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Miserere nobis

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Und wie es reichte!

„Nett ist es hier. Habt ihr aufgeräumt?“ Adelgunde stakste durch den Remter der Burg, als wäre sie nie ausgezogen. Als hätte sie nicht vor dreizehn Jahren die Flucht aus den düsteren Knittelsteiner Mauern ergriffen und mit ihrem Humbert eine kleine feine Villa in Augsburg bezogen.

Jo starrte finster auf Adelgundes speckigen Nacken, der sich über den Kragen ihrer Blümchenbluse rollte.

„Kurt!“ Adelgundes Kreissägenstimme zerschnitt ihr eigenes Echo. „Knut!“

Ihre lieben Nachkommen waren offenbar stocktaub. Die doppelten Krausköpfe stippten weiter ihre zweifellos ungewaschenen Zeigefinger in eine braune Nougatpampe, die Adelgunde gläserweise aus Augsburg mitgebracht hatte. Nugginussi oder so. Etwas anderes schmeckt ihnen nicht , hatte sie verkündet und die Servierbretter mit Schinkenaufschnitt und verschiedenen Käsesorten beiseite geschoben.

Gastgeberin Elvira hatte die Bretter ans andere Tischende gestellt und Kerzen angezündet. Und sie erneut angezündet, nachdem Kurt und Knut sie … ja, genau! Dann war Elvira mit mühsam unterdrückter Wut aus dem Speisesaal gerauscht, um Baron Eduard und Humbert zum Abendessen zu rufen. Und hatte Jo mit der netten Gesellschaft allein gelassen.

„Nehmt eure Finger aus dem Glas!“, schnaufte die Tante.

Wie gesagt, Kurt und Knut waren für bestimmte Stimmlagen absolut unempfänglich.

„Sonst steckt euch Onkel Eggbert in sein Sanatorium!“

Knut grinste. „Wird dann auch für Kurt gespendet?“

„Nee, für dich.“ Kurt piekste mit dem Zeigefinger einen braunen Fleck auf Brüderchens Wange. „Du hast schon die Pocken.“

„Eh, du Buckelsack!“

Jo lehnte am Fenster und schaute hinaus. Die Keilerei hinter ihrem Rücken wollte sie einfach nicht mitansehen. Es interessierte sie auch einen feuchten Dreck, dass Adelgundes Bluse un-er-setz-lich war und Nougatflecken nie mehr rausgingen. Es dauerte, aber irgendwann schaffte es Adelgunde tatsächlich, die Streithähne zu trennen und für eine Art Ruhe zu sorgen.

Draußen lag der Burghof schon im tiefen Schatten. Der Eimer, der wegen der Touristen über dem Brunnen hing, quietschte im Wind. Jo fröstelte. Diesen Eimer hatte eine sehr entfernte Großtante aufgehängt, die Jo fünf quälende Jahre lang unterrichtet hatte. Sibylle von Oelmütz, ehemalige Krankenschwester und Hebamme, die hier auf der Burg als Hauslehrerin ihrer Pensionierung entgegen gearbeitet hatte, bis Jo vor zwei Jahren auf das Adalbertinum wechseln durfte. Dann hatte Sibylle von Oelmütz Knittelstein verlassen, hoffentlich für immer. Vor ihrem inneren Auge sah Jo noch das spitznasige klapperdürre Fräulein die Kurbel drehen, um einer Gruppe fotografierender Amerikaner die einwandfreie Funktionsweise des Knittelsteiner Burgbrunnens zu demonstrieren. „Schwäbische Wertarbeit, you see?“ Mit ihrer schrillen Stimme, die selbst das Kreischen der Kurbel übertönte, und ihren mit fahrigen Bewegungen, die jeder Vogelscheuche gut gestanden hätten.

Einmal hatte Jo das Fräulein wiedergetroffen. Im letzten Jahr, kurz bevor Sibylle endgültig verschwand, in Begleitung von Eggbert Kniest. Jo wollte nie mehr daran denken. Sie schüttelte sich. Warum musste der Kerl ausgerechnet jetzt wieder auftauchen und sie an das Fräulein erinnern? An ihr bleiches Gesicht, bleich wie der Junge auf dem Plakat, der in Onkel Eggberts Sanatorium lag. In das Adelgunde die Kukies hoffentlich bald steckte. Jo nahm sich vor, den Eimer abzuhängen und im Burgbrunnen zu versenken.

Langsam drehte sie sich um. Es herrschte mittlerweile eine schmatzende Stille im Remter. Der Grund dafür waren die bis zum Anschlag mit Toast und brauner Pampe gestopften Mäulchen der süßen Zwillinge. Adelgunde war eifrig bemüht, genügend Nachschub zu schmieren. Jo setzte sich an ihren Platz.

„Onkel Eggbert hat also ein Sanatorium.“ Es sollte möglichst gelangweilt klingen.

„Für dich immer noch Herr Kniest“, zischte Adelgunde und pfefferte je ein braun verkleistertes Toast rechts und links auf die Teller. „Wieso?“

„Nur so.“

Adelgunde interessierte die Antwort gar nicht. Sie war schon aufgesprungen und eilte zur Remtertür, durch die gerade ihr Gatte und Schwager Eduard den Raum betraten.

„Humbert“, keifte sie, „wo bleibst du denn! Kümmer dich gefälligst auch mal um die Kinder. Elvira, das Toast ist alle. Und Eduard, der Eimer da draußen, der …“

„Liebe Adelgunde“, sagte Baron Eduard erstaunlich gut gelaunt (und Jo vermutete, dass er mit Humbert schon das ein oder andere Fläschchen Breselbräu seiner letzten Bestimmung zugeführt hatte), „liebe Adelgunde, du findest bestimmt noch selbst den Weg zum Burghof hinunter.“ Lächelnd ließ er seine Schwägerin mit weit offenem Mund stehen.

„Aber der Eimer … quietscht so“, flüsterte Adelgunde und ließ sich von einem ebenfalls gutgelaunten Humbert an ihren Tischplatz zurückführen.

„Na, Jungs?“ Eduard plumpste neben Knut auf den Stuhl. „Hat's geschmeckt?“

„Nee“, schmatzte Knut und Kurt nickte eifrig.

„War's schön beim Narrseval?“

Kurt: „Voll geil!“

Knut: „Gibt's noch Toast?“

„Nein“, sagte Elvira mit letzter Beherrschung und knallte einen Teller mit Lachsscheiben auf den Tisch. „Ich werde Emma bitten, dass sie morgen zum Frühstück neues besorgt.“

„Da will ich Semmeln“, nuschelte Knut an seinem Zeigefinger vorbei, den er gerade aus dem Glas mit der braunen Pampe gezogen hatte.

„Lass das!“, schimpfte Adelgunde.

Und Jo ergänzte leise: „Sonst steckt euch Onkel Eggbert ins Sanatorium.“

„Herr Kniest!“ Adelgundes Gesicht bekam rote Flecken, die gut zu den braunen Resten an ihrem Kinn passten. „Für dich immer noch Herr …“

„Ja“, unterbrach sie ihr Mann und angelte quer über den Tisch nach einer Scheibe Lachs. „Der Herr Kniest ist ein außergewöhnlicher Mensch.“ Humbert unterdrückte mühsam einen Rülpser. „Ein wahrer Wohltäter. Habt ihr seinen Stand gesehen?“

„Erbarme dich unser“, rutschte es Jo heraus.

„Welch ein großartiger Name.“ Humbert hatte den Umsatz der Brauerei Breselbräu wohl ordentlich angekurbelt. „Ich kenne ihn ja schon seit Langem.“ Sein Blick wanderte zur Zimmerdecke und landete wahrscheinlich in jener fernen Vergangenheit, als er den Wohltäter kennengelernt hatte. „Der Herr Kniest hatte mal eine Firma für Leiharbeiter. Und ich …“, Humbert nickte versonnen, „… war sein Geschäftsführer.“

„Humbert, das interessiert doch jetzt niemanden.“

„Doch heute“, fuhr Humbert fort und hob schwungvoll sein Glas. Adelgunde zog ihre Arme erstaunlich fix beiseite und entging dem Schluck Breselbräu um Haaresbreite, der nun auf die Tischplatte spritzte. „Doch heute hilft er armen und kranken Menschen aus Bolivien.“

„Afghanistan,“ korrigierte Adelgunde.

„Eggbert. Ein wahrer Wohltäter! Und ich habe ihn mit Pastor Himmelmeyer bekannt gemacht.“

„So pass doch auf!“

„Auf Eggbert!“, schrie Humbert.

Diesmal war Adelgunde zu langsam. Ein schäumender Schluck Breselbräu beschrieb einen eleganten Bogen über den Tisch, landete zielsicher in Adelgundes Dekoletee und verschwand zischend in der tiefen Schlucht zwischen ihren Brüsten.

„Erbarme dich unser“, grölte Humbert, der von alledem nichts mitbekommen hatte, „sammelt für die schweren Fälle, die in Eggberts Sanato...“ Humbert starrte wie ein begossener Pudel auf die klapprige Rüstung von Ritter Adalbert. Begossen war wörtlich zu verstehen. Adelgunde hatte ihm ein volles Glas Rotwein über den spärlich bewachsenen Schädel gekippt.

„Mach das nie wieder!“, zischte sie.

Und Kurt krähte: „Naseeeee!“

Und sein Bruder: „Brelau!“

„Aber …“, murmelte Humbert.

Da stampfte Adelgunde schon aus dem Remter, dass eine Horde Hobelitze vor Neid auf Lachweiber umgesattelt hätte.

Kurz und Schlecht rutschten glucksend unter den Tisch, wo sie blieben und recht bald verdächtig still wurden. Baron Eduard versuchte ein hilfloses Lächeln, und Elvira starrte mit zusammengepressten Lippen auf die roten Perlen, die Humbert von Kinn und Nasenspitze tropften. Und auf die ehemals weiße Tischdecke. Humbert schniefte laut.

„Es riecht hier“, sagte er, als wollte er seine Nasengeräusche entschuldigen. „So komisch.“

Jo bückte sich und hob die Tischdecke. Zing! Zwei angekokelte Brotscheiben flogen ihr entgegen.

„Naseeeee!“, schrie Knut.

Und Kurt: „Brelau!“

„Wir sind die Brandkasper und …“

Nein, nichts mehr und . Das Donnerwetter, mit dem Elvira sämtliche anwesenden Personen (ausgenommen Ritter Adalbert) aus dem Remter scheuchte, war das schlimmste, seit ein Blitz die Stollen im Breselberg hatte einstürzen lassen.

Als Evira endlich mit Adalbert allein war, starrte sie den Blechritter an. Was hatte sie bloß geritten, auf Knittelstein einzuheiraten? Achja, die Liebe. Und nun … nein, sie bereute es wirklich nicht. Aber wenn sie geahnt hätte, was für eine Verwandtschaft da mitgeliefert wurde … und wenn der Ritter gewusst hätte, dass er die scheppernde Backpfeife nur einstecken musste, weil niemand von besagter Verwandtschaft in Reichweite war, wäre er vielleicht standhaft geblieben. So aber … nun ja. Elvira schob die verstreuten Blechteile mit dem Fuß zusammen, löschte das Licht und verließ schimpfend den Remter.

Stille.

Adalberts Visier warf seltsame Schatten im Vollmondlicht. Es lag neben seiner rechten Fußspitze. Damals, ja, da hätte kein Burgfräulein so etwas gewagt. Da ging es noch höflicher zu.

Sehr viel höflicher!

So endete dieser denkwürdige Narrseval-Montag.

Auf Burg Knittelstein bekam Humbert eine Wolldecke und musste mit dem Sofa im Kaminzimmer vorlieb nehmen, weil Adelgunde ihn nicht ins gemeinsame Schlafgemach ließ.

Kurt und Knut verwandelten das Gästezimmer in ein Schlachtfeld, was niemand anders erwartet hatte.

Elvira hörte sich geduldig Eduards Klagen an. Er könne den Breselberg-Rummelpotts ja nicht einen Besuch auf der Burg verwehren, schließlich sei Adelgunde die Schwester von Tusnelda, und mit Tusnelda sei er bekanntlich verheiratet gewesen. Bis zu ihrem plötzlichen Ende.

„Gewesen, ganz genau!“, grummelte Elvira und packte ihr Kopfkissen über die Ohren. Das kannte sie mittlerweile bis zum Überdruss. Alle paar Monate die gleiche Leier! Nur die paar Tage , jammerte der Baron. Nur noch bis Donnerstag! D ann verzogen sich die Rummelpotts wieder nach Augsburg, und die Abendessen vergingen ohne Weintaufen und angekokelte Brotreste. Dann war der ganze Narrseval-Spuk vorbei und Jo bekam wieder Besuch von ihren Schulfreunden, die Burg Knittelstein mieden, als wäre die Pest ausgebrochen, solange die Kukies durch die Gänge geisterten. Elvira seufzte und lauschte dem bierseligen Schnarchen ihres Gatten.

Und Jo knotete seufzend das Seil ab, das die Kukies vor die Stufen der Wendeltreppe gespannt hatten. Wahrscheinlich weil Jo darüber stolpern und sich ein Bein brechen sollte. Die Sorte Humor, über die die Kukies lachen konnten.

Während Jo die Treppe zu ihrem Zimmer im zweitobersten Turmstockwerk hinaufstieg, dachte sie daran, Lisa anzurufen. Dann schüttelte sie den Kopf. Wie oft schon hatte sie ihrer geduldigen Freundin mit Verwünschungen dieser Fast-Cousins in den Ohren gelegen! Jo beschloss, Lisa in dem Glauben zu belassen, es ginge ihr gut.

Aber das glaubte Lisa sowieso nicht. Sie wusste ja nur zu genau, was für eine Krankheit die Burg heimgesucht hatte. Lisa saß in ihrem Zimmer über der elterlichen Eisdiele und starrte auf ihr Handy. Falls Jo sich noch melden sollte, würde sie ihr von Robin erzählen. Dass er bei diesem Kerl ins Auto gestiegen war. Diesem Hundegesicht, diesem Chef von Erbarme Dich Unser . Ein seltsamer Name. Eigentlich eine alte Gebetsformel, wenn sie sich richtig erinnerte: Miserere nobis .

Robin. Immer wieder tauchte sein Gesicht vor ihrem inneren Auge auf. Wie er am Laternenpfahl lehnte, wie er von dem Pitbull weggezerrt wurde. Robin, d er nie mit ins Kino ging, der auf keiner Party gesehen worden war, seit er zu den Enkeln gestoßen war. Eigentlich unmöglich bei diesem feierfreudigen Haufen. Lisa kannte sie natürlich alle und ihre wilden Partys. Aber dieser Robin? Kam, spielte Bass und verschwand.

Mama Favretti rief zum Abendessen. Lisa schüttelte sich. Nein, das geht dich überhaupt nichts an. Kümmer dich um deinen eigenen Kram!, schimpfte sie, während sie die Treppe hinunter polterte.

Mitternacht.

Robin starrte an die schräge Holzdecke. Doktor Grimminger hatte ihn sehen wollen. Eine letzte Untersuchung, bevor der Arzt morgen in aller Frühe nach Amerika flog. Robin hatte es schlicht vergessen und war mit Felin zum Narrseval gegangen. Schwester Meinolfa hatte ihn überall suchen lassen, die alte Meinolfa, die keine Ahnung hatte.

Und da hatte dieser Kniest angerufen und Meinolfa am Apparat gehabt. Er sei zufällig in der Stadt, sagte Kniest, und wolle die Oberin sprechen. Das trifft sich gut , hatte Schwester Meinolfa gesagt, und ihn gebeten, Robin gleich mitzubringen, falls er ihn zufällig fände, höchstwahrscheinlich irgendwo auf dem Marktplatz. Der Doktor könne nicht länger warten. Und Kniest hatte Robin entdeckt und zurück gebracht. Nach Hause, zu seinen Schwestern.

Das Mondlicht ließ krumme Gestalten über die Tapete wandern. Steife, verkrüppelte Figuren, einsame, die mit niemandem redeten. Sich nicht zu reden trauten.

Heute hätte Robin sich fast getraut. Den Film hätte Felin gemocht. Den über die Kinder in Paris. Im Capitol-Kino. Felin mit den großen schwarzen Augen. Die sich vor den Kniest gestellt hatte. So ein Mut! Hätte er nicht den Anruf wegen Doktor Grimminger erhalten, hätte er sich heute getraut, ganz sicher.

Draußen grölten Männerstimmen. Robin erschrak. Ein paar verspätete Buckelsäcke, die sich hierher verlaufen hatten. Er war für einen Moment weit weg gewesen. In Paris. Die Mondgestalten waren weiter gewandert, hatten sich verändert, verformt, als hätte eine schreckliche Krankheit sie verbogen.

Felin , dachte Robin.

Geisterstunde.

Die erste Narrseval-Runde war überstanden. Der eiserne Brunnenritter streckte die Glieder. Es knackte deutlich. Ein misstrauischer Mond spiegelte sich auf dem von unzähligen Händen blankgescheuerten Hinterteil seines Rappens, das eine dieser Närrinen heute mit einem Telefon beworfen hatte. Früher, ja, früher, da hatte es so etwas nicht gegeben. Keine Lachweiber, Hobelitze, Buckelsäcke und Brandkasper und wie die sich alle schimpften. Höchstens ein paar Hoppstänze um den Brunnen und Sänger mit schnarrenden und quietschenden Instrumenten. Früher klang selbst das Glockengeläut anders. Kurz-lang, kurz-lang wie ein altes hinkendes Weib.

Kunibald seufzte. Hatte sie es gehört? Dieses kleine alte Weib mit dem schiefen Dutt schaute ihn so merkwürdig an. Und verschwand.

Narrseval in Bresel

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