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Jürgen Habermas und Kants Religionsphilosophie

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FRIEDO RICKEN

Kant verbindet die Religionskritik „mit dem Motiv der rettenden Aneignung“. Es ist das zweite Anliegen, in dem Habermas die Aktualität der kantischen Religionsphilosophie sieht und das sein Interesse an ihr begründet. Kant möchte gegen den Skeptizismus „Glaubensinhalte und Verbindlichkeiten der Religion, die sich innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft rechtfertigen lassen, retten“. Die reine praktische Vernunft kann sich heute nicht mehr sicher sein, allein mit Einsichten einer Theorie der Gerechtigkeit „einer entgleisenden Modernisierung entgegenwirken zu können. Dieser fehlt die Kreativität der sprachlichen Welterschießung, um ein ringsum verkümmerndes normatives Bewusstsein aus sich selbst heraus zu regenerieren“. Deshalb interessiert Kants Religionsphilosophie Habermas unter dem Gesichtspunkt, „wie man sich die semantische Erbschaft religiöser Überlieferung aneignen kann, ohne die Grenze zwischen den Universen des Glaubens und des Wissens zu verwischen“.1 „Die Aktualität der Kantischen Religionsphilosophie sehe ich in der Intention, auf dem Wege einer kritischen Aneignung des religiösen Erbes nach Argumenten für die ‚Selbsterhaltung der Vernunft‘ zu suchen“.2

Ich werde zunächst die Grundzüge der kantischen Religionsphilosophie, soweit sie für das Gespräch mit Habermas relevant sind, darstellen (I), um dann auf Habermas’ Kritik und Interpretation einzugehen (II).

I.

Religion ist (subjektiv betrachtet) das Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote“.3 Die Religion als propositionale Einstellung des Subjekts wird unterschieden von der Religion als Lehre oder Institution. Kant greift zurück auf seine Definition in der zweiten Kritik. Die Pflichten sind keine „für sich selbst zufällige Verordnungen eines fremden Willens“, sondern wesentliche „Gesetze eines jeden freien Willens für sich selbst“. Sie müssen dennoch als Gebote des höchsten Wesens angesehen werden, weil wir nur von einem moralisch vollkommenen und zugleich allmächtigen Willen das höchste Gut, „welches zum Gegenstand unserer Bestrebung zu setzen uns das moralische Gesetz zur Pflicht macht“, erhoffen können.4 Wenn wir unsere Pflicht erfüllen, stimmen wir, soweit uns das möglich ist, mit diesem moralisch vollkommenen Willen überein. Dadurch werden wir der Glückseligkeit würdig, und ein moralisch vollkommener und zugleich allmächtiger Wille kann uns die Glückseligkeit nicht verweigern. Nur wenn wir die sittlichen Gesetze als Gebote eines solchen Willens ansehen, können wir hoffen, das höchste Gut zu erlangen.

Nach ihrem „ersten Ursprunge und ihrer innern Möglichkeit“ wird die Religion eingeteilt in natürliche und geoffenbarte Religion. „Diejenige, in welcher ich vorher wissen muss, dass etwas ein göttliches Gebot sei, um es als meine Pflicht anzuerkennen, ist die geoffenbarte (oder einer Offenbarung benötigte) Religion: dagegen diejenige, in der ich zuvor wissen muss, dass etwas Pflicht sei, ehe ich es für ein göttliches Gebot anerkennen kann, ist die natürliche Religion“.5 Die natürliche Religion ist „ein reiner praktischer Vernunftbegriff, der […] nur so wenig theoretisches Vernunftvermögen voraussetzt: dass man jeden Menschen von ihr praktisch hinreichend überzeugen, und wenigstens die Wirkung derselben jedermann als Pflicht zumuten kann“; ihre Begriffe sind die Freiheit des Subjekts, Gott als moralischer Welturheber, der dem „letzten Zweck“ der Moral „Effekt verschaffen kann“, und „eine Dauer des Menschen, die diesem ganzen Zwecke des Menschen angemessen ist“, die Unsterblichkeit.6 Die Vorrede zur zweiten Auflage der RGV unterscheidet zwischen dem „reinen Vernunftsystem“ der Religion, das der Philosoph „aus bloßen Prinzipien apriori“ entwickelt, und der „Offenbarung, als historisches System“. Kant bezeichnet Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft als „den zweiten Versuch“, und er stellt deren Methode dem Vorgehen gegenüber, an das „der Philosoph sich als reiner Vernunftlehrer“ halten muss. Dieser zweite Versuch geht aus vom historischen System der Offenbarung und fragt, „ob dieses nicht zu demselben reinen Vernunftsystem der Religion zurück führe“.7 Der Titel war absichtlich gewählt, „damit man jene Abhandlung nicht dahin deutete: als sollte sie die Religion aus bloßer Vernunft (ohne Offenbarung) bedeuten […]: sondern dass ich nur dasjenige, was im Text der für geoffenbart geglaubten Religion, der Bibel, auch durch bloße Vernunft erkannt werden kann, hier in einem Zusammenhange vorstellig machen wollte“.8

Eine Skizze der natürlichen Religion findet sich in der Transzendentalen Methodenlehre der ersten Kritik (A 807–811). Kant geht von der Voraussetzung aus, dass es „reine moralische Gesetze“ gibt, die „schlechterdings (nicht bloß hypothetisch unter Voraussetzung anderer empirischen Zwecke) gebieten, und also in aller Absicht notwendig“ sind. Diese Gesetze gebieten Handlungen, die ihnen entsprechen, und die deshalb auch möglich sein müssen, und es muss folglich eine diesen Gesetzen entsprechende „besondere Art von systematischer Einheit, nämlich die moralische, möglich sein“. Die moralischen Gesetze üben also eine Kausalität aus und haben in diesem Sinn „objektive Realität“.

„Ich nenne die Welt, so fern sie allen sittlichen Gesetzen gemäß wäre (wie sie es denn, nach der Freiheit der vernünftigen Wesen, sein kann, und, nach den notwendigen Gesetzen der Sittlichkeit, sein soll), eine moralische Welt.“ Insofern in ihr von allen Zwecken und auch von allen Hindernissen der Moralität abstrahiert wird, ist sie „eine bloße, aber doch praktische Idee, die wirklich ihren Einfluss auf die Sinnenwelt haben kann und soll, um sie dieser Idee so viel als möglich gemäß zu machen. Die Idee einer moralischen Welt hat daher objektive Realität“. Kant fragt nun, „ob die Prinzipien der reinen Vernunft, welche a priori das Gesetz vorschreiben“, auch die Hoffnung auf Glückseligkeit „notwendigerweise damit verknüpfen“. Besteht ein notwendiger Zusammenhang zwischen der Befolgung des moralischen Gesetzes und der Glückseligkeit? Das „System der Sittlichkeit“, so seine These, sei „mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich, aber nur in der Idee der reinen Vernunft verbunden“. In der moralischen Welt lässt sich ein „System der mit der Moralität verbundenen proportionierten Glückseligkeit auch als notwendig denken, weil die durch sittliche Gesetze teils bewegte, teils restringierte Freiheit selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit, die vernünftigen Wesen also selbst, unter der Leitung solcher Prinzipien, Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhaften Wohlfahrt sein würden“. Sittlichkeit und Glückseligkeit sind in der Weise miteinander verknüpft, dass die Glückseligkeit die notwendige Folge der allgemeinen Befolgung des Sittengesetzes ist, das die Rechts- und Tugendpflichten vorschreibt. Das Sittengesetz ist von seinem Wesen her auf die Glückseligkeit bezogen.

„Aber dieses System der sich selbst lohnenden Moralität ist nur eine Idee, deren Ausführung auf der Bedingung beruht, dass jedermann tue, was er soll […] Da aber die Verbindlichkeit aus dem moralischen Gesetz für jedes besonderen Gebrauch der Freiheit gültig bleibt, wenn gleich andere diesem Gesetz sich nicht gemäß verhielten, so ist weder aus der Natur der Dinge der Welt, noch aus der Kausalität der Handlungen selbst in ihrem Verhältnis zur Sittlichkeit bestimmt, wie sich ihre Folgen zur Glückseligkeit verhalten werden“, und die notwendige Verknüpfung von Sittlichkeit und Glückseligkeit „darf nur gehofft werden, wenn eine höchste Vernunft, die nach moralischen Gesetzen gebietet, zugleich als Ursache der Natur zum Grunde gelegt wird“. Ohne diese Voraussetzung müsste „der notwendige Erfolg“, den die Vernunft mit den moralischen Gesetzen verknüpft, wegfallen, und die Vernunft sähe sich folglich genötigt, die moralischen Gesetze „als leere Hirngespinste anzusehen“. „Gott also, und ein künftiges Leben, sind zwei von der Verbindlichkeit, die uns die reine Vernunft auferlegt, nach Prinzipien eben derselben Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen.“

Wie sieht Kant das Verhältnis zwischen der Vernunftreligion und den historischen Religionen? Kant diskutiert die Frage am Beispiel der historischen Religion des Christentums, und er spricht nicht von einer historischen Religion, sondern von der „Offenbarung“. Aber diese Offenbarung ist gegeben „als historisches System“, das zunächst lediglich für eine Offenbarung gehalten wird; die Untersuchung geht „von irgend einer dafür gehaltenen Offenbarung“ aus.9 Jede geoffenbarte Religion muss gewisse Prinzipien der natürlichen enthalten. Nur so kann ein historisches System den Anspruch erheben, eine Religion zu sein, denn „Offenbarung kann zum Begriff einer Religion nur durch Vernunft hinzugedacht werden; weil dieser Begriff selbst, als von einer Verbindlichkeit unter dem Willen eines moralischen Gesetzgebers abgeleitet, ein reiner Vernunftbegriff ist“.10 Eine natürliche Religion kann „auch geoffenbart sein, wenn sie so beschaffen ist, dass die Menschen durch den bloßen Gebrauch ihrer Vernunft auf sie von selbst hätten kommen können, und sollen“. Hier könnte die übernatürliche Offenbarung in Vergessenheit geraten, ohne dass diese Religion etwas von ihrer Überzeugungskraft verlöre. „Mit der Religion aber, die ihrer inneren Beschaffenheit wegen nur als geoffenbart angesehen werden kann, ist es anders bewandt. Wenn sie nicht in einer ganz sichern Tradition oder in heiligen Büchern als Urkunden aufbehalten würde, so würde sie aus der Welt verschwinden“. Im Unterschied zu einer natürlichen handelt es sich hier um „eine gelehrte Religion, von der man andere nur mittels der Gelehrsamkeit […] überzeugen kann“.11

„Es lässt sich aber, wenn wir von einer geoffenbarten (wenigstens dafür angenommenen) Religion zu reden die Absicht haben, dieses nicht wohl tun, ohne irgend ein Beispiel davon aus der Geschichte herzunehmen […]. Wir können aber nicht besser tun, als irgendein Buch, welches dergleichen enthält […], zum Zwischenmittel der Erläuterungen unserer Idee einer geoffenbarten Religion überhaupt zur Hand zu nehmen […]. – Dieses Buch mag nun hier das N.T. als Quelle der christlichen Glaubenslehre sein“;12 anhand dieses Buches will Kant die christliche Religion als natürliche und als gelehrte Religion vorstellen. „Hier ist nun“, so das Ergebnis des Abschnitts über die christliche Religion als natürliche Religion, „eine vollständige Religion, die allen Menschen durch ihre eigene Vernunft fasslich und überzeugend vorgelegt werden kann […], ohne dass weder die Wahrheit jener Lehren, noch das Ansehen und die Würde des Lehrers irgend einer anderen Beglaubigung […] bedürfte“.13 Dennoch ist der christliche Glaube nicht nur ein Vernunftglaube, sondern auch ein historischer Glaube. Der Dienst einer Kirche, die einem solchen Glauben geweiht ist, ist „zweiseitig“; es ist der Dienst am historischen Glauben und der Dienst am moralischen Vernunftglauben. „Keiner von beiden kann in der christlichen Kirche als für sich allein bestehend vom andern getrennt werden; der letztere darum nicht von dem erstern, weil der christliche Glaube ein Religionsglaube, der erstere nicht von dem letzteren, weil er ein gelehrter Glaube ist“.14

Das Neue Testament enthält eine vollständige natürliche Religion, von deren Wahrheit sich jeder durch die Vernunft überzeugen kann. Die historische Offenbarung hat ihre Aufgabe erfüllt und die Menschen zu einer Religion geführt, auf die sie durch den bloßen Gebrauch ihrer Vernunft von selbst hätten kommen können und sollen. Weshalb ist der christliche Glaube dennoch auch ein historischer Glaube? Weshalb kann der Dienst am Vernunftglauben, der sich der Offenbarung verdankt, nicht vom Dienst am historischen Glauben getrennt werden? Die „allgemeine Menschenvernunft“ muss „in der christlichen Glaubenslehre für das oberste gebietende Prinzip anerkannt und geehrt, die Offenbarungslehre aber, worauf eine Kirche gegründet wird, und die der Gelehrten als Ausleger und Aufbewahrer bedarf, als bloßes aber höchst schätzbares Mittel, um der ersteren Fasslichkeit, selbst für die Unwissenden, Ausbreitung und Beharrlichkeit zu geben, geliebt und kultiviert werden“.15 Der Offenbarungslaube ist in einem mehrfachen Sinn Mittel für den reinen Vernunftglauben. Die geoffenbarte Religion kann als Mittel für die Einführung der natürlichen Religion dienen; der Offenbarungslaube ist ein Mittel für die Gründung einer sichtbaren Kirche, und er ist ein Mittel, um dem Vernunftglauben Fasslichkeit, Ausbreitung und Beharrlichkeit zu geben. „Das Ansehen der Schrift als des würdigsten, und jetzt in dem aufgeklärtesten Weltteile einzigen Instruments der Vereinigung aller Menschen in eine Kirche, macht den Kirchenglauben aus, der als Volksglaube nicht vernachlässigt werden kann, weil dem Volke keine Lehre zu einer unveränderlichen Norm tauglich zu sein scheint, die auf bloße Vernunft gegründet ist, und es göttliche Offenbarung, mithin auch eine historische Beglaubigung ihres Ansehens durch die Deduktion ihres Ursprungs fordert […]: so wird Schriftgelehrsamkeit erfordert werden, um eine auf eine heilige Schrift gegründete Kirche, nicht eine Religion (denn die muss, um allgemein zu sein, jederzeit auf bloße Vernunft gegründet sein), im Ansehen zu erhalten“.16

In der Vorrede zum Streit der Fakultäten unterscheidet Kant zwischen dem, was das Wesentliche einer Religion ausmacht, und dem, „was wir auf historische Beweisgründe zu glauben Ursache haben“. Das Wesentliche einer Religion ist das Moralisch-Praktische, d.h. das, was wir tun sollen, und diese Lehren können auch von der Vernunft eingesehen werden; ihre Kennzeichen sind „Allgemeinheit, Einheit und Notwendigkeit“. Im Unterschied dazu wird das, „was wir auf historische Beweisgründe zu glauben Ursache haben (denn hiebei gilt kein Sollen), d.i., die Offenbarung, als an sich zufällige Glaubenslehre, für außerwesentlich, darum aber doch nicht für unnötig und überflüssig angesehen“. Der Grund dafür ist: Der reine Vernunftglaube ist ein praktischer Glaube, der einen theoretischen Mangel aufweist und sich dieses theoretischen Mangels bewusst ist. Kant nennt als Beispiele u.a. die Frage nach dem Ursprung des Bösen und die Frage nach dem Übergang vom Bösen zum Guten. Der Nutzen des historischen Glaubens besteht darin, dass er diesen Mangel ergänzt. Damit befriedigt er ein Vernunftbedürfnis und trägt so „nach Verschiedenheit der Zeitumstände und der Personen mehr oder weniger“ zum reinen Vernunftglauben bei.17

Gegen die Idee einer philosophischen Schriftauslegung wenden die biblischen Theologen ein: Sie hat „eine naturalistische Religion und nicht das Christentum zur Absicht“, d.h. sie reduziert die Offenbarung auf die Vernunft. Kant antwortet: Das Christentum ist die Idee von der Religion; Religion ist ein reiner Vernunftbegriff und insofern natürlich. Es enthält aber ein Mittel der Einführung der Religion unter den Menschen, die Bibel, die für eine übernatürliche Offenbarung gehalten wird. „Nun kann man eine Religion nur naturalistisch nennen, wenn sie es zum Grundsatz macht, keine solche Offenbarung einzuräumen. Also ist das Christentum […] nicht eine naturalistische Religion, obgleich es bloß eine natürliche ist“.18 Die Bibel muss „als aus dem reinen Quell der allgemeinen, jedem Menschen beiwohnenden Vernunftreligion geschöpft, betrachtet werden, die, eben durch diese Einfalt, auf die Herzen derselben den ausgebreitetsten und kräftigsten Einfluss haben musste“.19 „Die Beurkundung einer solchen Schrift, als einer göttlichen, kann von keiner Geschichtserzählung, sondern nur von der erprobten Kraft derselben, Religion im menschlichen Herzen zu gründen […] abgeleitet werden“.20 Sie „enthält in sich selbst einen, in praktischer Hinsicht hinreichenden, Beglaubigungsgrund ihrer (moralischen) Göttlichkeit, durch den Einfluss, den sie als Text einer systematischen Glaubenslehre, von jeher […] auf das Herz der Menschen ausgeübt hat, um sie als Organ, nicht allein der allgemeinen und inneren Vernunftreligion, sondern auch als Vermächtnis (neues Testament) einer statutarischen, auf unabsehliche Zeiten zum Leitfaden dienenden Glaubenslehre, aufzubehalten“.21

II.

„Aus welchem Grund und in welcher Hinsicht können religiöse Überlieferungen beanspruchen, auch für eine agnostische, also nicht in apologetischer Absicht betriebene Religionsphilosophie »nicht überflüssig« zu sein?“ Die Antwort, die Habermas aus einer kritischen Lektüre Kants gewinnen möchte, „kann sich weniger auf Kants systematische Aussagen als auf Motive und Absichtserklärungen stützen“.22 Die beiden entscheidenden Schritte sind Habermas’ Kritik der Postulatenlehre und der auf ihr beruhenden „Konzeption des höchsten Gutes, die mit den Grundlagen der Moraltheorie nicht ohne weiteres zusammenpasst“23, und seine These, der Begriff des ethischen gemeinen Wesens24 biete „für das blasse metaphysische Erbstück des »höchsten Gutes« die plastische Verkörperung in der konkreten Gestalt einer Lebensform“ an.25 „Kants Moralphilosophie lässt sich insgesamt als der Versuch verstehen, das kategorische Sollen göttlicher Gebote auf diskursivem Weg zu rekonstruieren. Die Transzendentalphilosophie hat im Ganzen den praktischen Sinn, den transzendenten Gottesstandpunkt in eine funktional äquivalente innerweltliche Perspektive zu überführen und als moralischen Gesichtspunkt zu bewahren“.26

„Eine deontologische Ethik“, so der Einwand gegen die Lehre vom höchsten Gut, „die alles moralische Handeln als ein Handeln unter moralisch gerechtfertigten Normen begreift, kann die Selbstbindung des autonomen Willens an moralische Einsichten nicht noch einmal einem Zweck unterstellen“.27 Dem stimmt Kant zu. Die Moral bedarf keiner „andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten“28. Vom motivierenden Zweck unterscheidet er jedoch die Folgen, die das Handeln nach dem moralischen Gesetz hervorbringt. Die Vernunft fragt nach diesen Folgen, und sie muss diesen Folgen zustimmen können; nur so kann die Willkür sich ohne jeden Vorbehalt für die Befolgung des moralischen Gesetzes entscheiden. Es bedarf für die Moral zum Rechthandeln keines Zwecks, aber „aus der Moral geht doch ein Zweck hervor; denn es kann der Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was denn aus diesem unserem Rechthandeln herauskomme“. Die Idee eines höchsten Gutes ist „praktisch betrachtet“ nicht leer, „weil sie unserm natürlichen Bedürfnisse, zu allem unsern Tun und Lassen im ganzen genommen irgendeinen Endzweck, der von der Vernunft gerechtfertigt werden kann, zu denken abhilft, welches sonst ein Hindernis der moralischen Entschließung sein würde“.29 Allein das höchste Gut ist „das ganze Objekt der reinen praktischen Vernunft, die es sich notwendig als möglich vorstellen muss, weil es ein Gebot derselben ist, zu dessen Hervorbringung alles Mögliche beizutragen“.30 Wer die Rechts- und Tugendpflichten erfüllt, der trägt das ihm Mögliche zum höchsten Gut bei.

Das Gebot, so wendet Habermas gegen Kant ein, jedermann solle sich das in der Welt mögliche höchste Gut zum Endzweck seines Handelns machen, kann „in den moralischen Gesetzen selbst nicht enthalten sein, also nicht wie sonst alle konkreten Pflichten aus dem Sittengesetz gerechtfertigt werden“.31 Warum beharrt Kant dennoch auf einer Pflicht zur Beförderung des höchsten Gutes? „Kant hat der moralischen Denkungsart die Aussicht auf eine bessere Welt um der Moral selbst willen hinzugefügt, d.h. um die moralische Gesinnung im Vertrauen zu sich selbst zu stärken und gegen Defätismus abzuschirmen“.32 Die Idee des höchsten Gutes soll, wie Habermas richtig sieht, „ein Hindernis der moralischen Entschließung“33 beseitigen. Aber was heißt „hinzugefügt“? Habermas zitiert die dritte Kritik. Der Glaube „»ist ein Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes; aber nicht als eine solche, die in demselben enthalten ist, sondern die ich hineinlege [kursiv F.R.], und zwar aus moralisch hinreichendem Grunde.«“ Er interpretiert: „Kant möchte ein Moment der Verheißung unter Abzug ihres sakralen Charakters zurückbehalten […] Damit will Kant nicht in erster Linie religiöse Inhalte begrifflich einholen, sondern den pragmatischen Sinn des Glaubensmodus als solchen der Vernunft integrieren“.34 Kant fährt nach dem von Habermas zitierten Satz fort: „Denn ein Endzweck kann durch kein Gesetz der Vernunft geboten sein, ohne dass diese zugleich die Erreichbarkeit desselben, wenn gleich ungewiss, verspreche, und hiemit auch das Fürwahrhalten der einzigen Bedingungen berechtige, unter denen unsere Vernunft sich diese allein denken kann.“35 Es ist die Vernunft, welche das moralische Gesetz gebietet, und die Befolgung dieses Gesetzes dient einem Endzweck. Nur wenn dieser Endzweck erreichbar ist, kann die Vernunft das Gesetz gebieten. Dass ich diese Verheißung „hineinlege“, ist also so zu verstehen: Das moralische Gesetz enthält eine Verheißung, die jedoch in ihm nicht ausdrücklich formuliert ist, sondern aus ihm gefolgert und geglaubt werden muss. Die Folgerung ergibt sich aus dem vom moralischen Gesetz gebotenen Endzweck und der Tatsache, dass es die Vernunft ist, welche das moralische Gesetz gebietet.

„Die Übersetzung der Idee von Gottes Herrschaft auf Erden in den Begriff einer Republik unter Tugendgesetzen zeigt exemplarisch, dass Kant die kritische und zugleich selbstkritische Abgrenzung des Wissens vom Glauben mit der Aufmerksamkeit für die mögliche kognitive Relevanz von Gehalten verbindet, die in religiösen Überlieferungen aufbewahrt sind. Kants Moralphilosophie lässt sich insgesamt als der Versuch verstehen, das kategorische Sollen göttlicher Gebote auf diskursivem Weg zu rekonstruieren“.36 Habermas bezieht sich hier auf Kants Ausführungen über das ethische gemeine Wesen im Dritten Stück der RGV. „Nicht durch die Postulate von Gott und Unsterblichkeit“, so die These seiner Interpretation, „kann die Vernunft jene übers Sittengesetz hinausschießende Idee einer Annäherung an das Reich Gottes auf Erden einholen. Vielmehr erinnert die Intuition, die sich mit dieser Projektion verbindet, an den Rückhalt, den das Richtige im konkreten Guten besserer und verbesserter Lebensformen suchen muss“.37

Das Dritte Stück fragt nach dem Teil der reinen Vernunftreligion, der in der geoffenbarten Lehre von der Kirche enthalten ist. Dem juridischen Naturzustand entspricht ein ethischer Naturzustand. „In beiden gibt ein jeder sich selbst das Gesetz, und es ist kein äußeres, dem er sich, samt allen anderen, unterworfen erkennte. In beiden ist jeder sein eigener Richter, und es ist keine öffentliche machthabende Autorität da, die, nach Gesetzen, was in vorkommenden Fällen eines jeden Pflicht sei, rechtskräftig bestimme, und jene in allgemeine Ausübung bringe“.38

Der juridische Naturzustand ist der Zustand des Krieges von jedem gegen jeden; entsprechend ist der ethische Naturzustand „ein Zustand der unaufhörlichen Befehdung durch das Böse“.39 Selbst beim guten Willen eines jedes einzelnen verderben die Menschen einander in ihrer moralischen Anlage. Das höchste sittliche Gut, das aus der Moral als Zweck hervorgeht, kann „durch die Bestrebung der einzelnen Person zu ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit allein nicht bewirkt werden“.40 Der ethische Naturzustand ist „eine öffentliche wechselseitige Befehdung der Tugendprinzipien und ein Zustand der innern Sittenlosigkeit, aus welchem der natürliche Mensch, sobald wie möglich, herauszukommen sich befleißigen soll“.41 In einem ethischen gemeinen Wesen müssen alle einer öffentlichen Gesetzgebung unterworfen werden, und alle Gesetze müssen „als Gebote eines gemeinschaftlichen Gesetzgebers angesehen werden können“.42 Wie ist dieser Gesetzgeber zu denken? Im Unterschied zu einem juridischen gemeinen Wesen, in dem es nur auf die Legalität der Handlungen ankommt, sollen die Gesetze in einem ethischen gemeinen Wesen die Moralität der Handlungen, die etwas Innerliches ist und folglich nicht unter öffentlichen menschlichen Gesetzen stehen kann, fördern. Ethische Gesetze können nicht gedacht werden als vom Willen dieses Gesetzgebers ursprünglich ausgehend, denn dann wären sie keine ethischen Gesetze. Also kann als oberster Gesetzgeber in einem ethischen gemeinen Wesen nur ein solcher gedacht werden, „in Ansehung dessen alle wahren Pflichten, mithin auch die ethischen, zugleich als seine Gebote vorgestellt werden müssen; welcher daher auch ein Herzenskündiger sein muss, um auch das Innerste der Gesinnungen eines jeden zu durchschauen, und, wie es in jedem gemeinen Wesen sein muss, jedem, was seine Taten wert sind, zukommen zu lassen. Dieses aber ist der Begriff von Gott als einem moralischen Weltherrscher“.43

Das ethische gemeine Wesen tritt nicht, wie es Habermas’ Interpretation nahelegt, an die Stelle der Postulate; vielmehr setzt das ethische gemeine Wesen, wie der Begriff des Gesetzgebers zeigt, das Postulat von der Existenz Gottes voraus. Lässt Kants Moralphilosophie sich „insgesamt als der Versuch verstehen, das kategorische Sollen göttlicher Gebote auf diskursivem Weg zu rekonstruieren?“ Wird der transzendente Gottesstandpunkt „in eine funktional äquivalente innerweltliche Perspektive“ überführt?44 Kant fasst die Gefahr ins Auge, dass der Diskurs scheitert. Er verweist auf die aus dem Sittengesetz sich ergebende Pflicht, dieses Scheitern zu verhindern, und auf die in dieser Pflicht implizierten theologischen Voraussetzungen.

Einer Theorie der Gerechtigkeit „fehlt die Kreativität der sprachlichen Welterschließung, um ein ringsum verkümmerndes normatives Bewusstsein aus sich heraus zu regenerieren“.45 Dieser mangelnden Kreativität stellt Habermas „den historischen Vorschuss“ entgegen, „den die positive Religion mit ihrem unsere Einbildungskraft stimulierenden Bilderschatz liefert“.46 „Die orientierenden Bilder von nicht-verfehlten Lebensformen, die der Moral auf halbem Weg entgegenkämen, schweben uns auch ohne Gewissheit göttlichen Beistands als zugleich erschließender und begrenzender Horizont des Handelns vor“.47 In diesem Anliegen stimmen Habermas und Kant überein. Die in der Bibel überlieferte Offenbarung, die historische Religion, ist ein höchst schätzbares Mittel, um dem Vernunftglauben Fasslichkeit, Ausbreitung und Beharrlichkeit zu geben.

1 Habermas, J. (2009) Zwischen Naturalismus und Religion: Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 218.

2 Habermas, J. (2012) Nachmetaphysisches Denken II: Aufsätze und Repliken, Berlin: Suhrkamp, S. 188.

3 RGV, B 229.

4 KpV, A 233.

5 RGV, B 229–231.

6 RGV, B 236.

7 RGV, B XXIIf.

8 SF, A XI.

9 RGV, B XXII.

10 RGV, B 234.

11 RGV, B 232ff.

12 RGV, B 235.

13 RGV, B 245f.

14 RGV, B 248.

15 RGV, B 250.

16 RGV, B 162f.

17 SF, A XVIIIf.

18 SF, A 62f.

19 SF, A 103.

20 SF, A 104.

21 SF, A 105 – Hervorhebung vom Verf.

22 Habermas (2009) 219.

23 Habermas (2009) 229.

24 RGV, Drittes Stück.

25 Habermas (2009) 232.

26 Habermas (2009) 236.

27 Habermas (2009) 227.

28 RGV, B III.

29 RGV, B VI-VIII.

30 KpV, A 214.

31 Habermas (2009) 226.

32 Habermas (2009) 229.

33 RGV, B VIIf.

34 Habermas (2009) 230.

35 KU, B 462.

36 Habermas (2009) 236.

37 Habermas (2009) 235.

38 RGV, B 131f.

39 RGV, B 134.

40 RGV, B 136.

41 RGV, B 134f.

42 RGV, B 137.

43 RGV, B 138f.

44 Habermas (2009) 236.

45 Habermas (2009) 218.

46 Habermas (2009) 231.

47 Habermas (2009) 235.

Habermas und die Religion

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