Читать книгу Hüben und Drüben - Gerstäcker Friedrich, Jurgen Schulze - Страница 1

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Gesammelte Schriften

von

Friedrich Gerstäcker.

Zweite Serie.

Vierzehnter Band.

Volks- und Familien-Ausgabe.

Hüben und drüben.

Jena,

Hermann Costenoble.

Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V., Braunschweig

Ungekürzte Ausgabe nach der von Friedrich Gerstäcker für die Gesammelten Schriften, H. Costenoble Verlag, Jena, eingerichteten Ausgabe „letzter Hand“, herausgegeben von Thomas Ostwald für die Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V., Braunschweig

Unterstützt durch die Richard-Borek-Stiftung und

die Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz, beide Braunschweig

Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V. u. Edition Corsar

Braunschweig. Geschäftsstelle Am Uhlenbusch 17, 38108 Braunschweig

Alle Rechte vorbehalten. © 2020

Die Gemeinde-Waise.

1.

Der Mutter Tod.

Im Herbst des Jahres 1848 war es, daß nach Osterhagen, einem ziemlich großen Dorf im -sischen, eine Frau mit zwei Kindern übersiedelte, deren Erscheinung im Anfang den guten Leuten, und besonders dem weiblichen Theil der Bevölkerung, außerordentlich reichhaltigen Stoff zur Unterhaltung bot und eine Menge von Combinationen und Vermuthungen hervorrief.

Paß oder Legitimation brauchte damals natürlich Niemand. Jeder ging und kam, wie es ihm gerade gefiel, aber die Frau betrug sich so still und anständig und verfolgte so harmlos ihre Bahn, daß man sie auch wohl hätte zu anderen Zeiten gewähren lassen - und dennoch war manches Räthselhafte in ihrem Betragen.

Sie mochte etwa dreißig Jahre zählen, und ihr kleines Mädchen mochte etwa sieben, der Knabe zwei Jahre alt sein; ihre Kleidung war so einfach als möglich, und das kleine ärmliche Häuschen, das sie sich am äußersten Ende des Ortes miethete, bezeugte ebenfalls, daß ihr keine großen Mittel zu Gebote ständen. Trotzdem verrieth ihr ganzes Wesen, daß sie einst bessere, viel bessere Zeiten gesehen. Auch bildschön mußte sie früher einmal gewesen sein, ja sie war es eigentlich noch, hätte nicht der Gram oder vielleicht eine Krankheit so tiefe Furchen in ihr Antlitz gezogen. Und was für reizende Kinder hatte sie! Aber jedenfalls kam sie aus einem fremden Land, /2/ denn wenn sie selber auch vollkommen gut Deutsch sprach, und ohne Zweifel aus Deutschland stammte, plapperte das kleine Mädchen doch ganz allerliebst Französisch, und setzte dadurch nicht selten ganze Gruppen aufblühender Straßenjungen in unbegrenztes Erstaunen.

Ihr Name war, der eigenen Angabe nach, Frau Edmund, das kleine Mädchen hieß Valerie, der Knabe George. Wenn sie auch etwas Geld mitgebracht haben mußte, wovon sie im Anfang zehrten, so bemühte sie sich doch bald, Arbeit im Orte selber zu erlangen, um ihr Fortkommen in den schweren Zeiten zu erleichtern.

Sie nähte und stickte wunderbar schön, und wenn auch Osterhagen eigentlich nicht der Platz für solche Arbeit war, so wußte sie den Kreis ihrer Kundschaft doch auch bald auf die nicht ferne größere Stadt auszudehnen, wohin sie anfangs selbst Proben ihrer Arbeit brachte, um später durch die Botenfrau mit dem Ort zu verkehren.

Sie selbst zog sich dabei von jedem Umgang mit den Einwohnern Osterhagens zurück, wenn ihr auch Niemand deshalb Stolz vorwerfen konnte; sie war in ihrem ganzen Wesen freundlich, ja weit eher scheu und fast demüthig mit den Leuten, schien sich aber nie wohler zu fühlen als zu Haus, wo sie nur ihren Kindern lebte, und nur Abends, bei schönem Wetter besuchte sie den Kirchhof zu Osterhagen, und zwar dort ein besonderes Grab, von dem aber merkwürdiger Weise Niemand im Orte wußte, wer darunter lag. Es trug auch weder Namen noch Jahreszahl, und einige von den älteren Bewohnern des Dorfes wollten behaupten, es stamme noch aus den Kriegszeiten her.

Allerdings wurde die Fremde oft danach gefragt, aber sie gab immer nur ausweichende Antworten, und da Niemand ein besonderes Interesse an ihr nahm, ließ man sie eben gewähren.

Dabei versäumte sie aber nicht, sich dem Unterricht ihrer Kinder, besonders des Mädchens, auf das Fleißigste zu widmen, und nach kaum einem Jahre sprach auch die kleine Valerie schon vollkommen gut Deutsch und konnte jetzt in die Schule gesandt werden - aber sie blieb nicht lange dort. Die Kin-/3/der verspotteten und neckten sie fortwährend ihrer etwas fremdartigen Aussprache, ihres ganzen, ihnen viel zu zierlichen Benehmens wegen; sie kam fast jeden Mittag weinend nach Haus, und die Mutter beschloß deshalb, den Selbstunterricht im Hause fortzusetzen.

Im zweiten Jahre traf die arme Frau ein harter Schlag: der Knabe, ihr kleiner Liebling, erkrankte an der Halsbräune1 und starb nach wenigen Tagen in ihren Armen. Sie war ganz außer sich und lag viele Wochen an einem heftigen Fieber auf ihrem Lager.

Die kaum neunjährige Valerie besorgte in der Zeit im Haus die ganze Wirthschaft und pflegte dabei die Mutter Tag und Nacht. Diese erholte sich auch allerdings wieder, aber der Schlag hatte sie zu furchtbar getroffen, und sie kränkelte von da an sichtlich an einem bösen trockenen Husten, der sie häufig am Arbeiten hinderte.

Mit dem Gelde wurde es dabei immer knapper; anfangs war sie ein paar Mal in der Stadt gewesen und hatte, wie es sich in Osterhagen wenigstens aussprach, dort goldenen Schmuck verkauft - davon lebte sie eine Zeit lang; endlich schien auch das erschöpft, und einzelne ihrer wenigen Habseligkeiten mußten veräußert werden. Einmal erholte sie sich wieder, und ein volles Jahr lang schien es, als ob sie ihre Kräfte vollständig zurückerlangt hätte, aber es kam ein Rückfall, und jetzt ging es mit der armen Frau scharf bergab.

Es war drei Jahre nach dem Tode des kleinen George, daß Valerie in einer Nacht ängstlich an die Thür ihrer Nachbarin, einer armen Wittwe, pochte, und diese um Gottes willen bat, zu ihrer Mutter zu kommen, damit sie selber nach dem Arzt laufen könne.

Die alte Frau ging hinüber und fand eine Sterbende. Der Arzt, ein gewöhnlicher Dorfchirurg, kam, aber menschliche Hülfe konnte hier nichts mehr nützen - er wollte ihr den Geistlichen senden, aber sie hob abwehrend die Hand. Es war nur ein protestantischer Pfarrer im Orte, und sie selber gehörte der katholischen Kirche an. Nur ihr armes Kind

winkte sie noch zu sich heran, legte mit ihren letzten Kräften die Arme um dessen Nacken, küßte es, flüsterte ihm ein leises /4/ „Gott schütze dich, meine arme Valerie“ zu und sank dann tot auf ihr Kissen zurück.

Valerie saß neben ihrem Bett, die Hände im Schoß gefaltet, die großen, tränengefüllten Augen auf die lieben, bleichen Züge geheftet. Die alte Nachbarin hatte der Toten die Augen zugedrückt und war dann fortgegangen, um die Anzeige beim Schulzen zu mchen; der Wundarzt wurde ebenfalls abgefuren, so saß sie stundenlang.

Endlich quälte sie der Hunger; sie hatte gestern den ganzen Tag keinen Bissen über die Lippen gebracht, auch heute morgen noch nicht daran gedacht, irgend welche Nahrung zu sich zu nehmen, auch nichts dafür im Hause. Jetzt verlangte die Natur ihr Recht, und sie stand langsam auf, um sich beim nächsten Bäcker Brot zuholen.

Draußen zogen die Leute zu Markt, das lebte auf der Straße, Fuhrleute knallten wie gewöhnlich mit ihren Peitschen, Kinder lachten und jubelten, ein paar Frauen zankten sich, weil die einer der anderen den Korb umgestoßen hatte, und da drinnen in dem kleinen Haus lag ihre Mutter auf dem Totenbett! Kümmerte sich denn gar niemand darum? Hatte kein Mensch einen Trauerblick für sie? Und ging die Welt, während alles Elend der Erde nur allein über das arme Kind hereingeborchen war, indessen ihren ruhigen, fröhlichen Gang?

Wie in einem schweren Traum schritt sie die Straße hinab, dem Hause des Bäckers zu, legte ihre Kupfermüunze auf den Tisch und bat um ein Brot.

„Sollst du haben“, sagte der Bäcker, der mit aufgestreiften Ärmeln und ganz mit Mehl bestaubt hinter dem Fenster stand, „aber von voriger Woche seid Ihr noch sechs Groschen schuldig, sag‘ deiner Mutter, daß sie’s bald herüberschickt.“

„Meine Mutter ist tot“, hauchte das arme Kind.

„O Du lieber Gott,“ sagte die Frau, die danebenstand, und schlug die Hände zusammen, „sorg dich nicht um die paar Groschen, Schatz, die werden uns auch nicht arm machen.“

„Sie sollen das Geld haben,“ flüsterte das arme Mädchen, drehte sich ab und schritt langsam wieder dem Hause zu.

„He, Franzosenmädchen, Franzosenmädchen!“, riefen ein paar Jungen spottend hinter ihr drein. Sie hörte es wohl gar nicht, nur an dem Wagen einer Hökerin, die Blumen mit zu Markte nehmen wollte, blieb sie noch einmal stehen und kaufte für das wenige Geld, das sie noch bei sich trug, Blumen für die tote Mutter. Dann ging sie still nach Hause. Da aber, wie sie wieder das Zimmer betrat, als ihr in den bleichen, eingesunkenen Zügen der Geliebten der ganze über sie hereingebrochene Jammer in furchtbarer Wahrheit vor die Seele trat, da vermochte sie sich nicht länger zu halten. Auf das Bett der Mutter flog sie zu, warf sich über die Leiche, die sie krampfhaft mit ihren Armen umschlang, und schluchzte laut.

Dann traten, nach einer Weile, Fremde in das Zimmer, Frauen, die sich hinsetzten und über die Verstorbene in ihrem Beisein sprachen. Ein Mann kam, der gleich die Länge des Körpers maß; auch die „Leichenfrau“ traf ein, und alles wurde so laut und geschäftsmäßig betrieben, daß es das arme Kind, das in den letzten Tagen kaum gewagt hatte, hier zu flüstern, wie mit Messern durch das gequälte Herz stach.

Aber auch das ging vorüber; die fremden Menschen ließen sie wieder mit ihrer toten Mutter allein, und sie behielt jetzt wenigstens Zeit, die mit den Blumen u schmücken und ihr Lager herzurichten. Erst dann kauerte sie sich neben der Geliebten nieder, den Kopf an ihren kalten Arm gelehnt und verzehrte, mit dem Salz ihrer eigenen Tränen, das trockene Stück Brot.

Zwei Tage hielt sie bei der Teuren getreue Wacht, am dritten kamen die schwarzen Männer und legten sie in den Sarg.

Draußen war schlechtes Wetter, ein kalter Nordostwind fegte über das flache Land, und der Regen schlug in Strömen herunter, wer hätte da mit „zur Leiche“ gehen sollen. Schmucklos auf dem schwarzen Wagen stand der einfache Sarg, den zwei Pferde zu seiner letzten Ruhestätte führten, und hin/6/ter ihm, einen Blumenstrauß in den Händen, durch Sturm und Unwetter, in dem dünnen Kleid, folgte einsam und allein, wie es von jetzt ab durch das Leben gehen sollte, das arme Kind.

Trotz des schlechten Wetters hatte sich der protestantische Geistliche eingefunden und sprach ein paar freundliche Worte über das Grab der Armen; auch dem Kinde redete er zu und sagte ihm, daß es auf Gott bauen solle, so würde es noch gute Menschen finden, die sich seiner annähmen.

Und dazu der peitschende Regen auf dem erweichten Lehm des Kirchhofs! Die Todtengräber hatten mit Ungeduld das Ende der Rede erwartet, und nur Valerie stand daneben und zitterte vor dem Augenblick, wo der Sarg in die Gruft gesenkt werden mußte.

Der Geistliche gab dazu das Zeichen - hastig gehorchten die Leute, die unter das schützende Dach zurückzukehren wünschten - an den nassen Seilen rutschte er nieder, und Valerie warf ihm ihre Blumen als letzte Liebesgabe nach. Dann schaufelten die Männer das Grab wieder zu; der Geistliche stieg in den schon seiner harrenden Wagen - und nur Valerie, das Herz zum Brechen voll, ihre dünnen Kleider vollständig durchnäßt, suchte, wie sie gekommen, mit schweren Schritten ihre öde Heimath wieder auf.

Dann kam eine bittere, wehe Zeit für sie - der Verkauf der ärmlichen Hinterlassenschaft, um die bei Doctor wie Apotheker aufgelaufenen Schulden, das Begräbniß und noch manche andere Kleinigkeiten zu decken. Es mußte fast Alles verkauft werden, und zugleich drängte sich dem Ortsvorstand die Frage auf, was nun mit dem Kinde selber werden solle, da man dies doch nicht allein in der leeren Wohnung lassen konnte.

Jetzt wurde, freilich etwas spät, nachgeforscht, woher die Familie stamme, und wo sie also ihr Heimathsrecht habe, aber die darum befragte Kleine wußte nichts, als daß sie bei ihrer damaligen Uebersiedelung weit bis zu dieser Stelle hergekommen wären. Papiere fanden sich gar nicht, und Valerie gestand ganz offen, daß sie, kurz vor der Mutter Tod, ein Kästchen voll Briefe habe im Ofen verbrennen müssen. /7/ Jedenfalls hatte die Sterbende Alles vernichten lassen, was Licht über Valerie's Herkunft geben mochte. Weshalb das geschehen war, wußte natürlich Niemand zu sagen; aber daß es in Osterhagen augenblicklich die schlimmste Auslegung erfuhr, läßt sich denken - der andere Fall wäre gegen Menschennatur gewesen. Es verstand sich von selbst, daß sie oder ihre nächsten Verwandten irgend ein todeswürdiges Verbrechen begangen haben mußten, wonach der Name „Edmund" auch ein angenommener war - und das letztere fand allerdings darin eine Art von Bestätigung, daß der Gerichtsbeamte in dem letzten, noch gebliebenen Betttuch das mit einer Krone versehene Zeichen V.de.F. fand, über welches das Kind natürlich keine Aufklärung geben konnte.

Der jetzige Ortsvorstand erklärte freilich, und zwar während dieser Untersuchung und in Gegenwart des Kindes, daß sein Vorgänger im Amt vollständig gewissenlos gehandelt habe, eine solche vagabondirende Familie in der Gemeinde zuzulassen und dieser dadurch eine Last aufzubürden; aber die Sache wäre einmal geschehen und nicht mehr zu ändern, und jetzt könnten sie sehen, wo sie das Kind unterbrächten.

Valerie saß, während das Alles verhandelt wurde und die fremden Menschen über das Eigenthum ihrer Mutter nach Gutdünken verfügten, still und lautlos in der Ecke des Zimmers und starrte mit ihren großen, dunkeln Augen die Männer an. Sie weinte nicht - kein Wort der Klage kam über ihre Lippen, keins des Vorwurfs oder der Bitte, ihr dies oder das zu erhalten, was ihr vielleicht als Andenken theuer gewesen wäre. Das Furchtbarste, was hatte geschehen können, war geschehen, und alles Andere schien sie nicht mehr zu kümmern - nicht einmal, daß man sie, als Alles ausgeräumt worden, im Abenddunkel allein in der leeren Wohnung zurückließ, und nur der alten Nachbarin verdankte sie's, daß die Leute nicht auch noch den Strohsack und eine alte Decke mitnahmen - sie hätte sonst nicht einmal einen Platz gehabt, wohin sie ihr müdes Köpfchen legen konnte.

Allerdings beabsichtigte man nicht, sie ihrem Schicksal vollständig zu überlassen; das wäre nicht angegangen, da sie noch nicht einmal confirmirt war; aber heut Abend wenigstens /8/ konnte nichts mehr in der Sache geschehen; morgen früh in der „Gemeinde-Sitzung" mußte das erst entschieden werden, und die Waise indessen in der alten Wohnung bleiben. Die Leute handelten dadurch auch nicht gerade herzlos mit der Verlassenen; der Geistliche selber hätte sie gern zu sich in's Haus genommen, aber das beherbergte fünf eigene Kinder und eine arme alte Verwandte, und bei seinem geringen Gehalt wußte er selber oft nicht, wie er sich ehrlich und anständig durchbringen sollte, er durfte sich keine solche neue Verpflichtung aufladen - schon der eigenen Kinder wegen.

Auch die Frau des Bäckers hätte es vielleicht möglich gemacht, wenn sie nicht gerade eines verstorbenen Bruders Kind, auch ein Mädchen in Valerie's Alter, zu sich genommen. Was sollte sie mit zweien anfangen, und ihr Mann wollte auch nichts davon wissen. Der Ortsvorstand beschloß allerdings, einige der wohlhabendsten Familien im Orte darum zu ersuchen, das Kind zu erziehen, d. h. in Arbeit zu nehmen; Niemand schien aber gewillt, eine solche „Verantwortlichkeit" zu übernehmen, denn wer wußte denn, wie sich die Fremde anließ, und ob nicht durch sie gerade Streit und Unfriede in der Familie entstand.

So blieb dem Vorstand denn nichts übrig, als sie in das Gemeinde-Armenhaus - ein kleines steinernes Gebäude, das nicht weit vom Kirchhof stand - einzuquartieren. Von dort aus konnte sie noch bis zu ihrer Confirmation die Schule besuchen und nachher in Dienst genommen werden. Indessen war man dann auch im Stande, Nachforschungen über ihre Abkunft anzustellen, wenn dieselben auch nur wenig Erfolg versprachen. Wußte man doch nicht einmal, nach welcher Richtung, nach welchem Lande man sich deshalb wenden solle; und war sie gar wirklich aus Frankreich herüber gekommen, wie man allgemein glaubte, so ließen sich dafür nicht mehr die geringsten Beweise bringen - Frankreich hätte sie deshalb auch nie wieder angenommen und versorgt. /9/

2.

Das Gemeinde-Haus.

Valerie hatte, so lange ihre Mutter lebte, nie das Bedürfniß gefühlt, sich an irgend jemand Andern anzuschließen, und deshalb auch mit Kindern ihres Alters wenig oder gar keinen Verkehr gehabt. Diese spotteten ja auch nur über ihre Sprache und ihr ganzes fremdartiges Wesen, und herzlich gegen sie war keins von allen gewesen. Was brauchte sie auch Fremde - ihre Mutter galt ihr Alles auf der Welt, und sie sehnte sich nicht hinaus zu den Menschen!

Jetzt plötzlich war ihr Alles mit einem Schlag genommen, und sie selber nur auf die angewiesen, von denen sie sich früher zurückgezogen, ja von denen sie zurückgestoßen worden, und wie unglücklich sie sich dabei fühlte, läßt sich denken. Aber sie klagte weder, noch weinte sie. Als ob sie im Unglück ergraut wäre, so packte sie das Wenige, was ihr noch geblieben, zusammen und verließ das Haus - das einzige, das sie als Heimath kannte, um in das Gemeinde-Haus überzusiedeln. Dort lebte eine arme alte Frau in der einen Stube, der sie zugetheilt wurde, und die zugleich die Aufsicht über sie führen sollte, worauf diese auch sehr gern eingegangen war, da sie das Kind als Aufwartung recht gut gebrauchen konnte.

Das Gemeinde-Haus stand, wie gesagt, nicht weit vom Kirchhof und war insofern eins der stattlichsten Gebäude im Dorfe, da es ganz neu und massiv aus Sandstein aufgeführt und mit Ziegeln gedeckt worden; öde genug sah es freilich noch aus, denn kein Baum oder Strauch befand sich auf wohl vierzig Schritt im Umkreis; nur rother, lehmiger Boden, bei Regenwetter fast unnahbar. Dicht hinter dem Haus hatte der kleine Ort auch einen Brunnen graben lassen, aber das herausgeworfene Erdreich lag noch in hohen Haufen rings umher und machte den Platz dadurch nur noch wilder und trostloser.

Und das Innere? - Das ganze Haus bestand aus sechs Zimmern, einem Erker oder Mansardstübchen und einer Küche. /10/ Bewohnt war es nur zur Hälfte von drei Parteien: jener alten Frau, der Wittwe eines emeritirten Schullehrers; einem alten wüsten Burschen, der seit etwa dreißig Jahren auf Märkten und Messen mit einer Drehorgel und Mordgeschichten herumgezogen war und jetzt, da er nicht mehr fort konnte, an seine Gemeinde zurückgeliefert wurde, und einem blinden Schuhmacher, der eigentlich in ein Irrenhaus gehört hätte, denn er hielt sich für den König David und sang fortwährend Psalmen. Das aber ärgerte den alten Bänkelsänger, und so wie der Schuhmacher drüben in seiner Stube einen Psalm begann, fiel er mit einer seiner alten Mord- und Räubergeschichten ein, so daß diese Zwei zusammen tagtäglich ein ohrzerreißendes Concert lieferten.

Drei von den Zimmern standen öde und leer, so daß es im Winter eigentlich nie warm wurde; aber auch selbst die bewohnten Zimmer besaßen nur das Allernothwendigste von Hausgeräth - ein Bett mit Strohsack und wollener Decke, einen rohen Stuhl und eine wie mit der Axt zugehauene Commode. Die Oefen waren ziemlich gut, aber von außen zu heizen, und das Kochgeschirr in der Küche, mit ein paar blechernen Tellern und Löffeln, zum gemeinschaftlichen Gebrauch für alle Insassen.

Da hinein kam Valerie - dort sollte sie ihre Jugend verbringen, und als sie zuerst die Schwelle überschritt, war es ihr, als ob sie zum Tode geführt würde. Aber auch hier kam kein Laut über ihre Lippen, keine Thräne mehr in ihr Auge; still und geduldig ließ sie Alles mit sich geschehen, denn sie hatte ja keinen eigenen Willen, und wie ihr der Ortsvorstand bemerkte, mußte sie der Gemeinde noch dankbar dafür sein, daß diese sich einer solchen, eigentlich gar nicht hierher gehörenden Last angenommen hätte. Er schien auch wirklich eine Art Dank dafür zu erwarten, aber Valerie erwiderte keine Silbe. Schweigend folgte sie ihm in das öde Zimmer zu der alten Frau; schweigend, nur mit einem schüchternen Gruß, legte sie ihr kleines Bündel ab, und kauerte sich dann, beide Ellbogen mit ihren zarten Händen fassend, in der Ecke auf den Boden nieder.

Die alte Frau ließ sie anfangs gewähren und betrachtete /11/ sie nur manchmal kopfschüttelnd; es mochte ihr selber wunderbar vorkommen, ein so zartes Wesen als Genossin im Armenhaus zu erhalten. Aber ihre eigene Bequemlichkeit ging ihr doch zuletzt über jede etwa zu nehmende Rücksicht, und sie sagte nach einer Weile:

„Wie heißt Du, Kind?"

„Valerie," erwiderte das junge Mädchen scheu, und die Alte schüttelte ganz erstaunt wieder den Kopf.

„Wer hat nur je in aller Welt davon gehört, daß Eltern ein Kind Falleri getauft hätten? Falleri fallera singen die Kerle draußen, wenn sie 'was im Kopfe haben; das muß ein komischer Pfarrer gewesen sein, der den Namen in sein Kirchenbuch geschrieben hat. - Aber das schadet nichts, Kind," setzte sie beruhigend hinzu, „er klingt wenigstens lustig, und 'was Lustiges können wir in dem Elend hier gebrauchen, Schatz, das weiß der allmächtige Gott."

Valerie sah scheu zu ihr hinüber; die Alte nickte so heftig und unheimlich mit dem Kopf und sah dabei so stier vor sich hin, daß sie sich ordentlich vor ihr zu fürchten begann; aber die Frau Kunze - wie sie mit Namen hieß - war nur einmal wieder in ihre alten Erinnerungen hinein gerathen, in ihre Jugendjahre, wo sie auch bei fremden Leuten gedient, dann mit dem Schullehrer des Dorfes ein Verhältniß angesponnen, der sie zuletzt hatte heirathen müssen, dann die ganze Jammerzeit ihrer Ehe hindurch in Noth und Kummer hinlebend mit fünf Kindern, die sie alle, eins nach dem andern, begraben mußte, zuletzt mit dem Bescheid des Oberconsistoriums, der ihren Mann noch in seiner besten Lebenszeit emeritirte; dann das Elend nachher und zuletzt der Tod des Gatten, der sie, mit ihrer Pension von achtzehn Thalern jährlich, auf das Gemeinde-Armenhaus anwies, als letzte Zuflucht. Wenn sie das Alles aber bedachte, kam ihr immer der wunderliche Gedanke, wie es denn möglich sei, daß der liebe Gott Menschen auf die Erde setzen könne, denen er auch nicht ein einziges Jahr, ja keinen Tag, keine Stunde des Glückes gebe und die ihr Dasein in Jammer und Leid bis zum Grabe fortschleppen müßten, und daß sie dabei nicht freundlich aussehen konnte, ließ sich denken. /

12/ Aber das Grübeln allein half ihr nichts; das hatte sie das ganze Jahr hindurch alle und alle Tage, und die halben Nächte dazu; es wurde Zeit, daß sie etwas zu essen bekamen, und sie sagte deshalb:

„Komm, Kind, das nützt Alles nichts - das Grübeln bringt uns nicht weiter, und der Kopf wird Einem nur schwer und das Herz auch. - Sieh dich ein bischen in der Küche um - ich zeige Dir, wo Alles steht, und mach' Feuer an, daß wir wenigstens ein paar Kartoffeln bekommen - weiter giebt's nichts, außer Sonntags, da kriegen wir Fleisch - oder manchmal auch keins, wenn es Hirsebrei setzt. Du wirst so jetzt für die Küche sorgen müssen, denn meine alten Knochen wollen nicht mehr recht fort, und es wird auch wohl Zeit, daß ich mich zur Ruhe setze, denn eine Hülfe im Haus hat's mir noch nie abgeworfen. So alt ich bin, ich habe nur immer mir selber und anderen Menschen helfen müssen."

Die Alte murmelte noch immerfort einzelne Worte vor sich hin, stand aber doch jetzt selber auf, um dem Kind seinen neuen Wirkungskreis zu zeigen und die bisher gethane Arbeit auf dessen Schultern zu legen.

Valerie folgte ihr willenlos in die Küche und begriff bald die Behandlung des sehr einfachen Kochherdes, versprach auch, das Geschirr immer hübsch rein und sauber zu halten, was die alte Frau, wie sie selber eingestand, in der letzten Zeit etwas vernachlässigt hatte. Du lieber Gott, „es ging eben nicht mehr recht, und man konnte es nicht verlangen".

Der blinde Schuster war indessen auch schon ungeduldig geworden, machte seine Stubenthür auf und fluchte - obgleich er sonst nur immer Psalmen sang - auf gotteslästerliche Weise heraus, was denn das wäre, ob nicht bald Feuer angemacht würde, und sie heute etwa gar nichts zu essen haben sollten.

Valerie erschrak - der Mann sah gar so böse und so entsetzlich schmutzig und widerlich häßlich aus; aber heute noch unter der Anleitung der Alten ging sie willig an die Arbeit, holte Wasser, zündete Feuer an, wusch das von der letzten Mahlzeit noch stehen gebliebene Geschirr auf und prüfte die aufgesetzten Kartoffeln mit der Gabel, bis sie weich und gar /13/

waren. Dann wurde in der Küche auf dem Küchentisch gegessen, und der blinde Schuhmacher wie der alte Bänkelsänger trafen dort, nach gemeinschaftlichem Uebereinkommen, Mittags zusammen - weniger freilich der Unterhaltung wegen, als um sich gegenseitig zu zanken, wonach dann Jeder, unter den gemeinsten Schimpfworten, sein eigenes Nest wieder aufsuchte.

Unter solcher Gesellschaft verlebte jetzt das arme Kind seine Zeit, und wie es im Anfang vor Ekel über den ihm überall entgegenstarrenden Schmutz kaum essen konnte, und sich mit seinem Teller Kartoffeln scheu und zitternd vor den rohen Worten der Streitenden in eine Ecke zurückzog, fühlte es sich nur dann wohl, wenn es von Niemand beachtet wurde, und seine Arbeit, der es sich ja so gerne unterzog, ungestört verrichten konnte.

Glücklicher Weise schrieben die Gesetze vor, daß ihre „Erziehung" nicht vernachlässigt werden durfte - sie mußte die Schule besuchen, und mit welchem Eifer würde sie gelernt haben, wenn ihre Mitschülerinnen nur ein klein wenig freundlicher gegen sie gewesen wären! Aber sie wurde geneckt und verspottet, wo das nur heimlich geschehen konnte, und wagte nicht einmal sich zu beklagen, aus Furcht, die schon so rohen Kinder nur noch mehr zu reizen.

Der alte Geistliche nahm sich freilich ihrer an und würde das auch nicht gelitten haben, wenn er es eben erfahren hätte; der Schulmeister aber, eins jener gedrückten Wesen, der mit einem Gehalt, bei dem er fast verhungern mußte, täglich sieben Stunden Unterricht geben sollte, sah es nicht, oder wollte es nicht sehen. Er hatte gerade Aerger genug mit der Bande auf eigene Faust, und gedachte nicht, sich noch in Privatsachen zu mischen. Ueberdies gehörten ja auch die ungezogensten Bälge gerade den reichsten Bauern im Orte an, und mit denen mochte er es ohnehin nicht verderben - der Dirne aus dem Armenhaus wegen.

Das war eine furchtbare Zeit für das arme Kind, ein stärkerer Charakter, als ihn Valerie besaß, hätte dazu gehört, sie unbeeinflußt von ihren bösen Wirkungen zu ertragen.

Wie hatte ihre selige Mutter für sie gesorgt, um ihren Geist und Körper auszubilden, wie auf Reinlichkeit gesehen, /14/ und selber Alles in ihrem kleinen, wenn auch noch so ärmlichen Haus so sauber gehalten, daß das Ganze wie ein Puppenstübchen aussah - und wie anders, wie furchtbar anders war das jetzt geworden!

Was vermochte der alte mürrische Schullehrer sie noch zu lehren, was selbst das jetzt zwölfjährige Kind nicht schon wußte! Was lag ihm auch daran, ob seine Schüler und Schülerinnen etwas lernten - er hielt eben seine Stunden, käute die alten, schon tausendmal gebrauchten Phrasen und Formen wieder und dankte Gott, wenn es Sonnabend Mittag war.

Geistig erhielt Valerie deshalb von diesem Lehrer gar keine Hülfe und Unterstützung, und körperlich ging sie in ihrer wüsten Umgebung täglich mehr zu Grunde.

Wohl sträubte sie sich lange dagegen; die Lehre, das gute Beispiel ihrer wackern Mutter wurzelten noch zu fest in ihrem Herzen, und sie versuchte fast das Uebermenschliche, sich über dem Schlamm zu halten, der sie von allen Seiten umgab - aber lieber Gott, es war ja doch nur ein Kind, das geleitet sein wollte; es fehlte ihr ja noch der freie feste Wille der Erwachsenen, und wie eine alte Eiche starr und eisern gegen den Sturm die Wurzeln in den Boden krallt, so biegt sich der junge Schößling seiner Gewalt und behält die Neigung, die er ihm gezeigt.

So gab sich auch Valerie mehr und mehr dem bösen Einfluß hin, der auf sie einwirkte; was half ihr auch alles dagegen Ansträuben, sie konnte sich ihm ja doch nicht mehr entziehen. Anfangs, ja, suchte sie sich noch die Sauberkeit zu erhalten, in der sie ihre verstorbene Mutter erzogen; sie wusch und besserte an ihrem Kleidchen, an ihrer Wäsche aus, wo ihr nur ein Augenblick Zeit blieb; als aber der Winter mit Eis, Schnee und bitterer Kälte hereinbrach, und ihr kein eigenes Plätzchen blieb, an dem sie sich aufhalten konnte, fing sie ebenfalls an, gleichgültig gegen sich selber zu werden; trieb sie doch schon der bittere Frost hinter den Ofen, da ihr die dünnen Kleider keinen Schutz gegen die Kälte gewährten.

Auch Morgens scheute sie sich aufzustehen und Feuer anzuzünden, bis sie die Alte von ihrem ärmlichen Lager jagte; dann natürlich konnte sie sich ihr Haar nicht machen, band die /15/ vollen, aber wirren Locken nur flüchtig in einen Knoten zusammen und ging an ihre Arbeit. Auch ihr Kleid war so fadenscheinig geworden, daß Ausbessern gar nichts mehr half; es zeigte dabei überall Spuren von Fett und anderen Flecken; kurz, sie begann zu verwildern, und Niemand war, der sie gewarnt und ermahnt hätte - nicht einmal der Schullehrer, dessen erste Pflicht es gewesen wäre.

Begegnete ihr der Geistliche dann einmal in einem solchen Aufzug, so blieb er wohl kopfschüttelnd vor ihr stehen und schalt sie ihres unordentlichen, schmutzigen Aussehens wegen, aber der alte Mann hatte auch andere Dinge im Kopf, um der Sache auf den Grund zu gehen. Daheim lagen ihm zwei Kinder schwer krank am Nervenfieber fast den ganzen Winter hindurch, und das lastete ihm mit einem solchen Druck auf dem Herzen, daß er seiner nächsten Umgebung kaum mehr als einen flüchtigen Blick widmen konnte.

So verging der Winter, und der Sommer kam wieder, aber keine bessere Zeit für das arme Kind, dem die Gesellschaft in dem öden Gemeinde-Haus immer entsetzlicher wurde. Der alte Bänkelsänger trank. Wo er das Geld dazu herbekam, wußte Niemand; aber er hatte fortwährend wenigstens einige kleine Münzen, und wenn ihn Jemand darum frug, behauptete er immer lachend, er wisse einen verborgenen Schatz im nächsten Berge, aus dem er sich hole, was er brauche. Manchmal war er allerdings zwei bis drei Tage fort, Niemand wußte wohin, und wenn ihn der Ortsvorstand dann zur Rede setzen wollte, und ihn frug, wo er sich ohne Legitimation im Lande umhergetrieben, lachte er jedesmal und behauptete, er habe oben in den Hügeln Kräuter gegen seinen bösen Husten gesucht - brachte auch in der That jedesmal einen ganzen Arm voll Pflanzen mit, die er aber, allem Anschein nach, irgendwo auf's Gerathewohl ausgerissen hatte, denn der Dorfbader, der die Sache verstehen mußte, erklärte sie sämmtlich für werthlos in der Medicin, und der alte Lüdrian benutzte sie auch nie weiter, sondern warf sie nur in eine Ecke, wo sie ein paar Tage lagen und welkten, und dann von Valerie hinausgetragen wurden.

Der Zustand des blinden Schusters verschlimmerte sich /16/ ebenfalls mit jedem Tage, ohne daß die geringste Veränderung mit ihm getroffen und er an einen sichern Platz geschafft worden wäre. Sein bis dahin stiller Wahnsinn ging oft in laute Tobsucht über, daß sich das arme Kind oft in Angst und Schrecken aus dem Haus flüchtete und draußen im offenen Feld Schutz suchte.

Der Schulze hatte eine Eingabe gemacht, und es kam ein Arzt aus der Stadt heraus, um den Schuster zu untersuchen; da er sich aber gerade in der Zeit vollkommen ruhig verhielt, erklärte der Arzt, es hätte noch nichts zu sagen, und man solle wieder zu ihm schicken, wenn er auf's Neue in einen Wuthanfall geriethe.

Die Zeit rückte jetzt auch heran, wo Valerie zur Confirmation vorbereitet werden sollte, und es verstand sich von selbst, daß das im protestantischen Glauben geschah; der ganze Religionsunterricht war ja auch in der Richtung gewesen, und Valerie selber hatte dabei keinen Willen, wagte auch nicht den geringsten Widerspruch. Jetzt aber mußte sie viel lernen; ganze Seiten voll Bibelsprüche und Katechismusverse, und wenn ihr das auch ziemlich leicht wurde, so ließ ihr der Lärm im Hause doch selten dazu Ruhe. Der blinde Schuster sang seine Psalmen dazwischen, der alte Bänkelsänger brüllte seine frechen Lieder, und dazu hatten sie jetzt noch eine arme Frau mit zwei kleinen Kindern, Zwillingen, einbekommen, die beide den ganzen Tag und die halbe Nacht schrieen.

Da brach der wilde Geist eines Abends wieder bei dem Tollen los - Valerie saß gerade in ihrem Eckchen, mit dem Buch auf dem Schooß, hinter dem Ofen, als er in das Zimmer stürmte und mit solcher Gewalt gegen den Ofen anrannte, daß dieser zusammenbrach und die niederstürzenden Stücke das Kind schwer am Kopf beschädigten.

Glücklicher Weise kamen gerade ein paar Knechte von der Arbeit aus dem Feld an dem Haus vorüber, die den jetzt vollständig Wüthenden fassen und mit ihren Geschirrleinen binden konnten.

Valerie hatte eine nicht unbedeutende Verletzung erhalten und lag Stunden lang ohne Bewußtsein; der Bader wurde gerufen, ließ ihr natürlich zur Ader und verband sie, und sie /17/ kam wieder zum Leben, mußte aber lange das Bett hüten und durfte in der ganzen Zeit nicht lernen. Pflege hatte sie auch weiter keine als die alte mürrische Frau, und sie verbrachte auf ihrem harten Strohsack eine lange, trostlose Zeit.

Aber auch das ging vorüber; ihre jugendliche Natur half ihr über die sonst vielleicht gefährlichen Folgen der Verwundung hinweg, und sie konnte sogar in einiger Zeit wieder die nöthigen Arbeiten für ihr Examen vornehmen.

Der Aufenthalt im Hause wurde indessen immer trostloser, denn der Bänkelsänger schien durch das Fortschaffen seines bisherigen Cumpans, des blinden Schusters, fast außer sich gerathen. Allerdings hatte er mit diesem bisher in ewigem Zank und Streit gelebt, aber gerade dieser Zank war ihm zuletzt Bedürfniß geworden, und als er ihn entbehren mußte, wurde er vollständig unleidlich - und trotzdem schien er eine Art von wunderlicher Zuneigung zu dem Kind gefaßt zu haben, die er sich aber doch nicht wollte merken lassen, weil sie ihm vielleicht selber absurd vorkam. So lange sie aber krank lag, war seine erste Frage an jedem Morgen, wie es der ,,Falleri" ginge, und Nachts saß er manchmal Stunden lang an ihrem Lager und half mit, ihr nasse Tücher um den Kopf zu legen, oder reichte ihr auch wohl den Becher mit Wasser, wenn sie danach verlangte. Der alten Schulmeisters-Wittwe erzählte er dabei einmal, daß er früher ein Kind gehabt, ein kleines Mädchen, so zart und hübsch wie die „Falleri", aber sie war ihm gestorben, die Mutter ebenfalls, und wie sie auf dem Todtenbett gelegen, hätte sie gerade so ausgesehen wie die „Falleri".

Diese Zuneigung schien übrigens nur so lange zu dauern, wie das Kind wirklich krank und halb bewußtlos war. Kaum erholte sie sich wieder, als er sein altes Leben begann und sich gar nicht weiter um sie bekümmerte; ja, als sie nur eben erst ein klein wenig im Haus herumwirthschaften konnte, schimpfte und fluchte er wieder auf sie wie vordem, und sang alle seine alten schauerlichen Lieder, von denen bis dahin keins über seine Lippen gekommen.

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3.

Zur Confirmation.

So nahte die Zeit, wo Valerie confirmirt werden und dann auch das Gemeinde-Armenhaus verlassen sollte, denn der Schulze hatte ihr schon einen Dienst bei einem Bauer ausgemacht, dessen Schwiegermutter an einer bösartigen Krankheit litt, und deren Pflege sie übernehmen konnte. Wozu brauchte auch die Gemeinde länger die Last zu tragen, wenn sich das Mädchen erst einmal selber mit ihrer Hände Arbeit ernähren konnte? Es war eigentlich eine Sache, die sich von selbst verstand.

Valerie war indessen vierzehn Jahr alt geworden - wenn sie sich auch kaum noch auf den Tag ihrer Geburt erinnerte, denn wer hatte sich, seit ihre Mutter gestorben, wohl noch um den gekümmert! Stark gewachsen mußte sie auch in der Zeit sein, denn ihre Kleider wollten ihr nirgends mehr passen und reichten ihr kaum mehr bis über die Kniee, und neue hatte sie ja nicht dazu bekommen. Aber wie bleich und mager sie aussah, und wie verwahrlost, wie schmutzig und abgerissen! Auch der freundliche, kindliche Zug von Anmuth war aus ihrem Antlitz gewichen, der es früher erhellte und die Grübchen in ihre runden Wangen rief. Finster und verdrossen sah sie aus, und wenn sie ja einmal draußen bei der Arbeit und ganz in Gedanken mit ihrer klaren Stimme sang, so waren es nur die wüsten, häßlichen Lieder, die sie von dem alten Bänkelsänger den ganzen Tag hören mußte, und die ihr deshalb in den Ohren klangen - und dazu die Vorbereitung zur Confirmation! Aber das störte sie nicht; welche Andacht konnte sie auch mit in die Kirche zu einem Gott bringen, von dem sie sich verlassen glauben mußte, während sie von den Menschen unter die Füße getreten wurde. Sie beobachtete - wie es Tausende ebenfalls thun - die anbefohlenen Formen und Formeln, und nahm das Ganze als eine eben nicht zu umgehende Ceremonie, die sie ja auch überstehen würde, so gut wie die Anderen. /19/ Eine Schwierigkeit hatte es dabei: ihre dürftige, abgerissene und schmutzige Kleidung. - So konnte sie nicht vor Gottes Altar treten, wie der Geistliche sagte, und der Schulze sollte Rath schaffen. Aber woher nehmen und nicht stehlen; denn neue Kleider aus dem Gemeindesäckel zu bezahlen, war noch nicht dagewesen und konnte auch von keiner Gemeinde verlangt werden.

Vielleicht gab es aber da eine Hülfe, denn der Schulze hatte bemerkt, daß Valerie an einer Schnur einen goldenen Schmuck um den Hals trug, und zwar ein kleines Kreuzchen und einen einfachen Ring. Das Kreuz hatte sie selbst einst von ihrer Mutter, die es bis dahin getragen, zum Weihnachten bekommen - der Ring war der Trauring der Verstorbenen, den sie ihr von der kalten Hand gezogen und als theures, einziges Vermächtniß aufbewahrte. Diese beiden Stücke sollte das Mädchen hergeben, um mit dem Erlös derselben die für sie nöthigen Kleidungsstücke zu beschaffen, und der Ortsschulze hielt das für so in der Ordnung, daß er es nicht einmal nöthig glaubte, selber ein Wort deshalb zu verlieren, sondern eine Magd in das Gemeindehaus sandte, um die „Goldsachen" nur einfach abzuholen. Valerie erfuhr aber kaum, was man von ihr verlange, als das sonst so scheue und schüchterne Mädchen auf das Bestimmteste erklärte, die Kleinodien nicht herzugeben, so lange sie selber lebe, und die Magd mußte unverrichteter Sache wieder abziehen.

Jetzt aber wurde der Schulze böse. Das dumme, einfältige Ding widersetzte sich, wo sie zum ersten Mal in ihrem Leben mit helfen konnte, die bis dahin nur von der Gemeinde getragene Last zu erleichtern? Das war zu arg und verdiente strenge Ahndung, und seinen Hut aufsetzend und den Amtsstock nehmend, ging er selber mit großen Schritten nach dem Gemeindehaus hinüber.

Hatte er übrigens geglaubt, den fraglichen Gegenstand nur durch seine Erscheinung zu ordnen, so fand er sich da vollständig getäuscht, denn Valerie, wenn sie auch keinen Blutstropfen mehr im Gesicht hatte, erklärte ihm mit fester, entschlossener Stimme, das Kreuz und den. Ring gebe sie nicht her - das sei das Letzte, was sie von ihrer seligen Mutter /20/ habe, und das wolle sie behalten, und Gott würde eben so gnädig auf sie herabblicken, ob sie nun in ihren Fetzen zum Altar trete, oder in einem neuen weißen Kleide, mit dem sie doch nachher nicht wisse, was sie damit anfangen sollte, denn bei ihrer Arbeit könne sie es nicht tragen.

Der Schulze ärgerte sich vielleicht eben so viel über ihre Weigerung und Widersetzlichkeit als darüber, daß er ihr im Herzen Recht geben mußte - das Kleid wäre allerdings nur für den einen Tag gewesen, denn im Staate konnte die „Gemeinde-Waise" natürlich nicht herumgehen; aber was ging das ihn und das Dorf an! Sollten sie sich etwa von der Nachbarschaft nacherzählen lassen, daß sie ihre Kinder in Lumpen und Fetzen zum Abendmahl gehen ließen, und hatte überhaupt so ein Ding, das hier gar nicht hergehörte und nur aus Gnade und Barmherzigkeit erhalten wurde, einen eigenen Willen?

Der Schulze war gerade kein böser Mensch, aber leider voll von jenem Beamtendünkel, der nur zu Vielen in den Köpfen spukt. Wie er sich dabei vor seinen Vorgesetzten oder der obern Behörde in der Stadt bückte und nie gewagt hätte, eine Einrede laut werden zu lassen, ei, so verlangte er es auch von seinen Untergebenen, und wenn er einmal etwas angeordnet hatte, mußte es auch befolgt werden oder - er wäre ja nicht mehr Schulze im Dorf gewesen.

„Hör' einmal, Falleri," rief er deshalb und ging mit großen Schritten auf das scheu zu ihm aufblickende junge Mädchen ein, „ich will Dir etwas sagen - glaubst Du etwa, daß wir unsere Gemeinde-Armen mit goldenem Schmuck herumlaufen lassen, und dann trotzdem Alles aus unserem eigenen Beutel bezahlen? - Wenn Du ein klein wenig Ehrgefühl hättest, wärst Du schon lange von selber gekommen und hättest uns die Sachen für die Gemeindekasse eingeliefert, um wenigstens Alles zu thun, was in Deinen Kräften steht, die für Dich entstandenen Kosten nur einigermaßen wieder gut zu machen. Aber Gott bewahre, die Mamsell denkt gar nicht daran und will sich jetzt auch noch weigern, wo sie vom Gericht dazu aufgefordert wird. Her damit, Du unnützes Ding, oder ich lasse Dich wahrhaftig auf die Straße setzen!"

Er streckte dabei die breite Faust nach dem Kinde aus, /21/ das aber, todtenbleich, doch mit funkelnden Augen krampfhaft den letzten Schmuck seiner verstorbenen Mutter in der kleinen Hand faßte und nur bittend rief:

„Ach, lassen Sie mir das Kreuz und den Rmg, Herr Schulze - ich will ja gewiß arbeiten, daß mir das Blut unter die Nägel kommt, nur um Alles wieder abzuverdienen - aber nur das nicht - nur das nicht!"

„Hilft Dir nichts - her damit!" rief aber das Dorf-Oberhaupt, das sich jetzt seiner Würde etwas zu vergeben glaubte, wenn es von dem ausgesprochenen Willen abstand; „ich habe es einmal gesagt, und es muß geschehen - willst Du es hergeben, Du kleine Hexe?"

„Oh Du lieber Gott!" rief Valerie, indem sie die ihr heiligen Erinnerungszeichen mit ihren schwachen Kräften vertheidigte, - „ist denn gar kein Mensch auf der weiten Welt, der einem armen Kinde hilft!"

„Hallo!" rief da eine laute, trotzige Stimme von der Thür aus, „was geht da vor?"

Der Schulze ließ überrascht die Hand des Kindes los und drehte sich nach der Stimme um, erkannte aber nur den alten Bänkelsänger, der freilich mit einem, wahrscheinlich draußen aufgegriffenen Stück Buchen-Stangenholz auf ihn zuschritt und seiner ganzen Erscheinung nach fast so aussah, als ob er über den Schulzen herfallen möchte.

„Na?" rief dieser, ihn halb erschreckt, aber auch erstaunt ansehend, habt Ihr Euch etwa um das zu kümmern, was ich thue? Was wollt Ihr hier?"

„Ah, Sie sind's, Herr Schulze," sagte der Mann, ohne indessen den Knüppel, den er in der Hand trug, fortzulegen, „bitte tausendmal um Entschuldigung, wenn ich gestört haben sollte, aber mir war's, als ob ich die Falleri schreien hörte, und wer der 'was thut, dem schlage ich den Schädel zu Brei zusammen."

„So, und was geht Euch die Falleri an, wenn ich fragen darf?"

„Was sie mich angeht?" lachte der Alte ingrimmig vor sich hin - „hat sie vielleicht jemand Andern, den sie 'was angeht, auf der Welt? Aber was giebt's denn, Falleri -/22/ Teufel noch einmal, Kind, wie blaß du aussiehst, bist du unartig gewesen?“

„Den Ring und das Kreuz meiner seligen Mutter will mir der Schulze wegnehmen, um mir ein Kleid davon zu kaufen,“ stöhnte das Kind.

„Ich, sieh ‘mal an,“ sagte der Bänkelsänger lachend, „was du dir für Sachen in den Kopf setzt, Schatz; der Schulze d i r die Goldsachen von deiner Mutter selig mit Gewalt wegnehmen wollen? Du bist wohl nicht recht klug im Kopfe. Das fällt ihm doch gar nicht ein.“

„Mit Gewalt hab‘ ich’s ihr auch nicht wegnehmen wollen,“ sagte der Schulze mürrisch, denn die Sache wurde ihm selbst unangenehm, „aber sie soll’s hergeben, damit sie anständig in der Kirche erscheinen kann.“

„Aha,“ nickte der alte Bänkelsänger vergnügt vor sich hin, „der anderen wegen, damit sich die der armen Fallerie nicht zu schämen brauchen. „Ja wohl, Herr Schulze, verstehen das, auf die Falleri käm’s weniger an. Aber, wie viel Geld hat sie denn wohl zu einer neuen Fahne nötig? – Natürlich mit Spitzen besetzt und Manschetten und wie die Dinger alle heißen, auch eine Schleppe hinten dran, damit sie das Dorf hübsch rein hält, wie die großen Damen in der Stadt.“

„Und was habt Ihr danach zu fragen?“ erwiderte mürrisch der Schulze. – „I h r gebt’s ihr doch nicht.“

„Na, wer weiß,“ lachte der Alte ingrimmig in sich hinein, „ich selber hab’s allerdings nicht, sonst säß‘ ich wo anders als in der – gesegneten Bude hier; aber gute Menschen gibt’s überall – seelensgute Menschen, Herr Schulze, das kann ich Sie versichern, und ich treib’s für das Mädel auf, wenn ich nur erst weiß, wieviel es ist, denn die Gemeinde soll das nicht zu bezahlen haben.“

„I h r wollt das Geld schaffen?“, sagte der Schulze und sah den Alten mißtrauisch an. „Hört einmal, Brenner, Ihr habt überhaupt immer Geld, und ich möchte eigentlich wohl wissen, wo Ihr das herkriegt, denn bettlen dürft Ihr nicht, und – “

„Stehlen ist vollends nicht gestattet,“ lachte der alte Bänkelsänger laut auf; „aber beruhigen Sie sich, Herr Schulze, die paar Groschen, die ich dann und wann auftreibe, kann ich mir auch wohl noch einmal gelegentlich verdienen. Wissen Sie, ich habe einen Herrn in der Stadt, dem gebe ich Gesangunterricht, und wenn ich auch gerade keinen Louisdor für die Stunde krieger, etwas fällt doch immer ab, und vielleicht zahlt mir der auch das Geld für die Falleri als Vorschuß.“

„Und wie heißt der?“ fragte der Schulze, der kein Wort von der ganzen Sache glaubte.

„Darf ich nicht sagen,“ erwiderte verschmitzt lächelnd der Alte; „es ist ein vornehmer Herr, der heimlich zum Theater gehen will und es nicht vor der Zeit verraten mag. Aber ich schaffe das Geld, und weiter wollen Sie ja doch nichts. – Muß nur vorher wissen, wieviel es ungefährt ist, damit ich nicht zu wenig bringe.“

„Hm,“ sagte der Schulze, allerdings nicht von der Persönlichkeit erbaut, mit der er hier unterhandeln so9llte, „den möchte ich doch kennen, Brenner, der E u c h Geld borgt, denn der gehört jedenfalls dahin, wohin wir neulich den Schuster geschafft haben. Aber wenn’s wirklich einen solchen Narren gibt, so holt vier Taler von ihm, denn die brauchen wir. Die Falleri muß ganz neu eingekleidet werden, bis auf Strümpfe und Schuhe hinunter, und wenn wir auch alles alt kaufen können, läuft’s doch dahin jedenfalls auf.“

„So?“ lachte der Bänkelsänger, „also mit alten Sachen wollen Sie die Falleri n e u kleiden. Na, meinetwegen, wenn’s der Gemeinde recht ist, ich habe nichts dawider. Und bis wann muß das Geld da sein?“

„Spätestens bis morgen abend, denn heute über acht Tage ist schon Grüner Donnerstag.“

„Alle Wetter,“ lachte der Alte, „das ist kurzer Kredit; aber es kann nichts helfen; die Zeit ist wirklich nicht mehr lang, und die Tage fliegen nur so, wenn man alt wird.“

„Habt Ihr mich aber zum besten gehabt, Brenner“, sagte der Schulze finster, „so nehmt Euch in acht. Ihr steht so auf der Kreide, das kann ich Euch versichern. – Und was wolltet Ihr denn eigentlich mit dem Stocke da, heh?“

„Mit dem Stücke Holz?“ fragte der alte Bänkelsänger mit der unschuldigsten Miene von der Welt. „Du lieber Gott /24/ was kann man mit einem Stück Holz anders wollen, als Feuer machen. Es wird Essenszeit, Herr Schulze, und die paar Kartoffeln kann man doch nicht roh essen."

Der Schulze warf ihm einen mürrischen Blick zu, und es war, als ob er das Mädchen noch einmal anreden wollte; aber er mußte sich anders besonnen haben, denn er drehte sich plötzlich kurz auf seinem Absatze herum und verließ das Haus. Valerie aber, die noch immer gefürchtet, daß der finstere Mann seinen ersten Versuch, ihr die Kleinodien zu entreißen, wiederholen könne, stand regungslos in ihrer alten Stellung, das goldene Kreuzchen und den Ring fest mit ihren kleinen Händen haltend, in der Ecke und verwandte kein Auge von dem Schulzen, bis er die Thür hinter sich in's Schloß geworfen. Der alte Bänkelsänger aber, sich auf den Knüppel stützend, den er noch immer in der Hand hielt, rief mit seinem heisern Lachen:

„Hab' keine Bange mehr, Falleri, der kommt nicht wieder, da kannst Du sicher sein, denn er traut nicht, und so alt diese Knochen auch sein mögen, so viel Kräfte hätten sie doch noch gehabt, um dem Schuft den Schädel breit zu klopfen."

„Oh, wie dank' ich Euch, daß Ihr mir das Andenken meiner armen Mutter bewahrt habt," rief das Kind - „wäret Ihr nicht dazu gekommen, er hätte es mir sicher weggenommen, und ich wäre dann elend mein ganzes Leben lang gewesen."

„Der Lump der," brummte der Alte zwischen den Zähnen durch; „im Stande wär' er's gewesen. Man kann's ihm aber an den Augen ablesen; na, komm Du mir nur!"

„Aber er wird jetzt böse auf Euch sein," sagte schüchtern Valerie.

„Bah, böse! als ob der gut auf einen Menschen wäre, außer auf sich selber. Laß Dir das keine Sorge machen, - denn das kauf' ich billig, wie der auf mich zu sprechen ist. Aber was wir hier nicht kriegen müssen, kriegen wir doch nicht, und da kann er, Gott sei Dank, allein nichts dran thun, denn das ist Gemeindesache."

„Aber wo wollt Ihr nur das viele Geld für mich her-/25/nehmen?" frug jetzt das Mädchen schüchtern, „und wie soll ich's Euch je wieder zahlen?"

„Papperlapapp, das ist meine Sorge,“ lachte der Alte, „der Schulze hätt's freilich gern gewußt, aber dem werd' ich's bei Gott nicht auf die Nase binden. Wenn ich‘s nur schaffe, Kind, wo's nachher herkommt, ist ganz gleichgültig; Du aber kriegst Deine Montirung und damit basta!" - und damit warf er den Buchenknüppel in die Ecke nach dem Ofen und schlenderte in seine eigene Stube hinüber.

Zwei Stunden nachher verließ er das Dorf und wanderte in der Richtung nach der Stadt zu, kam auch die Nacht nicht zurück und selbst bis zum nächsten Mittag nicht. Erst gegen Abend hörte Valerie seine heisere Stimme, wie er draußen, an dem Haus vorbei, eins seiner alten Lieder sang, und sprang in die Thür. Aber er kam nicht herein, nur triumphirend hob er einen kleinen schmutzigen Lederbeutel in die Höhe und schwenkte dabei seinen Knotenstock um den Kopf. Er hatte jedenfalls das Geld, ging auch damit stracks auf des Schulzen Wohnung zu. Dort aber blieb er nicht lange, sondern kam jetzt, in bester Laune von der Welt, zum Gemeindehaus zurück, wo er vor allen Dingen der „Falleri" auftrug, einen Kessel mit Wasser auf's Feuer zu setzen, denn sie wollten heute hoch leben. Dabei holte er eine Flasche mit Branntwein und ein Packet mit Zucker aus der Tasche, was er aber vorsichtig hinter den Ofen versteckte und ein paar Stücken Holz davor stellte, und brachte sogar dann ein Stück Kuchen zum Vorschein, das er, wie er sagte, für die „Falleri" eingekauft, damit sie auch einmal wieder erführe, wie Kuchen schmecke.

Der Mann war aber schon wieder etwas angetrunken, wie er das Haus betrat, und als er den Grog erst fertig hatte, zu dem die Frauen und Valerie natürlich eingeladen wurden, verbesserte sich sein Zustand nicht. Er wurde immer lauter, fing an zu singen und fiel endlich von seinem Stuhl herunter, wo er regungslos auf der Erde liegen blieb und einschlief.

Valerie hätte ihn gern auf sein Bett geschafft, aber die beiden Frauen wollten nicht mit angreifen, weil er, wie sie meinten, /26/ zu schwer sei. Er könne überdies auch gleich da seinen Rausch ausschlafen, denn ob er auf den Steinen oder in einem Bett läge, sei ihm doch einerlei.

Das kleine Mädchen holte ihm endlich sein Kopfkissen herüber und seine wollene Decke, die sie ihm, so gut es eben gehen wollte, unterschob, und ihn mit dem andern Ende zudeckte. Weiter konnte sie für ihn nichts thun und mußte ihn da die Nacht verbringen lassen.

Es war ein alter, roher, widerlicher Mensch, aber der Einzige auf der weiten Gotteswelt, der ihr, seit sie ihre liebe Mutter verloren, Gutes gethan hatte, und wie dankbar fühlte sie sich ihm dafür!

Wie der alte Bänkelsänger am nächsten Morgen aufwachte, sah er sich erst etwas erstaunt um, denn er schien nicht gleich zu wissen, wo er sich befand. Valerie stand am Herd und kochte ihre Morgensuppe. Er sah sie an und seine Decke und sein Kopfkissen, und sagte endlich:

„Falleri - hast Du mir das hierher geschleppt?"

„Ihr lagt da so schlecht und hart gestern Abend," sagte das Kind.

Der Alte erwiderte nichts; er stand auf, raffte sein Bettzeug zusammen und wandte sich, um die Küche zu verlassen. Ehe er aber ging, sagte er, viel freundlicher als er noch je gesprochen:

„Du bist ein gutes Kind, Falleri; ich dank' Dir auch vielmals," und damit schritt er in seine Stube hinüber. -

Die Tage vor der Konfirmation Valeriens gingen jetzt rasch vorüber; sie bekam auch zur rechten Zeit ihren Anzug, den ihr des Schulzen Frau von dem Gelde des Bänkelsängers geschafft hatte, und sie bestand ihre Prüfung gerade nicht besser, aber auch nicht schlechter als die übrigen Kinder. Sie wußte alle die aufgegebenen Sprüche auswendig und antwortete auf die an sie gerichteten Fragen in der richtigen, vorgeschriebenen Form, ohne sich - wie die meisten übrigen Kinder auch - etwas Besonderes dabei zu denken. Die schöne Lehre des Christenthums war ja in so viele unverständliche oder schwülstige Phrasen eingehüllt, daß ein klarerer Kopf dazu gehörte, als ihn ein vierzehnjähriges Kind besaß, um den edlen Kern aus der wulstigen Schale heraus zu finden. Sie gab sich dazu auch keine Mühe und war nur froh, als sie das Ganze überstanden hatte.

Daß sie dabei als Letzte der Konfirmandinnen stand und, als es vorbei war, auch von Niemandem - wie doch alle die übrigen Kinder - eingeladen wurde, verstand sich von selbst und that ihr nicht besonders weh. Sie war ja die Gemeinde-Waise und daran gewöhnt, zurückgesetzt zu werden. Eins nur gab ihr einen Stich in ihr junges Herz, und auch weniger der Worte und Bedeutung als der Art wegen, mit der es zu ihr gesagt wurde. Gerade nämlich, als sie aus der Kirche trat, wo die übrigen Kinder von ihren auf sie stolzen Eltern empfangen wurden, trat der Schulze auf sie zu und sagte, einen Glückwunsch weiter nicht für nöthig haltend:

„Na, Falleri, heute hast Du noch frei, morgen früh aber nimmst Du Deine Sachen und ziehst zu Baumstetters hinüber, die Dich vorläufig in Dienst nehmen wollen. Bist Du erst einmal ein Vierteljahr dort, dann kannst Du Deinen Miethcontract mit ihnen selber machen, denn Du wirst jetzt alt genug dazu," und ehe die Konfirmandin ihm etwas darauf erwidern konnte, drehte er sich ab, um seine eigene Tochter aufzusuchen und zu begrüßen.

4.

Im Dienst.

Am nächsten Morgen zog Valerie an, wie man es dort in der Gegend nannte, d. h. sie nahm ihr dürftiges Bündel unter den Arm und meldete sich bei ihrer neuen Dienstherrschaft.

Vorher verabschiedete sie sich von den Bewohnern des Gemeindehauses, mit denen sie so lange Leid und Armuth getheilt, und viel Freundlichkeit ließ sie da nicht zurück. Die /28/ neu hinzugekommene Frau mit den beiden Kindern, obgleich sie die Kleinen oft und oft gepflegt, hatte sich nie um sie bekümmert, und eigentlich nur mit ihr gesprochen, wenn sie etwas von ihr verlangte; sie reichte ihr auch jetzt nur die Hand und sagte gleichgültig „Adjes". Die Alte aber kauerte in ihrer Ecke und schien viel mehr beleidigt als betrübt über den Abschied des jungen Mädchens, das sie halb und halb sogar der Undankbarkeit beschuldigte.

„Na ja," knurrte sie, „jetzt hat man sich die Jahre über mit der Krabbe gequält und sie ein bischen vorwärts gebracht, und nun sie Einem 'was nützen könnte und größer und stärker geworden ist, läuft sie Einem davon - aber wo findet man jetzt noch Dankbarkeit!"

„Aber Frau Kunzen," sagte Valerie betrübt, „kann ich denn etwas dazu? ist es mein freier Wille? Der Schulze hat mich ja vermiethet, und ich darf gar nicht mehr in dem Haus bleiben - wenn ich selbst wollte."

„So mach', daß Du fortkommst," brummte die alte Schullehrers-Wittwe, „wir können auch ohne Dich fertig werden."

Das war der Abschied, den sie von der Frau erhielt, für die sie Jahre lang gearbeitet hatte und der sie gefällig gewesen war, wo sie ihr etwas an den Augen absehen konnte.

Traurig schlich sich Valerie nach der Kammer des alten Bänkelsängers; sie fürchtete fast, daß er sie ebenfalls ohne ein freundliches Wort entlassen würde. Darin hatte sie sich aber gewaltig geirrt. Der alte Bursche war roh und wüst genug, aber doch nicht ohne Gemüth, und sonderbarer Weise hatte er einmal zu dem Kind eine besondere Vorliebe gefaßt, die vielleicht auch nur darin wurzelte, daß sie das einzige lebende Wesen war, das er protegiren konnte.

Der Alte war mit einer wunderlichen Arbeit beschäftigt. Er hatte sich ein Stück weißes Wachstuch mit aus der Stadt gebracht sowie ein paar Pinsel und ordinäre Farben, saß jetzt vor dem aufgehangenen und in Felder abgetheilten Tuch und malte eine seiner alten Mordgeschichten aus. Die rothe Farbe spielte dabei eine große Rolle - die Männer trugen sämmtlich rothe Hosen und die Frauen rothe Tücher und blaue Kleider, und Blut floß schon auf der dritten Ab¬/29/theilung, auf der eine ganze Familie abgeschlachtet wurde, in Strömen.

Valerie öffnete schüchtern die Thür, der alte Bänkelsänger sah sie aber kaum, als er auf die Füße sprang und, seinen Pinsel fortwerfend, ihr die Hand entgegenstreckte.

„Hallo, Falleri," rief er dabei, „schon reisefertig! Na, Abschied brauchen wir nicht von einander zu nehmen, und Du gehst nicht aus der Welt - wir werden uns oft genug zu sehen kriegen - vielleicht öfter als Dir lieb ist."

„Nein, Herr Brenner," sagte das junge Mädchen leise; „Sie sind immer gut gegen mich gewesen, und ich bin gewiß nicht undankbar, wie die alte Frau Kunzen meint."

„Der alte Drachen soll zum Teufel gehen!" brummte Brenner. „Die hat von Undankbarkeit zu reden - daß Du ersticktest - wenn ich nur so 'was nicht hören müßte. Aber laß sie schwatzen - Du ziehst jetzt zu Baumstetters hinüber?"

„Ja, Herr Brenner."

„Na, da brauchst Du auch nicht zu sagen: Gott straf' mich, denn da bist Du gestraft genug."

„Sind die Leute so bös?"

„Nein, bös nicht, Kind," sagte der Alte, „sie könnten schlimmer sein und sollen ihre Leute nicht schlecht behandeln, aber die Alte ist so krank, daß es Niemand lange bei ihr aushält. In den letzten sechs Monaten haben sie sieben verschiedene Wärterinnen gehabt - sie mochten Lohn über Lohn bieten, es half nichts. Apropos, wie viel kriegst Du denn?"

„Im ersten Vierteljahre noch nichts. Ich soll auf Probe dienen."

„Daß der Teufel den verdammten Schulzen hole!" rief der Bänkelsänger, seine rechte Faust in die linke Hand schlagend, „umsonst sind die nicht verschwägert zusammen, und in solch' einen Hundedienst ohne Lohn schicken sie das Kind!"

„Aber kann ich's ändern?" sagte Valerie traurig.

„Nein, Herz," knurrte der Alte, „wir Beide nicht, oder, Gott straf' mich, ich - na ja, das Fluchen hilft auch /30/ nichts, und die Menschen thun deshalb doch, was sie wollen. Na, geh hin; ich würde Dir, wie sie es auf dem Theater machen, meinen Segen geben, aber ich fürchte beinah', er möchte Dir nicht besonders viel helfen. Uebrigens werd' ich von Zeit zu Zeit einmal hinüberkommen und nachsehen, und vielleicht - holt ja der Teufel auch die Alte bald, daß Du von Deiner Plackerei frei kommst."

„Aber, Herr Brenner -"

„Du hast Recht, Schatz," sagte der Alte mürrisch, „sie hat mir noch nie 'was zu Leide gethan - na geh, Kind - ich möchte mein „Gemälde" noch heute fertig bringen, und da muß ich mich dazu halten, sonst werden mir die Klexe trocken." Damit schüttelte er Valerie die Hand, drehte sich um und fiel plötzlich mit so lauter Stimme in eins seiner alten Lieder ein, daß das Kind ordentlich zusammenschrak. Sie wäre auch gleich gegangen, aber sie mußte dem Manne doch noch etwas über ihre Schuld gegen ihn sagen, damit er nicht etwa glaube, daß sie die, mit dem Weggange aus dem Gemeindehause, ebenfalls abschütteln wolle.

„Lieber Herr Brenner," sagte sie schüchtern - aber der Mann hörte nicht; er sang ruhig weiter.

„Lieber Herr Brenner," wiederholte sie noch einmal und berührte seinen Arm.

„Ja Kind? - so, Du bist noch da? Willst Du 'was?"

„Ich wollte Ihnen nur sagen," flüsterte Valerie schüchtern, „daß ich, wenn ich auch das erste Vierteljahr keinen Lohn bekomme, doch ganz gewiß gleich nachher jeden Pfennig sparen werde, um Ihnen -"

„Und der Mörder mit der Leiche

Auf der Schulter ward gesehn,

Wie er über eine Bleiche

That beim Mondenscheine gehn"

sang Brenner plötzlich mit so lauter Stimme und ließ sich nun auch in seinem schauerlichen Lied nicht wieder unterbrechen, daß Valerie jeden Versuch dazu aufgeben mußte. Er drehte sich auch gar nicht mehr nach ihr um, und das Kind schlich jetzt, mit seinem Bündelchen in der Hand, in das Dorf hinein und zu dem Bauern Baumstetter hinüber, wo /31/ sie die Frau desselben, da er selber auf dem Feld draußen war, gleich in Empfang nahm.

Die erste Anrede war keine besonders freundliche.

„Mädel, wie siehst Du aus! - geh erst einmal an die Plumpe und wasche Dich und mach' Dir Dein Haar - und das jeden Morgen, verstehst Du? Denn so mag ich Dich nicht im Haus herumlaufen haben."

Die Frau hatte nicht Unrecht; Valerie war in der wüsten Umgebung des Gemeindehauses wirklich verwildert, dabei wohl in die Höhe geschossen, aber entsetzlich mager geblieben, so daß die großen dunkeln Augen fast unheimlich in ihren Höhlen lagen. Aber sie kam jetzt unter bessere, weil strenge Hände, und die Frau steppte ihr selber noch an dem nämlichen Tag aus ihren alten Röcken einen zurecht, daß sie wenigstens unzerlumpt und reinlich im Hause herumgehen konnte; den alten Kittel mußte sie augenblicklich ausziehen und wegwerfen; er war nicht einmal mehr zum Flicken zu gebrauchen. Dann erst überkam sie die Pflege der alten Bäuerin und fand bald die Wahrheit alles dessen bestätigt, was ihr Brenner über die aufgebürdete Last gesagt.

Die alte Frau lag schon über Jahr und Tag in der Auflösung begriffen, sie war am ganzen Körper wund, und Monate lang hatte der Bader schon ihren Tod als stündlich bevorstehend verkündet - aber sie starb nicht. Der zähe Körper hielt die Seele fest, und der Aufenthalt bei der Leidenden war so unerträglich geworden, daß die eigene Tochter nur auf Minuten zu ihr in's Zimmer kam.

Diese Pflege überließ man dem kaum dem Kindesalter entwachsenen Mädchen, und nur dem Leben im Gemeindehaus vielleicht verdankte es Valerie, daß sie im Stande war, da auszuharren, und nicht körperlich zu Grunde ging.

Zwei volle Monate pflegte sie die Kranke unermüdlich. Sie kam in der ganzen Zeit fast in kein Bett, und nur, wenn sie das gebrauchte Geschirr aufwaschen mußte, an die freie Luft. Endlich erlöste der Tod der alten Frau diese und Valerie, ja das ganze Haus von der entsetzlichen Qual, und Valerie wurde ihres Dienstes quitt. Die Frau Baumstetter würde sie aber doch vielleicht im Haus behalten haben, denn /32/ sie sah, daß sie fortwährend still und willig ihre Arbeit that, und nicht eine Klage war in der ganzen Zeit über ihre Lippen gekommen - aber das verschlossene, scheue Wesen des Mädchens gefiel ihr nicht. - „Die hat's hinter den Ohren," pflegte sie oft zu sagen, „aber sie giebt's nicht aus, bis einmal ihre Zeit kommt." Uebrigens hatte sie auch keine weitere Beschäftigung für sie, denn im Stall war sie ihr nicht stark und kräftig genug, und sie verabredete deshalb mit des Schulzen Frau, die gerade ein Hausmädchen brauchte, daß diese sie von da an in Dienst nehmen sollte, denn untergebracht mußte sie nun einmal werden.

Valerie erschrak, als sie hörte, daß sie in des Schulzen Dienst kommen sollte, denn erstlich war des Schulzen Frau als bös und zänkisch im ganzen Orte verschrieen, und dann fürchtete sie den Schulzen selber seit jenem Morgen mit allen Fasern ihres jungen Herzens. Aber was half es? Einen freien Willen hatte sie ja doch nicht; sie mußte hingehen, wohin man sie schickte - und sie ging.

Die Frau Baumstetter hatte ihr noch, ehe sie das Haus verließ, aus „Erkenntlichkeit" ein paar alte Kleider geschenkt, denn Lohn bekam sie ja doch nicht - die durfte sie sich jetzt selber zurecht machen, denn mit der Nadel wußte sie ziemlich geschickt umzugehen, und die Frau des Schulzen sah darauf, daß ihre Dienstboten anständig aussahen, war sie ja doch die „erste Frau im Dorf". Sie sollte auch hauptsächlich für Nähereien im Hause verwandt werden, denn dadurch sparte man die überdies theuern Näherinnen, die so unverschämt waren, einen ganzen Tagelohn für ihr „Flickwerk" zu verlangen.

Valerie hatte es jetzt, was ihre Arbeit betraf, besser als im vorigen Haus, denn wenn sie auch Morgens schon um vier Uhr heraus mußte, um überall mit zu helfen, und dann Abends, bei einer trüben Oellampe bis um zehn Uhr regelmäßig beim Spinnrad, oder auch manchmal sogar bei einer Näherei saß, obgleich sie die Stiche in der Dunkelheit kaum erkennen konnte, brauchte sie doch nicht mehr die Sterbende in ihrer furchtbaren Krankheit zu pflegen, und konnte wenigstens von zehn bis vier Uhr ruhig schlafen. - Aber sonst bekam /33/ sie es viel schlechter im Haus, denn wenn ihr bei Baumstetters kaum je ein unfreundliches Wort gesagt wurde, hörte beim Schulzen und seiner Frau das Zanken gar nicht auf, und daß sie nie eine Silbe darauf erwiderte, wurde ihr für Störrigkeit und Verstocktheit ausgelegt. Ja, die Frau war so heftig, daß sie das arme Mädchen oft bei Seite stieß oder auch schlug, wenn sie ihr einmal im Weg stand oder was nicht recht anfaßte; was brauchte man auch mit der „hergelaufenen Range" viel Umstände zu machen!

Auch unter den übrigen Knechten und Mägden hatte sie keine Freunde, denn sie lachte nie oder ging auf irgend einen der rohen Scherze ein, sondern war immer nur still und verschlossen bei ihrer Arbeit, so daß man kaum eine Antwort aus ihr heraus bekommen konnte. Sonntag Nachmittags, wenn sie die Erlaubniß einmal bekam, auszugehen, wanderte sie dann allein auf den Kirchhof hinaus und besuchte das Grab ihrer Mutter, und dort konnte sie Stunden lang mit gefalteten Händen sitzen und den kleinen Hügel anschauen. - Aber sie weinte nie, und nur manchmal sang sie mit einer glockenhellen Stimme kleine schwermüthige Lieder, die man aber im Dorf nicht kannte und die sie noch von ihrer Mutter gelernt haben mußte. Sobald sie aber nur merkte oder selbst Verdacht schöpfte, daß sie belauscht wurde, schwieg sie augenblicklich still.

Die einzige Freundin, die sie im Dorfe hatte, war die alte Nachbarin ihrer Mutter, die sie jedesmal, sobald sie vom Kirchhof kam, besuchte; auch beim Gemeindehaus ging sie manchmal vorüber, um ihrem alten Beschützer guten Tag zu sagen. So viel sie dieser aber auch ausfrug, wie es ihr ginge und wie sie behandelt würde, so klagte sie ihm nie ihre Noth und behauptete immer: gut. Aber der Alte wußte es besser; erstlich kann so etwas nie geheim gehalten werden, denn ein paar Mägde, die mit der Schulzin Streit gehabt und den Hof verließen, erzählten es im Dorfe weiter, wie hart sie mit dem armen Kinde umgehe, und dann zeigte es auch schon ihr ganzes abgehärmtes Aussehen deutlich genug.

„Und was Du für rothe Ränder um die Augen hast, Kind," sagte der Alte kopfschüttelnd. „Gott straf' mich, ich /34/ glaube, die hoffärtige Hexe läßt Dich noch blind bei ihrer magern Oelfunkel nähen."

„Es ist nur eine Erkältung, Herr Brenner."

„Von - ich hätte bald 'was gesagt," knurrte der Alte, „mach' Du mir 'was weis, willst Du? Herr Gott, was ich für eine Wuth auf den Lump, den Schulzen, habe! - umbringen könnt' ich den Schuft. Weißt Du denn, daß er neulich in der Gemeinde den Vorschlag gemacht hat, mich aus dem Gemeindehause zu stoßen, weil ich immer Geld hätte und mich selbst ernähren könnte? Die andern Bauern wollten nur nicht, aber der nichtsnutzige Halunke hätte mich mit Vergnügen auf die Straße gesetzt."

„Er ist Ihnen nur böse wegen meiner, Herr Brenner," sagte Valerie scheu; „oh, wie mir das leid thut!"

„Deinetwegen, nein wahrhaftig nicht," beruhigte sie der Bänkelsänger, „das ist eine ganz andere alte Geschichte, und unsere Freundschaft schreibt sich aus weit früherer Zeit, aber - er kennt mich, und spricht nicht gern davon - was auch das Beste ist, denn solch' alte Dinge aufrühren, thut selten gut."

Valerie ging dann nach solcher Unterredung still nach Hause. Brenner aber ließ sein Ingrimm keine Ruhe, und er verfiel auf eine andere, ihm ganz eigenthümliche Art, den Schulzen zu ärgern.

Seine Mordgeschichten hatte er nämlich fertig, und die Leinwand war aus beiden Seiten, zwei verschiedene Schreckensfälle behandelnd, angemalt. Diese spannte er kunstgerecht auf, holte sich eine lange Stange aus dem nahen Walde und stellte sich nun damit vor des Schulzen Haus auf, um sie abzusingen.

Natürlich liefen die Knechte und Mägde in allem Jubel heraus und hörten zu, und als der Schulze nach Hause kam, war kein Mensch bei der Arbeit. In allem Grimm wollte er den „Künstler" auch fortjagen, aber dieser behauptete, er bettele nicht oder singe nicht für Geld, er treibe die Sache nur zu seinem Vergnügen, aus alter Anhänglichkeit an sein Geschäft - er müsse eine Beschäftigung haben, wenn er hier in dem elenden Nest nicht wahnsinnig werden solle, und das könne ihm kein Mensch verwehren. /35/ Die übrigen Bauern, von denen natürlich auch manche den Schulzen nicht leiden mochten, gaben ihm Recht oder sahen wenigstens keinen Grund, weshalb man dem Manne verwehren sollte, auf der Straße zu singen oder sein Bild zu zeigen - verlangte er doch nicht einmal etwas dafür, und der Schulze mußte sich, ob er wollte oder nicht, der Majorität fügen.

So verging ein volles Jahr, und Valerie hatte jetzt zum ersten Mal, wenn auch nur geringen Lohn für ihre Arbeit bekommen. Was sie aber konnte, - denn sie hielt jetzt etwas auf wenigstens reinliche und unzerrissene Kleidung -, sparte sie zusammen, bis sie dem Bänkelsänger ihre Schuld abtragen konnte, und wenn es dieser auch nicht nehmen wollte, weil er behauptete, daß er es doch vertränke, ließ sie nicht nach, bis sie die Schuld von ihrem Herzen wußte.

Die Verhältnisse im Hause des Schulzen wurden aber mit jedem Tag schlimmer; der Mann war selber in Schulden gerathen und dadurch mürrisch und verdrießlich, die Frau natürlich nicht besserer Laune, und wer das Alles entgelten mußte, war niemand Anderes als die unglückliche Waise.

Valerie zeigte aber, daß sie nicht mehr das arme unterdrückte und widerstandslos mißhandelte Kind von früher sei. Eines Sonntags, als sie wieder auf den Nachmittag frei bekam, ging sie nicht auf den Kirchhof, sondern in die nächste Stadt, und suchte und fand dort einen andern Dienst bei einer Herrschaft, die sie jedenfalls von der Tyrannei der Schulzenfrau befreite. Diese war aber außer sich, als das junge Mädchen nach Hause kam und ihr für den Ersten nächsten Monats die Stelle aufkündigte. Die „Frechheit" und „Undankbarkeit", wie sie es nannte, war zu bodenlos, und Valerie hatte, da sie nichts dagegen ausrichten konnte, von dem Tag an die Hölle auf Erden.

Sie ertrug Alles still, sie murrte, sie klagte nicht und nie kam eine Thräne in ihre Augen - das Kind hatte verlernt zu weinen. Nur bleicher und abgehärmter wurde sie mit jedem Tag, so daß es selbst dem alten rauhen Brenner auffallen mußte, und dieser sich soweit vergaß, dem Schulzen in das eigene Haus zu rücken, um ihm Grobheiten zu machen. /36/ Das war freilich gefehlt. Dieser rief einfach seine Knechte und ließ ihn aus der Thür werfen, und der alte Bänkelsänger lief nach Haus und wurde vor Aerger krank.

Er legte sich wenigstens in sein Bett, ließ den Bader kommen und erklärte ihm, daß er ein Gallenfieber hätte und Medicin verlange.

Der Bader konnte allerdings nichts Derartiges an ihm entdecken, war aber doch seiner Sache nicht gewiß und gab ihm eine Medicin, die den Alten so krank machte, daß er behauptete, es wäre sein Letztes, und sie sollten ihm den Tischler schicken, daß der das Maß zu seinem Sarge nähme.

Zwei Tage darauf zog Valerie von dem Haus des Schulzen ab, und der letzte Abend war der schlimmste von allen, denn des Schulzen Frau behauptete, Valerie habe ihr eine silberne Schnalle gestohlen, die sie nirgends finden konnte und die das junge Mädchen absolut versteckt haben sollte. Diese leugnete allerdings, auch nur das Geringste davon zu wissen, aber das half nichts; alle ihre Sachen wurden untersucht, und die Frau schlug sie so unbarmherzig, daß sie die blutigen Spuren an Gesicht und Nacken davontrug.

Das aber war zu viel für das arme Kind - nicht eine Stunde wollte sie länger in diesem Hause bleiben, und trotz des schon vorgerückten Nachmittags schnürte sie ihr kleines, auseinander gerissenes Bündel wieder zusammen und verließ, ohne Abschied von den Bewohnern zu nehmen, den Schulzenhof.

Vorher mußte sie freilich noch von der Mutter Grab und ihren Bekannten Abschied nehmen. Sie ging auch zu ihrer alten Freundin, der Nachbarin, vor und dann zu dem Bänkelsänger, der hart und fest auf seinem Bett lag; aber er hatte eine Lampe neben sich stehen und las in einem Buch, und als er das geronnene Blut in dem Gesicht des Mädchens bemerkte, und Valerie ihm diesmal die Ursache nicht verschweigen konnte, wollte er wie rasend in seinem Bett auffahren. Aber die alte Schulmeisters-Wittwe kam gerade herein, um ihm seine Suppe zu bringen, und wieder auf sein Kissen zurückfallend, sagte er:

„Oh Du heiliges Kreuzdonnerwetter, daß ich jetzt auch /37/ gerade an allen Knochen lahm auf der Pritsche liegen muß! - Wenn ich nur einen Fuß regen könnte, Falleri, so lief' ich noch heute Nacht selber in die Stadt und verklagte die Bande. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben, und daß sie Dir noch Schmerzensgeld für die Schläge bezahlen sollen, Falleri, darauf kannst Du Dich verlassen."

„Lassen Sie es gut sein, Herr Brenner," sagte das Kind, „es ist jetzt überstanden und die Leute haben ihr Schlimmstes gethan. - Ich gehe nun in die weite Welt, und Gott wird mich schützen."

„Bah," sagte der Alte verächtlich, „wer sich hier nicht selber schützt, kommt unter den Schlitten, so viel ist sicher. - Und Du willst jetzt fort, Falleri?"

„Ja, es wird schon spät," nickte das junge Mädchen, „und ich weiß sonst nicht wohin, wenn mich die Leute nicht mehr aufnehmen. Leben Sie wohl, Herr Brenner; ich komme gewiß wieder einmal nach Osterhagen, um meine selige Mutter - und Sie zu besuchen."

Damit reichte sie ihm die Hand und wanderte durch das Dorf wieder zurück den Weg nach der Stadt zu, in die stille Nacht hinein - aber sie kam doch zu spät. Als sie etwa um neun Uhr die ziemlich ferne Stadt erreichte und das Haus ihrer neuen Herrschaft betrat, weigerte sich diese, sie aufzunehmen, denn des Schulzen Frau hatte in derselben Viertelstunde, in der Valerie ihr Haus verlassen, einen Knecht mit einem Pferd nach der Stadt gesandt, der den Leuten erzählen mußte, weshalb sie ihr früheres Mädchen noch in dunkler Nacht „aus dem Dienst gejagt", und sie erklärten, daß sie keine Diebin in ihrer Familie haben möchten.

Valerie erwiderte kein Wort - still und schweigend kehrte sie sich ab, ging wieder vor die Stadt, suchte sich einen Platz hinter einer Hecke, rückte sich ihr Bündel unter den Kopf, kauerte sich in der frischen Nacht so viel als möglich zusammen, und war bald auf ihrem harten Lager sanft eingeschlafen. -

Aber sie schlief nicht lange. Eine Stunde mochte etwa vergangen sein, da rasselten schwere Wagen auf der dicht vorüberführenden Chaussee vorbei, und erstaunt richtete sie /38/ sich auf, denn sie hörte eine Menge von Menschenstimmen. Wie sie sich aber umsah, erkannte sie auch am Himmel einen hellen Feuerschein, der etwa in der Richtung nach Osterhagen am Horizont lag. War dort Feuer ausgebrochen? Lieber Gott, die armen Menschen! aber sie konnte ihnen doch nicht helfen - sie war selber hülflos genug, und auf ihr Kopfkissen zurücksinkend, schlief sie bald wieder sanft und süß.

3.

Feuer! Feuer!

Valerie hatte das Gemeinde-Haus etwa eine halbe Stunde verlassen, als die alte Frau Kunzen zu dem kranken Bänkelsänger hineintrat, um das Geschirr wieder abzuholen. Dieser lag auf seiner Matratze und stöhnte erbärmlich, und als ihn die Frau frug, wo's ihm fehle, sagte er: „Ueberall, überall, Kunzen, in allen Gliedern reißt's und zwickt's mich, und ich bin so matt, daß ich kaum den Löffel zum Mund bringen kann. Wenn ich nur erst einschlafe, nachher wird's vielleicht besser - stört mich nur jetzt nicht wieder, daß ich zur Ruhe komme."

„Nun, ich störe Euch gewiß nicht," brummte die Alte, ,,ich will selber froh sein, wenn ich Frieden habe,“ und die Thüre hinter sich zuwerfend und ohne es für nöthig zu halten, „gute Nacht" zu sagen, verließ sie die Kammer, stellte das schmutzige Geschirr in die Küche und ging dann ohne Weiteres selbst zu Bett.

Im Dorfe lag die Nacht auf den stillen Straßen; das Wetter war noch ziemlich warm, und vor einigen Thüren fanden noch plaudernde Gruppen; als aber die Sichel hinter die nächsten Hügel sank, traten jene auch in die erleuchteten Stuben. Der alte taube Nachtwächter schlich nur mürrisch den Hauptweg von Osterhagen hinab, tutete und rief seine /39/ Stunde, und drückte sich dann auf eine Holzbank, die unter der Linde vor dem Wirthshaus stand, um von da aus, wie er meinte, das Dorf im Auge zu behalten. Er hatte aber weit mehr Schlaf in den Augen als das Dorf, und wußte nicht einmal recht genau, wie lange er dort gesessen haben mochte, als ihm plötzlich eine Stimme in die Ohren schrie: „Feuer!" daß er erschreckt von seiner Bank emporfuhr.

„Herr Jeses, wo denn?" frug er unwillkürlich.

„Seht Ihr's denn nicht, Ihr alte Schlafmütze!" schrie der junge Bursche wieder, der es zuerst entdeckt und den Platz genau kannte, wo er den Nachtwächter antreffen würde; - „jetzt macht Lärm, ehe es zu spät wird," und selber die Straße hinablaufend, stieß er den gellenden Schreckensruf in die stille Nacht hinein: „Feuer! Feuer!"

Da wurde es lebendig: aus allen Häusern stürzten Menschen vor - noch auf der Straße zogen sie sich mit den rasch aufgegriffenen Kleidern an, und nach der Schreckensstätte eilten sie, um den Brand wo möglich noch im Entstehen zu ersticken - aber dazu war er schon zu weit vorgerückt. Es brannte in des Schulzen Scheune, das dort aufgeschichtete Stroh hatte die Gluth erfaßt, und ehe nicht Spritzen herbeikamen, war an Löschen nicht zu denken.

Die alte Dorfspritze wurde natürlich augenblicklich aus ihrem Schuppen herausgezogen und rasselte, von der Löschmannschaft gefolgt, der Brandstelle zu. Aber lieber Gott, es war seit undenklichen Zeiten kein Feuer in Osterhagen ausgebrochen, und die Bevölkerung des Ortes dadurch so sicher geworden, daß sich Niemand um die Spritze und was dazu gehörte gekümmert hatte. Jetzt fehlte es dafür an allen Ecken und Enden, und ehe sich die Bauern, die völlig den Kopf verloren, mit ihren Eimern zu einer Kette bis zum nächsten Wasser gestellt hatten, loderten die Flammen schon so hoch empor, um jedes Versuches zu spotten, von dieser Spritze bewältigt zu werden.

Und Niemand war außerdem da, der das Ganze geleitet hätte, denn der Schulze, als Oberhaupt, kümmerte sich gar nicht um die Löschanstalten und suchte nur von seinem Eigenthum zu retten, was zu retten war, während seine Frau, mit /40/ aufgelösten Haaren und ganz außer sich, im Haus herumstürzte und nur immer schrie:

„Das hat das nichtsnutzige Geschöpf, das hat die Falleri gethan, das hat die Falleri gethan!" -- und selbst bei der Arbeit draußen pflanzte sich der Schrei fort.

Nun waren allerdings Einige unter den Leuten, die, so lange nur noch des Schulzen Haus brannte, meinten: „Ursache genug hätte sie dazu gehabt" - wie aber die Flamme immer höher wuchs, die nächsten Häuser faßte und das ganze Dorf bedrohte, da brachen sich laute Verwünschungen über die junge Brandstifterin Bahn, und ein Glück für sie, daß man ihrer in dem Augenblick nicht an Ort und Stelle habhaft werden konnte: das vor Angst halb wahnsinnige Bauernvolk hätte sie zerrissen.

Jetzt endlich rasselte auch vom nächsten Dorf eine Hülfsspritze herbei - ein Haus hatten die Leute, weil es das Feuer am leichtesten fortpflanzen konnte, niedergerissen; der Wind erhob sich dabei etwas und trieb die Gluth auf die erste Brandstätte zurück, und als nun auch zuletzt die Stadtspritzen mit ihrer gut organisirten Rettungsmannschaft auf dem Platz erschienen, gelang es, etwas nach Mitternacht, des Feuers so weit Herr zu werden, daß man wenigstens dessen weitere Verbreitung verhindern konnte.

Als der erste Feuerlärm laut wurde, war die Frau Kunze in Todesangst zu dem alten Brenner in's Zimmer gelaufen; der aber fluchte, daß sie ihn geweckt hätte. Was könne er dabei thun? er wäre doch nicht im Stande, selbst nur aufzustehen, viel weniger an einer Spritze zu arbeiten; sie solle ihn zufrieden lassen und nur wiederkommen, wenn ihre eigene Bude anfinge zu brennen.

Als der Morgen graute, war des Schulzen Haus und Hof mit noch fünf Nachbarhäusern und sieben Scheunen eine wüste, rauchende Brandstätte, auch manches Stück Vieh dabei umgekommen, das störrisch den Stall nicht hatte verlassen wollen. Ja selbst zwei Menschen wurden vermißt, zwei junge Burschen aus dem Ort, die wahrscheinlich durch stürzendes Gebälk erschlagen wurden, und deren schauerlich verbrannte Ueberreste man später unter den Trümmern fand. /41/ Die Aufregung in Osterhagen war aber furchtbar, und kaum wußte man sich des Brandes Herr und die Gefahr beseitigt, als auch schon reitende Boten, was ihre Pferde laufen konnten, nach der Stadt mußten, um dort die Verhaftung der vermutheten Brandstifterin zu bewirken.

In dem von der Schulzin bezeichneten Hause fand man sie, wie nur die erste Anzeige bei der Polizei gemacht war, allerdings nicht, und die Leute dankten Gott, daß sie das Mädchen nicht bei sich aufgenommen hatten, hinter dem jetzt schon die Gensdarmerie hersuchte; aber bald darauf begegnete ihr einer der Osterhagener Burschen in der Straße, wie sie ahnungslos, daß auf sie gefahndet würde, eben nach einem neuen Dienst suchte. Ein Polizeibeamter, dem sie bezeichnet wurde, sprang hinzu und verhaftete sie, und Valerie fand sich wenige Minuten später, noch dazu von einem spottenden und lärmenden Volkshaufen begleitet, auf der Polizei, einem alten Herrn gegenüber, der ihr auf das Ernsteste zuredete, ihr Verbrechen zu gestehen, und ihre Strafe nicht noch durch hartnäckiges Leugnen zu verschärfen.

Valerie war fast sprachlos vor Schrecken, und der Untersuchungsrichter schien das für ein Zeichen ihrer Schuld zu halten. Kaum aber erfuhr sie, um was es sich hier handle, als sie, wohl mit todtenbleichen Wangen, aber doch vollkommen fester Stimme, auf das Bestimmteste bestritt, auch nur das Geringste von der Ursache des Brandes zu wissen. Sie habe Osterhagen gestern Abend, lange vor Ausbruch des Feuers, verlassen, und nie auch nur den Gedanken einer solchen That gehegt.

Sie sollte jetzt angeben, wo sie die Nacht zugebracht. Sie erzählte, wie sie von den Leuten, die sie in Dienst genommen, an der Thür wieder abgewiesen und dann hinaus vor die Stadt gegangen sei, um die ziemlich warme Nacht im Freien zuzubringen.

Der Untersuchungsrichter schüttelte dazu sehr bedenklich mit dem Kopf; vor der Hand ließ sich aber nichts in der Sache thun. Die Angeklagte leugnete eben und mußte deshalb, bis sich weitere Beweise herausstellten, in ihre Zelle abgeführt werden. /42/ Valerie zitterte am ganzen Körper, als sie das Schreckliche vor sich sah, was sie bis dahin nicht für möglich gehalten, daß man ihr nämlich nicht auf ihr Wort glauben und sie frei lassen, sondern in das Gefängniß führen wolle. Aber kein Wort der Bitte, was ihr doch auch nichts geholfen, kam über ihre Lippen; ruhig wendete sie sich ab und folgte dem Schließer, der sie, bis die Untersuchung beendet war, in eine Zelle allein führte und die Thür dann hinter ihr verschloß und doppelt verriegelte.

Vor allen Dingen wurde jetzt an Ort und Stelle der Thatbestand aufgenommen, und da stellte sich denn allerdings heraus, daß das Feuer nicht gut konnte aus Fahrlässigkeit entstanden sein, sondern daß eine absichtliche Brandstiftung als alleinige Ursache angenommen werden mußte. Der Brand war nämlich nicht im Wohnhause oder der Küche, sondern in einer abgelegenen Scheune ausgekommen, die nur durch einen, an dem Tag gar nicht betretenen Holzschuppen mit dem übrigen Gehöft in Verbindung stand. Man hatte sogar, als es heller Tag wurde, noch ein Paket mit Schwefelhölzern, gar nicht weit von jener Stelle entfernt, im Gras gefunden, das der Brandstifter jedenfalls verloren haben mußte. Dieser Platz lag auch so abseits von dem eigentlichen Hauptweg des Dorfes, daß man recht gut und unbemerkt von irgend einer Seite dahin gelangen konnte, so daß der Thäter kaum zu fürchten brauchte, gestört zu werden. Deshalb wurde das Feuer auch nicht eher entdeckt, als bis die Flamme schon das in der Scheune aufgeschichtete Stroh ergriffen hatte und hoch emporloderte; und dann fraß es so rasch und mit so wilder Gier um sich, daß an augenblickliche Hülfe nicht zu denken war.

Des Schulzen erster Verdacht - obgleich sich die Frau nicht davon abbringen ließ, daß es niemand Anders als ihr weggejagter Dienstbote, die Falleri, gewesen sein könne - fiel allerdings auf den alten Bänkelsänger, der Ursache genug hatte, ihn zu hassen, und dem er eine derartige Rache auch schon zutraute. Brenner aber lag, als nach ihm geschickt wurde, so von Gliederschmerzen geplagt im Bett, daß er sich nicht rühren konnte, und die Aussage der Frau Kunze, die ihm vorher /43/ seine Suppe gebracht, und ihn, gleich wie sie nur den ersten Feuerlärm gehört, geweckt hatte, bewies ein so vollständiges Alibi, um jeden Verdacht vollständig zu entkräften.

Es blieb also Niemand, der die That begangen haben konnte, als eben die Gemeinde-Waise; und einer von des Schulzen Knechten sagte jetzt sogar gegen sie aus: daß er das Mädchen, wohl anderthalb Stunden später, als sie ihr Haus verlassen habe, und schon bei vollständig angebrochener Dunkelheit noch im Dorf gesehen, aber weiter nicht auf sie geachtet habe. Sie sei nur an der andern Seite der Straße gegangen, und es ihm fast so vorgekommen, als ob sie nicht mit ihm zusammentreffen wolle. Weshalb brauchte sie aber das zu scheuen, wenn sie ein reines Gewissen hatte?

Des Schulzen Frau trat als andere Zeugin gegen sie auf, oder erbot sich wenigstens dazu, und erklärte dem herausgekommenen Polizeibeamten, daß diese Falleri das nichtsnutzigste, verstockteste Geschöpf sei, das sie in ihrem ganzen Leben gesehen. Wie viel Gutes hätte sie und ihr Mann der „Creatur" gethan, und was sei ihr Dank dafür gewesen? - nie auch nur einmal ein freundlicher Blick oder ein vergnügtes Gesicht. Mürrisch und verdrossen sei sie fortwährend im Haus herumgegangen, nie wäre ein Wort aus ihr heraus zu bringen gewesen, und Stunden lang habe sie vor sich hingebrütet und ihre bösen Streiche ausgeheckt. Die hätte es hinter den Ohren, das wäre die Rechte, und es sollte sie nun auch gar nicht wundern, wenn sie Stein und Bein leugnete und so unschuldig thäte wie ein neugeborenes Lamm.

Der Polizeibeamte befragte jetzt auch noch die übrigen Dienstboten im Hause des Schulzen, konnte aber von diesen eben nichts besonders Gravirendes erfahren. Sie sagten allerdings Alle aus, daß die Falleri immer still und in sich gekehrt gewesen wäre, und Niemand erinnerte sich, daß sie je gelacht hätte, aber für bös hatten sie sie nie gehalten. Sie war gefällig, wo sie nur immer konnte, auch nie klatschig oder zänkisch gewesen, und eigentlich schien es den Leuten bei etwas kälterem Blut leid zu thun, daß sie sich, im Zorn vielleicht, der letzt erfahrenen Mißhandlung wegen, so weit vergangen haben sollte. /44/ Von da ging dann der Beamte zu Baumstetters hinüber, wo er freilich nur das Beste über das Mädchen hörte - damals war sie ja aber auch noch fast ein Kind. Nur ihr verschlossenes Benehmen rügten sie ebenso wie des Schulzen Frau.

Dann, um nichts zu versäumen, zog er auch im Gemeinde-Haus Erkundigungen ein, und die „alte Kunzen" meinte, als sie von dem Verdacht hörte, der auf dem Mädchen lastete: „Na ja, der habe ich es schon lange prophezeit, daß sie es noch einmal zu so 'was bringen würde, denn das ist ein schlechtes, undankbares Geschöpf und verdient die Brodkruste nicht, die sie kriegt." Etwas Bestimmtes wußte sie aber auch nicht über Valerie anzugeben.

Weit anders aber nahm der alte Bänkelsänger die Nachricht auf, daß man die „Falleri" im Verdacht der Brandstiftung und deshalb eingefangen habe. Im ersten Moment fuhr er wie der Blitz von seinem Lager in die Höhe, fiel dann aber auch gleich wieder mit einem Schmerzensschrei auf seine Matratze zurück und stöhnte:

„Oh mein Rücken! - wenn ich mich nur regen könnte!"

„Und wißt Ihr etwas über das Mädchen anzugeben," frug der Beamte, „das zu ihren Gunsten spräche, oder den einmal gefaßten Verdacht bestätigte?"

„Ja," sagte der Alte nach einer Weile, in der er sich erst mit augenscheinlichem Schmerz auf seinem Lager gewunden, denn jedenfalls hatte ihm die plötzliche Bewegung weh gethan, „allerdings habe ich das, Herr Polizeicommissar, und zwar weiter nichts, als daß die Falleri das bravste und beste Kind ist, was je von nichtsnutzigem, geizigem, schmierigem Volk schlecht behandelt und unter die Füße getreten wurde. Mein Geschäft war früher, Mordgeschichten abzusingen, um den Leuten für ein paar Sechser abschreckende Beispiele vor Augen zu führen, und ich habe in meiner Zeit viele schreckliche Blut- und Schauderscenen abgeleiert, aber nie im Leben - selbst nicht nach jenem Scheusal, das seine eigene Schwiegermutter umbrachte - eine Lebensbeschreibung, die so viel Jammer und Elend enthält, als die des Kindes, das sie jetzt der Brandstiftung bezichtigen." /45/ „Also Sie halten das Mädchen für schuldlos?" sagte der Polizeicommissar.

Der Alte sah ihn groß an, drehte sich dann plötzlich mit vieler Leichtigkeit auf die andere Seite und erwiderte kein Wort mehr.

Der Beamte konnte nichts weiter im Dorf erfahren, als daß die Gefangene an dem Abend von ihrer bisherigen Miethsherrin, des Verdachtes eines allerdings unerwiesenen Diebstahls wegen, geschlagen sei, im Aerger und in der Aufregung das Haus verlassen habe und etwa noch eine Stunde später und nach angebrochener Nacht im Dorfe gesehen wäre. Damit fuhr er in die Stadt zurück und beschied nur noch vorher auf morgen früh zum Zeugenverhör des Schulzen Frau und jenen Knecht, der die Angeklagte am gestrigen Abend im Dorf noch spät gesehen haben wollte.

Indessen hatte den alten Bänkelsänger im Gemeinde-Haus eine ganz eigene Unruhe erfaßt. Er warf sich fortwährend auf seinem Lager hin und her und ruhte nicht eher, bis die Frau Kunze noch einmal zum Bader hinüber ging, daß er käme und ihm etwas zum Einreiben gäbe. Er müßte gesund werden, wie er sagte, und wieder aufstehen und in die Stadt gehen, um selber zu sehen, was sie mit der Falleri anfingen, denn dem Kinde dürfe kein Unrecht geschehen, und wenn er selber darüber zu Grunde gehen sollte.

Der Bader kam auch gegen Abend und brachte ihm eine Salbe mit, die er selbst erfunden haben wollte, und die außerordentlich heilkräftig sein sollte. Damit rieb er sich ein, wickelte sich in seine wollene Decke und schlief dann ein.

Die Salbe mußte aber doch nicht recht gewirkt haben, oder er war auch vielleicht in der Nacht ruhiger geworden, denn er verließ am nächsten Morgen sein Bett noch nicht, sondern erklärte nur, daß er sich bedeutend besser fühle und in den nächsten Tagen hoffe, aufstehen zu können. /46/

6.

Die Brandstifterin.

Am nächsten Morgen sollte das erste Verhör stattfinden, und der alte Untersuchungsrichter hatte, in der Ueberzeugung, daß die Verbrecherin auch heute leugnen würde, schon einen Wagen bestellt, auf dem sie - unter starker Bedeckung natürlich - an Ort und Stelle geführt werden konnte. Dort lagen auch die Leichen der bei dem Brand verunglückten Menschen, und wenn man ihr so die Folgen ihrer That vor Augen führte, hätte ein verstockteres Herz dazu gehört, als es das Kind besaß, das Vollbrachte selbst in deren Gegenwart noch abzuschwören.

Außerdem waren auf elf Uhr die Zeugen aus Osterhagen bestellt und warteten schon im Vorzimmer - der Knecht in seiner besten Jacke, des Schulzen Frau in riesiger, mit Bändern behangener und reich gestickter Mütze, den vollen Busen mit einer Unzahl silberner Ketten und anderen Schmucksachen behangen, denn das Alles hatte sie aus dem Brande gerettet; war das doch ihre erste Sorge gewesen.

Der Untersuchungsrichter saß schon in seinem Bureau, der Protokollant mit einer Anzahl geschnittener Federn am Tisch vor einer ganzen Schicht neuer Papierbogen, unbeschriebener „Acten in Sachen der Valerie Edmund wegen Brandstiftung". Einer der Polizeibeamten wurde jetzt beordert, die Gefangene herunter zu holen.

Der Gefängnißwärter hatte sie gestern Abend, als er ihr einen Krug mit Wasser und ein Stück Brod brachte, verlassen, wie sie mit gefalteten Händen auf ihrer Pritsche saß und still und regungslos vor sich nieder starrte - so saß sie noch, als er die Thür um elf Uhr Morgens wieder öffnete; so mußte sie die ganze Nacht gesessen haben, denn die wollene Decke, die er ihr, zusammengefaltet, auf die Matratze gelegt, war nicht von ihrer Stelle genommen und das Lager jedenfalls unberührt. /47/ „Hallo, Mädel!" rief der Mann erstaunt, „bist Du die ganze Nacht da so sitzen geblieben? Was? und keinen Bissen gegessen, keinen Schluck getrunken? Das thut's nicht, Kind," setzte er kopfschüttelnd hinzu, „dabei kommst Du von Kräften und gehst zu Grunde. Wenn das Verhör nun jetzt ein paar Stunden dauert, wie willst Du's aushalten?"

„Es wird nicht so lange dauern," sagte das junge Mädchen leise.

„Ja, wer kann's wissen," brummte der Alte; „aber Du sollst hinunter kommen. Die Herren sind Alle schon da - willst Du Dich nicht ein bischen zurecht machen? Du siehst ja ganz blutig im Gesicht aus."

„Zum Verhör soll ich kommen?" sagte Valerie und stand von ihrer Bank auf.

„Ja wohl, Kind - wasch Dir nur erst einmal das Blut von der Stirne."

Valerie erwiderte kein Wort weiter; sie ging zu dem in der Ecke stehenden blechernen Waschkumpen und badete sich Gesicht und Hände in dem frischen Wasser, strich sich dann die Haare glatt und sagte leise:

„Lassen Sie uns gehen; je eher desto bester."

Der Gefängnißwärter schüttelte mit dem Kopf. Er hatte in seinem langen Leben manche Erfahrung gesammelt und die Charaktere seiner zahllosen Gefangenen nicht ohne Erfolg studirt. Diese hier kam ihm aber nicht wie eine bösartige Verbrecherin vor, und trotzdem schien sie ganz in einander gebrochen und sah auch so merkwürdig bleich und elend aus. Aber was ging's ihn an; er that nur seine Pflicht, und sein Schlüsselbund aufgreifend, öffnete er der Gefangenen die schmale Thür und führte sie die Treppe hinab durch den Corridor zu dem Zimmer des schon seiner harrenden Assessors.

In dem Corridor saß des Schulzen Frau in all' ihrem Staat, und neben ihr stand der Knecht vom Hof, der ebenfalls mit als Zeuge einberufen war, und als Valerie an ihr vorüber ging, rief sie aus :

„Oh, das schlechte, miserablige Ding! - sollte man es denn für möglich halten.'"

„Wenn Sie das Maul nicht halten," sagte aber der alte /48/ Gefängnißwärter, der sich nach ihr umdrehte, „so werden Sie ebenfalls eingesteckt und kommen auf Nummero Sicher. Hier hat Niemand zu reden, der nicht gefragt wird."

Die Frau schwieg verdutzt still, denn so hatte noch Niemand mit ihr, der Schulzin aus Osterhagen, gesprochen. Valerie aber hörte entweder die Worte gar nicht, oder achtete nicht darauf. Sie schritt still an ihrer früheren Herrin, ohne auch nur den Blick vom Boden zu nehmen, vorüber und verschwand gleich darauf in der nächsten breiten Thür, die sich gleich darauf wieder hinter ihr schloß. Der Gefangenwärter hatte nur hinein gerufen: „Die Edmund, Herr Assessor."

Das regelrechte Verhör begann jetzt mit all' seinen gewöhnlichen Formeln, und die erste Frage des Untersuchungsrichters lautete:

„Wie heißt Du?"

„Valerie Edmund.

„Wie alt?"

„Bald sechzehn Jahre.

„Wo bist Du geboren?"

„Ich weiß es nicht," sagte leise Valerie.

„Du weißt es nicht?

„Nein "

"Wer waren Deine Eltern?"

"Ich weiß es nicht," wiederholte das Kind noch leiser als vorher, und man sah es ihr an, welchen Kampf es ihr kostete, diese Fragen ruhig zu beantworten.

„Das weißt Du auch nicht?" wiederholte der alte Assessor erstaunt. „Hm, Knd, das ist doch wunderbar. Hast Du denn Deinen Vater und Deine Mutter nie gekannt?"

„Meine Mutter, ja; sie starb vor langen Jahren in Osterhagen - auch meinen Vater habe ich wohl gesehen, aber ich war damals noch ein kleines Kind, und später sagte meine Mutter daß er todt und begraben wäre in einem weiten fernen Land - weit von Osterhagen."

„Und als sie starb?"

„Da kam ich in das Gemeinde-Armenhaus im Dorf, und nachher in Dienst.“ /49/

„Und Du leugnest, etwas von der Ursache des gestrigen Brandes zu wissen?"

„Nein," sagte das junge Mädchen, mit kaum hörbarer Stimme, aber doch deutlich und bestimmt - „ich leugne es nicht mehr; ich habe es gethan!"

„Du hast es gethan, Unglückliche!" rief der alte Assessor ordentlich erschreckt - „und was brachte Dich zu der furchtbaren That?"

„Fragen Sie mich nichts weiter," sagte das arme Mädchen - „ich habe das Feuer angelegt, und wie ich höre, sind zwei Menschen dabei umgekommen, deshalb muß ich auch das Leben verlieren."

„Und woher weißt Du, daß zwei Menschen dabei umgekommen sind?"

„Heute Morgen sprachen sie auf dem Gang vor meiner Kammer davon. Irgend Jemand erzählte es einem Andern, und ich hörte es - ich muß jetzt auch sterben, und dann komme ich wieder zu meiner Mutter."

„Aber weshalb hast Du es gethan? Du mußt doch eine Ursache dafür gehabt, Du mußt doch auch gewußt haben, welche furchtbaren Folgen es haben konnte."

„Der alte Mann im Gemeinde-Hause, der alte Brenner," flüsterte das Mädchen, „hat mir einmal gesagt, daß man nicht alle Fragen zu beantworten brauche, die Einem das Gericht stellt. Der weiß das, denn sie haben ihn auch schon gefangen gehabt."

„So? Ei sieh 'mal an, und wer ist das?"

„Nun, der alte Brenner; er zog früher mit einem Leierkasten herum - jetzt ist er alt und schwach und kann nichts mehr verdienen."

„Und der hat Dir solche Rathschläge gegeben!" nickte der Assessor; „da bist Du freilich in einer guten Schule gewesen."

Valerie schwieg.

„Und Du weigerst Dich, mir zu antworten, wenn ich Dich frage, was Dich dazu gebracht hat, das Feuer anzulegen?"

,,Ja."

Der Assessor sah eine Weile still vor sich nieder, dann /50/ klingelte er, und als der Gerichtsdiener eintrat, befahl er ihm, die Gefangene wieder in ihre Zelle abzuführen.

Gerade als sie das Zimmerverlassen wollte, rief sie der Assessor noch einmal und fragte:

„Woher hast du denn die blutunterlaufenen Stellen im Gesicht? Bist du gefallen?“

„Nein,“ sagte Valerie, „die Schulzin hat mich geschlagen, weil sie behauptete, ich hätte ihr eine silberne Schnalle gestohlen.“

„Und hast du das n i c h t getan?“

„Nein,“ sagte das Mädchen, drehte sich halb ab und schritt zur Tür hinaus.

Das Verhör mit der Schulzin und ihrem Knecht dauerte nicht lange. Die Frau brachte allerdings eine Masse von Anklagen vor, aber der Untersuchungsrichter hatte zu viel mit derartigen Leuten zu tun gehabt, um nicht das Wahre daran ziemlich richtig herauszufühlen. Die Hauptsache war ja auch erledigt; die Verbrecherin hatte ihre Schuld gestanden, und der alte Beamte glaubte, die Ursache leicht in der rauhen Behandlung der vor ihm stehenden, bösartig genug aussehenden Bauersfrau zu finden. Das Mädchen hatte in deren Haus gewiß keine guten Tage gehabt,und in der Rachsucht für erlittene Mißhandlung ließ sich das Motiv der Tat – wenn diese darin auch keine Entschuldigung fand – wohl erklären.

Übrigens schlug die Schulzin vergnügt in die Hände, als ihr der Kriminalbeamte mitteilte, daß die Gefangene ihre Schuld eingestanden habe, und schrie:

„Ich wußt‘ es, ich wußt‘ es, kein Mensch weiter konnte es gewesen sein wie der Balg, und wnn ich jetzt nur noch erlebe, daß sie die Brandstifterin an den Galgen hängen, denn das hat sie hundertmal verdient!“

Die Untersuchung war aber damit nicht etwa geschlossen, denn der alte Assessor zitierte nach und nach das ganze Hauspersonal der Schulzin wie auch das von Baumstetters Hof vor Gericht, und deren Aussagen bestätigten allterdings seine schon früher gefaßte Vermutung, daß die Waise nämlich kein ursprünglich böses, wenn auch sehr vernachlässigtes Kind gewesen und wohl nur durch rauhe Behandlung zu der verbrecherischen Tat, die nicht einmal eine vorbedachte genannt werden konnte, getrieben worden. Auch ihre Jugend kam dazu, um Milderungsgründe zur Geltung zu bringen.

In der nämlichen Zeit gab sioch der Assessor die grüßte Mühe, um etwas Näheres über die Mutter der Gefangenen zu erfahren, aber alle darauf gewandte Mühe blieb umsonst, denn die unruhige Zeit, in welcher sie damals das Dorf aufgesucht, verwischte jede Spur. Er fuhr selbst nach Osterhagen hinüber und zog bei dem Schulzen genaue Erkundigungen ein, und hörte wohl, daß damals ein Leintuch mit dem Zeichen einer adligen Herrschaft gefunden sei, wo es aber geblieben, wußte niemand zu sagen. Es war derzeit mit verauktioniert worden, und auch auf die Buchstaben konnte sich keiner mehr erinnern. Selbst der Schmuck, den Valerie noch von ihrer Mutter trug, und den er später untersuchte, gab keinen Anhaltepunkt; es war ein einfaches, goldenes Kreuz mit dem Buchstaben V. darin, und der Trauring trug nur ein Datum und eine Jahreszahl.

In Osterhagen hatte es der Assessor aber auch nicht versäumt, das Gemeindehaus zu besuchen, wo er Brenner noch auf seinem Lager traf und sich natürlich mit ihm in ein längeres Gespräch einließ. Der alte Bursche aber, der bald genug den Polizeimann und Kriminalbeamten in ihm erkannte – denn er hatte mit derlei Herren wohl mehr Erfahrung gesammelt, als er gewöhnlich gern eingestand – war anfangs ungemein scheu und zurückhaltend und beantwortete alle an ihn gerichteten Fragen außerordentlich vorsichtig. Erst als der Assessor das Gespräch auf den Schulzen und die Behandlung der Gefangenen dort im Hause brachte, wurde er warm und entwarf jetzt eine so düstere Schilderung von den Leuten, daß der Beamte wohl merken mußte, es lauere auch viel eigener Haß in dem Bericht. Brenner behauptete auch dabei mit der größten Bestimmtheit, daß die „Falleri“ unschuldig an dem Brande sei, sie wäre noch den Abend spät auf dem Gottesacker und dann bei ihm im Hause gewesen und nachher schnurstracks in die Stadt hinübergegangen.

„Und woher wißt I h r das, Mann?“ fragte der Assessor. /52/

„Woher ich das weiß?" rief Brenner; „weil's die Falleri gesagt hat, und die hat noch nie in ihrem Leben gelogen; eher bisse sie sich die Zunge ab."

„So," nickte der Beamte; „wenn Ihr das also selber bestätigt, so werdet Ihr auch wohl glauben müssen, daß die Edmund das Haus angezündet, denn sie hat es selber vor Gericht gestanden."

„Den Teufel hat sie!" schrie der alte Bänkelsänger und fuhr erschreckt in seinem Bett empor - „aber das ist nicht möglich!"

„Nicht möglich?- und weshalb nicht?"

„Hm," knurrte der Alte, „möglich ist Alles auf der Welt, selbst, daß ich noch einmal hunderttausend Thaler in der Lotterie gewönne, aber - die Falleri hätte selber freiwillig gestanden, daß sie den Schulzenhof angezündet?"

„Das hat sie - frei und unaufgefordert im ersten ordentlichen Verhör; denn nur als sie zuerst eingebracht wurde, wollte sie nichts davon hören. Aber das ist die alte Geschichte, und so viel werdet Ihr auch selber wissen, daß man, wenn eben aufgegriffen, nicht gleich in's Blinde hinein gesteht. Man muß doch erst erfahren, wie der Hase läuft."

Der Alte warf dem Assessor einen halb pfiffigen, halb lauernden Blick zu, aber die wirkliche Sorge um das junge Mädchen verdrängte doch rasch alle anderen Gedanken.

„Es ist nicht denkbar," sagte er dann, mehr zu sich selber als zu dem Fremden redend und immer dabei mit dem Kopf schüttelnd, „gar nicht denkbar. Ja, Ursache genug hätte sie dazu gehabt, um auch zuletzt einen Hasen auf den Mann zu treiben, Ursache die langen Jahre hindurch, die sie's ertragen und keinen Mucks dabei gethan, - aber - es wäre doch zu merkwürdig und - ich glaub's nicht."

„Was wäre merkwürdig?" frug der Assessor.

„Was merkwürdig wäre?" wiederholte der alte Bänkelsänger, „nun daß das Kind die Courage dazu gefaßt hätte, und dann noch dazu gleich von ihrer Mutter Grabe weg, an der sie mit allen Gedanken hängt. Ich glaub's nicht, und wenn der liebe Herrgott vom Himmel herunter käme und sagt' es." /53/ „Aber habt Ihr denn irgend einen Verdacht auf jemand Andern?"

„Ich?" frug der Alte erstaunt, „auf wen soll ich Verdacht haben? Ich liege hier seit acht Tagen krumm und kann keinen Fuß vor den andern setzen, was erfahre ich von der Welt? Aber Feinde hat die Schulzin genug, und er auch - hochnäsiges Bauernvolk, die vor Uebermuth nicht wissen, was sie treiben sollen. Alle Augenblicke wechseln sie auch das Gesinde; es hält's Niemand lange bei ihnen aus, und warum kann's nicht Einer von denen gethan haben? Warum muß es das Kind gewesen sein?"

„Aber sie würde es doch nicht selber eingestehen, wenn es nicht wahr wäre."

„Merkwürdig, merkwürdig!" wiederholte der alte Bursche wieder - aber er schien müde zu werden. Ob ihm die Glieder weh thaten, oder ob er blos die Unterhaltung abbrechen wollte: aber er warf sich auf sein Kissen zurück und schloß die Augen, und da der Assessor ebenfalls kein weiteres Interesse hatte, in dem öden, unbehaglichen Raum zu verweilen, stand er auf und verließ mit einem kurzen Gruß das Haus. Er wußte, daß er hier doch nichts weiter erfahren würde.

Drei Tage später war der alte Bänkelsänger wieder auf den Füßen und so weit hergestellt, daß er sogar den Gang in die Stadt zu Fuß antreten konnte, wenn er sich dazu auch noch eines Stockes bediente. Eigenthümlich blieb nur dabei, wie rüstig er ausschreiten konnte, wenn er sich streckenweise allein auf der Landstraße sah, und wie es ihm plötzlich wieder in den Gliedern zog, wenn ihm ein Wagen begegnete oder ihn überholte. Das hielt ihn auch sehr auf, denn er kam dann nur immer langsam von der Stelle, aber zuletzt erreichte er die Stadt doch und ließ sich dann ohne Weiteres bei dem Assessor melden, den er um eine Unterredung mit der „Falleri" bat.

Der Assessor schien keine rechte Lust zu haben, ihm die zu gestatten, aber er war auch neugierig geworden, zu erfahren, welchen Einfluß der alte Bursche auf das Mädchen ausüben würde, und hatte ihn zugleich dabei im Verdacht, mehr von /54/ dem Brande selber zu wissen, als er für gut fand zu gestehen. Schaden konnte er überdies nicht mehr bringen; die That war von der jungen Verbrecherin ohne Zwang, ohne Zureden offen eingestanden und später wiederholt auf das Entschiedenste bestätigt worden - möglich, daß gerade durch ihn mehr Licht in die immer noch dunkle Sache kam.

Der Alte humpelte mit einem ihn begleitenden Polizeidiener die Treppe hinauf, und der Gang schien ihm sauer zu werden. Auf einem Absatz blieb er halten, um sich zu verschnaufen, und schmunzelte dann leise vor sich hin:

„Es sieht ordentlich natürlich aus, daß ich hier in so anständiger Begleitung abgeführt werde."

„Ist Euch auch wohl schon manchmal passirt, wie?" lachte der Gerichtsdiener.

„Lieber Gott," sagte der Alte, „menschliche Schicksale wechseln; einmal sind wir oben, einmal unten. Ich war auch schon einmal unten."

„Dachte mir's doch," nickte der Mann, „Ihr seht mir auch gerade danach aus."

„Sie scheinen mir Menschenkenner," meinte der Bänkelsänger trocken; „aber ich denke, wir können jetzt eine Station weiter fahren. Wie geht's denn der Falleri?"

„Wem?"

„Nun der Nummer so und so; ich weiß ja noch nicht, unter welcher Firma sie hier logiert."

„Oh, der Edmund, Nummer elf - gut geht's ihr; es fehlt ihr nichts."

„Freut mich zu hören," nickte der Alte, „wäre aber das erste Mal in ihrem Leben, daß es ihr gut ginge - und ein curioser Platz dazu. Aber da sind wir wohl - Nummer elf. Wollen Sie mich dem Herrn Gefängnißwärter vorstellen?"

„Wird wohl nicht nöthig sein," lachte der Mann über die Förmlichkeit des Alten; „hier, Brummer, der Mann da hat Erlaubniß, Nummer elf zu sprechen - eine Viertelstunde!"

„Brummer heißt der Herr? Merkwürdig!" nickte Brenner, „paßt aber gar nicht. Er läßt ja gerade die Anderen brummen und brummt nie mit."

„Thut er nicht, Du alter Schlaukopf?" lächelte der Ge-/55/fängnißwärter, der die Worte gehört hatte, „und brumme ich nicht etwa hier in dem verdammten Nest das ganze Jahr, Sonn- und Feiertage, während die Vögel ein- und wieder ausfliegen? Wer ist da eigentlich der Brummer, heh?"

„Können Recht haben, verehrter Herr," nickte der Alte, „habe eigentlich nie so tief darüber nachgedacht. Wenn Sie jetzt vielleicht so gefällig wären -"

„Mit Vergnügen," nickte der Mann, „und auch wohl für längere Zeit, wenn's sein müßte. Platz genug ist da."

„Möchte Ihnen doch nicht gern beschwerlich fallen," sagte der Bänkelsänger, während Herr Brummer die Riegel zurückschob und die Thür dann aufschloß.

„Hier, Edmunden, da kommt Besuch," sagte er dann, ließ Brenner eintreten und verriegelte die Thür wieder hinter ihm, ohne sie jetzt aber abzuschließen.

Valerie saß auf ihrer Pritsche, ein kleines Gebetbuch in der Hand, das man ihr auf ihre Bitten gegeben hatte - es waren Witschel's Morgen- und Abendopfer2 - und ihre großen dunkeln Augen hafteten auf den Zeilen, als sie das erste Klirren der Riegel hörte. Sie veränderte auch ihre Stellung nicht, als sich die Thür öffnete; der Schließer kam manchmal herein, um ihr Wasser und Brod zu bringen, aber er sprach selten oder nie mit ihr. Sie erschrak jedoch, als sie das Wort Besuch vernahm. Wer konnte sie besuchen?

Trotzdem färbten sich einen Augenblick ihre Wangen, als sie den alten Brenner erkannte, und ihm die Hand entgegenstreckend, sagte sie herzlich:

„Wie mich das freut, daß Sie mich nicht ganz vergessen haben."

„Hm," brummte der Alte in augenscheinlicher Verlegenheit, indem er einen scheuen, flüchtigen Blick in dem Gemach umherwarf - „vergessen, Falleri? Ich habe immer an Dich gedacht, Kind, Tag und Nacht, und hier - kommt's mir auch beinahe wieder so vor, als ob wir zusammen im Gemeinde-Haus säßen; die „Stube" hier sieht genau so aus, wie die lee-ren Wände da drüben. Aber wir dürfen die Zeit nicht mit Redensarten vergeuden, denn ich habe nur eine Viertel-/56/stunde Erlaubniß und - möchte eine Frage an Dich richten, Falleri."

„Ja, Herr Brenner."

„Du hast gestanden, daß Du das Feuer an jenem Abend angelegt?"

„Ja, Herr Brenner," sagte Valerie leise.

„Aber Du hast's nicht gethan, Mädel!"

„Doch, Herr Brenner," lautete die bestimmte Antwort, „ich hab's gethan und hab's gestanden."

„Es ist nicht wahr, Mädel," fuhr der Alte aber jetzt mit unterdrückter Stimme fort, „Du kannst's nicht gethan haben, denn erstens liegt es nicht in Deiner Natur und dann - bist Du's auch nicht gewesen."

„Doch, Herr Brenner, ich war's," wiederholte Valerie, jetzt wieder mit denselben bleichen Wangen wie vorher; „ich habe es gethan und werde dafür meine Strafe erhalten. Hoffentlich lassen sie mich nicht lange warten," setzte sie noch leiser hinzu.

„Aber Du bist doch erst bei uns draußen gewesen," fuhr der Mann fort, der jetzt Beweisgründe gegen sie zu sammeln suchte, „Du warst vorher auf dem Kirchhof bei Deiner Mutter selig."

„Ja, Herr Brenner, und nachher bin ich durch's Dorf gegangen und habe das Feuer in die Scheune geworfen!"

„Aber zwei Stunden nachher ist's erst ausgekommen."

„Das ist möglich, es hat vielleicht so lange geglimmt, bis der Wind zu wehen anfing. Sie haben's auch wohl nicht gleich gesehen."

„Das ist gerade, um Einen verrückt zu machen," brummte der Alte und schüttelte dabei immer, wie erstaunt, mit dem Kopf; „aber wenn's wirklich wahr wäre," fuhr er nach einer Weile wieder fort, „und ich glaub's nicht und würd' es selbst nicht glauben, wenn Dich jemand dabei erwischt hätte - weshalb hast Du's da den Eseln auf die Nase gebunden? Wer hätt' es Dir je beweisen wollen?"

„Und was sollt' ich's leugnen?" sagte Valerie ruhig; „den Dienst bekam ich nicht mehr, nach Osterhagen konnt' ich nicht zurück, fremd und allein steh' ich in der Welt und habe /57/ ich immer gestanden, ich wäre doch zuletzt zu Grunde gegangen. Da ist's besser, ich sprach gleich die Wahrheit und leide jetzt meine Strafe."

Der alte Bänkelsänger hatte sich neben sie auf die Pritsche gesetzt und schüttelte in einem fort mit dem Kopfe.

„Ein merkwürdiges Zusammentreffen wär's doch," sagte er endlich, „ein heillos merkwürdiges!"

„Was, Herr Brenner?"

„Was? - hm - daß sie das Feuer nicht gleich entdeckt haben sollten; aber der Holzklotz von Nachtwächter schläft immer unter der Linde und dahinten an die Scheune kommt auch eigentlich Niemand hin."

„An welche Scheune?"

„Nun hinter des Schulzen Haus, wo das Feuer auskam."

„Ja," nickte Valerie, deren Gedanken wo anders geweilt zu haben schienen, „ja, da kommt Niemand hin, es ist abgelegen."

„Recht hätt'st Du gehabt, Mädel," nickte der Alte noch einmal mit dem Kopf; „verdenken könnte es Dir Niemand, denn schlecht genug behandelt haben sie Dich, niederträchtig behandelt, und schlimmer als einen Hund, und der Wurm krümmt sich zuletzt, wenn er getreten wird - aber das Maul hätt'st Du halten sollen, denn wer hätt's Dir zuletzt beweisen wollen, heh? Kein Mensch. Die Gerichtsbeamten thun allerdings immer schrecklich klug, gerade so, als ob sie Alles schon wüßten und nur aus lauter Plaisir noch weiter fragen, und dabei muß man sie lassen, nachher fahren sie selber den Karren in den Dreck, denn sie wissen gar nichts. Läßt man sich aber verblüffen, dann haben sie Einen, wo sie ihn hin haben wollen, und man sitzt fest."

„Ich habe Alles freiwillig gestanden, Herr Brenner."

„Desto dümmer," nickte der alte Mann, „denn dazu war gar keine Veranlassung; aber," setzte er leise hinzu, „es läßt sich vielleicht noch gut machen. Wenn Du in's nächste Verhör kommst, Falleri - und am besten läßt Du Dich gleich morgen früh beim Assessor melden - so sagst Du ihm nur, die ganze Geschichte sei nicht wahr."

„Was ich schon gestanden habe?" /58/

„Versteht sich, das macht nichts, das geschieht oft genug und gilt. Sag' ihm nur, Du hättest den ersten Tag eine solche Heidenangst, so einen Respect vor dem Gericht und den Eisengittern gehabt, daß Du selber nicht mehr wüßtest, was Du Alles geschwatzt; Du sei'st es aber gar nicht gewesen und wärest keine Brandstifterin."

„Und da sollten sie mir glauben?" frug Valerie kopfschüttelnd.

„Ob sie Dir's glauben oder nicht, bleibt sich ganz gleich," sagte der Alte, „aber in's Protokoll müssen sie's schreiben, und dann kommt's oben auf's andere Gericht und stößt die ganze Geschichte um, was Du früher gesagt hast. Willst Du's thun, Falleri?"

„Nein, Herr Brenner," sagte das junge Mädchen ruhig, „was ich gesagt habe, hab' ich gesagt; es ist geschehen und aufgeschrieben, und Gott wird weiter helfen."

„Wenn ich nur so 'was nicht hören müßte," brummte der Alte ärgerlich. „Wer sich selber hilft, dem hilft Gott, muß es heißen; selber mit anfassen muß man, und nachher - geht's auch nicht immer, aber man versucht's doch wenigstens. Versprich mir's, Falleri; ich hätte sonst keine Ruhe und - machte am Ende noch einen dummen Streich."

Das junge Mädchen schüttelte ernst mit dem Kopfe, aber es blieb ihr keine Zeit zu einer weiteren Erwiderung, denn der Riegel wurde in diesem Augenblick wieder zurückgeschoben, der Gefängnißwärter sah herein und sagte:

„Nun, alter Schwede, Deine Zeit ist um; mach' Dich auf die Socken."

Der Bänkelsänger warf einen unschlüssigen Blick auf Valerie, aber er wußte recht gut, daß gegen den Befehl keine Einrede half; der Mann that nur seine Pflicht und wich auch von der nicht ab - außer, er hätte vielleicht die Mittel besessen, ihn zu veranlassen, seine Uhr um zehn Minuten zurück zu stellen. Brenner befand sich aber gerade nicht bei Kasse, und deshalb seinen alten Hut aufgreifend, sagte er trocken:

„Was sein muß, muß sein, aber Falleri, überleg' Dir die Sache und thu's mir zu Liebe."

„Wer war's denn, der bei dem Brand verunglückt /59/ ist?" frug Valerie, während sie ihm die Hand zum Abschied reichte.

„Oh, weiter Niemand," sagte Brenner, obgleich ihm die Frage nicht angenehm zu sein schien, „als der Hans von Baumstetters und der Peter von des Schulzen Hof."

„Die beiden Einzigen, die manchmal' freundlich mit mir waren," nickte das junge Mädchen; „arme Menschen!"

„Wer kann's ändern," rief der Alte, „heute mir, morgen Dir; es hat so sein sollen, und Du brauchst Dir deshalb keine Gewissensbisse zu machen."

„Na wird's bald?" rief Brummer, in der Thür stehend; „glaubt Ihr, daß ich weiter nichts zu thun habe, als auf Euch zu passen?

„Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Brummer," lachte Brenner, „wenn Sie auf mich passen müßten, hätten Sie gerade genug zu thun. Aber leb' wohl, Falleri - vergiß nicht, was ich Dir - erzählt habe - Du verstehst mich - wenn ich die Erlaubniß kriege, komme ich noch einmal her zu Dir," und ihr kräftig die Hand schüttelnd, verließ er die Zelle wieder und humpelte die Treppe hinunter, an den verschiedenen Schildwachen vorüber, aus dem Haus.

7.

Auf dem Kirchhofe.

Indessen schleppte sich, nach dem gewöhnlichen Geschäftsgang, die Untersuchung noch einige Monate hin, und das Urtheil gegen die junge Verbrecherin lautete endlich, unter Annahme mildernder Umstände, auf zehn Jahre Zuchthaus und weitere zwei Jahre polizeiliche Aufsicht.

Das Urtheil wurde bald in der Nachbarschaft bekannt, und die Leute schienen es meistentheils zu billigen. Nur des Schulzen Frau in Osterhagen war wüthend darüber und er-/60/klärte: es sei keine Gerechtigkeit mehr im Lande, wenn eine solche Verbrecherin, die zwei Todtschläge begangen, mit ein paar Jahre Zuchthausstrafe abkäme; die müßte doch wenigstens gehangen werden. Das Gericht zog aber des Schulzen Frau zu Osterhagen nicht zu Rathe, und da die Verurtheilte gegen die über sie verhängte Strafe nicht appellirte, wurde sie einige Tage später in die dafür bestimmte Anstalt abgeführt und auch weiter nicht mehr von der Sache gesprochen.

Dem alten Brenner schien das Resultat freilich nicht recht, und er ging von der Zeit an noch viel mürrischer im Dorf umher als vorher. Auch daß der Schulze seinen Hof noch viel schöner aufbaute als früher, ärgerte ihn, und es zuckte ihm stets in Fingern und Armen, wenn er der hochnäsigen Schulzin begegnete, die ihn noch dazu nicht einmal eines Blicks würdigte. Aber was half ihm sein Ingrimm? Er mußte ihn eben hinunterschlucken, und durfte sich noch nicht einmal etwas merken lassen.

Die „Falleri" war verschollen und im Zuchthaus begraben.

So mochten fast zwei Jahre vergangen sein, als eines Tages eine stattliche Equipage in Osterhagen vor dem Wirthshaus hielt und ein junger Officier aus dem Wagen sprang. Er hielt sich aber gar nicht im Wirthshaus auf, sondern befahl seinem Kutscher nur auszuspannen, erkundigte sich dann bei einem der Knechte, in welcher Richtung etwa der Kirchhof liege, und schritt dann, ohne weitere Erkundigungen einzuziehen, der bezeichneten Gegend zu.

Allerdings interessirte sich die Dorfjugend außerordentlich für ihn, und eine Anzahl der Jungen folgte dem schmucken Husaren auch in achtungsvoller Entfernung bis zur Kirchhofsthür; da er aber dort gar kein Ende machte und immer nur hin und her wanderte, bekamen sie es zuletzt satt. Es war überhaupt Mittagszeit geworden, und sie mußten nach Hause. Sie bekamen den fremden Husaren auch schon wieder zu sehen, wenn er zu seinem Wagen zurückkehrte.

Der kam aber lange nicht; wohl zwei volle Stunden stieg er zwischen den arg verwilderten Gräbern herum, und es war augenscheinlich, daß er irgend ein bestimmtes Grab suchte, aber nicht finden konnte. Endlich gab er es auf und wandte /61/ sich dem nächsten Hause zu, um dort jedenfalls Erkundigungen einzuziehen.

Das war das Gemeinde-Haus, und Brenner saß gerade unter einem vor drei Jahren dort selber angepflanzten Hollunderbusch vor der Thür und rauchte aus einem entsetzlich schmutzigen und abgegriffenen Maserkopf seinen „Knaster". Er sah den Officier auf sich zukommen und wunderte sich, was den in aller Welt hierher geführt haben könne, rührte sich aber nicht von seiner Stelle und qualmte nur in Gedanken stärker als vorher.

Der junge Mann kam heran, und als er den Bänkelsänger erblickte, redete er ihn an:

„Sagen Sie einmal, lieber Freund, sind Sie hier im Ort seit längerer Zeit bekannt?"

„Sollte denken," nickte der Alte, „ich bin hier geboren und jetzt schon eine hübsche Reihe von Jahren in dem Palast da einquartiert."

„Wohnt der Todtengräber weit von hier?" frug der Soldat hierauf.

„Weit? Lieber Gott, weit ist hier eigentlich gar nichts," lachte Brenner, „denn wenn Sie weit gehen, kommen Sie aus Sicht vom Dorf. Gleich dort neben der Kirche, wo Sie den stumpfen Thurm sehen - er ist auch zugleich Küster, Nachtwächter und Büttel. Aber was wollen Sie von ihm?"

„Es ist mir ein Grab bezeichnet worden," erwiderte der junge Officier, „das ich gern auffinden möchte, aber ich habe mir vergebene Mühe gemacht, danach zu suchen. Wie alt ist Ihr Todtengräber?"

„Oh, nicht alt, noch ein junger Bursche von einigen dreißig Jahren," sagte Brenner, „auch erst seit ein paar Jahren hier im Dienst, und sein erstes Geschäft war, den alten einzuscharren."

„Dann wird er mir auch keine Auskunft geben können," seufzte der Officier, „denn das Grab, das ich suche, muß schon weit über vierzig Jahre gegraben sein,"

„Das ist freilich lange her - und welche Inschrift trägt es? Wenn Sie nur den Namen wissen, finden wir es doch vielleicht noch nach dem Kirchenbuch." /62/

„Es trägt gar keinen Namen," lautete die Antwort, „und das einzige Erkennungszeichen, das mir angegeben wurde, sollte sein, daß zu Häupten desselben ein kleiner spitzer Stein stände, mit einem bestimmten Zeichen eingemeißelt."

„Hm," nickte der Alte, „da brauchen Sie am Ende den Todtengräber und das Kirchenbuch nicht, denn einen solchen Stein weiß ich und hab' mich schon manchmal gewundert, wer den wohl zum Leichenstein gesetzt haben könnte."

„Und wo steht der?" rief der Fremde rasch; „ich würde Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie mich begleiten wollten."

„Ja, wenn Sie nicht zu rasch laufen," sagte Brenner, sich mühsam von seinem Sitz erhebend, „so humple ich mit Ihnen hinüber, aber schnell geht's freilich nicht mehr. Die Knochen werden alt."

„Ich habe reichlich Zeit; wir können so langsam gehen, wie Sie wollen."

„Na, denn man zu," nickte Brenner, „weit haben wir ja überdies nicht, denn wir hier im Gemeinde-Haus sind hübsch bequem neben dem Kirchhof einquartiert, damit wir später nicht zu viel Fuhrlohn kosten."

„Dies ist das Gemeinde-Armenhaus?"

„Ja, und hier sehen Sie einen seiner glücklichen Bewohner."

„Sie haben auch früher gedient?"

„Sollte denken," nickte der Alte, während er neben dem Officier herhinkte, „auch Anno 13 und 15 mitgemacht - aber jetzt geht's zu Ende. Na Du lieber Gott, ich darf mich nicht beklagen; ich habe schon manchen Jüngeren hier vorbeifahren sehen, und bin doch noch immer die ganze Zeit über Wasser geblieben. Lange wird's freilich nicht mehr dauern, daß ich da drüben mein Quartier beziehe."

Die Beiden schritten von da an schweigend und Jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt die kurze Strecke hinüber, die sie noch vom Kirchhof trennte, und als sie diesen jetzt erreichten, sah sich Brenner erst eine Weile um, als ob er selber nicht mehr ganz sicher sei, wo er das bezeichnete Grab suchen solle, und stieg dann vorsichtig und mit augenscheinlicher Be¬/63/schwerde über die Gräber weg, quer durch den Gottesacker hin, bis fast zur andern Ecke.

Dort war lange Niemand mehr beerdigt worden, und der Platz lag arg verwildert und von hohem Gras und Buschwerk überwachsen; es wurde auch selbst dem alten Manne schwer, sich hier zu orientiren, und er bedurfte einiger Zeit, bis er nur genau die Gegend angeben konnte. Dann aber unterstützte ihn der junge Fremde in seinem Suchen, und den Säbel aus der Scheide ziehend, schob er damit das lange Gras zurück, bis plötzlich der alte Bänkelsänger rief:

„Halt! da ist er - Sie stehen gerade davor. Wie das Unkraut hier in den letzten Jahren aufgeschossen ist! Früher führte ein ordentlicher Weg zu der Stelle."

„Welcher Platz?" fragte der junge Officier, sich vergebens nach dem bezeichneten Stein umsehend.

„Da dicht vor Ihnen, Sie treten ja fast auf den Stein."

„Der? Ja mein Gott, den hätte ich im Leben nicht allein gefunden, denn ich hatte ihn mir nach der Beschreibung viel größer gedacht. Aber ist das auch der rechte?"

„Einen anderen spitzen Stein giebt's auf dem ganzen Kirchhofe nicht mehr," erwiderte Brenner; „nicht einmal viel viereckige, denn die Bauern setzen immer nur ein hölzernes Kreuz mit einem Regendach darauf, daß der liebe Gott die Inschrift von oben gar nicht lesen kann."

„Das muß wirklich der Stein sein," rief aber auch jetzt der junge Fremde, der indessen mit dem Säbel das darüber gewachsene Moos abgekratzt hatte, so daß er die eingegrabenen Zeichen erkennen konnte. „Er soll früher zu einer Sonnenuhr gedient haben, und wurde nur damals, nach der Schlacht, als man den Erschossenen hier eingegraben, als vorläufiges Zeichen auf das Grab gesetzt. Die Familie zog aber fort aus Deutschland, und ich habe erst jetzt den Auftrag bekommen, das Grab aufzusuchen und später die Ueberreste des Verstorbenen in unsere Familiengruft zu schaffen."

„Hm, so?" sagte der Alte nachdenkend, „und leben noch Anverwandte von dem Todten in dieser Gegend?"

„Nein, außer unserer Familie keine mehr; sie zogen da-/64/mals weit weg, und wir haben nie wieder von ihnen gehört. - Weshalb?"

„Oh, ich meinte nur," nickte Brenner; „aber eine arme Frau, die jedoch einmal weit bessere Tage gesehen haben mußte und jetzt dort drüben in der Ecke begraben liegt, hat, als sie noch lebte, oft Stunden lang bei diesem nämlichen Steine gesessen."

„Eine Frau?"

„Ja, die mit zwei Kindern hierher zog, einem Knaben und einem Mädchen - der Knabe starb bald und die Frau nachher auch."

„Und wie hieß sie?"

„Sie nannte sich hier die Edmunden."

„Der Name ist mir völlig fremd. Seit wann ist sie todt?"

„Oh, schon eine Reihe von Jahren; wir können nachher einmal an ihrem Grabe vorbeigehen."

„Und die besuchte dieses Grab?"

„Es war ihr einziger Spaziergang viele Jahre lang."

„Das ist sonderbar; vielleicht eine alte Dienerin des Hauses."

„Na, so alt war sie gerade noch nicht, aber so 'was muß es jedenfalls gewesen sein, denn sie starb in großer Armuth, und das Mädchen kam nachher in's Gemeinde-Haus."

„Und steht ihr voller Name auf dem Grab?"

„Sicher; sie hat ein Kreuz bekommen, so gut wie die Anderen. Was sie hinterließ, reichte gerade aus, um das zu bezahlen."

„Es war jedenfalls eine der Dienerinnen, die mit seltener Treue an ihrer alten Herrschaft hing. Bitte, zeigt mir einmal das Grab, Freund, damit ich mir den Namen aufschreibe. Ich habe jetzt hier gefunden, was ich suchte, und werde nach einiger Zeit zurückkehren, um meinen Auftrag auszuführen. Kann man jetzt den Schulzen wohl im Orte treffen?"

„Wenn er gerade zu sprechen ist," meinte Brenner, „aber in letzter Zeit scheint er selten nüchtern zu werden; „er säuft."

„Das ist ja ein hübsches Orts-Oberhaupt," lachte der Officier. /65/

„Das weiß Gott," nickte Brenner, „mir gefällt er ebenfalls, - aber das hier ist das Grab, schon ein bischen eingesunken und verwachsen, aber lieber Himmel, wer sieht hier danach!"

Der Fremde mußte wieder seine Waffe zu Hülfe nehmen, um ein wahres Strauchwerk von aufgeschossenen Brennesseln zu entfernen, damit er nur den Namen lesen konnte. Aber es stand auch weiter nichts darauf, als: „Valerie Edmund, gestorben den . . . .... 185." und als Nachsatz: „Sie ruhe in Gott."

Der junge Officier schüttelte mit dem Kopf; der Name war ihm fremd, und da nicht einmal ein Geburtsjahr oder ein Ort der Abstammung angegeben war, konnte er ihm auch weiter nichts helfen. Er schob die schon herausgeholte Brieftafel in die Tasche zurück und fragte:

„Leben denn noch Verwandte der Frau hier?"

„Nein," erwiderte Brenner, mit dem Kopfe schüttelnd, denn die Frage war ihm unangenehm, „nicht hier; die Tochter ist - fortgezogen."

„Dann helfen mir auch meine Nachforschungen nichts - also herzlichen Dank, lieber Freund, für die gegebene Auskunft; Sie wissen nicht, welchen großen Dienst Sie mir damit geleistet haben. Diese Kleinigkeit bitte ich Sie auch, für Ihre Mühe von mir anzunehmen. Wenn ich in einiger Zeit hierher zurückkehre, hoffe ich Sie wiederzusehen."

Hüben und Drüben

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