur eine Ecke zu sehen. Es gelang ihr, ihn so weit hervorzuziehen, dass man das Wort »Verzeihung« lesen konnte.

Charles Bernards Verhalten überraschte sie zunächst nicht, weil das Geschrei in der ersten Etage, das durch das Echo von den Hauswänden doppelt und dreifach zurückhallte, zu sehr an ihren Nerven zerrte.

Der Arzt war ein kühler, beherrschter Mann mit gemessenen Bewegungen und zurückhaltend in seinen Gefühlsäußerungen. Er war zwar ein Sohn von Babylas, hatte die ganze Familie gekannt, als Kind im Hof des Hauses gespielt und sich bestimmt wie die anderen hinter den Weinfässern versteckt, aber er hatte sich eben überhaupt nicht überrascht gezeigt, dass Robert Martineau sich auf seinem Dachboden erhängt hatte. Die knappe letzte Nachricht des Toten hatte ihn nicht mit der Wimper zucken lassen. Seine Miene hatte sich nur kaum erkennbar verfinstert, wie bei einem Menschen, der ein unglückliches Ereignis vorausgesehen hatte, das nun eingetroffen war.

Hatte er sich denn nicht gewundert, Alice auf der Straße und Louise nicht bei ihrem Mann zu finden?

Es überraschte ihn offensichtlich auch nicht, Jeanne nach so vielen Jahren und unter derart ungewöhnlichen Umständen wiederzusehen.

Er wiederholte:

»Gehen wir nach unten.«

In der ersten Etage öffnete er, ohne zu fragen, die Tür des Zimmers, aus dem das Kindergeschrei kam. Die Mutter lag bäuchlings auf dem ungemachten Bett, hatte das Gesicht in die Kissen vergraben und die Finger in die Ohren gesteckt, während sich das Kind, das an die Gitterstäbe seines Bettes gebunden war, die Lunge aus dem Hals schrie.

Jeanne nahm den Kleinen, ohne zu fragen, hoch und legte ihn an ihre Schulter. Das Schreien ließ nach, wurde zum Röcheln und schließlich zum Seufzen.

»Ist er krank, Doktor?«

»Als ich vor drei Tagen hier war und ihn mir angesehen habe, war er es nicht. Ich sehe keinen Grund, dass er es heute sein sollte.«

Da der Kleine nicht mehr schrie, beruhigte sich nun auch die Mutter, hob erstaunt den Kopf und blinzelte mit einem Auge unter ihren zerzausten Haaren hervor. Dann sprang sie mit einem Satz vom Bett und schüttelte den Kopf, um ihre Mähne wieder in Ordnung zu bringen.

»Bitte entschuldigen Sie, Doktor. Ich weiß, ich bin eine schlechte Mutter. Ich bekomme es jeden Tag zu hören. Ich kann nichts dafür. Ich kann ihn einfach nicht schreien hören! Als ich eben heraufkam, hätte ich ihn am liebsten an die Wand geknallt. Stellen Sie sich vor, das geht nun seit heute Morgen so. Ich habe alles getan, alles versucht.«

Sie blickte Jeanne erstaunt und misstrauisch an.

»Jetzt, wo ihn jemand anders auf den Arm genommen hat, ist er ruhig. Ich habe es Ihnen immer gesagt, aber Sie wollten mir ja nicht glauben. Er kann mich nicht leiden.«

Der Blick von Jeanne traf sich mit dem des Arztes, und beide wurden etwas verlegen, als ihnen bewusst wurde, dass sie beide dasselbe dachten.

»Wo ist Ihre Schwiegermutter?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe sie hinuntergehen und unten herumkramen hören, dann ist sie wieder heraufgekommen, hin und her gegangen und hat die Türen auf- und zugemacht. Ich glaube, sie hat sich eingeschlossen, was bedeutet, dass sie für die nächsten Stunden keinen sehen will.«

Zwischen dem Doktor und Alice schienen Andeutungen zu genügen, als sprächen sie über bekannte Dinge, die in keiner Weise ungewöhnlich oder merkwürdig waren.

»Waren Sie im Haus, als Ihr Schwiegervater zum Dachboden hinaufgegangen ist?«

»Ich war hier. Das Kind schrie ja schon. Es schreit seit seiner Flasche heute früh, obwohl ich ihm seinen Schnuller gegeben habe. Ich habe Schritte auf der Treppe gehört und mich nicht weiter darum gekümmert. Dann kam meine Schwiegermutter von der Messe zurück und hat im ganzen Haus nach ihrem Mann gerufen. Gleich danach war der Türklopfer zu hören, und …«

Sie sah Jeanne an und suchte nach einem passenden Wort. Sie wollte offensichtlich nicht »Madame« sagen, aber sie traute sich auch nicht, sie beim Vornamen zu nennen, und an das Wort »Tante« hatte sie sich noch nicht gewöhnt.

»… und sie ist gekommen.«

»Die Polizei muss verständigt werden.«

»Warum? Weil er sich umgebracht hat?«

»Das verlangt das Gesetz. Ich werde den Kommissar von hier aus anrufen und auf ihn warten. Er wird mich bestimmt sprechen wollen.«

»Im Schlafzimmer meiner Schwiegereltern steht ein Telefon.«

Sie stockte.

»Ich habe vergessen, dass sich meine Schwiegermutter eingeschlossen hat.«

»Ich werde von unten telefonieren. Bemühen Sie sich nicht. Ich weiß, wo der Apparat steht. Es wäre mir lieb, wenn Sie Madame Martineau inzwischen dazu überreden könnten, mit mir zu sprechen.«

Zu Jeanne, die ihm folgte, sagte er nichts. Sie folgte ihm mit dem Kind auf dem Arm, das sich beruhigt hatte und schon fast eingeschlafen war, was weder sie noch den Doktor verwunderte.

Sie erkannte das Haus nicht wieder. Nicht nur die Einrichtung der Zimmer und die Möbel waren anders, man hatte sogar Zwischenwände eingerissen. Jeanne hatte immer noch ihren Hut auf, nahm ihn erst im Esszimmer ab und legte ihn auf den Tisch, alles mit einer Hand, um das Kind nicht zu wecken.

»Hallo! Ist dort der Polizeikommissar? Sind Sie es, Marcel? Ich vermute, der Kommissar ist heute Morgen nicht im Büro. Können Sie mir sagen, wo ich ihn erreichen kann? Hier ist Doktor Bernard.«

Es war eigenartig, den kleinen Bernard von früher jetzt mit dieser ruhigen Überlegenheit sprechen zu hören. Jeanne hatte ihn nur in kurzen Hosen gekannt, die aus den Hosen seines Vaters gemacht wurden. Er wohnte sicher in einem schönen neuen Haus. Ob er verheiratet war? Sie nahm an, dass er Kinder hatte und wie Louise gerade von der Messe nach Hause gekommen war, als Alice angerufen hatte.

»Ich werde versuchen, ihn zu erreichen, danke.«

Er wählte ruhig eine andere Nummer.

»Madame Gratien? Hier spricht Doktor Bernard. Danke. Und Ihnen? Ich habe gerade erfahren, dass der Kommissar bei Ihnen ist. Ich hätte ihn gern kurz gesprochen. Entschuldigen Sie die Störung, aber es ist wichtig. Ich danke Ihnen. Ich warte.«

Er behielt den Hörer am Ohr und wandte sich jetzt zum ersten Mal an Jeanne. Warum war sie davon so beeindruckt? Weder in seinem Blick noch in seiner Stimme lag etwas Ungewöhnliches. Er legte keinen Nachdruck in seine Worte, um seine Absichten zu unterstreichen. Was er sagte, klang ganz normal, und trotzdem schien es an diesem Morgen eine besondere Bedeutung zu haben. Sie glaubte, die ganze Tragweite, das ganze Gewicht herauszuhören, und sie wusste, noch während sie antwortete, dass ihre Antworten über das unmittelbar Gesagte hinaus verstanden würden.

Was er sie fragte, schien ganz alltäglich.

»Sind Sie für länger hierher zurückgekommen?«

»Ich weiß es noch nicht genau. Heute Morgen wusste ich es noch gar nicht.«

»Haben Sie die übrige Familie schon gesehen?«

»Nur meine Schwägerin Louise und ihre Schwiegertochter. Sie wirken beide sehr mitgenommen und belastet, nicht wahr?«

Nach kurzem Zögern setzte sie hinzu:

»War mein Bruder auch zu stark belastet?«

Der Doktor konnte nicht mehr antworten, denn inzwischen war der Kommissar, der im Garten unten am Fluss beim Fischen gewesen war, an den Apparat gekommen.

»Hallo! Hansen! Hier ist Bernard. Sehr gut, danke. Ich rufe Sie vom Hause Martineau an. Robert Martineau hat sich heute Morgen auf dem Dachboden erhängt. Er ist tot, ja. Als ich kam, war es schon zu spät. Nein, da war nichts mehr zu machen. Wegen seines Gewichts ist ein Halswirbel gebrochen. Das wäre mir sehr lieb, wenn Sie es ermöglichen könnten. Ich warte hier auf Sie und schreibe inzwischen meinen Bericht.«

Jeanne stellte ihre Frage, die ihr nun müßig vorkam, nicht noch einmal. Auch er sagte nichts mehr zu ihr. Der Kleine schlief mit friedlichem Gesicht und schniefte dabei nur noch ein bisschen.

»Sie sollten wohl besser versuchen, Ihre Schwägerin dazu zu bringen, Ihnen die Tür zu öffnen.«

»Befürchten Sie etwas?«

Er gab auch auf diese Frage keine Antwort, aber er schien nicht beunruhigt, sondern bemerkte nur:

»Der Kommissar wird sicher mit ihr sprechen wollen. Das wird sich nicht vermeiden lassen.«

Wie die meisten Türen des Hauses stand auch die Küchentür offen. Die Stille in der Küche fiel ihm auf, und er fragte:

»Ist das Mädchen nicht da?«

»Sie ist gestern ohne ein Wort weggegangen. Heute Morgen wurde eine andere erwartet, die aber nicht gekommen ist.«

Er nahm es kommentarlos hin. Er zog einen Block aus der Tasche, schraubte den Füllhalter auf und begann an einer Ecke des Tisches zu schreiben.

»Vielleicht schläft das Kind weiter, wenn Sie es hinlegen. Sie sollten es versuchen. Es ist schwer.«

Jeanne ging zum zweiten Mal zur Treppe, stieg langsam und vorsichtig hinauf; sie fühlte den kleinen Körper warm und feucht an ihrer Schulter ruhen. In der ersten Etage machte sie sich nicht die Mühe anzuklopfen. Alice hatte das Fenster, das zur Uferstraße lag, geöffnet und lehnte sich hinaus, ihr kurzes schwarzes Kleid zwischen die Schenkel geklemmt. Sie rauchte eine Zigarette, deren Rauch man über ihrer Mähne aufsteigen sah.

Jeanne legte das Kind vorsichtig in sein Bettchen. Alice drehte sich auf das Geräusch hin um und maulte:

»Haben Sie schon genug von ihm? Wenn Sie ihn jetzt hinlegen, wird er aufwachen und wieder laut zu schreien anfangen.«

»Psst!«

»Wie Sie wollen. Also, meine Schwiegermutter antwortet nicht. Sie können ja mal versuchen, ob Sie sie zur Vernunft bringen. Vielleicht haben Sie mehr Glück.«

»Weint sie?«

Die Göre zuckte mit den Schultern. Sie war wirklich mehr Göre als Frau, hatte den unfertigen und biegsamen Körper einer Halbwüchsigen und einen wirren Haarschopf, der ihr immerzu über die Augen fiel und den sie mit einer ungeduldigen Bewegung zurückwarf, was wie ein Tick wirkte.

»Sie werden sehen, dass Madeleine erst wieder hier auftaucht, wenn alles vorbei ist!«

Jeanne konnte Madeleine nicht zuordnen. Es musste die Tochter von Louise sein, die sie bereits erwähnt hatte. Sie hatte außerdem von einem Sohn gesprochen. Weder die Tochter noch der Sohn waren zu Hause.

Sie klopfte an die Tür eines Zimmers, das das Zimmer ihrer Eltern gewesen war, das Zimmer, in dem, wie ihr plötzlich einfiel, sie und ihre Brüder zur Welt gekommen waren.

»Louise. Ich bin’s, Jeanne. Doktor Bernard lässt dir sagen, du solltest jetzt unbedingt aufmachen. Der Kommissar wird gleich hier sein und mit dir sprechen wollen.«

Zunächst nur ein Schweigen. Ein kaum hörbares Knacken aus der Richtung, wo das Bett stand.

»Hör zu, Louise. Es geht nicht anders. Du musst dich zusammennehmen und zeigen, dass du …«

Es war ihr gar nicht bewusst, dass sie angefangen hatte, ihre Schwägerin zu duzen, bloß weil sie ihre Schwägerin war.

»Es werden sicher auch bald Leute kommen und dir ihr Beileid aussprechen wollen. Deine Kinder werden nach Hause kommen.«

Ein bitteres Lachen war zu hören.

»Mach mir nur einen Augenblick auf, damit ich mit dir reden kann …«

Louise musste wie eine Katze auf Zehenspitzen durch das Zimmer geschlichen sein, denn Jeanne, die das Ohr an der Tür hatte, hörte kein Geräusch und war völlig überrascht, als die Tür plötzlich aufgerissen wurde.

»Was willst du von mir?«

Sie war nicht wiederzuerkennen. Die Haare waren aufgelöst, das Gesicht wirkte noch verfallener, noch verhärmter, das schwarze Kleid stand offen, ließ die Unterwäsche und den Ansatz des weißen schlaffen Busens sehen.

Sie richtete einen harten bösen Blick auf Jeanne, hatte einen Zug sadistischer Genugtuung um ihren Mund und zischte ihr aus nächster Nähe, so nahe, dass es fast ein Anspucken war, entgegen:

»Was suchst du hier, he? Wage, das zu sagen! Wage bloß, das zu sagen!«

Jeanne durchschaute sie schlagartig, aber sie rührte sich nicht, antwortete nicht. Ihre Entdeckung ließ sie erstarren, machte sie stumm, widerstandslos. Sie hatte den Geruch erkannt. Sie erkannte auch die Augen, die sie zu verschlingen schienen, dieses gequälte Gesicht, diese abgehackten und gleichzeitig schlaffen Bewegungen.

»Soll ich dir sagen, was du hier suchst? Du bist gestern gekommen, nicht wahr? Und bestimmt hat dein armer Bruder das gewusst. Vielleicht hast du ihm geschrieben, um deine Ankunft mitzuteilen, oder du hast ihn angerufen. Vielleicht ist auch jemand hier gewesen und hat ihm gesagt, er hätte dich in der Stadt getroffen. Spiel bloß nicht die Unschuldige! Du hast schon verstanden! Du hast mich sehr gut verstanden. Du weißt ganz genau, dass du es bist, du mit deinem Heimkehrergesicht, die ihn getötet hat!«

Sie schien sich wieder auf ihr ungemachtes Bett zubewegen zu wollen und suchte, ohne ihre Schwägerin anzusehen, nach einem Wort, das geeignet war, ihre Gefühle auszudrücken. Sie fand es, ein ganz gemeines, und stieß es zwischen den Zähnen hervor:

»Du Aas!«

Dann, als ob ihr das neue Kraft verliehen hätte und ihr jetzt alles egal wäre, fuhr sie wütend fort:

»Nur keine Hemmungen, Jeanne! Verlange das Kassenbuch! Worauf wartest du? Verkauf du nur alles! Du hast recht. Dir gehört ja sicher alles hier. Stell dir vor, das hab ich schon immer gewusst! Ich bin nämlich eine Frau und habe Antennen. Ich wusste, dass du eines Tages wiederkommen würdest mit diesem Gesicht da. Wenn du dich auch tot gestellt hast, ich bin nicht drauf reingefallen. Und übrigens hat dich jemand gesehen da unten in einem von diesen Drecksländern, wo du gelebt hast. Also, verlange deine Erbschaft. Verlange alles, was dir zusteht! Stell deine Forderungen! Du weißt ja, dass du das Recht dazu hast. Dein Bruder hat sicher nicht den Mut gehabt, dir beizubringen, dass hier nicht mehr viel zu holen ist, dass vielleicht nur noch Schulden da sind. Aber heute gehört mein Bett noch mir, und kein Mensch wird mich daraus vertreiben. Sag das dem Kommissar. Erzähl ihm, was du willst, aber lass mich verdammt noch mal in Ruhe, hörst du, lass mich in Ruhe!«

Sie hatte ihr die letzten Worte mit überschnappender Stimme zugeschrien und die Tür mit lautem Knall hinter sich zugeworfen. Jeanne bekam sie an die Stirn und fasste sich unwillkürlich an die schmerzende Stelle.

Als sie sich umwandte, stand Alice ruhig und mit spöttischer Miene hinter ihr, als ob sie entweder nichts gehört oder derartige Szenen schon allzu oft erlebt hätte. Sie steckte sich eine Zigarette an ihrer eben aufgerauchten an, zerdrückte die Kippe mit ihrem Absatz und sagte:

»Sie werden sich daran gewöhnen. Morgen hat sie keine Ahnung mehr davon, oder sie bittet Sie heulend um Verzeihung.«

»Wann bekommt der Kleine seine nächste Mahlzeit?«

»Sie kennen sich da aus? Ich dachte, Sie hätten keine Kinder gehabt. Er bekommt jetzt dreimal am Tag zu essen. Um zwölf das zweite Mal.«

»Was bekommt er?«

»Seine Flasche. Die Milch ist im Kühlschrank. Dann Gemüsebrei. Wollen Sie sich darum kümmern?«

Als Jeanne nach unten ging, hielt das Auto des Kommissars vor der Toreinfahrt, und sie öffnete ihm. Der Mann stammte nicht aus der Gegend. Es gab hier keine Familie seines Namens. Er hatte ungefähr das Alter des Arztes und hielt sie offenbar für eine Hausangestellte.

»Ist Doktor Bernard noch da?«, fragte er im Vorbeigehen.

»Er wartet im Esszimmer auf Sie.«

Sie ließ die beiden taktvoll allein und ging, vielleicht weil sie nicht wusste, wohin mit sich, in die Küche. Das war jetzt eine moderne Küche, so wie man sie in Prospekten findet, mit schneeweißen Vitrinen und elektrischen Geräten, die in nichts mehr an die Küche von früher erinnerte. Sie öffnete den Kühlschrank und inspizierte unwillkürlich den Inhalt. Als sie ein Roastbeef entdeckte, das schon in seinem Speckmantel dalag, warf sie einen Blick auf die Küchenuhr und drehte nach kurzer Überlegung die Knöpfe des elektrischen Herdes.

Die Spülkammer dahinter, die zum Hof lag, gab es noch, aber die Wände waren weiß lackiert. Obst und Gemüse lagen in weißen Regalen.

Die beiden Männer stiegen die Treppe hinauf. Ihr Stimmengemurmel verlor sich im Treppenhaus. Im Spülbecken sah sie Tassen mit Resten von Milchkaffee, schmutzige Teller, Besteck. Ihr fiel ein, dass auch in den Zimmern Geschirr herumgestanden hatte und dass sie vergessen hatte, es mit herunterzunehmen.

Jeanne handelte instinktiv, überlegte nicht lange, redete sich selbst gut zu, doch ihr Gesicht war traurig geworden. Hinter der Tür hing eine blaue Schürze. Sie nahm sie, streifte sie sich über den Kopf und band sie im Rücken zusammen. Ihre kurzen Ärmel brauchte sie nicht aufzukrempeln. Das Wasser aus dem Hahn wurde fast sofort warm, dann sehr heiß. Ohne lange zu suchen, fand sie Seifenpulver und Wischlappen, während der Wasserdampf schon die Scheiben beschlug. Das Klappern der Teller, die aneinanderschlugen, war ihr ein vertrautes Geräusch, und als sie etwas später jemanden an der offenen Küchentür husten hörte, war sie ganz überrascht.

Es war der Polizeikommissar.

»Bitte entschuldigen Sie wegen vorhin. Ich wusste nicht, wer Sie sind. Erlauben Sie, dass ich Ihnen mein Beileid ausspreche. Doktor Bernard sagte mir, es sei vielleicht ratsamer, Madame Martineau heute Morgen nicht zu stören, und ich verstehe das. Würden Sie ihr bitte mein Beileid übermitteln und ihr sagen, dass ich tun werde, was in meinen Kräften steht, um die Formalitäten auf ein Minimum zu reduzieren.«

»Soll der Tote oben bleiben?«

»Das ist nicht unbedingt nötig, da ja alles klar ist. Eine Autopsie steht wohl nicht zur Debatte. Sie können also umgehend dem Beerdigungsinstitut Bescheid sagen. Ich glaube«, sein Blick fiel auf das dampfende Geschirr, das sie wusch, »das sollte in Anbetracht der Jahreszeit als Erstes getan werden.«

Der Doktor stand unbeweglich hinter ihm mit der Miene eines Mannes, der gelassen zur Kenntnis nimmt, was geschieht.

»Ich glaube nicht, dass Ihre Schwägerin mich heute noch braucht«, sagte er. »Wenn es aber doch nötig sein sollte, können Sie mich den ganzen Tag zu Hause erreichen.«

Jeanne antwortete nur:

»Danke.«

Es war halb zwölf, als der Vertreter des Beerdigungsinstituts, begleitet von zwei Männern, vorsprach. Um ihr Gewissen zu beruhigen, klopfte Jeanne an die Tür ihrer Schwägerin, erhielt aber keine Antwort. Sie hatte vergessen, die Schürze wieder abzubinden. Ihre Hände rochen nach Zwiebeln.

»Es wäre bestimmt das Beste, ihn im blauen Zimmer aufzubahren«, sagte sie, nachdem sie einen Blick in die erste Etage geworfen hatte.

Alice, die ihr gefolgt war, murmelte schlecht gelaunt:

»Das ist das Zimmer von Mad.«

»Und das daneben?«

»Das von Henri.«

»Einer von beiden muss im zweiten Stock schlafen. Wir können den Toten nicht da oben lassen.«

»Das müssen Sie mit ihnen ausmachen. Ich schlafe jedenfalls heute Nacht nicht in diesem Haus.«

Jeanne antwortete nicht. Die beiden Leichenträger holten den Toten herunter und schlossen sich mit ihm ein.

Auf der anderen Seite der Brücke war ein breites Band über die Straße gespannt worden, und auf dem Trottoir hatte sich eine Menschenmenge versammelt, wie man durch die geöffneten Fenster deutlich sehen konnte. Die Terrasse des Anneau d’Or quoll über, und Raphaëls Lockenkopf tauchte einen Augenblick in der Sonne auf. Es fand ein Radrennen statt. Alles wartete auf die ersten Fahrer, die oben an der Steigung schon angekündigt wurden.

»Wo ist Madeleine denn hingegangen?«, fragte Jeanne.

»Glauben Sie, dass sie mir ihre Geheimnisse anvertraut?«

»Wann ist sie weggegangen?«

»Heute früh, kurz bevor der Kleine aufgewacht ist. Es war so gegen sechs Uhr.«

»Ganz allein?«

»Bestimmt nicht. Sie ist mit dem Auto abgeholt worden. Ich habe es am Quai hupen hören, und danach ist sie hinuntergegangen.«

»Wer war das?«

»Freunde.«

»Was für Freunde?«

»Jungen auf jeden Fall. Sie können sie fragen, wenn sie wieder da ist. Ich weiß nur, dass sie Shorts anhat, denn es fehlt kein Kleid in ihrem Schrank.«

»Besteht die Möglichkeit, dass sie bald zurückkommt?«

»Eher morgen früh. Ich wette, sie ist zum Baden nach Royan gefahren.«

»Und ihr Bruder?«

»Sie haben doch gehört, was seine Mutter Ihnen gesagt hat. Henri hat wieder einmal das Auto geklaut. Ich weiß nicht, wie er den Schlüssel gefunden hat. Sein Vater hatte ihn versteckt.«

»Wie alt ist er?«

»Henri? Neunzehn.«

»Und Madeleine?«

»Sie als ihre Tante wissen das nicht? Allerdings …«

Sie biss sich auf die Lippen, doch so, dass es für alle deutlich sichtbar war.

»Allerdings was?«

»Nichts. Mich geht das nichts an. Wenn ich richtig verstanden habe, sind Sie hierhergekommen, um im Haus zu wohnen?«

Sie starrte auf die blaue Schürze ihrer Tante, wartete indes die Antwort nicht ab, weil sie ihr offenbar von vornherein klar war, und setzte hinzu:

»Und ich, falls Sie das auch wissen wollen, bin vor einer Woche zwanzig geworden und habe genau fünf Monate mit meinem Mann zusammengelebt. Vielleicht begreifen Sie, was das heißt?«

»Ich glaube, das Kind ist aufgewacht.«

»Verdammt! Immer das Kind! Vielleicht gehen besser Sie hinauf. Sie haben mehr Glück mit ihm als ich.«

»Ich mache unten seine Mahlzeit fertig, und unterdessen kümmerst du dich um ihn. Hast du verstanden?«

Sie war noch nie so ruhig gewesen, und ihre Nichte öffnete nicht einmal den Mund, um zu protestieren. Sie begnügte sich damit, ihr hinter ihrem Rücken eine Grimasse zu schneiden und sich eine Zigarette anzuzünden, bevor sie die Treppe hinaufging.

Als Jeanne den Ofen öffnete, ertönte es wie Musik in der Küche. Das Brutzeln der Soße, mit der sie den Braten begoss, klang wie das nächtliche Grillenzirpen auf den Wiesen. Die Deckel klapperten auf den Töpfen, aus denen der Dampf entwich.

»Da haben wir’s! Fang nur an zu schreien, du unerträgliches Wesen! Sobald du deine Mutter siehst, heulst du! Wenn du nicht gleich still bist, bringe ich dich zu deiner Tante Jeanne …«

Die lächelte nicht, runzelte nicht die Stirn, tupfte sich nur mit einem Zipfel ihrer Schürze den Schweiß aus dem Gesicht.

Der Vertreter des Beerdigungsinstituts erschien mit einem Heft in der Hand.

»Ich will Sie nicht drängen. Ich verstehe Ihre Situation nur allzu gut, aber es geht um die Liste …«

Sie verstand nicht.

»Es müsste eine beträchtliche Menge Trauerkarten verschickt werden. Monsieur Martineau war sehr bekannt, er wurde hier in der Gegend sehr geschätzt. Wegen der Kunden könnte ich mich morgen mit dem Buchhalter verständigen.«

»Ich werde das mit meiner Schwägerin besprechen.«

»Sie sollte nicht zu lange damit warten. Was die kirchliche Frage anbelangt …«

»War mein Bruder praktizierender Katholik?«

»Das glaube ich nicht. Nein. Aber er war bestimmt ein guter Christ.«

Der Mann war noch sehr jung und gab sich große Mühe, ein ernstes Gesicht zu machen.

»Ich denke, Madame Martineau wird eine Absolution am Ende der Totenmesse wünschen.«

»Ich dachte, das ist nicht möglich. Die Kirche gestattet bei einem Selbstmord nicht …«

»Verzeihung, aber ich kenne das Problem. Im Prinzip haben Sie recht. Es sind aber auch gewisse andere Punkte zu berücksichtigen, und ich weiß, dass sie wohlwollend geprüft werden. Es ist doch möglich, dass ein Mensch, der Hand an sich legt, in dem Augenblick, in dem er das tut, krank ist, krank an Körper und Geist. In einem solchen Fall zeigt sich die Kirche verständnisvoll. Ebenso wie im gegenteiligen Fall, ich meine, wenn der Tod nicht sofort eingetreten ist – und dazu genügen einige Sekunden – und wenn in dieser Zeit die Tat voll und ganz bereut wurde. Entschuldigen Sie die technischen Einzelheiten. Wenn Sie erlauben, werde ich den Pfarrer mit der gebotenen Vorsicht darauf ansprechen und Sie seine Meinung wissen lassen.«

»Ich danke Ihnen.«

Sie vergaß, ihn hinauszubegleiten. Die beiden Leichenträger warteten unter dem Torbogen. Jeanne ging zur Tür und schob mit einem längst vergessen geglaubten Handgriff wie früher den Riegel vor.

Als sie ins Haus zurückging, fühlte sie ihre Glieder schwer werden und eine große Müdigkeit in sich aufsteigen. Sie blieb einen Augenblick mitten in der Küche stehen, als wüsste sie nicht, was sie tun sollte. Auf einem Regal standen Gewürze und Flaschen nebeneinander, die zur Zubereitung von bestimmten Gerichten benutzt wurden. Auf dem Etikett einer Flasche stand Madeira in goldenen Buchstaben, und Jeanne machte schon eine Bewegung, hielt aber noch rechtzeitig inne. Sie brauchte nur an die Theke im Bahnhof von Poitiers zu denken und an Raphaëls blonden Haarschopf. Dann sah sie wieder die dünne Gestalt von Désirée in der schummrigen Beleuchtung des Speisesaales vor sich und glaubte ihre monotone Stimme zu hören, mit der sie ihre Geschichten erzählte.

»Ich habe drei Kinder gehabt, zwei von ihnen habe ich verloren …«

Ihr Zimmer, ihr Bett, in das sie sich verkrochen hatte, solange es ging, in dem sie ihren eigenen Altweibergeruch geatmet hatte, der Lärm des Hotels, der zu ihr heraufdrang, die Autos auf der Straße, das Türenschlagen, die Wasserhähne, die Toilettenspülungen, die Frauen in Shorts, die durchs Haus lärmten, und die Kinder, mit denen jemand schimpfte.

Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass ihr der Rücken wehtat. Sie war eben nicht mehr ans Treppensteigen gewöhnt. Sie hatte Stunden im Zug verbracht. Das Schiff war in einen Sturm geraten, und Jeanne war seekrank geworden. Sie hatten zu sechst in einer Kabine dritter Klasse gelegen. In Paris war sie bloß umgestiegen, war unbeirrt weitergefahren, ohne genau zu wissen, warum, sogar ohne zu wissen, was sie wollte oder was sie sich erhoffte. Hätte sie irgendwo haltgemacht – das fühlte sie ganz deutlich –, hätte sie nicht mehr die Kraft gehabt, ihren Weg fortzusetzen.

Dass sie so müde war, guter Gott! Ihre Beine waren angeschwollen, wie immer, wenn sie müde war. An diesem Vormittag hatte sie keine Zeit gehabt zu merken, dass ihr die Füße wehtaten, und hatte auch noch die ganze Zeit ihre neuen Schuhe anbehalten, die sie sich extra für hier gekauft hatte.

Das Kind schrie. Das war ein Ruf zur Ordnung, und in der ersten Etage beugte sich die zwanzigjährige Alice über das Geländer und rief mit unfreundlicher Stimme zu Jeanne hinunter:

»Ich dachte, Sie wollten ihm etwas zu essen hinaufbringen!«

Mit einer Bewegung, die schon ganz automatisch war, wischte Jeanne sich mit der Schürze über die Stirn, nahm lächelnd eine kleine Schale aus der Anrichte und rief:

»Es ist sofort fertig! Ich komme …«

Tante Jeanne

Подняться наверх