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Gestalterische Kraft aus der Mitte

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Gedanken zu Eugen Bisers theologischer Vision

Die folgenden Ausführungen wollen keine zumindest direkte Darstellung der einzelnen Themen der Theologie Eugen Bisers geben. Dies wäre im Rahmen eines solch kurzen Beitrages ohnehin nicht möglich. Es soll vielmehr zum Ausdruck gebracht werden, worin die entscheidenden Grundprinzipien des visionären Denkens Eugen Bisers bestehen, aus denen dann sowohl die Auswahl seiner Themen als auch ihre Gestaltung erwachsen. Es soll somit den energetischen Kernpunkten seines Denkens und Handelns auf den Grund gegangen werden. Dies soll nicht mittels eines diachronen, also geschichtlichen Nachweises von Wurzeln, Einflüssen und Entwicklungen seines Werkes geschehen. Ausgangspunkt der Reflexion soll die in der Begegnung mit Eugen Biser und seinem Werk immer wieder zu beobachtende Anrührung durch Jesus Christus sein. Diese legt eine die Zeitebene transzendierende und damit synchrone Interpretation seiner Theologie nahe. Aus den sich daraus ergebenden Konturen soll dann die innovative Kraft seiner Theologie dargestellt, sowie Imperative für Kirche, Theologie und Glauben abgeleitet werden.

1. Die Suche nach der Mitte

Eugen Bisers theologisches Schaffen ist vor allem seit der Zeit seiner Übernahme des Guardini-Lehrstuhls wesentlich von der Suche nach der Mitte des Christentums geprägt. Leitendes Motiv dieser Auseinandersetzung ist zunächst eine von Eugen Biser immer wieder konstatierte Krise von Theologie, Kirche und Christentum. Er schreibt in seinem Buch „Glaubenserweckung“:

Nur ein Blinder oder hoffnungslos Antiquierter kann sich darüber hinwegtäuschen, dass zu einem derartigen Aufruf (sich mit der Mitte des Christentums zu beschäftigen, d. Verf.) aller Anlass gegeben ist. Denn nach dem zu Ende gegangenen zweiten Jahrtausend seiner Geschichte droht dem Christentum, vor allem in seinem traditionellen Stammland, sein eigenes Ende.1

Zentraler Grund für diese Krise ist nach Biser der Verlust der Mitte des Christentums. Er bemerkt daher gleich zu Beginn der „Einweisung ins Christentum“, eines seiner wohl zentralsten Werke: „Der krisenhafte Zustand, dem das Christentum nach vielen Anzeichen verfallen ist, hat seine auffälligste Ursache darin, dass die Peripherie zur vermeintlichen Mitte erhoben wurde, während die tatsächliche Mitte aus dem Blickfeld geriet.“2

Die Suche nach der Mitte des Christentums angesichts einer konkreten Krisensituation ist nun eigentlich nichts Außergewöhnliches. Denn die Geschichte der Kirche lässt sich in ihren Dogmen und Konzilien durchaus als stets neue Auslotung der Mitte angesichts konkreter Krisensituationen deuten. Darüber hinaus entspricht es der inkarnatorischen Grundverfasstheit des Christentums, dass es sein Zentrum immer wieder neu in die jeweilige Zeitsituation übersetzen muss. Die ständige Neuformulierung der Mitte ist somit kein Mangel oder Ausdruck von Schwäche. Sie ist vielmehr ein Zeichen der Stärke und der Vitalität des Christentums, das sich die innovative Kraft zur Vergegenwärtigung bewahrt hat. Die Suche nach der Mitte wird, so gesehen, zur Wesensbestimmung des Christentums selbst.

Eugen Bisers Bemühen, eine Neubestimmung der Mitte des Christentums zu wagen, ist aber insofern bemerkenswert, als die Notwendigkeit zu dieser Anstrengung vielfach nicht erkannt und gewürdigt wird. Dies liegt unter anderem daran, dass die gegenwärtige Krisensituation des Christentums in Europa immer wieder unterschätzt wird. Kritische Stimmen, welche diese Krise offen ansprechen, werden nicht selten als Bedenkenträger diffamiert, denen man die aus dem Glauben erwachsende Haltung der Hoffnung abspricht. Eugen Bisers Suche nach der Mitte des Christentums ist angesichts solcher Verdrängungen keineswegs selbstverständlich. Sie ist vielmehr in höchstem Maße notwendig, da sie die Schwere der Krise ernst nimmt und nach Auswegen sucht.

Grundsätzlich muss gesagt werden, dass die Suche nach der Mitte des Christentums nicht ohne Gefahren ist. Sie darf auf keinen Fall auf die Formulierung einer Essenz von Fundamentalartikeln hinauslaufen. Denn dann würde das Christentum zu einer statischen Weltanschauung erstarren. Es reicht nicht, sich angesichts der Krise des Christentums apologetisch abzugrenzen. Der Versuch, das Bleibende aus dem Christentum herauszudestillieren, beispielsweise durch dessen Reduktion auf das kirchliche Kerngeschäft, verfehlt insofern die Mitte des Christentums, als dieses, aufgrund seiner angesprochenen Kontextualität, den Wandel selbst zur Mitte hat. Die Offenbarung ist in Christus zwar unüberbietbar ergangen, muss aber stets neu vergegenwärtigt werden. Sie darf niemals zur Ruhe kommen. Einfache Lösungen des Relevanzproblems des Christentums verbieten sich daher.

Eugen Biser entgeht nun genau dieser Gefahr, da das entscheidende Motiv seiner Neubestimmung der Mitte des Christentums nicht in apologetischer Abgrenzung, sondern vielmehr in einer tiefen Sorge, ja Liebe zu den Menschen besteht. Es ist daher kontextuell, dialogisch und deshalb dynamisch. Die Liebe duldet keine statische Abgrenzung, da sie sich ganz einlässt auf die Vielschichtigkeit des Menschen. Bisers Bestimmung der Mitte des Christentums trägt diese Dynamik der Liebe in sich und ist in der konkreten Begegnung mit ihm zu erfahren. Sie manifestiert sich in der Lebendigkeit seines gesprochenen Wortes und bestimmt zentral die Themen seines denkerischen Schaffens.

Bisers Sprachphilosophie beispielsweise ist streng genommen keine Theorie der Sprache. Seine sprachtheoretischen Reflexionen dienen vielmehr, mittels des Aufweises der Barrieren der Kommunikation, der besseren Verständigung der Menschen. Die daraus erwachsende Durchlichtung des Sprachgeschehens soll den Menschen helfen, das Wort zu vernehmen, das ihnen fehlt. Die Angst, die Biser als zentrale Verfinsterung des menschlichen Horizonts der Gegenwart erkennt, soll durch die Bestimmung der Mitte des Christentums gemindert werden. Denn durch die Klarheit über die eigene Identität tritt jener Standpunkt hervor, der die zersetzende Kraft der Angst nachhaltig bannt. Bisers Anthropologie erschöpft sich nicht in einer theoretischen Beschreibung des Wesens des Menschen. Sie strebt vielmehr danach, den Menschen zu seinen Möglichkeiten zu führen. Bisers fundamentaltheologische Bemühungen um eine Begründung der Glaubensgewissheit sind keine erkenntnistheoretischen Versuche im Sinne der klassischen Gottesbeweise. Sie verstehen sich vielmehr als therapeutische Hilfestellungen für den nach Bergung suchenden Menschen. Und schließlich erwächst Bisers Meisterschaft in der Konturierung bedeutender Persönlichkeiten, allen voran Friedrich Nietzsches und Gertrud von Le Forts, primär nicht aus der Sorgfalt der Darstellung ihrer literarischen Gehalte, sondern ist Ausdruck der Liebe, die zu verstehen sucht.

Eugen Biser sucht nach der Mitte des Christentums, weil er in dieser Mitte die heilende Quelle für den Menschen geschaut hat. Dieses leitende therapeutische Interesse ist weit mehr als eine bloß anthropologische Wende. Es ist die Umsetzung dessen, was Kierkegaard einst so prägnant formuliert hat: „Liebe den Nächsten als dich selbst.“ Diese Liebe zum Menschen bestimmt nicht nur die Auswahl der Themen des Biserschen Werkes. Sie stellt nicht nur das eigentliche Motiv seiner Suche nach der Mitte des Christentums dar, sondern verhindert auch, dass diese Mitte zu einer statischen Analyse degeneriert.

Eugen Bisers Bestimmung der Mitte des Christentums entgeht aber nicht nur der Gefahr einer statischen Zementierung, sondern auch der einer apologetischen Abgrenzung. Denn die Konzentration auf die Mitte gibt die Kraft zu wahrer Entgrenzung, ist wie ein Standpunkt, der befähigt, in die Weite der menschlichen Vollzüge vorzudringen. Von daher bekommt das Werk Eugen Bisers jene kontextuelle Weite, die ihn befähigt, die Wirklichkeit in ihrer Ganzheit zu durchdringen. Dies erklärt seine breite Palette an Themen, die sich nicht nur in der Behandlung philosophischer und theologischer Probleme erschöpfen, sondern die bis hinein in die Musik und die bildende Kunst reichen. Denn die Wahrnehmung der Welt aus der Mitte vernetzt alles mit allem, kann die gesamte Wirklichkeit von dieser Mitte und auf diese Mitte hin verstehen. Biser wird daher zum Brückenbauer nicht nur zwischen Kirche und Welt, sondern auch zwischen den Religionen, da die Weite seines Horizonts die Kraft in sich trägt, jede konfessionalistische Enge zu überwinden. Diese Weite ist die Mitte wahrer Katholizität, die aus der Klarheit über die Mitte des Christentums erwächst.

Eugen Bisers dynamische Bestimmung der Mitte des Christentums trägt nun ein nachhaltiges Vermächtnis in sich, das zunächst einmal so einfach wie grundlegend ist. Die Mitte des theologischen wie des pastoralen Tuns muss die Liebe sein. Sie bildet den Kernpunkt der theologischen Forschung sowie des pastoralen Tuns. Jede Pädagogik, Methodik und Didaktik versagt, wenn sie nicht zentral von der Liebe geleitet wird, da nur die Liebe in der Lage ist, zur Mitte eines Sachverhalts wie einer Person vorzustoßen. Nur die Liebe trägt die Dynamik in sich, wirklich herauszurufen. Denn sie bewegt nicht nur den Liebenden, sich wirklich einzulassen, sondern gibt auch dem Geliebten das Vertrauen, sich herausrufen zu lassen. Wahre Liebe hat deshalb mit Sentimentalität nichts zu tun.

Darüber hinaus lassen sich aus Bisers theologischem Vermächtnis Konsequenzen für das theologische Forschen und Arbeiten, sowie, ganz grundsätzlich, für das Leben der Kirche ableiten.

Das pastorale Tun der Kirche erschöpft sich vielfach immer noch, vielleicht als Reaktion auf die gegenwärtige Krisensituation, auf die binnenkirchlichen Handlungsfelder. Diese Sichtweise verfehlt aber zunehmend die Wirklichkeit, da sich das Leben der Menschen, selbst das der Katholiken, in ganz anderen Bereichen vollzieht. Erneut erweist sich der Rückzug des kirchlichen Tuns auf das sogenannte Kerngeschäft als problematisch, wenn nicht gar als resignativ, da es die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen nicht mehr erreicht.

Die Gründe für diese Krise sind vielfältig und können an dieser Stelle nicht erörtert werden. Als Folge der angesprochenen Reduktion des kirchlichen Tuns ermangelt es der Kirche in Deutschland aber zunehmend an Kraft, die Welt inkarnatorisch zu durchdringen. Eugen Bisers Weite, die aus der Klarheit über die Mitte erwächst, kann ermutigen, die Enge der binnenkirchlichen Probleme und Perspektiven zu überschreiten und sich auf die wahren und wirklich wichtigen Handlungsfelder der Kirche zu konzentrieren.

Eugen Biser gibt aber nicht nur wichtige Anregungen für das pastorale Tun der Kirche, sondern gleichfalls auch für die Theologie. Ihre gegenwärtige Krise resultiert nicht nur aus dem Rückgang an Theologiestudenten. Die Krise wird wesentlich auch dadurch bewirkt, dass die Relevanz der Theologie für das pastorale Leben der Kirche wie für die Problemfelder der Gemeinschaft nicht mehr deutlich genug wahrgenommen wird. Vielleicht erscheint sie gegenwärtig gerade deshalb im Kanon der universitären Disziplinen zunehmend als angefochten. Eugen Bisers theologische Konzeption trägt durch ihre universale Perspektive das Potential in sich, die Relevanz der Theologie für die Kirche, die Gesellschaft und den Kanon der universitären Disziplinen wieder neu ins Bewusstsein zu rufen.

Mit den bisherigen Gedanken wurde versucht, das Leben und Werk Eugen Bisers als Kraft aus der Mitte formal zu charakterisieren. Eine solch formale Konturierung reicht aber gerade im Zusammenhang mit der Darlegung der Biser’schen Theologie nicht aus. Ihr Kernpunkt tritt erst dann hervor, wenn die inhaltliche Bestimmung der Mitte seiner Theologie erfolgt. Sie ist in einer tiefen Ergriffenheit durch Jesus Christus zu suchen.

2. Eugen Bisers mystische Christuserfahrung

Die christozentrische Bestimmung der Mitte in Eugen Bisers theologischem Werk erscheint für einen christlichen Denker zunächst eine Selbstverständlichkeit, ja geradezu eine Trivialität zu sein. Christliches Denken hat Jesus Christus als seinen Anfangs- wie seinen Zielpunkt zu nehmen! Eugen Biser belegt dies in seinen zahlreichen christologischen Werken mit Nachdruck. Die Besonderheit seines Denkens kommt aber erst dann in den Blick, wenn wahrgenommen wird, dass Biser nicht nur Wissenswertes über Jesus Christus berichtet, sondern in eine mystische Gottesbegegnung einführen will, die ihn selbst ergriffen hat. Christus ist ihm nicht nur inhaltliche Mitte des Christentums. Er ist ihm als innerer Lehrer Kraftquelle, energetischer Ursprung seines Denkens und Tuns.

Eugen Biser erinnert insofern an einen Menschen in einer Passage aus dem Hohenlied. Dort ist von einer Person die Rede, die getrieben wird von einer Liebe, die sie nicht mehr loslässt und die sie geradezu zwingt, aufzustehen und sich auf die Suche nach dem Geliebten zu machen. Dieser Geliebte ist nach Ansicht des Alten Testaments Gott selbst. Es heißt dort:

Des Nachts auf meinem Lager suchte ich ihn, den meine Seele liebt. Ich suchte ihn und fand ihn nicht. Aufstehen will ich, die Stadt durchstreifen, die Gassen und Plätze, ihn suchen, den meine Seele liebt. Ich suchte ihn und fand ihn nicht. Mich fanden die Wächter bei ihrer Runde durch die Stadt. Habt ihr ihn gesehen, den meine Seele liebt? Kaum war ich an ihnen vorüber, fand ich ihn, den meine Seele liebt. Ich packte ihn (und, d. Verf.) ließ ihn nicht mehr los [...]. (Hld 3,1 – 4a, Einheitsübersetzung)

Analog zur Passage des Hohenliedes wurzelt Eugen Bisers theologisches Schaffen in einer tiefen Verbindung mit Christus, die ihn bewegt, die christliche Botschaft in alle Bereiche des menschlichen Lebens hineinzutragen. Die Erfahrung der Liebe Christi hat Biser geformt und zwingt ihn geradezu, ähnlich wie schon den Apostel Paulus, Christus zu bekennen, sei es gelegen oder ungelegen. Die Bemerkung des Apostels Paulus in 1 Kor 9,16 trifft daher unmittelbar den Kernpunkt des Biser’schen Denkens, wie seines Tuns: „Wenn ich nämlich das Evangelium verkünde, kann ich mich deswegen nicht rühmen; denn ein Zwang liegt auf mir. Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!“

Die Mitte des Biser’schen Denkens kommt daher nicht wirklich in den Blick, wenn bestimmte Inhalte seiner Werke dargelegt werden. Sie leuchtet vielmehr erst dann auf, wenn sein Denken als durch die mystische Einung mit Christus inspiriert gesehen und von daher ausgelegt wird. Deshalb greift eine vorwiegend diachrone Erklärung seines Denkens zu kurz. Man kann sein Werk beispielsweise als von Nietzsche, Kierkegaard, Schleiermacher oder Pascal beeinflusst deuten. Man kann einen philosophie- wie theologiegeschichtlichen Bogen von der Gegenwart über die franziskanische Tradition des Mittelalters bis zu Augustinus spannen. Alles dies mag interessant sein, trifft aber den Kernpunkt seines Denkens nicht. Dieser erschließt sich vorwiegend synchron, also aus der unmittelbaren, inneren Schau der Liebe Christi.

Die Faszination und Innovationskraft der Biser’schen Theologie liegt somit in ihrer radikalen Christozentrik begründet, im Sinne einer mystischen Einwohnung, die dann alle Themen evoziert und durchformt.

Diese Ergriffenheit durch Christus kommt zentral in seiner Christologie von innen zum Ausdruck. Diese stellt, aus den genannten Gründen, aber primär keine theologische Konzeption dar, sondern ist die Manifestation einer unmittelbaren Gotteserfahrung. Wenn Eugen Biser daher, entgegen der weit verbreiteten Tradition, den Apostel Paulus nicht aus der ihn quälenden Frage der Rechtfertigung des Menschen vor Gott heraus versteht, sondern die Mitte des paulinischen Denkens und Tuns in der mystischen Einwohnung Christi im Damaskuserlebnis verortet, dann kommt darin die Mitte seiner eigenen theologischen Vision zum Ausdruck. Dies darf aber nicht als verfälschende Projektion verstanden werden, sondern ist Ausdruck eines gemeinsamen Ursprungs mit Paulus, der erst den Weg zu wirklicher Verständigung bahnt.

Deshalb gewinnt, um noch ein weiteres zentrales Themenfeld des Biser’schen Werkes zu nennen, die performative und nur synchron zu erhellende Qualität der Sprache eine so große Bedeutung in seinem Werk. Sprache ist, ganz in Anlehnung an de Saussure und Wittgenstein, für Biser keine bloße Informationsmitteilung im Sinne des Sprachpositivismus, sondern erschließt ganze Lebenswelten. Denn die Dynamik der mystischen Einwohnung in Christus kann durch eine Sprache, verstanden als formalisiertes Zeichensystem, nicht mitgeteilt werden. Sie ruft nach dem gesprochenen, da zu Herzen gehenden Wort, das dem Menschen gegenwärtig so fehlt.

Die Konsequenzen dieser mystischen Verwurzelung der Biser’schen Theologie für den Glauben, die Theologie wie für die Kirche sind eminent und können hier nur angedeutet werden.

Im Bereich des Glaubens führt der mystische Ursprung der Biser’schen Theologie zu einer Personalisierung der Christusbeziehung. Dem Glaubenden begegnet in Christus eine Person, die ihn zuinnerst betreffen will. Sie ruft ihn heraus, die Nachfolge nicht nur, eher unbeteiligt, im Sinne eines bloßen Für-wahr-Haltens zu verstehen, sondern diese als verantwortliche und freiheitliche Person zutiefst existentiell zu vollziehen. Hier liegt der tiefere Grund der immer wiederkehrenden Grundthese Eugen Bisers, dass man „[…] vom Satz- zum Erfahrungsglauben, vom Gehorsams- zum Verstehensglauben und vom Leistungs- zum Verantwortungsglauben […]“, also letztlich „[…] vom Autoritäts- zum Identitätsglauben […]“ gelangen müsse.3 Die innovative Kraft dieser These entfaltet sich nicht mittels einer theologiegeschichtlichen Betrachtungsweise, indem man sie beispielsweise als eine Überwindung des eher monolithischen Offenbarungsverständnisses des Ersten Vatikanischen Konzils versteht. Die These wird auch missverstanden, wenn sie als antiautoritärer Affekt interpretiert und für eine Kritik an bestimmten Strukturen innerhalb der Kirche nutzbar gemacht wird. Der Kernpunkt der Biser’schen Grundthese tritt erst dann hervor, wenn diese als Essenz einer unmittelbaren Gotteserfahrung gedeutet wird. In ihr offenbart sich Gott als Person. Der personale Gott ruft den Menschen unbedingt an und zeigt ihm gerade durch diesen Anspruch, dass er aufgerufen ist, mittels der Bindung an Christus, zu seinen je eigenen Möglichkeiten zu finden.

Durch diese von Eugen Biser vollzogene Einwurzelung des Glaubens in die mystische Innerlichkeit der Person wird die Offenbarungswirklichkeit eminent dynamisiert. Sie vollzieht sich in Analogie zur Begegnung zweier Menschen. Die Mitte des christlichen Glaubens wird daher immer dann verfehlt, wenn von einem Gott ausgegangen wird, mit dem man meint, fertig werden zu können. Dem ins Bild Setzenden verschließt sich das Geheimnis Gottes, da dieses in dem Maße wächst, wie es ergründet wird. Eugen Bisers Denken ist deshalb grundsätzlich skeptisch gegenüber einer objektivierenden Systemik, da diese die Offenheit der personalen Gottesbeziehung niemals einfangen kann. Aus diesem Grund entgeht Eugen Bisers Betonung der Liebe Gottes mittels der Qualifizierung Jesu als Freund jener sentimentalen Konnotation, welche diesen Begriffen nicht selten anhängt. Denn diese Liebe, diese Freundschaft wurzelt in jenem unbedingten Anruf Gottes, der den Menschen befähigt, seine Ängste und engen Grenzen zu überschreiten und sich auf das Abenteuer der Nachfolge einzulassen. Dies ist keineswegs immer angenehm, da der gegenwärtig so in Angst gefangene Mensch dazu neigt, in der Enge seines eigenen Horizonts zu verbleiben.

Eugen Bisers mystische Bestimmung der Mitte des Christentums hat nun nicht nur unmittelbare Konsequenzen für den Glauben, sondern gleichfalls für die christliche Theologie. Wenn das Zentrum des Christentums die personale Beziehung zu Jesus Christus ist, dann kann dieses letztlich nicht distanziert, objektivierend verhandelt werden. Selbstverständlich soll damit nicht gesagt werden, dass Theologie nicht mit Sachverstand und gedanklicher Schärfe betrieben werden muss. Der Glaube beginnt nicht dort, wo die Vernunft aufhört, sondern der Glaube wächst in dem Maß, wie er vernünftig ist. Aus Eugen Bisers mystischer Bestimmung des Christentums folgt aber zwangsläufig, dass die Mitte des Christentums nicht nur methodisch, sondern auch inhaltlich verfehlt wird, wenn diese Ergriffenheit nicht wesentlicher Bestandteil der theologischen Reflexion selbst ist. Würde sie eingeklammert, dann ginge es einem Theologen wie einem Musiker, der zwar Vieles über die Musik weiß, aber ihre Seele nicht geschaut hat. Selbst wenn er sein Instrument virtuos beherrschte, würde er nur Töne hervorbringen, aber keine Musik machen.

Eugen Bisers Theologie ist daher insofern exemplarisch, als in ihr deutlich wird, dass diese ihrer Erkenntniswirklichkeit nur dann gerecht wird, wenn sie glaubend zu verstehen sucht. Sie hat ihren Ausgangs- und Zielpunkt in der Ergriffenheit durch Jesus Christus zu nehmen. Theologie ist, so verstanden, grundsätzlich Verkündigung, denkerisches Ergründen einer stets gegenwärtigen Ergriffenheit durch Christus. Eugen Bisers Theologie überwindet daher die gegenwärtig wachsende Diastase zwischen theologischer Wissenschaft und pastoraler Praxis. Sie tut dies primär nicht mittels wissenschaftstheoretischer Hinweise oder methodischer Bemühungen, sondern einfach aufgrund ihres Verweises auf Jesus Christus, der als innerer Lehrer Theorie und Praxis als komplementäre Seiten der einen Glaubenswirklichkeit sichtbar macht. Die Diskreditierung einer solchen Theologie als „Spiritualität“ offenbart eine Entfernung der theologischen Reflexion von der Mitte, die zu Besorgnis Anlass gibt.

Schließlich hat Eugen Bisers mystische Charakterisierung der Mitte des Christentums nicht nur Auswirkungen auf die Bestimmung des christlichen Glaubens und der Theologie, sondern unmittelbare Folgen für die Konturierung des Wesens der Kirche. Eugen Biser hat keine Ekklesiologie vorgelegt. Seine theologische Vision ist aber ekklesiologisch insofern relevant, als sie die Kirche unmittelbar aus der Mitte des Christentums versteht und von dort eine kritische Bestandsaufnahme zum Zwecke der Reform erfolgt. Diese erschließt sich zunächst in Eugen Bisers knapper wie eingehender Formulierung: „Das Christentum ist keine moralische, sondern eine mystische Religion […].“4 Mit dieser Bemerkung ist nicht nur der Hinweis verbunden, dass die Kirche ihre Mitte, also die innere, eben mystische Verwurzelung in Christus, nicht aus den Augen verlieren dürfe. Der Hinweis Eugen Bisers deutet gleichfalls an, worin sich gegenwärtig der Verlust der Mitte der Kirche manifestiert. Die Kirche verliert ihre Mitte, wenn sie sich selbst als Hüterin der Moral versteht, beziehungsweise sich von der Gesellschaft als solche instrumentalisieren lässt. Gleiches gilt im Übrigen für ihr Wirken im Bereich der Kultur beziehungsweise der Caritas. Die Kirche hat sicherlich einen wichtigen Auftrag in diesen Bereichen. Ihr diesbezügliches Engagement steht aber nur dann in Übereinstimmung mit der Mitte des Christentums, wenn dieses als Ausdruck einer tiefen Bindung an Jesus Christus vollzogen wird und nicht zu dessen Ersatz wird.

Eugen Biser sieht den Verlust der Mitte des Christentums im Bereich der Moral als besonders verhängnisvoll an. Denn die Abkoppelung des Christentums von seiner Mitte pervertiert das christliche Ethos, da es nicht mehr Ausdruck der göttlichen Liebe ist, sondern zu einer versklavenden Kontrollinstanz wird. Die Kirche mutiert dann, wie lange Zeit geschehen, zu einer kasuistischen, den moralischen Zeigefinger erhebenden Institution. Sie verschärft dann gerade jene Grundverfasstheit des Menschen, der sie heilend begegnen sollte: die Angst.

Die Angstverkündigung der Kirche, der Eugen Biser so vehement entgegentritt, kann somit als Verlust ihrer Mitte gedeutet werden. Sie drängt Eugen Biser, eine weitere Präzisierung des Christentums vorzunehmen: „Das Christentum ist keine asketische, sondern eine therapeutische Religion […].“5 Mit der Gegenüberstellung von Therapie und Askese soll nun der herausfordernde und nicht selten mühselige Weg der christlichen Nachfolge nicht verharmlosend umgangen werden. Es soll vielmehr darauf hingewiesen werden, dass die dem Christentum innewohnende Askese nicht aus Leibverachtung oder Jenseiterei erwächst, sondern in der Liebe Jesu Christi gründet. Sie bewegt aufzustehen und sich auf die Suche nach Jesus Christus zu machen, was stets eine Überschreitung der eigenen Bedürfnisse fordert. Die Überwindung der Angst kann somit nur dann geschehen, wenn die Askese nicht als lieblose Forderung der Kirche an die Menschen herangetragen wird, sondern diese als aus der Liebe Christi selbst erwachsende Entgrenzung verstanden wird.

In den zurückliegenden Überlegungen wurde der Versuch unternommen, das breite geistige Spektrum, den Tiefgang und die Innovationskraft der Biser’schen Theologie zu würdigen. Dies konnte aufgrund der gebotenen Kürze nur fragmentarisch geschehen. Das Zentrum des Biser’schen Denkens wurde formal in seiner Suche nach der Mitte des Christentums gesehen, die, bewegt von der Sorge um den Menschen, der Versuchung einer statischen und abgrenzenden Bestimmung entgeht. Jesus Christus selbst ist die inhaltliche Wurzel dieser Mitte, die von Eugen Biser nicht objektivierend verhandelt wird, da er zutiefst von der Erfahrung der Liebe Christi erfüllt und geformt wurde. Das zentrale Vermächtnis seiner Theologie besteht somit in der heilenden wie dynamisierenden Erkenntnis, dass der christliche Glaube, die Theologie, aber auch die Kirche an dieser Verwurzelung in Christus ihr Maß zu nehmen hat. Der Imperativ der Biser’schen Theologie beinhaltet damit die grundlegende Frage, ob der Mensch angeben kann, was ihn wirklich ergriffen hat und was ihn befähigt, zum Instrument für eine höhere Wirklichkeit zu werden. Eugen Biser hat diese Antwort durch sein Denken und Tun gegeben. Er ist von Christus ergriffen worden, so dass auf ihn das Wort des Apostels Paulus in Gal 2,20 zutrifft: „[…] nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“

MARTIN THURNER

Die Mitte des Christentums

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