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2. Unterschiedliche Rollen und Eigenlogiken von EGMR, Bundesverfassungsgericht und EuGH 2.1 Selbstverständnis des EGMR als Hüter einer pan-europäischen Grundrechtsordnung

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Der EGMR ist das gerichtliche Überwachungsorgan einer derzeit 47 Mitgliedstaaten umfassenden europäischen Grundrechtsordnung.4 Diese Grundrechtsordnung reicht vom Atlantik bis hinter den Ural. Sie umfasst Staaten mit höchst unterschiedlichen Verfassungs- und Grundrechtstraditionen, die in Bezug auf das Thema „Religion“ ein laizistisches Modell wie das französische ebenso abbilden wie die Church of England oder Staatskirchen und staatskirchenähnliche Strukturen in Skandinavien, Polen, Griechenland oder Irland.5 Der EGMR hat daraus den Schluss gezogen, dass er den Mitgliedstaaten beim Umgang mit Religionsfragen einen weiten Einschätzungsspielraum belässt und diesen nur auf einen gemeinsamen Minimalstandard prüft.6 Mit einem solchen Ansatz hat er das französische Verbot der Gesichtsverhüllung in der Öffentlichkeit ebenso für konventionskonform erklärt7 wie das Anbringen von Kruzifixen in Klassenzimmern in staatlichen italienischen Schulen.8 Außerdem hat er in drei Entscheidungen aus dem Jahr 2010 die Grundstrukturen des kirchlichen Individualarbeitsrechts in Deutschland gebilligt, aber freilich schon damals den Akzent auf die gerichtliche Überprüfung gelegt und damit in einem Fall einen Konventionsverstoß bejaht.9 Dieser besondere Akzent auf der gerichtlichen Überprüfbarkeit ist in einem spanischen Fall im Jahr 2014 nochmals bestätigt, vielleicht sogar noch verstärkt worden.10 Der Fall, in dem es um einen vom spanischen Staat beschäftigten Religionslehrer im Fach katholische Religion ging, der offen gegen das Zölibatsgebot für katholische Priester eintrat und als inzwischen verheirateter (ehemaliger) katholischer Priester auch persönlich betroffen war, wurde mit der äußerst knappen Mehrheit von 9:8 Stimmen zugunsten Spaniens entschieden, obwohl unter dem Gesichtspunkt der Verkündigungsnähe und unter Berücksichtigung der Aufgaben in der schulischen Lehre wenig Zweifel an der Rechtfertigung einer Nichtverlängerung des Beschäftigungsverhältnisses wegen der Art der konkreten Tätigkeit bestehen konnten.11 In den Gründen wird dabei ausdrücklich die Notwendigkeit der gerichtlichen Kontrolle betont, wenn der Gerichtshof zunächst das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften als Grundlage für Loyalitätsobliegenheiten anerkennt, dann aber fortfährt:

„That being said [dass aus dem Selbstbestimmungsrecht Loyalitätsobliegenheiten abgeleitet werden können, C.W.], a mere allegation by a religious community that there is an actual or potential threat to its autonomy is not sufficient to render any interference with its members’ rights to respect for their private or family life compatible with Article 8 of the Convention. In addition, the religious community in question must also show, in the light of the circumstances of the individual case, that the risk alleged is probable and substantial and that the impugned interference with the right to respect for private life does not go beyond what is necessary to eliminate that risk and does not serve any other purpose unrelated to the exercise of the religious community’s autonomy. Neither should it affect the substance of the right to private and family life. The national courts must ensure that these conditions are satisfied, by conducting an in-depth examination of the circumstances of the case and a thorough balancing exercise between the competing interests at stake.“ 12

In der Gesamtschau ist die Rechtsprechung des EGMR zur korporativen Rechtspositionen von Religionsgemeinschaften nicht zuletzt deshalb besonders bemerkenswert, weil der EGMR – anders als alle mitgliedstaatlichen Gerichte – in Religionsfragen nicht auf eine gewachsene Struktur eines „Religionsrechts“ zurückgreifen kann.13 Solche Rechtstraditionen haben sich in den meisten innerstaatlichen Rechtsordnungen herausgebildet und geben vielfach eine Grundtendenz vor. Die französische Laizität oder auch das deutsche Modell der freundlichen Kooperation sind offensichtliche Beispiele. Der EGMR musste deshalb die kirchliche Rechtsposition in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten überhaupt erst einmal als eine grund- und menschenrechtliche entwickeln, was er in den genannten Entscheidungen (und auf der Basis früherer Rechtsprechung zu ähnlich gelagerten Problemen der korporativen Religionsfreiheit) überzeugend getan hat.14

Insgesamt stellt die EMRK so einen relativ flexiblen Rahmen bereit, in den sich das deutsche kirchliche Arbeitsrecht einfügen lässt. Bei aller Flexibilität muss man allerdings eine wichtige Grenze betonen, die im Erfordernis effektiver gerichtlicher Kontrolle liegt. Schon die Formulierung des Prüfungsmaßstabs im Zitat aus der Entscheidung Fernández Martínez mahnt eine strenge gerichtliche Überprüfung an. Nimmt man die knappe Mehrheit und die deutliche Position in den Minderheitenvoten hinzu,15 so wird deutlich, dass der EGMR den Mitgliedstaaten zwar unter Heranziehung des Konzepts der margin of appreciation durchaus Spielraum bei der Ausgestaltung der arbeitsrechtlichen Beziehungen mit und durch Religionsgemeinschaften gewährt, ihnen zugleich aber auch in Bezug auf die Gewährung von Rechtsschutz klar formulierte Grenzen setzt.

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