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PROLOG

• Shikani, Tochter der Senjasantii | Ich sehe den warmen Regen, wie er auf Senjasantii niedergeht: in weiten Schlieren in der Atmosphäre, in chaotischen Musterungen auf dem graugrünen Meer, in Wellen über der flachen Graslandschaft. Unsere Welt ist eine Welt des Wassers, das unter den weiß leuchtenden Wolken voller Farben ist. An besonders hellen Tagen glitzern die Tropfen im Gegenlicht wie Tausende von schwebenden Kristallen. Es ist ein seltenes Ereignis, wenn der Himmel aufreißt, in kurzen Momenten transparent wird und gleißendes Licht in langen Bändern durch die feuchte Luft ins tiefe Wasser fällt. Als sich Bromens Fähre herabsenkte, klarte der Himmel auf, als wollten die Wolken sich vor ihm verneigen. So träumten es die Spielenden.

In der Zeitrechnung der Endoer war ich dreizehn Jahre alt: für eine Senjasantii eine Erwachsene, anders als die Kinder der Endoer, die erst mit 20 Jahren als gleichwertig gelten. Wir hatten von Bromen Cossan gehört, der in der Elawaia die gefürchteten Vrakaane jagte. Seit Jahrhunderten beobachten wir die Endoer, ihre Entwicklung in der inneren wie in der äußeren Welt, ihre Könige, ihre Expansion in die Elawaia, die sie den Ring der Sterne nennen. Die Spielenden haben Bromen in ihren Träumen gesehen, und unsere Schiffsführer sind ihm fern von Senjasantii bereits begegnet. Von ihnen wusste er: Wer Wasser oder Grund berührt, muss für immer auf Senjasantii bleiben. Den Planeten überhaupt zu betreten war eine Missachtung unserer Bräuche, eine Verletzung unserer äußeren und inneren Welt. Durch die Ausbreitung der Seuche war gewiss Eile geboten, und Bromen Cossan war im Besitz des Heilmittels. Seine Unbeirrbarkeit, mit der er die Koordinaten seiner Landung übermittelte, war dennoch verstörend für mein Volk.

Die Gesandten der Senjasantii hatten sich versammelt und erwarteten Bromens Ankunft. Die fernen Gebäude der Stadt, die vom Meeresgrund bis in die Wolken reichen, waren im Dunst nur schemenhaft zu erkennen. Ich hatte meinen Vater angefleht, mich mitzunehmen, und er hatte schließlich erschöpft den Widerstand gegen meine Bitte aufgegeben. Nun stand ich dicht neben ihm und betrachtete im Sonnenlicht die sinkende Fähre.

Einige Meter über der Oberfläche schalteten sich die weiß glühenden Triebwerke aus, und das Fahrzeug wechselte in den Schwebezustand. Das Dröhnen wich einem dumpfen Summen. Die Fähre verharrte schließlich über der Erde, ohne die Spitzen der Gräser zu berühren. Ich sah, wie sich eine Luke öffnete. Er alleine stieg heraus und balancierte mit vorsichtigen Schritten zum Rand des Stabilisators. Sein Blick schweifte über die Waffenträger, die sich in einem weiten Kreis um das schwebende Schiff positionierten. Er kniete nieder, schaute auf die feuchte Erde unserer Welt herab und streckte dann langsam eine kleine Ampulle vor sich hin. Geduldig wartete Bromen Cossan und blickte schweigend zu meinem Vater. Die Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt. Bis auf das Summen der Fähre und das Rauschen des Windes herrschte Stille.

Endlich hob mein Vater sanft die Hände und berührte zum Gruß mit den Fingerspitzen seine Schläfen. Langsam schritt er zwischen den Waffenträgern hindurch auf Bromen zu. Ich folgte meinem Vater, blieb jedoch einige Meter hinter ihm stehen, als er sich der schwebenden Fähre näherte. Mit nach oben ausgestreckten Armen nahm er den metallenen Behälter entgegen. Er verneigte sich, und sogleich eilte einer der Waffenträger herbei, um die Ampulle zu übernehmen und zu den Gelehrten zu bringen. Bromen Cossan erhob sich. Für zwei Sekunden schaute er mich an. Seine blau schimmernden Augen blickten durchdringend, als ob er mich eindeutig erkennen würde. Dann wandte er sich ab und stieg durch die Luke. Das Schiff gewann an Höhe, die Triebwerke brausten über unseren Köpfen, und wir schauten der Fähre nach, die immer schneller aufstieg und in den zuziehenden Wolken verschwand. Nur wenig später setzte der Regen wieder ein. Ich spürte das warme Wasser auf meiner Haut, während ich noch immer in den Himmel blickte

Nie hatte eine Senjasantii unsere Heimatwelt dauerhaft verlassen. Es war unvorstellbar. Niemand hatte voraussehen können, dass ich Bromen Cossan folgen und seine Kriegsgefährtin werden würde. Niemand außer den Spielenden.

♦ Habun Illban Ja’en | Shikani legte den kleinen, silbernen Würfel in meine Hand. Sanft schloss sie meine Finger um das warme, kantige Instrument. Ich blickte verwirrt in ihre grünen, mit dem Alter dunkler gewordenen Augen. Der Anzug ihres Volkes, dessen dunkelblaue, mit feinem Wabenmuster überzogene Oberfläche im gedämpften Licht meines Arbeitszimmers schimmerte, umschloss ihren filigranen Körper; das repolymerisierende Material ließ nur Hände und Kopf unbedeckt. Ihre kupferfarbene Haut wirkte blass.

»Was ist das?«, fragte ich.

Sie legte ihre Hände ineinander. »Nach meinem Besuch im Schrein der Harfe habe ich mit Aufzeichnungen begonnen.« Ihre zwei Stimmen klangen nicht ganz so synchron, wie ich das von ihr kannte.

»Aufzeichnungen?«

»Über die Ereignisse in der Elawaia. Für dich, Ja’en. Aber nicht nur. Und du wirst sie ergänzen müssen.«

Ich wandte mich ab, setzte mich auf einen silbernen Stuhl und deaktivierte die Hologramme über meinem Tisch aus Hornbaumholz. Mein Arbeitsraum wirkte ohne die blauweißen Projektionen ein wenig düster; die Säulen warfen im Licht der Dämmerung lange Schatten. Vorsichtig legte ich den erhaltenen Hologrammwürfel vor mich hin. »Shikani, als Gelehrter lernt man früh, nicht sich selbst zum Thema zu machen.«

»In jungen Jahren auf Cantori hast du anders gedacht, Prinz Ja’en.«

Ich lächelte müde. »Ach Shikani – für wen soll das sein?«

»Für das Sternenkönigreich.«

»Für das Sternenkönigreich?«, wiederholte ich mit unüberhörbarem Spott. Ich deutete einladend auf einen Sessel, doch die Senjasantii blieb stehen. »Shikani, das Sternenkönigreich ist eine Fantasie einiger weniger privilegierter Endoer – zulasten der großen Mehrheit aller Ringwelten.«

Shikani antwortete nicht.

»Für wen also, Shikani, Tochter der Senjasantii?« Meine Frage klang nun ohne Absicht ärgerlich; ich erhob mich, schritt zu den offenen Fenstern und schaute auf den Kratersee weit unter uns, auf dem das letzte violette Licht des Abends reflektierte. »Für wen, wenn nicht für dich und für mich allein soll ein solches Werk sein! Das Sternenkönigreich ist tot, Shikani, und tot ist alles, was aus ihm hätte werden können. Tot ist mein Großvater; und meine Mutter habe ich nicht mehr als lebendig empfunden, seit sie mich als Kind auf Cantori zurückgelassen hat. Ihre Krönung hat nichts zu bedeuten.«

»Es ist deine Blutlinie, Prinz Ja’en«, antwortete Shikani streng.

»Nie werde ich König sein. Nie mehr soll jemand im Ring eine Krone tragen.« Ich stützte mich mit beiden Händen trotzig auf das steinerne Fenstersims. »Die Monarchie ist gescheitert, Shikani«, fügte ich heiser hinzu, »mehrfach und vollständig.« Ich drehte mich um und sah sie an. »Der Friede ist ein zerbrechlicher Kompromiss und«, ich zögerte, »allein dein Verdienst. Die Senjasantii hatten recht, sich von uns Endoern fernzuhalten.«

Sie trat neben mich und berührte meinen Arm. »Dann schreib für Bromen.«

»Für welchen Bromen?«, müde schloss ich die Augen. »Den größten Taktiker aller Zeiten? Den berühmtesten Laar im Ring der Sterne? Den skrupellosen Kriegstreiber? Den geheimnisvollen Träumer?«

»Für ihn, ja.«

Shikanis vertraute Züge waren tatsächlich alt geworden. »Du bewunderst ihn immer noch, nicht wahr? Nach all dem, was geschehen ist.« Ich legte meine Hand kurz auf die ihre, ihre Haut fühlte sich kühl an. »Du, Shikani, bist der bessere Laar, als er jemals war.«

Sie schwieg und betrachtete mich aufmerksam, das leicht faltige Gesicht eines 47-Jährigen.

»Ja’en«, sagte sie schließlich, und ihre zweitonige Stimme erschien mir plötzlich so kraftvoll wie vor so langer Zeit an Bord ihres Schiffs. »Die äußere Welt ist nur aus der Perspektive der inneren zu verstehen.«

Ich seufzte und lächelte: »Ich habe dieses Konzept der Senjasantii wohl noch immer nicht verstanden.«

Shikani fixierte mich vorwurfsvoll, doch ich spürte, dass ihre Worte mich auf eine seltsame, lange vermisste Weise trösteten.

Sie wandte sich ab: »Ich werde meine Aufgaben Asesiitar übergeben.«

Ihre Worte trafen mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Auch wenn ich schon seit Jahren keine offiziellen Aufgaben im Ring mehr erfüllte, schien mir undenkbar, auf Shikani verzichten zu müssen.

»Wo wirst du hingehen?«

»Nach Senjasantii. Zu meinem Volk. Es ist an der Zeit.« Ein Schatten fiel über ihr Gesicht, das Grün ihrer Augen leuchtete. »Ich habe lange genug unter den Endoern gelebt.« Sie versuchte ein Lächeln.

»Nein«, flüsterte ich hilflos.

Shikani legte die Fingerspitzen beider Hände an ihre Schläfen. »Meine innere Welt«, begann sie die Formel ihrer Vorfahren, »ist berührt von unserer Begegnung in der äußeren, Habun Illban Ja’en, Prinz des Sternenkönigreichs.«

Ein leichter Schwindel befiel mich. Tausend Erinnerungen unserer gemeinsamen Reise durch die äußere und auch die innere Welt streiften mich.

Shikani verneigte sich. »Königliche Hoheit«, grüßte sie förmlich und verließ den Raum – verließ mich –, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich starrte auf die Tür, die sich geräuschlos hinter ihr schloss.

Minutenlang stand ich wie betäubt da.

Dann trat ich auf die lang gezogene Terrasse hinaus, die an meinen Arbeitsraum im Ostflügel der Residenz angrenzt. Über der Kaldera und den schwarzen Konturen des ehemaligen Regierungssitzes der Könige von Endo erschienen die ersten Sterne. Alles beginnt mit der Elawaia, so sagen die Senjasantii, der Brücke aus Licht, wie sie den Ring der Sterne nennen. Das Meer war inzwischen so schwarz wie der Himmel. Nur einige hohe Wolken reflektierten schwach Endos Licht. Ein warmer, salziger Wind wehte in mein Gesicht. Mir war klar, dass ich Shikanis Aufzeichnungen lesen würde; dass ihre Worte die großartigsten Momente meines Lebens und ebenso den Schmerz mit voller Wucht zurückbringen würden.

Ich dachte an Bromen. Lange hatte ich mir eingeredet, er wäre der Schlüssel; würde ich ihn und seine Geheimnisse verstehen, würde ich alles verstehen, was sich seit dem Endo-Cantori-Krieg ereignet hatte. Seine Unbeirrbarkeit war seine Stärke, doch sie hat ihn von uns allen entfremdet. Seine Rätsel erfuhren nie eine Auflösung, und dafür habe ich ihn verflucht. Er hat uns gerettet, und zugleich alleine gelassen. »Bromen«, wisperte ich zu mir selber und seufzte. Ich blinzelte in den Nachthimmel und gestand mir ein, dass auch ich ihn – trotz allem – mein ganzes Leben lang bewundert habe.

Von der Plattform nahe dem Thronsaal erhob sich Shikanis Fähre. Ich sah die hellen Triebwerke aufleuchten, und in einem weiten Bogen zog der grelle Lichtpunkt über die Lagunen hinaus, hinauf in den Orbit und zu einem Schiff, das sie ein letztes Mal nach Senjasantii tragen würde, 72 Lichtjahre von Endo entfernt am anderen Ende des Rings.

Die Schwarze Harfe

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