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Am Leitfaden des Leibes

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Von L. Feuerbach bis F. Nietzsche

Als Gott den Menschen erschuf, war er

bereits müde; das erklärt manches.

M. Twain

Neben „Existenz“ stellt der „Leib“ ein weiteres Stichwort dar, mit dem Philosophen, beginnend im 19. Jahrhundert, versuchen, die vorphilosophische Welterfahrung oder das Leben stärker zur Geltung zu bringen. Der Leib, die Sinnlichkeit usf. werden als konstitutiv für alles Philosophieren betrachtet. Vernunft und Geist werden ihres Vorrangs beraubt. Im Blick auf ihre Macht oder ihre Wirkungskraft treten sie hinter den Leib zurück. Der Schlüssel zum Selbstverständnis des Menschen (und der Welt) liegt nicht im Geist, sondern in bewusstseinsfernen Kräften.

Die in Konzeptionen wie Leib, Sinnlichkeit und Angst liegende Provokation lässt sich vor einem ideengeschichtlichen Horizont verdeutlichen. Seit ihren Anfängen arbeitet sich die Philosophie am problematischen Verhältnis von Vernunft und Trieb, oder allgemeiner, von Geist und Körper ab. Ihr Verhältnis ist durch einen ständigen Konflikt geprägt. Von Platon über Augustinus bis hin zu Kant und Hegel gibt es eine Rangordnung, in der, wenn auch bisweilen umstritten, eindeutig der Geist dominiert. Der Geist hat das Sagen. Schon die bekannte Definition des Menschen als animal rationale enthält eine Wertung, wenn nicht gar eine Forderung: Aus dem animal rationabile (dem mit Vernunft begabten Lebewesen) ein animal rationale (ein vernünftiges Lebewesen) zu machen. Der Mensch soll sich von seiner Triebhaftigkeit emanzipieren, der Mensch soll frei über seine Triebe gebieten lernen und sich von dem, was vernünftig ist, durchdringen lassen. Platons Bild vom Reiter, der die Schritte des Pferdes – der ungezähmten, triebhaften Energie – in die richtige Richtung zu lenken weiß, verdeutlicht das. Was den Menschen als Souverän inthronisiert, ist sein Wille.

Der Wille ist als Einheit von Streben und Einsicht definiert, als ein bestimmtes Energiepotenzial oder ein Drang, der durch Einsicht und Denken zu einem vernünftigen Verhalten angeleitet wird. Diese Hintergrundüberzeugung wird zu Beginn des 19. Jahrhunderts erschüttert. Der Wille wird umdefiniert – ein höchst aufschlussreicher Prozess, der sich bereits im Spätidealismus Schellings ankündigt. Mit Schopenhauer und Freud, mit Feuerbach und Nietzsche wird eine neue Semantik des Willens erarbeitet. Der Wille wird blinder Wille, ziel- und zügellose Triebkraft, ohne Lenkung durch die Vernunft. Diese wird in vielfacher Weise abgewertet. Natürlich war die Vernunft immer schon dem Zweifel ob ihrer Macht und Legitimität ausgesetzt.

Der Zweifel an der Vernunft begleitet die abendländische Philosophie seit ihren Anfängen. Heute ist die Annahme allgemein, dass die mit der Begierde und dem Trieb verbundene Seite regelmäßig die stärkere ist. Mit Nietzsche beginnt darüber hinaus folgender Gedanke einen breiten Raum zu gewinnen: Ist diese Seite nicht vielleicht auch die bessere? Hat sie eine ihr eigene Wahrheit? In einer Art wisdom of the body? War ihre gewalttätige Abwertung – vor allem durch das Christentum – eigentlich gerechtfertigt? Hat dieses nicht Geist und Körper in ein gänzlich falsches Licht gesetzt? Müssen wir uns nicht in der Kommunikation mit den leiblichen Kräften neue, schöpferische, vitale, überhaupt weniger vorbelastete Zugänge und Zeugen verschaffen? Und wenn, welche? Gibt es etwas, das die Vernunft an der leiblichen, sinnlichen Seite nicht wahrhaben will? Wovor hat sie Angst?

Man kann sich vorstellen, dass diese Zweifel durchaus Provokationen für die Philosophie und unser Menschenbild darstellen. Sind die Kräfte, die mit dem Leib verbunden sind, nicht vielleicht solche, die authentischer, sogar besser und unverdorbener sind? Fragen dieser Art werden immer vehementer von Nietzsche u. a. gestellt. Nietzsche selbst will zuletzt auf eine Umkehr und Umwertung hinaus: Nicht die Vergeistigung des Menschen ist das Ziel, sondern seine Verleiblichung. Nietzsche zielt auf eine Semantik, die den Leib als den Schlüssel zu einem verbesserten, dem kulturellen Leben insgesamt förderlicheren Selbst- und Weltverständnis begreift. Seine Startbedingung ist ein Generalverdacht gegenüber der klassischen Philosophie: Sie sehe den Leib nur als minderwertiges Vollzugsorgan des Geistes.

Der Mensch als sinnliches Wesen

An erster Stelle ist hier Ludwig Feuerbach (1804–1872) zu nennen. Er sieht den Menschen – in Frontstellung zur spekulativen Metaphysik – nicht durch den Geist, sondern durch seine Sinnlichkeit bestimmt. Sein Ausgangspunkt ist die Religionskritik, deren berühmte Formel lautet: „Das Geheimnis der Theologie ist die Anthropologie“, denn sie demonstriert, dass der Glaube an Gott „nur im Elend des Menschen […] seine Geburtsstätte“30 hat. Vor allem anderen sagt die Religion etwas über den Menschen, über seine Abhängigkeitsgefühle und seine Wünsche. Die Religion ist der Versuch, das Ohnmachtsgefühl des Menschen zu kompensieren. In ihr werden die Eigenschaften, die der Mensch in nur unvollkommener Weise besitzt, ideal gesetzt. Feuerbachs Formulierung: Sie werden als Prädikate Gottes angeschaut. Nach dem Ideal seiner Wünsche erschafft sich der Mensch Gott. In der Religion entäußert und entfremdet sich der Mensch seinem wirklichen sinnlichen Wesen. Die Religion sagt insofern viel mehr über den Menschen als über Gott aus. Feuerbach entlarvt die göttlichen Prädikate als Bestimmungen oder Wünsche menschlicher Projektion.

Die Religionskritik führt Feuerbach wie selbstverständlich auf den Menschen als ein sinnliches Wesen. Im Zusammenhang mit der „Aufhebung der Philosophie“ erklärt er: „Der Philosoph muß das im Menschen, was nicht philosophiert, was vielmehr gegen die Philosophie ist, dem abstrakten Denken opponiert […], in den Text der Philosophie aufnehmen. […]. Die Philosophie hat daher nicht mit sich, sondern mit ihrer Antithese, mit der Nichtphilosophie“,31 d. h. mit dem sinnlichen Menschen, zu beginnen. Das ist das Programm: Das Sinnliche und der Sensualismus stehen bei Feuerbach gegen die Abstraktheit des Denkens, gegen alles, was nur entfernt nach Idealismus riecht. Er lenkt den Blick auf den Menschen und seine sinnlich-konkrete Existenz. Sinnlich hat dabei ausdrücklich die Bedeutung des Leiblichen, auch in der Gestalt des Geschlechtlichen. Man könnte sagen, es wird ihm gleichsam zu einem Apriori. Man kann das Menschliche und das Leibliche nicht denken, ohne dass es das Geschlechtliche gibt. Feuerbach verbindet mit dem Sinnlichen weniger die direkte und unmittelbare Erfahrung unserer Leidenschaften und Triebe, sondern eine entwickelte Sinnlichkeit, unter der er die Einheit oder das Zusammenspiel von Verstand und Gefühl versteht. Die Sinnlichkeit selbst wird als eine schon gebildete, als eine sich in den Empfindungen durchsichtig gewordene Sinnlichkeit verstanden, eine Sinnlichkeit, die nicht einfach nur (passivisch) genießt, sondern als Einheit von Denken, Fühlen und Wollen, von „Herz und Verstand“, wie Feuerbach sagt, eine neue Form der Erfahrung darstellt. In ihr sind alle Kräfte des Menschen im Spiel. Die Sinnlichkeit des Menschen erhebt sich über die der Tiere, letztere bleibt partikular beschränkt durch ihre Gebundenheit an die Instinkte, die des Menschen ist eine universelle.

Feuerbachs Sinnlichkeit richtet sich gegen das reine und abstrakte Denken der Philosophen, insbesondere natürlich gegen den Oberidealisten Hegel – wie Feuerbach glaubt. In erkenntnistheoretisch verengter Perspektive würde man diese Position Sensualismus nennen: den Ausgang bei der sinnlichen Erfahrung und den Sinneseindrücken zu nehmen.32 Feuerbach geht darüber hinaus, er zielt auf den Begriff des sinnlichen Menschen, der sich in seiner Leiblichkeit als totum, d. h. als Ganzes verkörpert. Das rationale Denken war Feuerbach zufolge geschlechtsneutral. Die Philosophen haben das Geschlecht selten als konstitutive Kategorie ihres Denkens begriffen. Der Feminismus der 70er- bis in die 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts machte große Anstrengungen, diesen Gedanken erneut in seiner ganzen Tragweite auszuloten. Das Denken der klassischen Philosophie war leibfern, anonym und geschlechtsneutral. Feuerbach kritisiert es als ein Denken aus reiner Abstraktheit. Wir brauchen aber ein Denken, das sich daran erinnert, in welchem Maße es auch die Spuren des Geschlechtlichen und des Erotischen trägt. Man sagt, er thematisiere den Leib als nichtdiskursives, d. h. rational nicht vollständig aufklärbares Weltverhältnis.

Worauf die Philosophie im 19. Jahrhundert immer wieder zurückkommt, ist, dass das, was als reines Denken bezeichnet wird, von anderen Kräften durchzogen und imprägniert ist. Der individuelle wie kollektive Geist ist charakterisiert durch das Denken. Denken geschieht in Begriffen. Und die Grundbegriffe der Philosophie wie Geist und Körper, Sinnlichkeit und Verstand, Selbst und Wille, aber auch Analyse und Synthese, Tatsache und Motiv, sind nicht frei von Bedeutungen, die durch religiöse und weltanschauliche Einflüsse, politökonomische Interessen, erotische Leidenschaften, kulturelle Mentalitätsdifferenzen und historische Zufälle des Sprachwandels tiefe Spuren auf dem Sprachkörper der Begriffe hinterlassen haben. In all diesen relativ geistfernen Kräften ist das Denken verankert und bestimmt. Was Feuerbach, Kierkegaard, Marx, Nietzsche zu zeigen versuchen, ist, dass das reine Denken eine Fiktion ist, dass es dieses gar nicht gibt, sondern dass das reine Denken unrein ist. Man hat daher zu Recht von einem „Verunreinigungsprozess des Denkens“ im 19. Jahrhundert gesprochen.

Das Denken der Philosophie gründet über weite Strecken in einer Abwehr des Leiblichen, des Geschlechtlichen und des Erotischen. Wie der Leib und die ökonomischen Interessen scheint auch das Geschlechtliche und die Liebe – als das Andere zum wissenschaftlichen Denken – einer massiven Verdrängung anheim gegeben zu sein. Aus diesem Grund wählt Feuerbach den Ansatz, das wirkliche Ich nicht als geschlechtsloses, sondern als a priori männliches oder weibliches Dasein zu konzipieren. Hiervon dürfte die Philosophie nur dann abstrahieren, wenn sich die Geschlechtsdifferenz allein auf die Geschlechtsorgane bezöge. Nach Feuerbach durchdringt aber das Geschlechtliche den ganzen Menschen – gerade so wie Nietzsche in einem Aphorismus über den einzelnen Menschen sagen wird, dass „Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen […] bis in die letzte Höhe seines Geistes hinauf“33 reicht. Diese Intuition scheint auch Feuerbach zu bewegen. Das Geschlechtliche durchdringt selbst noch die sublimsten Formen unseres Denkens und unseres Geistes. Auf welche Weise das im Einzelnen geschieht, hat Freud – freilich ein gutes halbes Jahrhundert später – näher betrachtet.

Es scheint, als habe Feuerbach die Vermittlung von Leib und Vernunft zu harmonisch, zu freundlich gesehen. Die Sinnlichkeit hat bei ihm etwas gar zu Liebenswürdiges. Nur zu gut ist uns bewusst, dass die Sinnlichkeit auch eine andere Seite hat, eine mangelhafte, ja bis ins Zerstörerische reichende Natur. Feuerbachs Denken gleitet darüber hinweg, im Unterschied zu Schopenhauer, der sehr viel genauer das Überwältigende, das Blinde, das mit Not und Leiden Verbundene herausstreicht. Ein Kernsatz Feuerbachs, der die problematische Seite gleichwohl streift, lautet: „Der Leib ist allein jene verneinende, einschränkende, zusammenziehende, beengende Kraft, ohne welche keine Persönlichkeit denkbar ist. Nimm deiner Persönlichkeit ihren Leib – und du nimmst ihr ihren Zusammenhalt. Der Leib ist der Grund, das Subjekt der Persönlichkeit.“34 Der Geist ist nur ein Teil dieses Leibes, und der Leib hat seine eigene Sensibilität für die Welt.

Ein Seitenblick auf Kierkegaard kann helfen, den Gedanken, was es heißt, das in den Text der Philosophie aufzunehmen, was sie bis dahin zur Anmerkung herabgesetzt hat, zu vertiefen. Für Kierkegaard gründet die Situation, in der der Mensch steht, in der Angst, einem, wie immer wieder bemerkt wurde, leibnahen Gefühl. Und warum grundiert die Angst das Dasein des Menschen? Die Antwort: Der Mensch muss als Geist und als Leib zugleich existieren. Aber als Geist und Leib zu existieren, legt den Menschen an eine Kette ununterbrochener Angst. Mit dieser Zweiheit, die einerseits Leib, also sinnliches Wesen, andererseits auch Geist ist, kommt der Mensch irgendwie nicht zurecht. Dass sich dieses Verhältnis nicht ein für alle Mal in die rechte Ordnung bringen lässt; dass es immer wieder neu ausbalanciert werden muss, erzeugt eine starke, meist unterschwellig bleibende Angst. In der Zweiheit entdeckt nämlich der Mensch seine Freiheit und d. h. auch die Möglichkeit, gegen die rechte Ordnung zu verstoßen („Sünde“). Für Kierkegaard „ist die Angst der Schwindel der Freiheit. Sie entsteht, wenn die Freiheit, indem der Geist die Synthese setzen will, in ihre eigene Möglichkeit hinunterschaut und dabei nach der Endlichkeit greift, um sich daran zu halten. In diesem Schwindel sinkt die Freiheit zu Boden“.35 Der Vergleich mit dem Schwindel zeigt, wie sehr die Angst die Sicherheit des Lebens und des Denkens bedroht. Unter dem Ansturm der Angst verlieren die Menschen ihren Halt, sie werden kopflos, ihr Denken zerfällt. Angst bedroht die Bestimmtheit des Denkens. Der Angst ausgesetzt, verliert das Denken seine Sicherheit, die Gegenstände klar und deutlich, d. h. bestimmt, zu erkennen. Die Stimmung der Angst zeigt sich im Verlust der Bestimmtheit des Denkens. Das Denken wird sprunghafter, beweglicher, aber so, dass es der Eindeutigkeit und Bestimmtheit der Dinge ermangelt. Jeder Angstzustand trägt den Keim zu einer Geisteskrankheit in sich, er verkörpert sie in nuce. In einer Angst festzustecken, ist, wie geisteskrank zu sein. Angst dissoziiert, sie depersonalisiert. Was aber nicht ausschließt, dass es nur selten einen Wahn gibt, in dem nicht schiere Angst die Regie führt.

Am Leitfaden des Leibes

Friedrich Nietzsches (1844–1900) Philosophie am Leitfaden des Leibes ist so reich an Perspektiven und Interpretationen, an Optiken und Grammatiken, dass man sie entweder nur durch ein Zitatengewitter aufblitzen und funkeln lassen oder sie durch einen Gewaltstreich systematischer Gesichtspunkte über Gebühr vereinfachen kann. Der Philosoph neigt zur zweiten Alternative, stellt ihr aber ein überaus wichtiges Bedenken voran: „das Phänomen des Leibes ist das reichere, deutlichere, fassbarere Phänomen: methodisch voranzustellen, ohne etwas auszumachen über seine letzte Bedeutung.“36 Der Leib und seine Kräfte zeigen besser als der Geist, was der Mensch ist, wie er lebt, wie er denkt und urteilt, fühlt und drängt, seine Meinungen und Überzeugungen verteidigt usf., aber auch, bis in welche sublimen Höhen der Kultur, der Kunst und der Moral sie hinaufreichen. Dieser Gesichtspunkt des Leibes ist ein methodischer, mit dem Nietzsche wie mit einem Experiment versucht, durch die Optik des Leibes und seiner labyrinthischen Natur uns selbst und der Kultur auf die Schliche zu kommen.

In seiner Mehrdeutigkeit erscheint der Leib zunächst wie bei Feuerbach im Gegenzug zum Geist und seinen Hinterwelten als das Diesseitige, das Wirkliche. Leib ist entweder ein gesunder oder kranker Leib. Dabei können seine Äußerungen sowohl individueller als auch kollektiver Natur sein. Außerordentliches Interesse zeigt Nietzsche an den kollektiven Erkrankungen, z. B. der leibfeindlichen christlichen Moral, die sich seiner Auffassung zufolge aus dem Ressentiment gegen diejenigen speist, die sich an einer blühenden Leiblichkeit und Gesundheit ihrer selbst erfreuen. Der Geist erscheint bei Nietzsche bis in seine höchsten Verzweigungen – in den Gestalten der Kunst und der Moral – als hinterhältig, verschlagen, niederträchtig, mit allen Wassern der Heimtücke gewaschen. Er steckt voller Finten und Fallen, voller Verstellung, Schauspielerei und Verlogenheit. Dagegen erscheint der Leib derer, die das Leben bejahen, als tumber Tor, gesund, unverstellt, aber dumm in seiner blühenden, selbstvergessenen Macht und Stärke.

Was aber nun wiederum nicht bedeutet, dass nicht auch der Leib über eine Reihe von Intelligenzen verfügt. Sie reichen bis zur intentionslosen Intentionalität des Leibes, den Nietzsche auf der einen Seite als eine Art Künstler beschreibt, um ihn auf der anderen als Mechaniker zu betrachten. Um diese beiden großen Sinnbilder gruppiert sich ein Großteil von Nietzsches Interpretationen des Leibes. Der Leib als Maschinist verrichtet seine Arbeit so, dass er in seinen einzelnen Verrichtungen gar nicht zu Bewusstsein kommt. Seine Intelligenz erklärt sich (kausal) aus der tausendfachen Verhakelung und der unwillkürlichen Feinabstimmung materieller Prozesse (der Biologie, der Physiologie, der Chemie usf.), aber auch aus einer Schicht, angesichts der man den Eindruck gewinnt, als käme den leiblich-seelischen Prozessen gleichsam eine „Bedeutung“ zu, als ließen sie sich als Symptome eines sozialen oder kulturellen Zusammenhangs verstehen, als entstammten sie einer unbewussten Intelligenz, deren Genie in einer geheimen und geheimnisvollen Teleologie (Zielgerichtetheit) liege und an ein „Wissen“ des Leibes erinnere, das in seiner Folgerichtigkeit solche Eigenschaften aufweise, wie wir sie in der Regel nur von unserem (wachen) Bewusstseinsleben her kennen. „Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe als in deiner besten Weisheit.“37 Für Nietzsche ist der Geist eine „kleine Vernunft“, er ist Spiel- und Werkzeug der „großen Vernunft des Leibes“. „Aber das größere ist […] dein Leib und seine große Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich.“38 Der Leib als Künstler bringt es zu Erfahrungen im Zwielicht von Spontaneität und rationaler Ordnung. Vor allem, weil in ihnen der Stolz des Geistes gebrochen ist, sind Krankheitszustände (aber auch der Schmerz und das Leiden) ausgezeichnete Orte, etwas über die „Bedeutung“, die Zeichensprache des Leibes und seine Affekte – seine Semiotik und Semantik – in Erfahrung zu bringen. Denn der Leib spricht in seinen „Symptomen“ noch eine zweite, andere, nur schwer dechiffrierbare Zeichensprache, es ist die Sprache der Macht.

Für Nietzsche sind „Interpretationen“ leibhafte Zurichtungen des Willens zur Macht, sie entstammen dem Kräftespiel der leiblichen und affektiven Regungen, die darum ringen, ihre Machtbasis zu vergrößern. Interpretationen sind Ausdruck des jeweils vorherrschenden Willens zur Macht. Mit ihnen versucht Nietzsche die übliche Alternative von sprachlicher und vor- bzw. nichtsprachlicher Gegebenheit zu unterlaufen. Das Ressentiment als Affekt ist dabei ebenso eine „Interpretation“ wie seine reflektierte Deutung als individuelles oder kulturelles Symptom (einer versteckten Aggression und/oder eines verdrängten Wunsches). Bis zur Ununterscheidbarkeit können die Dinge mit ihrer Interpretation verwachsen: „Ruf, Name und Anschein“ sind, wie Nietzsche bemerkt, zum „Leibe“ eines Dinges „selbst geworden“.39 Auf der anderen Seite verbindet Nietzsche mit Interpretation und ihrer sprachlichen Form auch eine konventionalistische oder gar fiktionalistische Auffassung. Mit der Sprache als dichtendem (oder ästhetischem) Vermögen setzt sich der Mensch leichtfüßig über alle Realität hinweg. Sprachliche Ausdrücke sind – strikt nominalistisch – bloße Zeichen, „Heerden-Merkzeichen“, wie Nietzsche polemisch anmerkt. Er nennt das Sprechen eine „schöne Narrethei […]: damit tanzt der Mensch über alle Dinge“.40

Die Welt zu entschlüsseln aus der Perspektive des Leibes – was heißt das? Wie geht das? Werfen wir einen Blick auf so zentrale Begriffe philosophischen Denkens wie Einheit und Vielheit. Welche Perspektiven eröffnet uns der Leib auf die Verfassung oder Bestimmung des Menschen? Danach scheint es, als zerfiele das menschliche Subjekt in unterschiedliche Reaktionen und Regungen. Am Leib löst sich das Ich auf, da zerfällt seine Einheit. Was sich zeigt, ist eine unübersichtliche Vielzahl von Strebungen und Begierden, die den Widerspruch so wenig kennen wie den Zwang zur Einheit. In einer der eindringlichsten Passagen seines Werks schreibt Foucault: „Der Leib – und alles, was den Leib berührt – ist der Ort der Herkunft: am Leib findet man das Stigma der vergangenen Ereignisse, aus ihm erwachsen auch die Begierden, die Ohnmachten und die Irrtümer; am Leib finden die Ereignisse ihre Einheit und ihren Ausdruck, in ihm entzweien sie sich aber auch und tragen ihre unaufhörlichen Konflikte aus. Dem Leib prägen sich die Ereignisse ein (während die Sprache sie notiert und die Ideen sie auflösen). Am Leib löst sich das Ich auf (das sich eine substanzielle Einheit vorgaukeln möchte). Er ist eine Masse, die ständig abbröckelt.“41

Anders gesagt, der Leib ist der Ort der Dezentrierung des Subjekts, an dem sich Leib und Geschichte verschränken, an dem der Leib von den geschichtlichen Ereignissen durchdrungen wird und die Geschichte dem Leib ständig zusetzt. Die Dezentrierung des Subjekts in eine Vielheit von – zeitweilig (die) Identität verkörpernden – Regenten ist vor allem eine zeitliche. Im Gegenzug zur Selbstpräsenz und Selbstdurchsichtigkeit des Geistes ist der Leib Gedächtnis von Erfahrungen, auf dem die Wunden nicht heilen, ohne Narben zu hinterlassen. Sie setzen im Geist der Rache und des Ressentiments, des Mitleids oder eines fanatischen Gerechtigkeitswillens ihr untergründiges Leben fort. In „Betreff des Gedächtnisses muss man umlernen: hier steckt die Hauptverführung eine ‚Seele‘ anzunehmen, welche zeitlos reproduzirt, wiedererkennt usw. Aber das Erlebte lebt fort ‚im Gedächtniß‘.“42

Das Gedächtnis des Leibes funktioniert nicht wie das Speichersystem eines Computers, bei dem man etwas ablegt und genau dasselbe nach einiger Zeit wieder abrufen kann. Selbst wenn das für einige Inhalte zutrifft – das einmal auswendig gelernte Alphabet oder die Regeln des Dreisatzes –, so gilt das doch nicht für das Gedächtnis bzw. das Erinnern insgesamt. Das Gedächtnis des Leibes ist ein plastisches, dynamisches System, das sich laufend, unmerklich oder in Sprüngen, verändert, bei dem Inhalte immer wieder umgedeutet, umgestellt, verdrängt, vergessen, idealisiert, unter dem Druck veränderter Gefühlslagen ständig „interpretiert“ oder bearbeitet werden – und zwar häufig genug nach solchen für den Verstand nicht leicht nachvollziehbaren Regeln und Gesetzmäßigkeiten: „,Das habe ich gethan‘, sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht gethan haben – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – giebt das Gedächtniss nach.“43

Situationen, in denen man mit Herablassung behandelt wurde oder die man als demütigend empfunden hat, führen ein mehr oder weniger bewusstes Eigenleben, selbst dann, wenn sie scheinbar vergessen sind. Sie ziehen andere Erfahrungen in Mitleidenschaft, trüben die Erinnerung, man will dieses oder jenes nicht wahr haben, man erzählt ungewollt nicht, was geschehen ist, sondern, was man anstelle dessen lieber gehabt hätte und – hält es für die Realität. Unwillkürlich denkt man an Wittgenstein. Die (problematische) Auffassung eines bestimmten Phänomens (z. B. des Gedächtnisses) habe ihre Ursache häufig genug darin, dass man sich einseitig nur von einer bestimmten Art von Beispielen nährt.

Für Hegel ist der Geist ein sich selbst wissendes Wissen, ein Kraftsystem, das in der Lage ist, die Erfahrungen, die wir machen, durchzuarbeiten. Man kann die Kräfte, die an solchen Erfahrungen teilhaben, identifizieren; man kann Grund und Folge feststellen und versuchen, dieses Wissen in bestimmter Weise fest, d. h. in Erinnerung zu halten. Nietzsche sagt, am Leitfaden des Leibes sehe das anders aus. Seelische Verletzungen hinterlassen wie die leiblichen „Narben“. Und diese Narben führen z. B. dazu, dass man bestimmten Konflikten aus dem Wege geht, dass man ihnen ausweicht oder partout nicht wahrhaben will, was offensichtlich ist. Der Leib registriert seine in den Nachwirkungen oft undurchsichtigen Erfahrungen auf eine Weise sui generis. Die Narben sind die Konfliktzonen, denen wir auch im Denken ausweichen, die wir, wenn wir denken, überkompensieren oder verdrängen. Es sind Orte, an denen wir nicht rational denken, sondern rationalisieren – im Brustton der Überzeugung so tun, als sei dies oder jenes aus sich heraus rational und evident. Diese Manöver hat Freud später „Abwehrmechanismen“ genannt. Es sind Manöver des vom Geist verdrängten Leibes.

Mit Philosophie am Leitfaden des Leibes ist zunächst dies gemeint: zu zeigen, dass das, was die idealistische Philosophie unter Geist verstanden hat, eigentlich ein problematisches Bild unseres Denkens und unserer Wahrnehmung spiegelt. Das Reich des Denkens ist niemals so rein, so rational oder diskursiv, wie wir glauben. Es sind Kräfte im Spiel, die sich oft genug nur den Anschein des Rationalen zu geben wissen. Zwischen Rationalität und Rationalisierung (im psychoanalytischen Verständnis) zu unterscheiden, ist selbst ein Gebot der Vernunft, aber nicht einfach, hängt es doch von verschiedenen individuellen wie kulturellen Hintergrundüberzeugungen ab, die meist ein Leben im Untergrund des Bewusstseins führen.

In der Geschichte der Herkunft der Verantwortlichkeit lehrt Nietzsche das Wechselspiel zweier besonders wichtiger leibhafter Kräfte zu verstehen: das Vergessenkönnen und das Gedächtnismachen. Dies sind für ihn Prozesse der „Einverleibung“ (oder der „Einverseelung“), er spricht auch von „Verinnerlichung“. Wie macht man dem „Menschen-Thiere“ ein Gedächtnis? Welche über Generationen dauernden, grausamen und schmerzhaften Mnemotechniken wurden in der ältesten und jüngsten Geschichte eingesetzt, um den Menschen in die Zwangsjacke der Moral zu stecken und ihn – seinen Körper – soweit zuzurichten, dass er das Privilegium eines sittlichen oder sogar übersittlich-souveränen Menschen besitzt: Sich und anderen etwas versprechen zu dürfen? Nietzsche schildert die Geschichte einer langen, gnadenlosen Zucht, in der man dem Menschen-Thiere und seinem „faseligen Augenblicksverstand“ mit wenigen „ich will“, „ich will nicht“ ein unauslöschliches Gedächtnis gemacht hat – auch in der vagen Hoffnung, dass es zuletzt einigen wenigen gelingen könnte, sich auch noch aus dieser moralischen Zwangsjacke zu befreien. – Was ist auf der anderen Seite an aktiver Kraft nötig, um vergessen zu können? Um nicht an dem seelisch zugrunde zu gehen, wovon man nicht mehr loskommt, weil es uns so tief getroffen hat, dass es immer weiter und weiter an uns nagt, sich wie ein Schwelbrand in uns ausbreitet und uns vergiftet und – infolge davon – uns nicht mehr frei denken und handeln lässt?

Überhaupt sucht Nietzsche die Grundbegriffe von Gut und Böse durch solche Leib und Leben bestimmende wie Gesundheit und Krankheit abzulösen. Das moralische Vokabular wird tendenziell durch ein therapeutisches (oder auch ästhetisches) ersetzt. Es richtet sich in erster Linie danach, ob das Leben durch es befördert wird oder nicht. Es versteht sich in diesem Zusammenhang fast von selbst, dass über die Frage, was ein besseres, gesünderes, schöpferisches, freies, ungezwungenes, leichtes, bejahendes, vornehmendes usf. Leben ausmacht, Nietzsches Konzeption in schwere Turbulenzen gerät. Dazu braucht man nur an Nietzsches eigene Einsicht zu erinnern: dass das, was Leben als Ganzes sei, weder überblickt noch abgeschätzt werden könne.44

„Ausgangspunkt vom Leibe und der Physiologie: warum? – Wir gewinnen die richtige Vorstellung von der Art unsrer Subjekt-Einheit, nämlich als Regenten an der Spitze eines Gemeinwesens […], insgleichen von der Abhängigkeit dieser Regenten von den Regierten und den Bedingungen der Rangordnung und Arbeitsteilung als Ermöglichung zugleich der Einzelnen und des Ganzen. Ebenso wie fortwährend die lebendigen Einheiten entstehen und sterben und wie zum ‚Subjekt‘ nicht Ewigkeit gehört; ebenso daß der Kampf auch im Gehorchen und Befehlen sich ausdrückt und ein fließendes Machtgrenzen-bestimmen zum Leben gehört. Die gewisse Unwissenheit, in der der Regent gehalten wird über die einzelnen Verrichtungen und selbst Störungen des Gemeinwesens, gehört mit zu den Bedingungen, unter denen regiert werden kann. Kurz, wir gewinnen eine Schätzung auch für das Nichtwissen, das Im-großen-und-groben-Sehen, das Vereinfachen und Fälschen, das Perspektivistische. Das Wichtigste ist aber: daß wir den Beherrscher und seine Untertanen als gleicher Art verstehen, alle fühlend, wollend, denkend – und daß wir überall, wo wir Bewegung im Leibe sehen oder erraten, auf ein zugehöriges subjektives, unsichtbares Leben hinzuschließen lernen. Bewegung ist eine Symbolik für das Auge; sie deutet hin, daß etwas gefühlt, gewollt, gedacht worden ist.“45

Philosophie im Zeitalter der Extreme

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