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5. Strategische Fragen in einer bipolaren Welt

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Der weltpolitische Dualismus des bis 1989/1990 anhaltenden Ost-West-Konflikts war ausschlaggebend für die Geschichte Westdeutschlands, aber auch Frankreichs. Die Gründe waren in Bezug auf die Bundesrepublik ihr Standort „an der Nahtstelle des Ost-West-Konflikts“189, der sie zum „Seismographen“190 machte, ebenso wie der Umstand, dass aufgrund der deutschen Frage „die Möglichkeit einer Krise nicht ausgeschlossen werden“ konnte191, und dass die Bundesrepublik aufgrund ihrer Exponiertheit vom Schutz durch das westliche Verteidigungssystem abhängig war. Gerade deshalb bemühte sie sich so nachdrücklich um die Anerkennung ihrer Interessen und ein Minimum an Einfluss auf möglicherweise existenzbedrohende Entscheidungen. Frankreich befand sich geografisch wie rechtlich in einer ganz anderen Lage, und obwohl es sich gegen die selbstverständlich gewordene Bipolarität verwahrte und Wert darauf legte, „ein autonomes System mit dezidiert eigenen Zielen und Werten“ zu sein, anstatt wie die beiden deutschen Staaten Teil eines „strukturell abhängigen Systems“, war seine Außenpolitik ebenfalls „in hohem Maße ein Reagieren auf weltpolitische Herausforderungen“192. Während die Bundesrepublik jedoch Selbstbehauptung trotz, aber auch gerade durch Selbstbeschränkung anstrebte193, bemühte sich Frankreich um Selbstbehauptung durch die Erhaltung der eher klassischen Attribute von Souveränität und Unabhängigkeit. Im Rahmen der scheinbar simplen Zweiteilung der Welt durch die Rivalität zwischen USA und UdSSR verfolgten Frankreich und Westdeutschland, bedingt durch ihren unterschiedlichen Status, komplexe Strategien. Ein Faktor dabei war die Hegemonie der USA innerhalb des westlichen Lagers, die Washington gegenüber Westdeutschland tatsächlich besaß und gegenüber Frankreich gern besessen hätte. Europa betreffende Entscheidungen waren Dreh- und Angelpunkt für die Strategien beider Seiten. Die parallele, aber kontrastreiche gemeinsame Geschichte Westdeutschlands und Frankreichs muss deshalb wie eben dargelegt in wirtschaftlicher und monetärer, und auch in strategischer Hinsicht im Rahmen des westlichen Lagers zur Dreiecksbeziehung mit den Vereinigten Staaten erweitert werden, anstatt lediglich die Beziehung zur Sowjetunion zu sehen.

Dabei geht es uns um militärische und Sicherheitsfragen, aber auch generell um „politisch-strategische“ Beziehungen an der Schnittstelle zwischen Diplomatie und Verteidigung, denn „im Atomzeitalter und im Kontext des Kalten Krieges sind Außenpolitik und Strategie enger denn je verknüpft […] [und] die Atomwaffen rücken die Politik wieder ins Zentrum der Strategie“194. Unter diesem Gesichtspunkt bildete das Jahr 1963 keine echte Zäsur; verständlich wird die weitere Entwicklung erst vor dem Hintergrund der großen Entwicklungslinien im deutsch-französischen Verhältnis nach dem tiefen Einschnitt Ende der 1940er-Jahre. Die Homogenität der 1960er-Jahre beruht auf der übereinstimmenden Wahrnehmung der Bedrohung durch die Sowjetunion; sie war Voraussetzung für das Zusammenrücken der Bundesrepublik und Frankreichs im Sinne einer Annäherung wie auch einer Zusammenarbeit.

Mit den Pariser Verträgen von Oktober 1954, die bis 1990 die Grundlage der Beziehungen innerhalb des westlichen Staatenverbunds bildeten, begann auch erstmals in militärischer Hinsicht eine deutsch-französische Kooperation, zunächst primär im Zeichen einer Kontrollfunktion, die später in den Hintergrund trat; das dahinterstehende Prinzip formulierte ein französischer Diplomat 1954 als „die beste Kontrollmethode ist das Mitmachen“195. Rüstung und Luftfahrt waren die ersten Bereiche, in denen eine Kooperation stattfand, zunächst mit dem Verkauf französischer Erzeugnisse an Deutschland, später jedoch auch mit gemeinsamen Projekten, als sich ab 1956 das Konzept beider Länder als strategisches Paar innerhalb der NATO durchsetzte. Angesichts der Regelung der Saarfrage, des Ausbruchs der Suez-Krise und der gemeinsamen Besorgnis über die Militärstrategie der USA und die damit verbundene Exposition Europas war die Zeit günstig für eine Annäherung nicht nur im Rüstungsbereich, sondern auch in Bezug auf die zivile Nutzung der Atomenergie und die militärstrategischen Doktrinen. Nach dem deutsch-französischen Wirtschaftsausschuss, der im Mai 1956 erstmals zusammentrat, entstand mit dem Abkommen von Colomb-Béchar im Januar 1957 ein Militärausschuss. Die Fortschritte gingen so weit, dass Frankreich sogar überlegte, Deutschland an seiner Nukleartechnik teilhaben zu lassen. In den Jahren 1960–1962 bemühte sich Frankreich zum einen um eine Reform des Nordatlantik-Bündnisses mit der Forderung, Frankreichs Status auf Augenhöhe mit Amerikanern und Briten anzuerkennen und den Integrationsprozess gegen den Willen der USA nicht zu übereilen. Zum anderen strebte es aber auch die politische Umgestaltung Europas mit einem Ausbau der zwischenstaatlichen Kooperation an (Fouchet-Pläne). Die deutsch-französische Zusammenarbeit setzte sich im Bereich der konventionellen Waffen wie Geschütze, Panzer und Fahrzeuge fort. Im März 1960 gründeten die Verteidigungsminister Strauß und Messmer eine Arbeitsgemeinschaft, die den Austausch von Offizieren organisieren und die Strategiekonzepte beider Staaten koordinieren sollte196. Sie belegt, dass der Wunsch nach einer gemeinsamen Basis schon vor dem Élysée-Vertrag sehr ausgeprägt war. 1960 beschloss man regelmäßige Treffen der Verteidigungsminister und Besprechungen zwischen den Generalstäben. De Gaulle fasste den neuen Geist bei seinem Besuch in der Bundesrepublik am 7. September 1962 zusammen: „Die organische Zusammenarbeit zwischen unseren Armeen mit dem Ziel einer einzigen, identischen Verteidigung ist deshalb unverzichtbar für die Gemeinschaft unserer beiden Länder“197. Dieses Bewusstsein für die strategische deutsch-französische Schicksalsgemeinschaft gegenüber der Sowjetunion leitete de Gaulle bereits auf dem Weg zum Élysée-Vertrag198; es bildete einen wichtigen Mosaikstein in seinem europäischen Verteidigungssystem, das auf dem gemeinsamen Widerstand gegen die von den USA vertretene Strategie des abgestuften Gegenschlags fußte. Diese Flexible Response sah vor, einen feindlichen Angriff situationsabhängig zu erwidern, anstatt, wie von Frankreich befürwortet, potenzielle Angreifer mit der Drohung eines auf totale Vernichtung setzenden, sofortigen atomaren Gegenschlags abzuschrecken199. Bei der Berlin-Krise und später der Kuba-Krise hatte de Gaulle erkannt, dass die Amerikaner nur dann drohten und zu einem Präventivschlag bereit waren, wenn ihre eigenen Interessen auf dem Spiel standen. Er war deshalb überzeugt, dass Europas Sicherheit nicht durch die USA gewährleistet war, da sie ihre Bomben außer zur Verteidigung ihres eigenen Landes gar nicht einsetzen würden.

Der militärische Teil des Élysée-Vertrags wurde zwar nicht umgesetzt, doch berührte dies nicht die gemeinsamen Projekte. Noch 1963 und 1964 verständigten sich beide Länder auf die Produktion von Raketen, der Panzerabwehrlenkwaffensysteme MILAN und HOT und des Flugabwehrraketensystems Roland. Allerdings waren dies die einzigen Erfolge gegenüber der amerikanischen Gegenoffensive, Westdeutschland US-Rüstungsgüter zu verkaufen. Ab 1965 äußerte sich die Schieflage bei den Treffen auf Minister- und Generalstabsebene in so drastischen Unstimmigkeiten, dass die Vertragsbestimmungen in einen Zustand „tiefer Lethargie“200 verfielen: Die Franzosen waren immer weniger bereit, die Regierung Erhard bei Zugeständnissen gegenüber Washington zu unterstützen. Während für Bonn weiterhin die NATO Priorität hatte, verhärtete sich die Haltung in Paris. Ende 1964 sprach es sich offen gegen die Multilateral Force (MLF) aus, mit der die Vereinigten Staaten die deutschen nuklearen Ambitionen bequem befriedigen wollten, ohne ihre Führungsrolle in der europäischen Verteidigung aufzugeben. Angesichts des französischen Widerstands sowie massiver Vorbehalte auch auf britischer Seite verschwand die MLF schließlich wieder in der Schublade. Inzwischen war Paris jedoch nicht mehr bereit, bei seinem Streben nach mehr Unabhängigkeit innerhalb des Bündnisses auf Bonn zu warten, und preschte im Alleingang vor: Zur Demonstration seiner Stärke verlegte es sich in der EWG auf eine Politik des leeren Stuhls und kündigte darüber hinaus im März 1966 die Rückgewinnung der Entscheidungshoheit über den Einsatz französischer Truppen im Kriegsfall an201.

Bonn war darüber „entsetzt“202, wie der damalige Außenminister Couve de Murville berichtete, zumal dieser Schritt das politische wie rechtliche Problem aufwarf, welchen Status künftig die in Deutschland stationierten französischen Verbände haben würden. Deren Präsenz basierte nämlich auf der Überlagerung des siegermachtrechtlichen Stationierungsvorbehalts aus dem Jahre 1945 und des Aufenthaltsvertrags vom 23. Oktober 1954 sowie ihrer Verteidigungsfunktion im Rahmen des Bündnisses203. In einer Note an die französische Regierung vom 3. Mai 1966 argumentierte Staatssekretär Karl Carstens, da der Verteidigungsbeitrag der französischen Soldaten im Rahmen der integrierten Militärstruktur ihr „einziger Zweck“ sei, erlösche durch den Rückzug Frankreichs aus diesem System auch sein Anspruch auf eine Truppenstationierung in der Bundesrepublik. Die Rechtsgrundlage einer solchen Stationierung müsse nunmehr in einem multilateralen Rahmen, sprich dem der NATO, „im Hinblick auf die Grundsätze der Rechtsgleichheit und Gegenseitigkeit“ neu definiert und die Gültigkeitsdauer der Aufstellung und Mission dieser Verbände klar festgelegt204 werden. In Paris ging man dagegen davon aus, dass die neue Linie gegenüber der NATO die deutschlandpolitische Funktion dieser Truppen im Rahmen der Alliierten Vorbehaltsrechte nicht berührte und kein Anlass zu irgendwelchen Verhandlungen bestand. Die Situation war absurd: Frankreich konnte und wollte sich auf solche rechtlichen Erwägungen keinesfalls einlassen, schon gar nicht gegenüber Deutschland, auf dessen Staatsgebiet es ohnehin über Rechtspositionen verfügte und konkret auch Garnisonen einrichten durfte. Zudem kam nicht in Frage, den Einsatz französischer Truppen einer Entscheidung der NATO zu unterstellen, von der man sich ja gerade gelöst hatte: „Das kam einer Rückkehr in die NATO gleich, jedoch ohne deren Vorteile“205. In seiner Antwort vom 18. Mai wischte Frankreich diese Überlegungen kurzerhand vom Tisch und drohte mit einem Truppenabzug. Die anschließenden Verhandlungen entbehrten nicht einer gewissen Komik, denn beide Parteien taten so, als legten sie überhaupt keinen Wert auf einen Verbleib der Truppen in Deutschland, obwohl beide erpicht darauf waren. Der Bundeskanzler teilte schließlich mit, seine Regierung wünsche eine weitere Stationierung unter der Bedingung, dass die territoriale Souveränität davon nicht berührt würde. Die Franzosen erwiderten, sie würden ihre Truppen nur auf deutschen Wunsch dort stationiert lassen206. Im Dezember 1966 kam man schließlich zu einer Einigung, die es Frankreich gestattete, die deutschlandpolitische Funktion seiner Truppen zu bekräftigen, ohne aber eine Bindung des Aufenthaltsrechts an ihre Verteidigungsfunktion zuzulassen, sodass die doppelte Funktion der französischen Truppen in Deutschland, die deutschlandpolitische und die verteidigungspolitische, bis zur Wiedervereinigung aufrechterhalten blieb. Die operative Anbindung dieser Verbände an die NATO regelte im August 1967 das Ailleret-Lemnitzer-Abkommen, das zusammen mit den bis 1989 folgenden gut 40 weiteren Vereinbarungen die langfristige Tendenz zu einer immer besseren Verfügbarkeit der französischen Streitkräfte für die Verteidigung der Bundesrepublik207 dokumentierte.

Aus bilateraler Perspektive bewirkte der dezidierte Alleingang Frankreichs zunächst das Gegenteil von dem, was es zuvor angestrebt hatte. Der französische Rückzug aus der integrierten Militärstruktur nahm Deutschland die Entscheidung zwischen Paris und Washington ab, stärkte die Nähe zwischen Bonn und Washington, hatte keine Reform der NATO zur Folge und gab Bonn mehr Gewicht innerhalb des Bündnisses, denn fortan war es in die Festlegung der Atomwaffenstrategie einbezogen: Mit der Konstituierung der „Nuklearen Planungsgruppe“ der NATO gewannen die deutschen Verbündeten eine politische Teilhabe an den amerikanischen Atomwaffen. Aus der Perspektive der globalen Strategie war der Rückzieher Frankreichs aus dem integrierten Kommando der NATO nur im Zusammenhang mit seiner Öffnung in Richtung Moskau verständlich, unter anderem mit dem Besuch de Gaulles in der Sowjetunion: Gegenüber der dortigen Führungsriege trat er als Staatsoberhaupt eines selbstbestimmten Volkes208 und zugleich als Vertreter derjenigen europäischen Länder auf, die sich prinzipiell von der amerikanischen Bevormundung frei machen und sich ein Europa vom Atlantik bis zum Ural vorstellen konnten. Dass Frankreich allein vorpreschte, während die übrigen europäischen Staaten die Hände in den Schoß legten, nahm de Gaulle in Kauf. In strategischer Hinsicht konnte Willy Brandt schwerlich weiterhin das Loblied de Gaulles singen, wie er es zuvor über die mutigen wirtschaftlichen und kulturellen Alleingänge des Generals gegenüber dem Osten getan hatte. Auf seine Weise denke de Gaulle „das Undenkbare“ und habe „begonnen, daraus Folgen zu ziehen“, hatte Brandt am 15. Mai 1964 in New York erklärt, jedoch eingeschränkt: „Sicherheit für die freien Völker Europas gibt es auch künftig nur in der atlantischen Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten“209.

Der Aufbau der französischen Force de frappe verlief planmäßig, und am 24. August 1968 fand auf dem Pazifikatoll Mururoa der erste Wasserstoffbombentest statt. Die absichtliche Verschleierung der Bedingungen, unter denen Frankreich Kernwaffen einsetzen würde, war fortan integraler Bestandteil seiner Abschreckungsstrategie und machte die Situation für jeden noch so übermächtigen Feind unwägbar. Mit Besorgnis reagierten jedoch auch die deutschen Verbündeten, die nun von Frankreich öffentliche Zusicherungen forderten, möglichst in Form einer Ausweitung der unantastbaren „Schutzzone“ (sanctuaire national) auf Westdeutschland, zumindest aber, dass Frankreich auch im Fall eines Angriffs an der Elbe durch Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts mehr oder weniger automatisch die Atombombe einsetzen würde. Die Westdeutschen waren deshalb schon erleichtert, als im Juli 1974 feststand, dass die Force de frappe zur globalen Abschreckung der NATO beitragen würde. Das beinhaltete das „Valentin-Ferber-Abkommen“ zwischen dem Oberbefehlshaber der 1. Armee Frankreichs und dem für Mitteleuropa zuständigen NATO-Kommandanten, mit dem sich Frankreich wieder ein Stück weit der NATO annäherte.

Ein konkretes Problem für Deutschland entstand mit der Aufstellung des taktischen Waffensystems Pluton, einer französischen Kurzstreckenrakete mit einer Reichweite von 40 bis 120 km und einem Nuklearsprengkopf mit der gleichen Zerstörungskraft wie die Hiroshima-Bombe210. Taktische nukleare Boden-Boden-Raketen dieses Typs sollten als „letzte Warnung“ dienen211 und warfen je nach potenziellem Abschussort unmittelbar die Fragen auf, was zu dem Territorium gehörte, dessen Verletzung einen Vergeltungsschlag auslösen würde, und welches Gebiet von den dabei entstehenden Schäden betroffen wäre. Die grundsätzliche Entscheidungsfreiheit Frankreichs blieb als unveräußerliches Element seiner militärischen Abschreckung unantastbar, doch schlug der deutsche Verteidigungsminister Leber im Juni 1975 vor, die Pluton-Träger näher an die Ostgrenzen Westdeutschlands zu verlegen. Paris konnte sich jedoch nicht dazu durchringen, die Vorteile des „Bollwerks“ Bundesrepublik voll und ganz in Anspruch zu nehmen, denn es wollte sich auch weiterhin vorbehalten, seine Truppen nicht unbedingt gleich zu Beginn eines Krieges einzusetzen212.

Neben diesen strategischen Gesichtspunkten erschwerte oder verhinderte auch der veränderte Status der beiden Partner innerhalb der NATO eine bilaterale Kooperation in der Rüstungsindustrie oder bei technischen Neuerungen wie dem Bau einer Urananreicherungsanlage für zivile Zwecke. Abgesehen von einigen wenigen Erfolgen wie dem Schulflugzeug Alpha Jet Anfang der 1970er-Jahre scheiterten mehrere Initiativen aufgrund divergierender industrieller Interessen und der Abwesenheit Frankreichs in der Eurogruppe der NATO. Immerhin spricht es für den beiderseitigen guten Willen und die auch von de Gaulles Nachfolger anerkannte zentrale Rolle der deutsch-französischen Kooperation, dass Ende 1972 auf bilateraler Basis der Grundstein für die Europäische Weltraumorganisation und das Ariane-Projekt gelegt werden konnte.

Aufgrund ihrer unterschiedlichen Stellung innerhalb des Nordatlantischen Bündnisses und ihres ungleichen Handlungsspielraums waren beide Länder nicht im selben Rhythmus in die Hauptströmung der 1970er-Jahre eingebunden: die Entspannung und ihre Verwirklichung in den Sicherheitsgesprächen mit Moskau. Im Dezember 1967 hatte der nach dem belgischen Außenminister Pierre Harmel benannte Bericht den Grundsatz der Kompatibilität und Komplementarität von Sicherheit und Entspannung als Basis für die europäische Sicherheitspolitik der Allianz festgeschrieben. Deutlich wurde dies im Verhältnis zwischen den Supermächten mit der Wiederaufnahme der Gespräche über die nukleare Rüstungsbegrenzung (SALT-Verhandlungen) am 22. Juni 1973 beim Staatsbesuch Leonid Breschnews, der als erster Generalsekretär der KP der UdSSR in die Vereinigten Staaten reiste. In Europa bemühte man sich parallel dazu im Rahmen der Wiener MBFR-Gespräche (Mutual Balanced Forces Reduction) und der KSZE (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) um einen weiteren Spannungsabbau, indem man beim Thema Abrüstung und beim beginnenden Austausch die menschliche Dimension hervorhob213. Da bei beiden Konferenzen die Allianz als Ganzes am Verhandlungstisch saß, war im Vorfeld eine interne Abstimmung erforderlich, bei der sich Frankreich und die Bundesrepublik entsprechend ihrer Exponiertheit unterschiedlich stark engagierten214. Frankreich hatte sich insbesondere nicht dem „Signal von Reykjavik“ angeschlossen, das im Juni 1968 bei der NATO-Ministerratssitzung in der isländischen Hauptstadt Verhandlungen über eine gleichseitige Truppenverminderung in Gang gesetzt hatte. Bundeskanzler Brandt hatte dabei eine sehr aktive Rolle gespielt und sich für eine Reduktion konventioneller Streitkräfte ausgesprochen, denn sie stellte aus deutscher Sicht einen Schritt in Richtung auf ein neues Sicherheitssystem dar, das den Druck auf Deutschland und seine Nachbarstaaten erheblich mindern sollte. Naturgemäß war der Bundesrepublik mehr als den übrigen Westmächten an militärischem Spannungsabbau und politischem Ausgleich gelegen215. Als erster der westlichen Staats- und Regierungschefs begrüßte Brandt im September 1971 anlässlich seines Treffens mit Breschnew in Oreanda auf der Krim die sowjetische Idee einer großen Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit. In Paris ging man jedoch davon aus, dass die französische Interpretation der KSZE im Nachbarland nicht geteilt wurde: Mussten die Westdeutschen hinter dem sowjetischen Nachdruck nicht den doppelten Wunsch argwöhnen, den Status quo in Europa einschließlich der Grenzen zu fixieren und die Anerkennung der bestehenden politischen Ordnung in den Volksrepubliken Mittel- und Osteuropas zu erzwingen?216 Hierbei wird deutlich, wie der Vorgriff auf die Bedenken des anderen auch die Auslegung seines Verhaltens beeinflusste. Willy Brandt bemühte sich jedenfalls durch aktive Diplomatie um die Unterstützung der sogenannten N+N+Staaten (der neutralen und nichtgebundenen Staaten), die zum Fortschritt der Verhandlungen bis zur Schlussakte von Helsinki beitrugen217. Mit der feierlichen Unterzeichnung dieses Dokuments bei der Sitzung am 30. Juli/1. August 1975 verpflichteten sich die Teilnehmerstaaten für Gegenwart und Zukunft zur Wahrung und Unantastbarkeit der Staatsgrenzen, zum Gewaltverzicht und zur Achtung der Menschenrechte – also zu einem Kompromiss, von dem sich alle Beteiligten einen Vorteil versprechen konnten.

In der zweiten Phase der Konferenz waren daraufhin drei Kommissionen eingesetzt worden, in denen die großen Themen oder „Körbe“ der Gespräche über die Beziehungen zwischen den teilnehmenden Staaten „unabhängig von ihren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systemen“ behandelt wurden, „mit dem Ziel, zur Stärkung des Friedens und zur Verständigung zwischen den Völkern der Teilnehmerstaaten […] beizutragen“218: 1. Fragen der Sicherheit in Europa, 2. Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Umwelt und 3. Zusammenarbeit in humanitären Angelegenheiten. Den Westeuropäern ging es vorrangig um den dritten Korb, weil er günstigere Rahmenbedingungen für einen vermehrten Austausch in Sachen Kultur und Bildung anstrebte. Damit verbunden waren eine umfassendere Informationsübermittlung, eine Ausweitung der Kontakte zwischen Einzelpersonen und die Lösung humanitärer Probleme. Aus westeuropäischer Sicht ergänzte der Korb die Instrumente einer friedlichen Durchdringung und legte den Grundstein für ein Mitspracherecht hinsichtlich der Achtung der persönlichen Freiheit und der Menschenrechte in den Ostblockstaaten, hauptsächlich im Umgang mit Dissidenten. Die europäischen Medien bemängelten allerdings, die Schlussakte komme den Interessen der Sowjetunion allzu bereitwillig entgegen, die ohne größere Gegenleistungen den Segen des Westens zum territorialen und politischen Status quo erhalten habe und sich zudem unter Berufung auf die Schlussakte von Helsinki jeden Einmischungsversuch verbitten könne. Zwischen dem französischen Staatspräsidenten und dem deutschen Bundeskanzler kam es bei den Verhandlungen zu Unstimmigkeiten über die langfristigen Ziele, da Pompidou und seine Berater argwöhnten, unter dem Deckmantel der gemeinsamen westeuropäischen Intentionen verfolge Bonn eigene nationale Zwecke, die das empfindliche Gleichgewicht stören könnten. Beide Seiten sahen jedoch gleichermaßen in der Einsetzung der KSZE als permanentes Organ den doppelten Vorteil, „den Ostblock als Block zu erschüttern“ und „Gewaltakte und Brutalitäten“ seitens der Sowjetunion zu erschweren219.

Hinsichtlich des Truppenabbaus in Europa waren die divergierenden Haltungen dies- und jenseits des Rheins deutlicher, auch unter Schmidt und Giscard. Schmidt, der in Brandts erstem Kabinett als Verteidigungsminister fungiert hatte, war für eine Fortsetzung der MBFR-Verhandlungen als logischer Konsequenz der KSZE, weil Helsinki ein Beispiel für vertrauensbildende Maßnahmen darstelle220. Giscard d’Estaing lehnte die Teilnahme an den Verhandlungen weiterhin ab. Anders als die KSZE seien die MBFR-Verhandlungen eine Block-zu-Block-Veranstaltung gewesen221, und schon formal machten sie die alles beherrschende Dominanz der beiden Supermächte in Europa ebenso deutlich wie den nachgeordneten Rang der europäischen Völker. Dies war das Vermächtnis des französischen Außenministers im Kabinett Pompidou: Michel Jobert argumentierte 1973, dadurch, dass die MBFR die Europäer zu Objekten oder gar Geiseln der beiden Supermächte mache, könne sie die Gewährleistung der Sicherheit in Europa vollständig zunichtemachen. Hinzu kamen die konkrete Angst, die Reduzierung der Truppen zur Vorneverteidigung könne die Sicherheit Frankreichs gefährden, die strikte Weigerung, den Sowjets die geringste Mitsprache über die in Deutschland stationierten französischen Verbände zu gewähren, und die Sorge, die Schaffung einer Zone verminderter militärischer Präsenz in Mitteleuropa könne die Verantwortung Frankreichs im Rahmen des Viermächteabkommens in Frage stellen und sein Mitspracherecht in der deutschen Frage beeinträchtigen222. Unter Giscard lenkte Frankreich dann jedoch ein, mit Blick auf den Abrüstungsprozess und die indirekte Mitwirkung der Europäer an den SALT-Verhandlungen. Bei der außerordentlichen Sitzung der UNO-Generalversammlung zum Thema Abrüstung willigte Frankreich 1978 ein, einen Beitrag zur Vorbereitung zu leisten, schloss jedoch eine Einbeziehung französischer Truppen in die Verhandlungen kategorisch aus. Auch in den folgenden Jahren weigerte sich Paris hartnäckig, seine Streitkräfte zum Verteidigungspotenzial der Allianz zählen zu lassen. In den Ost-West-Gesprächen wurde diese Frage bis zur Auflösung der Sowjetunion zum Dauerbrenner.

Zeigte sich das gute deutsch-französische Verhältnis unter Schmidt und Giscard auch in einer konzeptuellen Annäherung bezüglich Strategie und Verteidigung, sprich in einer Annäherung Frankreichs an die NATO? Angesichts der immer offensichtlicheren wirtschaftlichen „Schicksalsgemeinschaft“ stellte sich in der Praxis die Frage nach der Vorneverteidigung und nach den Bedingungen für eine eventuelle Beteiligung französischer Truppen an der gemeinsamen Verteidigung gegen einen Angriff an der Elbe. Eine denkbare Lockerung der französischen Doktrin im Sinne einer „erweiterten Schutzzone“ (sanctuarisation élargie)223 zeichnete sich ab, als General Méry, Chef des französischen Generalstabs, am 1. Juni 1976 in einem Artikel in der Zeitschrift Défense nationale ausführte, Entscheidungsfreiheit bedeute nicht zwangsläufig Handlungsfreiheit, und es sei deshalb vorstellbar, dass sich die französische Armee an einem solchen „Vorwärtskampf“ (bataille de l’avant) gemäß Bündnisstrategie beteiligen würde, anstatt zu warten, bis die Grenzen des französischen Territoriums direkt bedroht würden. Nicht nur in der Strategiedoktrin, sondern auch in der Militärpolitik von Staatspräsident Giscard d’Estaing war eine gewisse Lockerung erkennbar. In einem Vortrag vor dem Institut des Hautes Études de Défense Nationale (IHEDN) sprach er sich gegen eine Politik des alles oder nichts aus und plädierte für eine Aufstockung der konventionellen Streitkräfte. Die Gaullisten im eigenen Land beschimpften ihn daraufhin als Atlantiker; nach der Formulierung Pierre Messmers, Ex-Premierminister und Ex-Verteidigungsminister de Gaulles, sahen sie in dem Entwurf für das Militärplanungsgesetz, der im Mai 1976 der Nationalversammlung vorgelegt wurde, aufgrund der darin vorgesehenen Kürzung der Ausgaben für die Nuklearwaffen eine ernsthafte Gefährdung für de Gaulles Konzept. Giscard schrieb später, dieser Vorwurf habe ihn nicht berührt, denn seiner Meinung nach sei der General dank seines „modernen, entwicklungsfähigen Denkens“ in der Lage gewesen, „sich flexibler als irgend jemand sonst an veränderte Umstände anzupassen“224. Angesichts der lautstarken Proteste diverser französischer Oppositionsgruppen gegen die Verlegung der Pluton-Raketen nach Deutschland machte Giscard jedoch einen Rückzieher und lehnte die von hohen Offizieren vorgeschlagene Kooperation der französischen Streitkräfte mit der deutschen Industrie ab225. In den Augen des Bundeskanzlers blieb Frankreich auch unter Giscard der „Aufrechterhaltung der Ideologie der Unabhängigkeit“ verhaftet, und der Boykott der Abrüstungsverhandlungen „war nicht sinnvoll“226. Bei den von Giscard angesprochenen neuen Umständen handelte es sich um die Aufstockung des sowjetischen Militärpotenzials, hauptsächlich dessen zahlenmäßige Überlegenheit in Europa, und den Widerstand gegen Atomwaffen in vielen europäischen Staaten, allen voran in der Bundesrepublik gegen die Neutronenbombe. Als Nichtmitglied der Nuklearen Planungsgruppe der NATO distanzierte sich Frankreich von dieser Problematik, die 1978 das Vertrauensverhältnis zwischen Bonn und Washington nachhaltig erschütterte. US-Präsident Carter hatte zunächst die europäischen Allianzpartner mehr oder weniger gezwungen, der Aufstellung dieser neu entwickelten Neutronenwaffen auf ihrem Staatsgebiet zuzustimmen, und Schmidt damit gegenüber der atomwaffenfeindlichen SPD in eine heikle Lage gebracht, am 7. April 1978 dann jedoch den einseitigen Beschluss der USA verkündet, die Produktion vorerst auszusetzen227. Diese Episode wirkte sich auch auf das deutsch-französische Verhältnis aus, denn die Verärgerung und sicher auch Enttäuschung über die USA auf westdeutscher Seite ließ beide Länder enger zusammenrücken und förderte ihre solidarische Haltung gegenüber dem Partner USA.

Die nach Wien in Belgrad stattfindenden MBFR-Verhandlungen verhinderten den Rüstungswettlauf in Europa nämlich keineswegs. Im Westen, vor allem im Bundeskanzleramt, wuchs die Beunruhigung über die Aufstockung der sowjetischen Kontingente in der sogenannten Grauzone, die bei den Abrüstungsverhandlungen ausgeklammert worden war, von der aus jedoch sowjetische Mittelstreckenraketen (SS-20) direkt Westdeutschland bedrohten. Die Initiative ergriff schließlich Schmidt. Ende Oktober 1977 rügte er in einer Rede am International Institute for Strategic Studies in London öffentlich das Fehlen eines strategischen Gesamtkonzepts im Westen und besonders das Kräfteungleichgewicht in Europa. Er wollte die USA dazu bewegen, die Einbeziehung der eurostrategischen sowjetischen Mittelstreckenraketen in die Abrüstungsgespräche zu fordern, denn seine größte Sorge war eine militärische Abkopplung Westeuropas von den USA228. Die Franzosen hielten sich zumindest offiziell aus dieser Debatte heraus, um die UdSSR nicht auf die Idee zu bringen, bei künftigen Verhandlungen die Berücksichtigung der französischen Waffen einzufordern.

Dennoch machte gerade die Unterstützung Giscards den Weg frei für den NATO-Doppelbeschluss, der im Jahr darauf am 12. Dezember 1979 in Brüssel unterzeichnet wurde. Die Idee entstand erstmals beim Gipfeltreffen vom 5. bis 7. Januar 1979 auf Guadeloupe (also auf französischem Staatsgebiet), das Schmidt und Giscard im Gegenzug zur als arrogant empfundenen Einberufung nach Washington durch Carters Berater Zbigniew Brzezinski bewusst als Einladung formulierten229. Erstmals saß die Bundesrepublik gleichberechtigt neben den Führern der drei Großmächte USA, Großbritannien und Frankreich, als der französische Staatspräsident im Rahmen eines diskreten Gipfeltreffens darauf pochte, die Sowjetunion vorrangig zu Verhandlungen über das Ungleichgewicht zu drängen, ihr aber auch klar zu verstehen zu geben, dass im Fall ihrer Weigerung gleichwertige amerikanische Waffen in Europa aufgestellt würden. Wie bei der Vorbereitung des Europäischen Währungssystems kamen bei diesem Gipfel die neuen Methoden des deutsch-französischen „Tandems“ in den 1970er-Jahren zum Zuge; sie beruhten auf der bewussten Wahrnehmung der Schwierigkeiten des Partners, aber auch auf der Erkenntnis, dass die geschickte Nutzung der jeweiligen Positionen die Chance zu einer für alle sinnvollen Vereinbarung eröffnete. Frankreich hielt es nämlich keineswegs für erstrebenswert, dass Westdeutschland durch Aufnahme aller neuen US-Waffensysteme seine Sonderstellung in der Allianz weiter stärkte, und plädierte für eine Verteilung auf mehrere NATO-Staaten. Der Doppelbeschluss bot den Sowjets Verhandlungen über den Abzug ihrer SS-20-Mittelstreckenraketen an, drohte aber für den Fall eines Scheiterns mit der Aufstellung der eurostrategischen US-Mittelstreckenraketen (Pershing II) ab 1983. In Wahrheit handelte es sich, wie sich in der Rückschau zeigt, um ein „doppeltes Missverständnis“ hinsichtlich der tatsächlichen Erwartungen der Europäer, der Absichten von Europäern und Amerikanern und der Deutung der jeweiligen Erwartungen, denn die Bundesregierung hatte gar nicht vorgehabt, eine Nachrüstung zu fordern, sondern wollte in erster Linie eine „Risikogemeinschaft“ der Vereinigten Staaten und Westeuropas begründen, „die eine begrenzte Kriegsführungsoption der USA in Europa politisch ausschließen sollte, indem sie diese militärisch unmöglich machte“230. Einer der Grundpfeiler der gegen die Aufrüstung gerichteten Friedensbewegung war allerdings die Angst vor dem genauen Gegenteil, nämlich der Gefahr, dass die Bundesrepublik in einen Krieg hineingezogen würde, der anderswo ausbrach, jedoch militärisch in Europa ausgetragen wurde. „Der Schutz durch die Vereinigten Staaten begann sich aus dieser Sicht umzukehren in eine Gefährdung durch die USA, als Folge eines aus europäischer Sicht vielleicht unangemessenen Reagierens Washingtons im Krisenfall“231. Diese Phase zeigt deutlich die Diskrepanz zwischen Frankreich und Westdeutschland, weniger im Hinblick auf ihren formalen Status innerhalb der Allianz als auf die äußerst begrenzte Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik. Ihre Außenpolitik unterlag in höherem Maße externen Faktoren und exogenen Herausforderungen, die nicht nur die öffentliche Agenda bestimmten, sondern auch die Anpassung an die politischen Haltungen der Partner forcierten und spürbare Zwänge mit sich brachten232. Um sich nicht in die Spirale des Misstrauens hineinziehen zu lassen und jedem Zweifel an ihrer Loyalität vorzubeugen, bemühte sich die Bundesregierung, Konflikte mit den Amerikanern gar nicht erst aufkommen zu lassen. Hierbei spielte die deutsch-französische Beziehung eine entscheidende Rolle, denn Frankreich konnte sogar in den Bereichen seiner „Abstinenz“ wie der Rüstungsbegrenzung233 laut und deutlich die Bedenken äußern, die Deutschland und großenteils auch Frankreich selbst bewegten.

Dieses Phänomen verstärkte sich mit zunehmender Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen anlässlich des sowjetischen Einmarschs in Afghanistan Ende Dezember 1979 und der Polenkrise genau zwei Jahre später. Washington reagierte darauf mit wirtschaftlichen Sanktionen gegen Moskau (Lieferstopp für Getreide und Hightechprodukte) und setzte Bonn unter Druck, um der Bündnissolidarität willen ebenfalls ein Embargo gegen den Ostblock zu verhängen. Der Einsatz von Wirtschaftssanktionen als politische Waffe im Ost-West-Konflikt widersprach radikal der Philosophie der Ostpolitik, die schon vor den Abkommen der frühen 1970er-Jahre die Beziehungen mit Osteuropa geprägt hatte. Analog zur westdeutschen Magnettheorie glaubten auch die Franzosen an die Vorzüge des Handels bis hin zu seiner friedenstiftenden Wirkung, von der Berater Samuel Pisar den Staatspräsidenten überzeugte. Seit Ende der 1950er-Jahre, besonders zur Zeit der Unterzeichnung des Handelsabkommens mit der UdSSR im April 1958, sah Bonn den Handel als Faktor, der für Stabilität und im Idealfall für Einflussnahme stand234. Nicht zuletzt auf Betreiben der Wirtschaft schloss man von März 1963 bis März 1964 mit Bulgarien, Ungarn, Polen und Rumänien Verträge über die Einrichtung von Handelsvertretungen. Politische und wirtschaftliche Interessen überschnitten sich; in diesem Sinne ist der deutsch-sowjetische Handelsvertrag von 1972 ebenso zu werten wie der mit Breschnew im Mai 1973 in Bonn geschlossene Kooperationsvertrag235. Die Bundesrepublik setzte dabei auf das gleiche wirtschaftliche Zusammenarbeitsmodell wie Frankreich, d.h., eine gemischte Kommission wickelte den Austausch mit der Sowjetunion ab. In Paris zeigte man sich allerdings bald besorgt über die rapide Zunahme der deutsch-sowjetischen Handelsbeziehungen im Laufe der 1970er-Jahre, die vor allem dem deutschen Export zugute kam. Bei Werkzeugmaschinen erreichte der deutsche Absatz rasch schwindelerregende Höhen: Allein 1977 nahm die UdSSR 16 % der Produktion ab, also doppelt so viel wie Deutschlands zweitgrößter Kunde Frankreich236. Moskau gegenüber operierten Deutschland und Frankreich im Rahmen eines „gesunden Wettbewerbs“ jeweils auf eigene Rechnung, machten jedoch 1982 gemeinsam Front gegen die US-Anweisung, sich an den Handelssanktionen zu beteiligen, primär mit einer Aussetzung des Erdgas-Röhren-Geschäfts unter dem Vorwand, der Tausch westeuropäischer Rohre gegen sowjetisches Erdgas stelle einen inakzeptablen Technologietransfer an ein expandierendes feindliches Land dar237.

Zwanzig Jahre zuvor hatte es bereits einen Präzedenzfall gegeben. Durch eine Entscheidung des Nordatlantikrats hatte die US-Regierung die letzte Regierung Adenauer 1963 zum Rücktritt von einem Liefervertrag mit der Sowjetunion über 163.000 Tonnen Stahlrohre der westdeutschen Firmen Hoesch, Mannesmann und Phoenix-Rheinrohr gezwungen. US-Präsident Kennedy hatte sich 1962 persönlich an Adenauer gewandt und nichts Geringeres angedroht, als dass die USA sich aus der Verteidigung der Bundesrepublik und West-Berlins zurückziehen würden. Jedes Handlungsspielraums beraubt, hatte die Bundesregierung das geforderte Embargo verhängt und Italien und Großbritannien das Geschäft überlassen238. Im Juni 1982 wandten sich die USA unter Reagan gegen sechs europäische Staaten und Japan, die sich den Bau einer Pipeline für die Ausbeutung der sibirischen Erdgasvorkommen teilten. Vor dem Hintergrund der zweiten Ölkrise und der dadurch notwendigen Suche nach alternativen Erdöllieferanten entwickelte die Angelegenheit Dimensionen, die die Beschneidung der Handelsfreiheit von 1963 bei weitem übertrafen. Mit einer Protestnote an die US-Regierung reagierte die EWG auf die automatische Ausweitung des für US-Firmen geltenden Embargos auf deren europäische Tochtergesellschaften, aber auch auf Unternehmen, die mit US-Lizenzen arbeiteten. Da in Frankreich die Compagnie générale des Pétroles Klage vor dem Europäischen Gerichtshof erhob und die britische Regierung den Unternehmen sogar die Einhaltung des Embargos verbot, stand die Bundesrepublik im transatlantischen Konflikt nicht allein da. Obwohl die Amerikaner mit Berlin ein wirksames Druckmittel gegen die Bundesregierung in der Hand hatten, und obwohl im amerikanischen Kongress Stimmen laut geworden waren, die eine künftige Stationierung von US-Schutztruppen in Deutschland von der Einstellung des Erdgas-Röhren-Geschäfts abhängig machen wollten239, blieb Bonn hart, diesmal mit Argumenten, die gegenüber der US-Regierung mehr Gewicht besaßen als die von 1963: der unleugbaren arbeitspolitischen Dimension der Angelegenheit aufgrund des schmerzhaften Strukturwandels im Ruhrgebiet, den Folgen der Revolution im Iran 1979 für die künftige Beschaffung von Erdöl aus der Golfregion, aber auch dem Schulterschluss der Europäer, die an der Entspannungspolitik festhalten wollten und an einer Neuauflage des Kalten Krieges keinerlei Interesse hatten. Der deutsche und französische Kurs war in diesem Fall unbestreitbar derselbe. Zwei Jahre zuvor war das nicht der Fall gewesen, als Giscard beim Boykott der Olympischen Spiele 1980 in Moskau gegenüber Bonn wortbrüchig wurde. Schmidt war trotz seiner Vorbehalte bereit gewesen, gemeinsam mit Giscard dem Druck Carters nachzugeben, doch letzten Endes blieben nur die westdeutschen Sportler zu Hause, während die französischen nach Moskau fuhren, wenn auch in Zeichen der olympischen Flagge240. Für die Bundesrepublik war dies ein doppelter Affront: Dass der Sport im Allgemeinen und der olympische Gedanke im Besonderen von der internationalen Politik in Beschlag genommen wurde, war bittere Realität seit der Ermordung israelischer Olympioniken durch die palästinensische Terrororganisation „Schwarzer September“ ausgerechnet auf deutschem Boden bei den Spielen 1972 in München; dass zu den Wettkämpfen andere Interessen hinzukamen, machte die Grenzen der Solidarität ebenso deutlich wie die so unterschiedlichen weltpolitischen Handlungsspielräume Westdeutschlands und Frankreichs. In der Konfrontation mit Reagan 1982 bewies die Bundesrepublik dann erheblich mehr Mut, sich den Anordnungen Washingtons zu widersetzen, diesmal mit Unterstützung der französischen Regierungskreise.

Diese wurden sich zunehmend der Probleme bewusst, vor denen ihre Verbündeten aufgrund ihrer geostrategischen Lage und ihres Sonderstatus standen, denn das Gefälle im Ost-West-Kräfteverhältnis legte eine Nachrüstung nahe, doch die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik sprach sich immer entschiedener gegen die neuen Waffen und für einen demonstrativen Pazifismus aus. Die frühen 1980er-Jahre bieten insofern einen hochinteressanten Blickwinkel auf den tatsächlichen Stellenwert der deutsch-französischen Verständigung in einer Phase, in der von einer Annäherung keine Rede sein kann. Deutliche Unterschiede bestanden hinsichtlich der Volksmeinung, der Einstellung zu strategischen Fragen und des Engagements für den Frieden. Während in der Bundesrepublik eine atomfeindliche friedensbewegte Haltung bis in die Parteienlandschaft hinein, allen voran in der SPD, in der jungen Partei „Die Grünen“ und den „neuen Bewegungen“ an Boden gewann, zeigte sich Frankreich weitgehend indifferent und desinteressiert. In dieser Diskrepanz spiegelt sich, wenn wohl auch kein Nationalegoismus, so doch ein „Betroffenheitsfaktor“ im Sinne des konkreten, materiellen Betroffenseins. In Westdeutschland stand dahinter die Vorstellung, man werde als Standort eines Waffenarsenals missbraucht, das die ganze verrückt gewordene Menschheit ausradieren könne, und laufe noch dazu Gefahr, im Namen der Verteidigung völkerübergreifender ideologischer Anliegen selbst mit Waffengewalt ausradiert zu werden. Den Franzosen war diese Denkweise weitgehend fremd. Der Blick auf ihre friedensbewegten Nachbarn löste bei ihnen Unbehagen aus, gepaart mit echter Sorge um die Deutschen ebenso wie um sich selbst und die eigene „Sicherheit“. In den französischen Medien machte sich eine in Deutschland vermutlich überbewertete241 Angst vor der viel beschrienen westdeutschen „Neutralismuswelle“ breit, verbunden mit der mehr als unterschwelligen Befürchtung, vom Nachbarland womöglich verraten zu werden: Der Slogan „lieber rot als tot“ kursierte in Frankreich bezeichnenderweise auf Deutsch. Insbesondere in der französischen Führungselite setzte sich dieser Gedanke fest. Mehrere Zukunftsstudien aus den Archiven des Élysée-Palasts konstatierten in der Bundesrepublik ein tiefgreifendes „Unbehagen“, das die Autoren auf die unausrottbare heimliche Hoffnung der Deutschen auf eine Wiedervereinigung zurückführten242. Vom Hirngespinst und der entsprechenden Deutung der Realität bis zur konkreten Beunruhigung war es nur ein kleiner Schritt, und so mutierte die Angst der Franzosen um ihre Sicherheit in Angst vor den Deutschen als (potenzielle) Unruhestifter. Der Slogan „Les fusées sont à l’Est, les pacifistes sont à l’Ouest“ (Im Osten stehen die Raketen, im Westen die Pazifisten) spiegelte dieses diffuse Gefühl genauso wie die völlig rationale Einschätzung des neuen Staatspräsidenten François Mitterrand, der in der SPD im Umfeld Willy Brandts eine größere Angst vor den noch nicht einmal stationierten US-Raketen ausmachte als vor den längst gegen Westeuropa gerichteten sowjetischen Waffen. Auf die SPD-interne Formulierung „Sicherheit lässt sich nicht herbeirüsten“243 und das Einschwenken der SPD im Dezember 1982/Januar 1983 auf die von den Sowjets geforderte Einbeziehung französischer und britischer Atomwaffen in die Verhandlungen244 konterte der französische Präsident mit einem Konzept, das François Mitterrand am 20. Januar 1983 in seiner berühmten Rede vor dem Bundestag ausführte: Er bekräftigte das Eintreten Frankreichs für den NATO-Doppelbeschluss und insbesondere die Aufstellung von Pershing-II-Raketen in Westdeutschland für den Fall, dass die Sowjetregierung nicht abrüste. Aufgrund dieser expliziten Schützenhilfe für den neuen Bundeskanzler Kohl, aber auch nachträglich für seinen Amtsvorgänger Schmidt, der gegen Brandt und gegen die SPD auf Härte und Konsequenz gepocht hatte, unterstellte man dem neuen Staatspräsidenten im eigenen Land, ein verkappter Atlantiker zu sein. Mitterrands Parteinahme zu internen Angelegenheiten des Nordatlantik-Bündnisses, aus dessen integrierter Militärstruktur sich Frankreich selbst ausgeklinkt hatte, erklärt sich aus seinem feinen Gespür für die zunehmende Verstimmung zwischen Bundesrepublik und NATO, aus dem Ernst der Lage und seiner Erkenntnis, dass Frankreich nicht daran gelegen sein konnte, wenn sich in Westdeutschland eine Art „Gaullismus“ entwickelte und womöglich zum Bruch mit der Allianz führte. Da Mitterrand aus dieser Sorge heraus sogar die gaullistische „Abstinenz“ aufgab, dürfte seine öffentliche Stellungnahme zum Thema Mittelstreckenraketen245 eher auf einer strategischen Problemanalyse als auf irgendeiner NATO-freundlichen Haltung beruht haben. Es handelte sich nicht um eine Deckungsgleichheit französischer und deutscher Interessen, sondern um eine „zahnradartige Mechanik komplementär gelagerter Interessen“, denn Mitterrand war bereit, die deutsche Haltung zur Verteidigung zu unterstützen, solange dies die französische Doktrin der nuklearen Abschreckung nicht berührte246. In seiner Rede befürwortete er nicht nur die Stationierung von Pershing-Raketen, sondern priorisierte auch den Erfolg der laufenden Gespräche und bewies damit den festen Willen, im Rahmen einer ausgewogenen Lösung auch die militärischen Bestimmungen des Élysée-Vertrags wieder in Kraft zu setzen.

Gerade das ist neu in dieser Phase, ebenso wie gewisse Unklarheiten, etwa die ausdrückliche Formulierung, die „lebenswichtigen Interessen“ Frankreichs beträfen primär den „inneren Kreis“ des eigenen Staatsgebiets, was jedoch die Option offenließ, auch den Nachbarstaat unter ein solches elementares Interesse zu subsumieren, worüber man jedoch erst zu gegebener Zeit entscheiden wolle. Noch vor Schmidts Abwahl hatten er und Mitterrand am 25. Februar 1982 beschlossen, die bilaterale Abstimmung und Annäherung erneut zu vertiefen, zum einen durch die Organisation von gemeinsamen Treffen der Außen- und Verteidigungsminister anlässlich der Gipfeltreffen und zum anderen durch die Gründung einer Kommission für Verteidigung und Sicherheit mit drei Gremien für politisch-strategische Koordination, Rüstungskooperation und militärische Zusammenarbeit247. Die Bundesrepublik drängte Frankreich zu einer Stellungnahme zur konzertierten Abschreckung, zum Procedere für einen Angriff und zu einer möglichen Annäherung Frankreichs an die NATO-Kommandostruktur im Kriegsfall. Frankreichs Reaktion folgte jedoch der Doktrin, auch bei den Bedingungen für den Einsatz der am 1. Juli 1984 im Zuge der Umstrukturierung der Landstreitkräfte gegründeten „Schnellen Eingreiftruppe“ (Force d’Action Rapide). Bezüglich der französischen Atomwaffen erklärte Mitterrand gereizt, er könne sich vorstellen, die Westdeutschen sogar zu konsultieren, sofern es um deren Staatsgebiet gehe, doch stehe eine gemeinsame Entscheidung nicht zur Debatte. Die Beziehung zwischen Élysée-Palast und Kanzleramt war mittlerweile „alltäglich, vertraut, organisch“248, und immerhin bot Mitterrand mehr an als die Briten und Amerikaner, die sich lediglich verpflichteten, Westdeutschland über den bevorstehenden Einsatz von Nuklearwaffen zu „informieren“. Völlig ausgeschlossen war jedoch eine Ausdehnung der französischen Abschreckungsstrategie auf Europa, wo grundsätzlich nur konventionelle Waffen in Frage kamen249.

In Frankreich erkannte man sehr wohl, dass die Bundesrepublik die Bevormundung durch die USA satt hatte, und war beunruhigt über die als „Krieg der Sterne“ bekannt gewordene Strategische Verteidigungsinitiative (SDI) der USA, zugleich jedoch enttäuscht, dass Bonn in dieser Frage nicht ebenso wie beim GATT gemeinsam mit Paris Front gegen Washington machte250. Der von Mitterrand und Kohl bei ihrem Treffen am 28. Mai 1985 am Bodensee eingeleitete Wandel im Sinne einer Straffung der militärischen Zusammenarbeit und des Aufbaus einer gemeinsamen strategischen Linie erklärt sich aus der Verärgerung über Ton und Hintergedanken der Regierung Reagan ebenso wie aus den ganz neuen entspannungspolitischen Perspektiven durch die Ernennung Michail Gorbatschows zum Chef der sowjetischen KP und der Sowjetunion. Mitterrand regte zudem die Gründung der europäischen Forschungsinitiative EUREKA an und setzte den europäischen Gestaltungsprozess wieder in Gang, indem er den Luxemburger Kompromiss in Frage stellte, der mit der Vorschrift der Einstimmigkeit der von Frankreich betriebenen Politik des leeren Stuhls ein Ende gesetzt hatte251. Auch die erste Kohabitation änderte 1986 nichts an diesem Kurs, denn Premierminister Chirac und Staatspräsident Mitterrand waren nicht nur einer Meinung über die Politik Reagans, die einen von vielen Auslösern für die europäische Relance darstellte, sondern befürworteten beide eine klarere strategische Verpflichtung gegenüber Europa und Westdeutschland.

Auch wenn Helmut Schmidt im Nachhinein erklärte, er sei „stolz“ auf den Doppelbeschluss, weil er selbst zum Einlenken Moskaus und damit letztlich Anfang Dezember 1987 zur Unterzeichnung des INF-Vertrags durch Reagan und Gorbatschow in Washington beigetragen habe, hatte er ebenso wie Bundeskanzler Kohl allen Grund zur Sorge, als Reagan im Oktober 1986 beim Gipfel in Reykjavik ohne Abstimmung mit seinen europäischen Partnern die Halbierung des Bestands an europastrategischen Mittelstreckenraketen aushandelte, mit dem Endziel einer Nulllösung252. Dies kündigte den graduellen Abzug des größten Teils der taktischen US-Waffen aus Europa an und stellte so die US-Atomwaffengarantie für die Bundesrepublik in Frage. Bundeskanzler Kohl sah darin einen guten Grund für eine neuerliche strategische Annäherung an Frankreich und griff im Juni 1987 Mitterrands Vorschlag einer deutsch-französischen Brigade begeistert auf. Die ersten Folgen waren das im September in Süddeutschland gemeinsam absolvierte Militärmanöver „Kecker Spatz“ und die deutsche Anregung, auf höchster Ebene einen deutsch-französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat mit ständigem Gremium einzurichten253. Zur Bedingung machte Frankreich die Schaffung eines Wirtschafts- und Finanzrats zur engeren ökonomischen Koordination der beiden Staaten, da die deutsche Wirtschaftsmacht jenseits des Rheins als sehr beeindruckend empfunden wurde254. Die Gründung der NATO-unabhängigen Brigade wurde anlässlich der 50. Deutsch-französischen Konsultationen im November 1987 in Karlsruhe bekannt gegeben, die Einrichtung der beiden neuen bilateralen Räte im Januar 1988 beim 25. Jubiläum des Élysée-Vertrags, der durch die zwei neuen Zusatzprotokolle wieder zur Grundlage der militärischen Kooperation im ursprünglich vorgesehenen Sinn wurde. Als weiteres Gemeinschaftsprojekt wurde bei dieser Gelegenheit der Bau eines Kampfhubschraubers beschlossen.

Während die Welt zwischen 1989 und 1992 einen tiefgreifenden Wandel durchmachte, kehrten Westdeutschland und Frankreich zu dem 1963 eingeschlagenen Kurs zurück, mit geeigneten Werkzeugen gemeinsame Konzepte zu entwickeln und die materielle „Interoperabilität“ beider Armeen – so der Abkommenstext – zu verbessern255. In dem Vierteljahrhundert seit Vertragsschluss hatte es manchen Um- und Abweg gegeben. Krasse Unterschiede zeigten sich nicht nur in der Position beider Staaten im Rahmen der Allianz, sondern auch hinsichtlich ihres Stellenwerts innerhalb der Dreiecksbeziehung mit den Vereinigten Staaten. Die Bundesregierung hatte sich angesichts der wachsenden Spannungen äußerstenfalls erlaubt, zwischen den beiden Supermächten zu vermitteln, um eine Wiederaufnahme der unterbrochenen Gespräche zu erreichen. Schmidt hatte, mit seinen Besuchen in Moskau und Ost-Berlin auf dem Höhepunkt der Ost-West-Krise 1980/1981, die Entwicklungen zumindest am Rande zu beeinflussen versucht, indem er den „ehrlichen Makler“ spielte256. Dieselbe Taktik hatte auch Frankreich verfolgt. So warf Mitterrand Giscard vor, er habe 1980 nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan als „kleiner Telegrammbote“ fungiert, und betätigte sich selbst als Vermittler zwischen den Blöcken, indem er nach seiner Rede im Bundestag 1983 die Kontakte zu Moskau intensivierte und zugleich an Kritik an die Adresse Washingtons nicht sparte. Über die Konkurrenz hinaus zeigt sich darin von westdeutscher Seite das systematische Streben nach Frieden und mehr Harmonie im westlichen Lager, und von französischer Seite das systematische Streben nach Unabhängigkeit und einem gewissen Maß an Kontrolle durch die fortgesetzte Einbettung der Bundesrepublik in Europa257. Geblieben sind primär der europäische Ansatz und das Bemühen um eine Bestätigung der kontinentalen Identität angesichts des zunehmenden Misstrauens innerhalb des westlichen Lagers und angesichts des sich mehr und mehr aufdrängenden Eindrucks, dass Amerikaner und Europäer in den Ost-West-Beziehungen unterschiedliche Prioritäten und Friedenskonzepte verfolgten.

In der Geometrie der internationalen Beziehungen wurde das deutsch-französisch-amerikanische Dreierverhältnis nun mehr und mehr zum gleichschenkligen Dreieck, da die deutsch-französische Seite sich im europäischen Kontext allmählich verkürzte. Allerdings musste man behutsam vorgehen, um die drei Seiten keiner übermäßigen Spannung auszusetzen. So urteilte Mitterrands Berater Hubert Védrine über die späten 1980er-Jahre: „Das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und den USA ist der hauptsächliche Hintergedanke in der deutsch-französischen Beziehung. Die Westdeutschen tun so, als hinge ihre Sicherheit nicht von Washington ab und als hätten die Amerikaner nichts dagegen, wenn sich aus der Beziehung zwischen Paris und Bonn eine übereinstimmende europäische Verteidigungslinie formiert. Die Franzosen ihrerseits tun so, als unterlägen die Deutschen keinerlei Verpflichtungen und wären erpicht auf einen einheitlichen europäischen Verteidigungskurs. Abgesehen von gelegentlichen verbalen Entgleisungen hüten sie sich deshalb, Bonn bei der Entscheidung zwischen Paris und Washington unter Druck zu setzen, da dies die Grundvoraussetzung für weitere Fortschritte darstellt“258.

Diese Fortschritte konnten, wie wir noch sehen werden, erst nach dem deutschen Vereinigungsprozess und nach dem Ende des Kalten Kriegs im Kontext der europäischen Relance der 1990er-Jahre zustande kommen.

189 KLESSMANN 1988 [157], S. 68.

190 KOHL 2005 [81], S. 88.

191 Aus dem Harmel-Bericht von Dezember 1967, zit. HAFTENDORN 1988 [212], S. 60.

192 HAFTENDORN 2001 [214], S. 13 u. 15. Zur Theorisierung des außenpolitischen Handlungsspielraums HAFTENDORN in HAFTENDORN/RIECKE 1996 [213], S. 13.

193 Der Titel von HAFTENDORN 2001 [214] lautet „Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung“.

194 SOUTOU 1996 [372], S. 15. Ein wichtiges Werk hinsichtlich Verteidigung, Sicherheit und Strategien. HEUSER 1997 [361]; HEUSER 1998 [362].

195 Brief von Jacques Martin, zit. in ebd., S. 38.

196 SOUTOU 1996 [372], S. 158. Zur deutschen Atomwaffenpolitik KÜNTZEL 1992 [365].

197 DE GAULLE 1970 [55], Bd. 4, S. 12f.

198 Den Begriff der Schicksalsgemeinschaft verwendete Mitterrand später explizit als Kohl-Zitat, MITTERRAND 1986 [88], S. 105.

199 VAÏSSE 1998 [227], S. 382.

200 SOUTOU 1996 [372], S. 271.

201 VAÏSSE/BOZO/MÉLANDRI 1996 [376]. Zu den Ursachen der NATO-Krise und insbesondere den Problemen, die sich daraus für Deutschland ergaben, siehe HAFTENDORN in HAFTENDORN/SOUTOU/SZABO/WELLS 2006 [507], S. 77–102, insb. 80–84; dazu, dass Frankreich die Krise nicht allein auslöste, BOZO in ebd., S. 103–125.

202 Zit. in VAÏSSE 1998 [227], S. 387.

203 Zum komplexen Status der französischen Truppen in Deutschland siehe SAUDER in HAFTENDORN/RIECKE 1996 [213], S. 159–185. Die Aufenthaltsrechte waren neben generellen Vorbehaltsrechten der drei Westalliierten (bezüglich Deutschlands als Ganzes sowie Berlins) und neben der Einschränkung der Souveränität der Bundesrepublik mit der alliierten Verantwortung im Deutschlandvertrag von 1952 bzw. in seiner modifizierten Fassung von 1954 festgeschrieben.

204 RUEHL 1976 [367], S. 133–135; SOUTOU 1996 [372], S.293; VAÏSSE 1998 [227], S. 580. Zur Abwicklung des französischen NATO-Austritts mit den diversen Partnern ebd., S. 390–394.

205 RUEHL 1976 [367], S. 135.

206 Einzelheiten und Ergebnisse der Verhandlungen in SAUDER in HAFTENDORN/RIECKE 1996 [213], S. 166–177.

207 Ebd., S. 179; RUIZ-PALMER 1987 [368]; BOZO in HAFTENDORN/SOUTOU/SZABO/WELLS 2006 [507], S. 114f.

208 VAÏSSE 1998 [227], S. 381.

209 HILDEBRAND in MOLLER/VAÏSSE 2005 [256], S. 117.

210 SOUTOU 1996 [372], S. 330.

211 Die hinter dem Einsatz stehende Doktrin erläutert GISCARD D’ESTAING 1991 [70], S. 192f.

212 RUEHL 1976 [367], S. 417f.

213 Trotz des Bemühens gelang es der Bundesrepublik nicht, KSZE und MBFR institutionell und zeitlich zu verzahnen, HAFTENDORN 1988 [212], S. 65; GHEBALI 1989 [330]; LOTH 1998 [334].

214 HAFTENDORN 1988 [212], S. 64.

215 Ebd., S. 67f.

216 Es gibt in der Forschung die anders lautende Auslegung in HAFTENDORN (in MÖLLER/VAÏSSE 2005 [256], S. 7 u. 9), dass Brandt die MBFR und die KSZE unterstützte; hingegen bleiben SOUTOU (in MOLLER/VAÏSSE 2005 [256], S. 146 und SOUTOU 1996 [372], S. 334) anhand französischer Archivunterlagen dabei, die Deutschen hätten Vorbehalte gegen die KSZE gehabt.

217 HAFTENDORN in MOLLER/VAÏSSE 2005 [256],S. 9.

218 Schlussempfehlungen der Helsinki-Konsultationen von Juni 1973.

219 Zitiert nach dem Archiv des französischen Staatspräsidenten bei SOUTOU in MÖLLER/VAÏSSE 2005 [256], S. 146 u. 147.

220 Rede am 23.9.1978 in Hamburg, vgl. MIARD-DELACROIX 1993 [254], S. 58 u. 316f.

221 HAFTENDORN 1988 [212], S. 65.

222 Zit. in MIARD-DELACROIX 1993 [254], S. 316f.; SCHMIDT 1990 [98], S. 279.

223 Am 10. Februar 1975 erklärte Premierminister Chirac: „Wir dürfen uns nicht damit begnügen, unser eigenes Staatsgebiet zum ‚Sanktuarium’ zu erklären; wir müssen über unsere Grenzen hinweg blicken“, publiziert in: Revue de Défense nationale, Mai 1975.

224 GISCARD D’ESTAING 1991 [70], S. 194.

225 Vorgeschlagen von General Buis und Admiral Sanguinetti im Nouvel Observateur vom 20.8.1979 und 10.9.1979, vgl. MIARD-DELACROIX 1993 [254], S. 312. 1980 gab es mehrere Anzeichen für ein strategisches Umdenken Giscards, das eine Aufstockung der Verteidigung Deutschlands zur Folge haben konnte, darunter die Bekanntgabe der Fertigstellung einer französischen Neutronenbombe und des Raketenprojekts Hades als Nachfolger von Pluton. Diese Vorhaben wurden jedoch von der Bundesrepublik nicht mehr begrüßt, da man dort eher auf konventionelle Streitkräfte setzte. SOUTOU 1996 [372], S. 368.

226 SCHMIDT 1990 [98], S. 278 u. 279.

227 HAFTENDORN 1986 [211], S. 105 unterstreicht die Meinungsverschiedenheiten in der Führung der SPD. WIEGREFE 2005 [228], S. 389 erklärt die Verschärfung der deutschamerikanischen Gegensätze unter Carter durch den „Mangel an Expertenwissen in Washington“ und durch das Fehlen von „Einfühlungsvermögen im Weißen Haus“.

228 Erwähnung und Details in SCHMIDT 1987 [97], S. 230. HAFTENDORN 1986 [211], S. 103 u. 171f.

229 SCHMIDT 1996 [99], S. 267. Zur Arroganz gemäß mündlichen Erinnerungen Schmidts MIARD-DELACROIX 1993 [254], S. 322. Giscard verschweigt diese Episode beim detaillierten Bericht über die Einladung nach Guadeloupe, GISCARD D’ESTAING 1991 [70], S. 363–367; SCHMIDT 1987 [97], S. 231. Die deutsch-amerikanische Forschung schätzt den persönlichen Beitrag Giscards geringer ein, WIEGREFE 2005 [228], S. 228.

230 HAFTENDORN 1986 [211], S. 170; HAFTENDORN 1988 [212], S. 16.

231 HAFTENDORN 1988 [212], S. 17. Die Anschuldigungen gegen die Regierung Reagan hält die Autorin für ungerechtfertigt: „Es war primär eine Folge von Verschiebungen im internationalen Kräftegleichgewicht und von Veränderungen in der Militärtechnologie und Ökonomie“, S. 19.

232 KIELMANSEGG in RAITHEL/RÖDDER/WIRSCHING 2009 [175], S. 141–150.

233 SCHMIDT 1990 [98], S. 278.

234 WOLFF VON AMERONGEN 1992 [229], S. 12. Rede Brandts beim DIHT am 26.2.1971, in BRANDT 1971 [48], S. 269.

235 WILKENS 1999 [384], S. 225; BAHR 1996 [44], S. 245.

236 WILKENS 1999 [384], S. 226.

237 Nachdem die US-Regierung bereits 1979 unter Jimmy Carter ein Embargo auf Getreide und Hightechprodukte für die UdSSR verhängt hatte, griff die Regierung Reagan unter dem Deckmantel sicherheitspolitischer Bedenken unmittelbar in den westeuropäischen Handel mit Moskau ein, ENGELS/SCHWARTZ in HAFTENDORN/RIECKE 1996 [213], S. 227–242, hier S. 235.

238 Details in ebd., S. 228–232 u. 239; SCHWARZ 1983 [186], S. 301; KOSTHORST 1994 [381], S. 109.

239 ENGELS/SCHWARTZ in HAFTENDORN/RIECKE 1996 [213], S. 234f. und Details aus den Seiten 238–242.

240 MIARD-DELACROIX 1993 [254], S. 280–286.

241 Z.B. bei ZIEBURA 1997 [275], S. 281–283.

242 MIARD-DELACROIX 1999 [170], S. 554; MIARD-DELACROIX in MOLLER/VAÏSSE 2005 [256], S. 241f.

243 Ebd., S. 240. Zur „Identitätskrise der SPD“ S. 242.

244 Diese Auffassung wurde u.a. von Egon Bahr propagiert, ebd.

245 BOZO 2005 [470]; Wells in HAFTENDORN/SOUTOU/SZABO/WELLS 2006 [507], S. 287–307; MITTERRAND 1986 [88],S.43.

246 WIRSCHING 2006 [196], S. 519. SOUTOU 1996 [372], S. 379.

247 KAISER/LELLOUCHE 1986 [364], S. 51; LEIMBACHER 1992 [366].

248 VÉDRINE 1996 [106], S. 405 u. 407.

249 Detailliert SCHABERT 2002 [488], S. 224f.

250 Ebd., S. 404; MITTERRAND 1986 [88], S. 55.

251 SOUTOU 1996 [372], S. 385. Die Entscheidung für eine Reform der EWG fiel Anfang Dezember 1985 im Europäischen Rat in Luxemburg auf der Grundlage eines deutsch-französischen Einverständnisses, KOHL 2005 [81], S. 380. Siehe Kap. II. 8. Deutschland und Frankreich als gemeinsamer Motor Europas, S. 307.

252 SCHMIDT 1996 [99], S. 268; KOHL 2005 [81], S. 442.

253 ATTALI 1994 [43], Bd. 2, S. 336f., 363–365, 378–381 u. 392. Kohl widerspricht Attali allerdings in Bezug auf das Weiterbestehen des Vorschlags, den Mitterrand Kohl zufolge beim Gipfel in Venedig am 9. Juni 1987 beim Frühstück machte, KOHL 2005 [81], S. 586f.

254 SOUTOU 1996 [372], S. 391f.

255 Zweck des Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrats war nach Artikel 4 seines Gründungsprotokolls die Ausarbeitung gemeinsamer Konzeptionen auf dem Gebiet der Verteidigung und der Sicherheit; Sicherstellung einer zunehmenden Abstimmung zwischen beiden Staaten in allen die Sicherheit Europas angehenden Fragen, einschließlich des Gebiets der Rüstungskontrolle und der Abrüstung; Beschlussfassung hinsichtlich der gemischten Militäreinheiten, die im gegenseitigen Einvernehmen aufgestellt werden; Beschlussfassung im Hinblick auf gemeinsame Manöver, auf die Ausbildung von Militärpersonal sowie auf Unterstützungsvereinbarungen, mit denen die Fähigkeit der Streitkräfte beider Länder gestärkt wird, sowohl im Frieden als auch im Krisen- oder Verteidigungsfall zusammenzuarbeiten; Verbesserung der Interoperabilität der Ausrüstung beider Streitkräfte; Entwicklung und Vertiefung der Rüstungszusammenarbeit unter Berücksichtigung der Notwendigkeit, zur Sicherung der gemeinsamen Verteidigung ein angemessenes industrielles und technologisches Potential in Europa aufrechtzuerhalten und zu stärken.

256 HAFTENDORN 1988 [212], S. 66.

257 SOUTOU 1996 [372], S. 381.

258 VÉDRINE 1996 [106], S. 292f.

WBG Deutsch-Französische Geschichte Bd. XI

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