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Avantpropos

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Warum sehen wir fern? Offenbar, weil es uns nach Nähe verlangt. Nach Gesellschaft. Nach bewegten und bewegenden Gefährten. Nach dem, was die älteren, naiveren Leute früher »eine Ansprache« genannt haben. Ein Besucherservice, der uns ins Haus schneit. Unvergessen die Abschiedsworte Robert Lembkes nach jeder »Was bin ich?«-Sendung: »Ich hoffe, Sie laden uns wieder zu sich ein, wenn es heißt ›Was bin ich?‹.« Das ist lange her. Und Zuschauer unter vierzig werden sich nicht mehr daran erinnern. Und heute würden sich alle halbtot lachen über die »Welches Schweinderl hätten S’ denn gern?«-Frage des großen Rate-Onkels in seinem bayerischen Gemütsbariton, kleine niedliche farbige Porzellanborstentiere betreffend, in die bei jeder Vermutungsfrage des »Gehe-ich-recht-in-der-Annahme?«-Rate-Teams, die nicht dazu führte, den Beruf des jeweiligen Kandidaten herauszubekommen, jeweils ein Fünfmarkstück plumpste, und Mark oder D-Mark oder ganz einfach DM, liebe Kinder, das war das Geld, mit dem man damals um sich schmiss, als es noch keinen Euro gab. Die Frage aber bleibt: Wen lädt man sich da ins Haus, wenn man fernsieht? Wen lässt man in unser Kammer- und Zimmertheater, in dem der Bildschirm die Bühne darstellt? Wer betritt sie? Welche Figuren, welche Typen, welche Masken treten da auf? Was für Stücke werden aufgeführt? Und in welcher Sprache? In welchen Spielformen und mit welchen Dramaturgien? Macken und Marotten? Ticks, Tricks und Techniken? Und wenn sie dorthin schauen, wo unsere Augen nicht hinreichen, und von Taten, Sachen, Vorgängen erzählen, die nur sie sehen, ähnlich den Mauerschauern in den alten Theaterstücken, wie wahr scheinend oder nur illusionär ist dann das Geschau der Mauerschauer, die Dioptrieschärfe ihrer Augen?

Dabei ist das Fernsehen ein altes Medium. Oder umgekehrt: Es ist kein junges Ding mehr und vor allem kein Ding für die Jungen. Zwar ist es allen Deutschen, in seinen Formaten wie in seinen Figuren, gegenwärtig. Und es hält auch, noch vor dem Hörfunk, die Mediennutzerspitzenposition. Nur die Vierzehn- bis Neunundzwanzigjährigen, also die noch ganz Jungen und diejenigen Jungen, die schon ein bisschen dem Alterungsprozess sich entgegenängstigen, nutzen das Internet häufiger als ihren Fernseher. Die asoziale, von kapitalistischster Datenausbeutung bestimmte Massenmedienkrake mit ihrer scheinsozial und vor allem anonym bemalten Maske ziehen sie der öffentlich-rechtlich bespielten Kammertheaterbühne vor. Der Rest ist ein gut sortiertes Älterenheim, das sich da vor den öffentlich-rechtlichen Geräten versammelt.

Wenn nun aber doch 95 Prozent aller deutschen Haushalte eines oder mehrere Fernsehgeräte in der Wohnung stehen haben, und jeder Deutsche, und eben auch insgesamt quer durch die Alters- und Generationenstufen, nach einer statistischen Erhebung von 2018 (seither wird sich da wenig geändert haben) über die Jahre hin durchschnittlich 221 Minuten am Tag fernsieht, das sind fast vier Stunden – dann sitzen die Deutschen ungefähr ein Viertel ihrer Wachzeit vor dieser Bühne. Ganz abgesehen davon, dass jeder deutsche Haushalt, gleichgültig ob ihm nach Fernsehen ist oder nicht, per Gesetz dazu verdonnert ist, eine Zwangsabgabe, eigentlich eine Steuer, altmodisch »Rundfunkgebühr« genannt, monatlich zu entrichten. Die Deutschen also dem Fernsehen gar nicht entkommen können. Und wenn sie dann zu Bett gehen, beschleicht sie manchmal das unangenehm heimliche Gefühl, nicht sie sähen fern, sondern das Fernsehen sähe ihnen zu. Es komme ihnen näher, als es ihnen lieb wäre. Es wisse mehr (fast alles) über sie, als sie über es zu wissen sich je zugetraut hätten. Es hätte sie im Griff. Es steuere ihr Alltagsgehabe und überhaupt ihren ganzen Gedanken- und Gefühlshaushalt mit »Tue dies, denn es tut dir gut!« oder »Lass jenes bleiben, das schadet dir!«. Kurz: es beaufsichtige sie. Aber dieses Gefühl verschwindet immer wieder so albtraumschnell, dass sie seine Ursache der Bühne und ihren Figuren kaum anrechnen. Es nicht als Folge einer Inszenierung wahrnehmen. Wer das möchte, der muss den Theaterkritiker in sich wecken. Der sich, um es sich einfach kompliziert zu machen, aufs große deutsche Staatstheater der sogenannten Öffentlich-Rechtlichen (ARD und ZDF) kapriziert und konzentriert. Einen Versuch (frz.: essay) ist das auf jeden Fall wert.

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