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Fallstricke & Stolpersteine:

Woran Führungskräfte scheitern

Von Thomas Härry

Manteltaschen mit Gold und Staub

Seit Jahren begleitet mich ein chassidisches Sprichwort: „Wir brauchen einen Mantel mit zwei Taschen. In einer Tasche befindet sich Staub, in der anderen Gold. Ein solcher Mantel erinnert uns daran, wer wir sind.“1 Ich kenne kein anderes Statement, das die biblische Anthropologie (Lehre vom Menschen) treffender zusammenfasst: Wir alle sind Gottes Ebenbild, bewohnt von seinem Geist, heilig und unschätzbar wertvoll2. Zugleich sind wir vergänglich, begrenzt, in mancher Hinsicht schwach und sterblich3. Eine Mischung von Genialität und Gebrochenheit also. Wir sind immer beides, nie nur das eine.

Was für jeden von uns gilt, wird im Leben von Leitenden besonders deutlich sichtbar. Dieses Buch legt den Fokus auf die von „Staub“ geprägten Seiten in ihrem Leben und Wirken, auf ihre Begrenzungen und Gefährdungen. Auf das Schadenspotenzial im Blick auf sich selbst und andere. In diesem Kapitel nehmen wir es unter die Lupe und beschreiben, was ein unbewachtes Maß an Staub anzurichten vermag. Manches Gefährdungspotenzial lauert still in unserem Inneren. Es ist weder für uns selbst noch für unser Umfeld auf Anhieb erkennbar. Anderes zeigt sich deutlicher. Ob eher still präsent oder explosiv nach außen drängend: Keine Führungskraft kann auf der Langstrecke bestehen, ohne sich damit auseinanderzusetzen. Führung ist in erster Linie Selbstführung4. Der Umgang mit den eigenen Gefährdungen gehört zu ihren wichtigsten Aufgaben.

Führung ist immer gefährdet

Als junger Leiter war ich voller Zuversicht, dass mit gutem Willen, einer bodenständigen Spiritualität und gutem Know-how Führung gelingen muss. Nach zehn Jahren war ich dieser Illusion endgültig beraubt. Ich war am Ende meiner physischen und seelischen Kraft. Es gab Momente, in denen ich mein nahes Ende herbeiwünschte. Ich möchte eine solche Krise nicht noch einmal erleben. Aber ich verdanke ihr entscheidende Lebenslektionen, die ich nicht mehr hergeben möchte. Sie veranlasste mich umzudenken. Es gab viele einfache und praktische Dinge, die ich mir in der Folge teils mühsam aneignete – aneignen musste, um wieder auf die Beine zu kommen. Dinge wie: Feierabend machen, mich bewegen, richtig schlafen lernen. Am schwierigsten waren innere Korrekturen: wie ich mich selbst sah. Meine Aufgabe. Meinen Gott. Wie man gut und nachhaltig führt. Der Prozess hält an. Ich werde das biblische „Metanoia“5 lebenslang durchbuchstabieren: wie ich umkehren kann aus allzu staubbedeckten Denk- und Lebensmustern. Wie ich dem Evangelium gemäßes Denken und Handeln einüben kann.

Heute weiß ich: Jede Führungsperson ist gefährdet. Jederzeit. Führung ist ein Abenteuer, ein wunderbares Vorrecht. Aber es ist kein sicherer Ort. Niemals. Dies zu verstehen, gehört zum Wichtigsten, was eine Führungskraft lernen sollte. Ich will drei Begleiterscheinungen einer Führungsaufgabe benennen, mit der eine je eigene Gefährdung verbunden ist.6

Erstens: Wer Macht hat und Autorität ausübt,

wirkt attraktiv

Macht weckt den Eros. Nach Manfred Josuttis gilt das auch bei Geistlichen: „Wer im Machtbereich des Heiligen arbeitet, der wirkt attraktiv. Die Anziehungskraft des Numinosen kann man/frau in der Gemeinde auch so erleben, dass man/frau sich dessen Repräsentanten erotisch und sexuell anzunähern versucht.“7 Eine Führungsperson muss wissen, dass manche Menschen gerade deshalb ihre Nähe suchen, weil sie Leitende grundsätzlich höher achten als andere. Einige Bewunderer sind dabei auch sexuell empfänglicher, als sie es sonst wären. Entsprechende Kräfte wirken aber auch in der Führungsperson selbst. Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger bezeichnete Macht als starkes Aphrodisiakum – ein die sexuelle Lust steigerndes Mittel8. Wer die Wirkung seines Einflusses erlebt, bekommt inneren Aufschwung, manchmal auch auf sexueller Ebene. Kommt beides zusammen – Attraktivität nach außen und verstärkter sexueller Appetit von innen –, liegen Grenzüberschreitungen vor der Nase.

Zweitens: Wer Einfluss hat,

neigt zur Selbstüberhöhung

Der Erfolg einer Führungsperson stärkt ihre Selbstvergewisserung. So weit, so gut. Bei anhaltendem und besonders großem Erfolg kann diese Bestätigung zu einer Selbstüberhöhung auswachsen. Hier beginnt die Gefährdung, denn Selbstüberhöhung blendet. Trübt den Blick für eigene Grenzen und Schwächen. Man verliert den Bezug zur Realität, hält sich selbst, seine Errungenschaften, seine Organisation für unverletzlich. Wer eine solche Perspektive nährt und darin verharrt, ist prädestiniert zu scheitern. Ein gesundes Maß an Selbstzweifel hingegen ist ein Markenzeichen guter Führungskräfte und ihrer Organisationen. Ein älterer Mann aus der Gemeinde sagte es so: „Ich traue mir selbst nicht immer über den Weg. Unter gewissen Umständen sind wir alle zu Dingen fähig, die wir in guten Zeiten mit Nachdruck ablehnen.“ Heifetz und Lensky schreiben: „Wer die Fähigkeit zum Zweifel verliert, sieht nur noch das, was seine vermeintliche Kompetenz bestätigt.“9 Wo sich Selbstüberhöhung einnistet, entstehen Wahrnehmungsverzerrungen, die wiederum zu folgenschweren Fehlentscheidungen führen.10

Drittens: Führungskräfte neigen zur Verunsicherung

Gerade für selbstkritische Führungskräfte gilt: Weil sie regelmäßig öffentlichem und innerem Erwartungsdruck ausgesetzt sind, lassen sie sich manchmal zu sehr verunsichern. Erfolgreiche Konkurrenz und Kritik verstärken diese Tendenz. Josuttis (1996) verortet bei kirchlichen Leitungspersonen eine zusätzliche Art der Verunsicherung: Sie arbeiten in einem Umfeld, das in der säkulären Öffentlichkeit oft kritisch gesehen wird.11 Ich erinnere mich an meine Zeiten als Soldat in der Schweizer Armee, wenn mich Kollegen nach meinem Beruf fragten. Manche reagierten auf meine Antwort mit einer Mischung aus Verwunderung und Unverständnis: „Was, du bist Pfarrer? Okaaaayy …“ – und wechselten das Thema. Wo das zu Distanz und blöden Witzen führte, wünschte ich mir manchmal, einen sozial anerkannteren Beruf zu haben. Fehlt Anerkennung, fühlen wir uns außen vor, nicht zugehörig, manchmal abgelehnt. Das will keiner, also geht unser Inneres in die Gegenoffensive: Wir tun alles, um geachtet zu werden, Anerkennung zu erlangen, dazuzugehören. Darin lauert wieder eine Gefährdung: der Versuch, andere zu beindrucken, ihnen zu gefallen, ihr Bild von uns aufzupolieren. Damit sind wir weit mehr mit uns selbst und unserer Wirkung beschäftigt als mit den Menschen und Organisationen, denen wir dienen sollen.

Was ist zu tun?

Führung ist also immer gefährdet. Das liegt in der Natur dieser großartigen Tätigkeit. Was ist zu tun? Sie finden dazu viel Gutes in weiteren Kapiteln dieses Buches. Deshalb fasse ich mich kurz: Diese Gefährdungen zu bejahen ist die halbe Miete. Noch besser ist, wenn ich weiß, welchen dieser Neigungen ich besonders leicht nachgebe. Wenn ich bejahe, dass ich wie jede Führungskraft auch dysfunktionale Anteile in mir habe – manche in milder, andere in stärkerer Ausprägung.12 Ich bejahe die Selbstführungsaufgabe, meinen damit verbundenen Appetit zu zügeln.13 Schließlich hilft immer auch ein Blick in die eigene Vergangenheit, besonders in die Herkunftsfamilie. Meistens wurzeln meine größten Gefährdungen in dort gemachten Erfahrungen. In dort entstandenen Wunden, Mangelgefühlen und Denkmustern. „You have to go home!“ – „Du musst nach Hause gehen!“, heißt ein Slogan in der Familiensystemtherapie Murray Bowens, deren Grundsätze vermehrt im Führungskontext Anwendung finden.14 „Nach Hause gehen“ heißt: lernen zu verstehen, was mich in meiner Entwicklung geprägt hat. Welche Spuren des Segens und welche Zumutungen mich aufgrund meiner familiären, sozialen und kirchlichen Prägung begleiten. An welcher Stelle ich als Erwachsener ein gezieltes Nachreifen15 brauche.

Lautes und leises Scheitern

Beim Thema Führungsversagen denken wir rasch an krasse Geschichten. An Fehltritte, wie sie in der Einführung dieses Buches erwähnt wurden. Wären sie selten, müsste es dieses Buch nicht geben. Doch das ist nur eine Form des Scheiterns. Ich nenne es das „laute Scheitern“. Es ist weithin sichtbar und verbunden mit allen entsprechenden Schäden und Konsequenzen. Daneben gibt es eine andere, viel öfter vorkommende Form von Führungsversagen. Ich nenne es das „leise Scheitern“. Darunter verstehe ich Verhaltensweisen von Führungspersonen, die nur selten zum großen Knall führen, in letzter Konsequenz aber genauso großen Schaden anrichten wie lautes Scheitern. Es kann sein, dass das „leises Scheitern“ einer Führungsperson nie benannt, nie aufgedeckt, nie geahndet wird – weil es eben leise und unauffällig geschieht. Es wird gerne übersehen und verharmlost. Es gibt in unseren Kirchen und Organisationen Hunderte, ja Tausende Fälle von leisem, unentdecktem Leitungsversagen. Der damit verbundene Schaden ist immens. Wovon spreche ich? Leises Scheitern geschieht dort …

 wo Führungskräfte ihre Leitungsaufgabe halbherzig wahrnehmen und fundamentale Führungsgrundsätze missachten.

 wo Leitende ihre Zeit vertrödeln, stundenlang unnötig am Handy hängen, anstatt die strategischen und geistlichen Schritte in die Wege zu leiten, die ihre Organisation nach vorne bringen würden.

 wo sich Geistliche in ihrem Arbeitszimmer verschanzen und tagelang kaum erreichbar sind, statt sich um die Menschen zu kümmern, die ihren Rat und ihre spirituelle Führung brauchen.

 wo Pastorinnen und Pastoren sich nicht mehr die Zeit nehmen, vor Gott still zu werden, die Bibel zu lesen, auf die Impulse des Heiligen Geistes zu hören und daraus ihr Wirken zu gestalten.

 wo Leitende sich nicht um ihre Mitarbeitenden kümmern, keine Fördergespräche führen, kaum Anerkennung und Wertschätzung für deren Engagement ausdrücken.

 wo sich Leitende in Konkurrenzdenken und belanglosen Grabenkämpfen erschöpfen, überall das Haar in der Suppe suchen, sich erlauben, zynisch und lieblos zu werden, und der Gemeinde in ihren Predigten immer wieder zu verstehen geben, wie unzufrieden sie mit ihr sind.

 wo Menschen in Verantwortung an ihren Führungssesseln kleben, sich nicht weiterbilden, ihren Leitungsmuskel nicht mehr trainieren, nichts Neues mehr lernen und stattdessen vor sich hin wursteln, mal dies, mal jenes Modell kopieren, alles ausprobieren und nichts wirklich zu Ende bringen.

 wo Pfarrerinnen und Pfarrer sich einreden, sie seien richtig gute Verkündigerinnen und Verkündiger – oder würden vorbildlich leiten, obwohl die Mehrheit in ihrem Umfeld dies ganz anders sieht, es aber nicht laut sagen darf.

 wenn Leitende jede Rückfrage und Kritik zu ihrem Führungsverhalten als inkompetentes Laiengeblök oder diabolische Anfechtung abtun und nicht willig sind, sich ernst gemeinten Anfragen zu stellen.

Leises Scheitern hat viele Gesichter. Dies sind nur einige davon. Sie führen zu den leisen Dramen vernachlässigter, nicht wirklich ernst genommener Führung. Meiner Meinung nach leiden Kirchengemeinden und Organisationen weit mehr an diesen stillen, kaum je wirklich öffentlich werdenden Katastrophen als an den großen, medialen Skandalen. Wohlverstanden: Beides sind Katastrophen, die dem Leib Christi schaden. Aber es ist eben nicht nur die Sünde des Machtmissbrauchs, des sexuellen Übergriffs oder der Veruntreuung von Geldern – sondern genauso die Sünde der Faulheit, der Oberflächlichkeit und der stillen Verweigerung. Erstere werden zu Recht geahndet. Letztere viel zu oft und zu Unrecht geduldet.

Zwei besondere Minenfelder

Mit der Thematik des leisen Führungsversagens haben wir uns Gefährdungen angenähert, die nicht primär in der Natur der Führungsarbeit liegen. Sie haben stärker mit der einzelnen Führungsperson selbst zu tun, mit ihren Einseitigkeiten und Defiziten. Die Grenzen zwischen potenziellen, im Wesen einer Führungsarbeit liegenden Risiken und solchen, die in der einzelnen Führungsperson schlummern, sind fließend. Manchmal aber sind es die persönlichen Defizite der Person, die den Ausschlag geben. Dazu gehören auch fachliche Defizite, wobei diese am leichtesten zu beheben sind.16 Komplizierter ist es bei charakterlichen, spirituellen und psychischen Defiziten. Das meiste Scheitern geht auf ihr Konto. Die damit verbundenen Ursachen werden besonders dort leicht übersehen, wo eine Führungsperson ihre Aufgaben kompetent anpackt, viel bewegt und eine gewinnende Ausstrahlung hat. Schauen wir zwei dieser Risiken näher an: die Dynamik des Verdrängens und das Phänomen des Narzissmus. Manchmal wirkt beides ineinander, verstärkt sich gegenseitig und führt so zu besonders schwerwiegendem Führungsversagen.

Verdrängung und Selbsttäuschung

Verdrängung und Negierung bilden den Hintergrund vieler Fälle von leisem oder lautem Scheitern. In den 1950er-Jahren entwickelten die Sozialpsychologen Joseph Luft und Harry Ingham das Konzept des „Johari-Fensters“17. Darin sprechen sie vom sogenannten „blinden Fleck“ im Selbstbild einer Person. Zum blinden Fleck gehört alles, was jemand an sich selbst nicht wahrhaben will.

Ein Beispiel: Das Umfeld einer Leiterin erlebt diese in vielerlei Hinsicht als selbstbezogen. Zudem kommuniziert sie schlecht und sorgt ständig für Missverständnisse. Die Leiterin selbst aber versteht sich als empfindsame, hingebungsvolle und kommunikative Person.

Die Psychologin und Traumaberaterin Diane Langberg hat sich intensiv mit Missbrauchsfällen im kirchlichen Kontext auseinandergesetzt und kommt zum Schluss, dass sowohl die involvierten Täter, aber auch viele ihrer Anhänger zur Selbsttäuschung neigen: Da kommt ans Licht, dass ein Leiter über Jahre hinweg andere sexuell missbraucht hat. Weshalb hat das so lange keiner bemerkt? Antwort: Es wollte keiner wahrhaben. Alle dachten, dieser Leiter sei einfach nur toll, integer, glaubwürdig. Davon fest überzeugt, haben selbst Mitarbeitende im nahen Umfeld des Leiters sämtliche vorhandenen Warnlichter ignoriert, verdrängt und verschwiegen. Auch der Täter selbst unterlag der Täuschung, indem er sich selbst vergewisserte, wie sehr er sich für Gottes Sache engagiert. Dass er für andere doch nur das Gute will. Dass es legitim ist, sich da und dort eine kleine Ausnahme zu erlauben. Und so rechtfertigte er sein fragwürdiges Handeln vor sich selbst, hielt es für richtig oder zumindest für harmlos.18 Langberg weist darauf hin, dass sich die Neigung zur Selbsttäuschung und das Vorhandensein großer Stärken vielfach in die Hände spielen: „Täuschung spielt oft gerade dort eine große Rolle, wo jemand über eine hohe Stellung verfügt, ein enormes theologisches Wissen hat, sich auf faszinierende Weise sprachlich ausdrücken kann und sich eloquent in der Öffentlichkeit zu bewegen vermag. Dies alles sind Instrumente der Macht, die es einem Menschen ermöglichen, andere zu täuschen und diese Täuschung geschickt zu verbergen.“19 Ein Phänomen, das sich in der Aufarbeitung vieler Leitungsskandale der jüngeren Geschichte bestätigt.

Gibt es Gegenmittel? Ja, es gibt sie. Die meisten von uns neigen allerdings dazu, sie für uns selbst als nicht wirklich notwendig zu erachten – auch dies ist ein Gesicht der Selbsttäuschung. Und so leben viele Führungspersonen ohne echte und verbindliche Rechenschaft, eine der wichtigsten Präventions-Maßnahmen. Rechenschaft vor Behörden, Kreisen, Kommissionen, die um die Dynamik der Täuschung wissen. Die es wagen, genau hinzuschauen und nachzuhaken. Die Warnsignale ernst nehmen und nicht vorschnell vom Tisch wischen. Das garantiert nicht alles. Ich als Leitungsperson muss es mindestens so sehr wollen wie mein Umfeld. Eine Lebensregel, die mir hilft, ist der Rat von Richard Foster. Auf die Frage, was heutige Führungspersonen am meisten brauchen, meinte er: „Stille, Einsamkeit und einen Mentor, der alles von mir weiß.“20 Auch ein Rechenschaftspartner hilft, der um meine Schwachstellen weiß und jederzeit nachfragen darf, wie es mir damit geht. Beides hilft mir, Anzeichen der Selbsttäuschung frühzeitig in den Blick zu nehmen. Damit ist nicht alles gesichert, aber doch Wesentliches.

Narzissmus

Narzissmus gehört zu den stärksten Kräften, die Führungspersonen ins Scheitern treiben. Ich selber habe den Begriff lange missverstanden. Ich hielt Narzissten für Menschen mit einem übergroßen Ego. Heute weiß ich, dass das Gegenteil stimmt: Narzissten sind Menschen mit sehr geringem Selbstwert, die alles in ihrer Macht Stehende tun, um dieses Manko zu kompensieren. Narzissten fühlen sich so wenig geliebt, sind so verunsichert, dass sie alles daransetzen, um von ihrem Umfeld gemocht und bewundert zu werden. Sie tun das auf eine so fordernde Art und Weise, dass sie alle diejenigen, die ihnen die Zuneigung verweigern, grob von sich stoßen, bestrafen und verletzen.21

Chuck DeGroat, Professor für Praktische Theologie, kommt zu dem Schluss, dass eine große Anzahl von Kirchengründungen in den USA seit 1980 in einem direkten Zusammenhang steht mit dem allgemeinen Aufkommen narzisstischer Störungen. Er schreibt dazu: „Nirgendwo habe ich die Narzissmus- und Scham-Dynamik ausgeprägter beobachtet als unter Gemeindegründern.“22 Das ist ein starker Vorwurf, aber wir müssen ihn hören: Das Bedürfnis, eine eigene, eine große und erfolgreiche Gemeinde zu haben und dafür bewundert zu werden, ist für eine narzisstische Persönlichkeit ein starkes Motiv23.

Henry Nouwen hat es vor vielen Jahren ähnlich formuliert: „In der Kirche haben viele Menschen leitende Positionen inne, die unfähig sind, gesunde persönliche Beziehungen zu entwickeln, und die stattdessen den Weg der Macht und der Bevormundung eingeschlagen haben.“24 In anderen Worten: Manche „Berufung“ zum Leitungsdienst in einer Kirche erklärt sich aus dem Vorhandensein einer starken persönlichen Verunsicherung, die der Betroffene durch seine Autoritätsrolle zu kompensieren hofft. Doch aufgepasst! Das betrifft einige, längst nicht alle. Es wäre tragisch, wenn wir sämtlichen Pionierinnen und Bewegern das Etikett „Narzissmus“ anheften würden. Hinzu kommt, dass jeder und jede an mancher Stelle zu narzisstischen Verhaltensmustern neigt. Auch ich selbst. Man muss unterscheiden zwischen mancher Neigung und einem ausgeprägten Narzissmus. Klar aber scheint, dass sich Letzteres besonders oft dort findet, wo Menschen große Autorität und viel Bühnenpräsenz suchen. Die Kirche ist ein Ort, der beides bieten kann.

Wie äußern sich narzisstische Tendenzen? Im kirchlichen Bereich können folgende Vorkommnisse in diese Richtung weisen:

 Eine Leitungsperson sorgt dafür, dass alle wichtigen Entscheidungen in der Organisation von ihr selbst oder einer ausgewählten kleinen Gruppe getroffen werden. Es gibt keine echten Möglichkeiten der Mitsprache.

 Es gibt in einer Organisation keine Ombudsstelle; keine von der Leitung unabhängige Beschwerdestelle für Mitarbeitende oder Mitglieder, die mit einer Situation nicht klarkommen oder auf irritierende Vorkommnisse hinweisen möchten.

 Eine Leitungsperson reagiert im Umgang mit manchen Personen in ihrer Organisation anhaltend ungeduldig und harsch.

 Eine Leitungsperson lobt und bestätigt Mitarbeitende, die ihre Erwartungen voll und ganz erfüllen, während sie sich von anderen zurückzieht, von denen sie sich nicht bestätigt fühlt. Es kommt regelmäßig zu Kündigungen und Austritten langjähriger Gefährten der Leitungsperson.

 Eine Organisation verfügt über ausgeprägte hierarchische Strukturen. Bedürfnisse und Kompetenzen von Menschen, die nicht Teil der obersten Führungsebene sind, werden stark eingeschränkt.

 Leitungspersonen fühlen sich von anderen Mitarbeitenden auffällig oft ungenügend respektiert und fordern deshalb Loyalität. Sie sprechen schnell von Abweichlern, die auf ihre Plätze unterhalb der Hierarchie zu verweisen oder zu entlassen sind.

 Leitungspersonen dulden keine ebenbürtigen Mitleitenden mit gleichermaßen sichtbaren Stärken und Kompetenzen. Sie umgeben sich im Bereich ihrer Haupttätigkeit gerne mit jüngeren, unerfahrenen und weniger kompetenten Mitarbeitenden, die ihre Stellung nicht gefährden.

 Leitungspersonen vermitteln den Eindruck, die besten, klügsten und kompetentesten Personen innerhalb ihrer Organisation zu sein.

 Leitungspersonen geben sich nahbar, charmant, verletzlich und demütig, während sie gleichzeitig bestimmte Schwächen gezielt verbergen und negieren.

Diese Liste ist nicht vollständig, macht aber deutlich, dass die Verhaltensweisen narzisstischer Personen vom ausgeprägten Bedürfnis geprägt sind, im Zentrum zu stehen.25 Was immer diese Stellung gefährdet, wehren sie geschickt ab, notfalls mit drastischen Mitteln. Letztlich wollen sie Alleinherrscher sein – alles andere bewerten sie als demütigende Niederlage. Es ist kein Zufall, dass im Alten Testament das Amt des Königs als die gefährdetste aller Führungspositionen betrachtet wird. Dass Israel Könige hat, erscheint als Zugeständnis Gottes, nicht als Ausdruck seines Willens26. Denn antike Könige sind immer Alleinherrscher, die sich so ziemlich alles erlauben, was dem Erhalt ihrer Macht dient. Deshalb stellt ihnen Gott im Alten Testament die Führungsdienste von Propheten und Priestern zur Seite. Sie haben die Aufgabe, das Amt des Königs zu beschränken und überall dort ein mahnendes Gegenüber zu sein, wo er seine Kompetenzen überschreitet.27 Es muss möglich sein, Leitenden zu widersprechen. Das biblische Führungsbild stellt dies sicher. Es gibt uns wichtige Hinweise darauf, was Narzissmus eindämmen hilft: verteilte Verantwortung, keine einsamen Spitzenplätze, möglichst flache Hierarchien.28

Steht es wirklich so schlimm?

Nach der Lektüre dieses Kapitels könnten Sie entmutigt sein und sich fragen: Will ich denn weiterhin führen, wenn der Risiken und Nebenwirkungen so viele sind? Habe ich überhaupt die Chance, all diesen Fallen zu entkommen? Chancen gibt es viele, Garantien keine. Würden Sie allerdings deshalb nicht (mehr) leiten wollen, dann wäre dies das Gegenteil dessen, was ich mit diesem Text beabsichtige. Erinnern Sie sich: Wir alle tragen Gold und Staub mit uns. In diesem Text ging es einmal um Risiken, die mit dem staubigen Anteil unserer Existenz verknüpft sind. Mit großer Begeisterung können (und müssen!) wir an geeigneter Stelle auch das andere tun, nämlich begeistert über Gold sprechen. Über den Segen, den Gott auf Ihr und mein Leben legt. Über unsere großartigen Stärken und Chancen, die uns anvertraut sind. Über Möglichkeiten und Wege, für Gott Großes zu bewegen. Über die Langmut Gottes und die Gnade des Neuanfangs. Die meisten guten Führungsbücher haben diesen Fokus und das ist gut so. Unser Gold kommt aber gerade dort zum Glänzen, wo wir den Staub nicht ausblenden. Wo wir ihn zur rechten Zeit in den Blick nehmen und mit Gottes Hilfe dafür sorgen, dass er unser Gold nicht überlagert und verdunkelt.

Fragen zum Nach-Weiter-Selber-Denken

 Welche der drei genannten Gefährdungen, die zu einer Führungsposition gehören, nehmen Sie an sich selbst oder in Ihrem Umfeld wahr? Welche Möglichkeiten eines wachsamen Umgangs damit halten Sie für wichtig und hilfreich?

 Was denken Sie: Weshalb sprechen wir so selten über „leises Scheitern“? Was wollen Sie in Ihrer Organisation tun, um dies zu ändern? Wie könnten Sie dazu beitragen, dass es auf gute, hilfreiche Weise geschehen kann?

 Was kann in Ihrem Führungskontext helfen, damit Mechanismen der Selbsttäuschung und Erscheinungsformen von Narzissmus nicht still geduldet werden und um sich greifen? Welche Vorgehensweisen, Abmachungen und Formen der Rechenschaft wollen Sie in diesem Zusammenhang etablieren?

Literatur zur Vertiefung

Boller, Frieder, Selbstführung in stürmischen Zeiten. Wie wir krisenfester und konfliktfähiger werden, Cuxhaven 2020.

DeGroat, Chuck, When Narcissism Comes to the Church, Illinois 2020.

Collins, Jim, How the Mighty Fall And Some Companies Never Give In, New York 2009.

Langberg, Diane, Reedeming Power. Understanding Authority and Abuse in the Church, Grand Rapids Michigan 2020.

Von der dunklen Seite der Macht

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