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Als ich am 8. Januar 1921 geboren wurde, war es in der Eifel bitter kalt. Das Haus meiner Eltern in Gerolstein hatte die Schlossapotheke im Erdgeschoss und die Wohnräume in den Etagen darüber. Mein Vater, Ferdinand Winter, führte die Apotheke mit Hilfe meiner Mutter, die ihm bei der Buchführung und beim Verkauf zur Seite stand und natürlich ebenfalls den Haushalt leitete. Es gab noch keine Zentralheizung im Haus; die Küche wurde durch den Herd beheizt, das Wohnzimmer durch einen Brikettofen und in den Schlafzimmern wurde die Kälte durch dicke Plumeaus und Wärmflaschen ausgeglichen.

Meine Mutter hatte für mich ein Kindermädchen angestellt, die unter anderm dafür zuständig war, in regelmäßigen Abständen die beiden Wärmflaschen in meinem Bettchen zu erneuern. Wärmflaschen haben leider die Angewohnheit, zunächst zu heiß und dann ziemlich schnell zu kalt zu werden Ich bekam aufgrund dessen eine schwere Bronchitis, so ernsthaft, dass ich drei Wochen lang aufrecht getragen werden musste, weil mir sonst die Luft wegblieb.

Unser Hausarzt Dr Levi wohnte direkt der Apotheke gegenüber, und wenn während der Nacht mein Gesicht wegen Sauerstoffmangels bläulich anlief, zog mein Vater seinen Mantel über den Schlafanzug und rannte über die verschneite Straße, um den Arzt zu holen. Dr Levi kam auch immer prompt, gab mir eine Spritze und wartete, bis die Krise vorüber war. Alle müssen sehr erleichtert gewesen sein, als es mir endlich wieder besser ging. Nach dem kalten Winter kam ein heißer Sommer und erzeugte einen Qualitätswein, der sicher zwanzig Jahre seinen sagenhaften Ruhm bewahrte. Mein Vater war so glücklich über meine Geburt gewesen und auch seiner lieben Frau so dankbar, dass er mich, ohne Rückfrage bei der Mutter, auf denselben Namen:“Else“ beim Standesamt eintragen ließ. So gab es nun „Else“ und „Elschen“.

Es ging mir nach dieser ersten Attacke gut, bis es meinen Eltern auffiel, dass ich das rechte Beinchen nachzog, als ich anfing zu laufen. Dr Levi überwies mich an einen sehr guten Kinderarzt in Trier, der dann bei mir eine Luxation feststellte. Damit die Hüfte sich festigen konnte, musste ich nach damaligen orthopädischen Erkenntnissen neun Monate in Gips. Muttis Schwester Frieda, von Beruf Krankenschwester, war in Kassel mit Onkel Paul verheiratet und hatte ein Töchterchen namens Ursel in meinem Alter.

In Kassel gab es auch eine Kinderklinik und einen engagierten jüdischen Arzt, der mich dort aufnahm. Es war natürlich schrecklich für mich, bewegungsunfähig im Bettchen zu liegen, ich war ja erst zwei Jahre alt und konnte natürlich nicht verstehen, warum ich in dieses Gipsgefängnis musste. Die einzige Erinnerung, die ich bewusst an diese Zeit habe, ist an eine Krankenschwester, die mit mir auf dem Arm ins Spielzimmer ging; als ich sehnsüchtig den andern Kindern beim Spielen und Herumkrabbeln zusah, tröstete sie mich mit den Worten: „Das kannst du bald auch wieder!“ Tante Frieda kam jeden Tag mit meiner Kusine Ursel, damit sie mit mir spielen konnte. Als meine Mutti nach Wochen endlich nach Kassel kommen konnte, brauchte ich eine Weile, bis ich sie wiedererkannte und strahlend sagte: „Meine Mutti!“ Bis dahin hatte ich Tante Frieda so genannt.

Meine Mutti konnte aber nicht bei mir bleiben, weil sie in Gerolstein gebraucht wurde. Am 4. Dezember 1922 war mein kleiner Bruder Hans geboren worden, der mein ständiger Begleiter wurde, sobald er laufen konnte. Außerdem brauchte Vati seine Frau in der Apotheke dringend. Er konnte nämlich kein Französisch, hatte aber oft Kunden aus französischen Familien, die noch als Teil der Besatzungsmacht im Rheinland lebten, wie es im Vertrag von Versailles festgelegt war. So stand Mutti oft mit dem kleinen Hans auf dem Arm in der Apotheke und dolmetschte. Es wurde einfacher für sie, als ich wieder zu Hause war und mich bald für meinen kleinen Bruder verantwortlich fühlte.

Das zeigte sich bei einem Vorfall im übernächsten Sommer: Mutti hatte sich mit der Familie des Grafen von der Schulenburg angefreundet, der den Gerolsteiner Sprudel übernommen hatte. Die beiden erwachsenen Kinder gingen in dem heißen Sommer gern im Flüsschen Kyll vor der Quelle schwimmen und luden Mutti mit uns Kindern dazu ein. Während die „Großen“ nun im Wasser plantschten, hatte man uns auf eine Insel aus Wasserpflanzen in der Mitte des Flusses gesetzt, wo wir uns wie auf einem Schiff fühlten. Auf einmal merkte ich, wie der kleine Hans abrutschte, und ich konnte ihn gerade noch an seinem karierten Höschen festhalten. Er ließ sich unbewegt und steif wie ein Brett auf dem Rücken treiben, ohne ein Lebenszeichen zu geben; nur ich brüllte aus Leibeskräften, bis uns die jungen Leute bemerkten und zur Rettung herbeischwammen.

Da Hänschen wenig redete, aber öfters etwas Unvorhersehbares tat, merkte ich immer zuerst, wenn er etwas vorhatte. So waren wir mit unsern Eltern einmal zu einem feierlichen Essen bei Bürgermeisters eingeladen. Ich sah, wie Hans mehrmals auf seinen Teller und dann zur Frau des Hauses hinaufblickte, die einen beachtlichen Busen hatte. Auf einmal ergriff er seinen Teller und mit der Bemerkung: “Ich kann mein Tellerchen auch dahin stellen.“ – stellte er ihn auf besagten Busen. Einen betroffenen Augenblick hielten die Gäste den Atem an, bevor sie in großes Gelächter ausbrachen; aber Mutti wäre am liebsten in den Boden versunken.

Hans hatte seinen eigenen Kopf: so gab er nie jemandem zur Begrüßung sein Händchen, aber noch weniger gern sagte er Gedichte auf, auch nicht für seine Mutti. Als unsere Mutti Geburtstag hatte, sollten wir beide ein kleines Gedicht aufsagen, was für mich kein Problem war, aber Hans sah brummig vor sich hin und sagte kein einziges Wort. Als man ihn dann drängte, sagte er nicht:

Du liebes liebes Mütterlein,

ich wünsch Dir heut viel Glück!

nein, er sagte: „Du böses, böses Mütterlein“

Mutti nahm den kleinen Trotzkopf auf den Arm und nie wieder hat ihn jemand aufgefordert, ein Gedicht aufzusagen. Für mich war er eine gute Aufgabe, und wir haben uns nie gestritten – aber viele Jahre habe ich noch Alpträume von meinem neunmonatigen Gipsgefängnis gehabt, und da war es gut, dass ich nicht allein war.

Als ich in die Schule kam, kannte ich keines der Kinder und war die einzige Protestantin in einer katholischen Umgebung. Da sich erst nach und nach herausstellte, dass ich kurzsichtig war und nicht sehen konnte, was die Lehrerin an Tafel schrieb, war ich auch keine gute Schülerin. Das änderte sich bald, da ich in Rechtschreibung und vor allem Gedichtvortrag besser als alle andern war. Die andern Mädchen konnten mich offenbar gut leiden; denn ich durfte beim Spielen auf dem Hof immer die Prinzessin sein, bis sich die Lehrerin mal einmischte, um mich aus dem Kreis der andern zu entfernen, sodass ich weinend abseits stand. Erst als ich mich dann mit der allgemein beliebten Maria Weyand anfreundete, die wie die andern katholisch war, war der Bann gebrochen.

Nur im Fach „Religion“ wurde ich als eine Art Antichrist dargestellt, sodass ich mich zu den drei jüdischen Kindern in unserer Klasse gesellte, Außenseiter wie ich, die mich dann zum Matzenessen mit nach Hause nahmen. Maria hatte eine evangelische Großmutter, sodass im Hause Weyand Toleranz herrschte. Als Maria zur Kommunion ging, durfte ich zur Nacht und zur Kissenschlacht bei Weyands bleiben, was für uns Mädchen der größte Spaß war, da Maria noch zwei Schwestern hatte und das Ganze zu viert noch viel schöner war. Obwohl Weyands wegen ihres kleinen Elektrogeschäfts wenig Platz hatten, fühlten Hans und ich uns dort genauso wohl wie umgekehrt die Mädchen bei uns. Unsere Freundschaft hat ein ganzes Leben gehalten.

Meine schönsten Kindheits- und Jugenderinnerungen stammen aus den Jahren 1927–1935. Sie bewegen sich zum einen natürlich um Unternehmungen mit Freunden, insbesondere Fahrradtouren, die wir gemeinsam gemacht haben, und zum andern um unsere alljährlichen Sommerferien mit Mutti an der Ostsee. Ich habe die beiden Themenkreise getrennt erzählt, weil beide eine Einheit für sich bilden, obwohl sie sich natürlich chronologisch überschneiden,. Für die „Ferien an der Ostsee“ bin ich zum Jahr 1927 zurückgegangen, für die „Freiheit auf zwei Rädern“ zum Jahr 1932, in dem wir unsere Fahrräder zu Weihnachten bekamen.

Ferien an der Ostsee

Als ich in die Schule kam, begannen für Hans und mich auch die Ferien an der Ostsee; nachdem ich seit meinen neun Monaten in Gips immer noch appetitlos war, empfahl der Kinderarzt die gute Seeluft. Bis wir in Dahme aber so heimisch waren, dass wir uns am Strand und auf dem Meer befreit von allen Zwängen fühlten, verging noch ein Jahr. Die Bahnfahrt von Gerolstein nach Travemünde war für uns Kinder schon recht weit, aber dann begann ja noch die Seefahrt mit dem Bäderdampfer, die wir später besonders genossen und schon als einen Teil der Ferien ansahen. So aber beschloss unsere Mutti, uns erst einmal eine Woche bei Opa und Oma in Hagen einzuquartieren.

Wir Kinder waren gern in Hagen, weil die Oma uns verwöhnte und der Opa gutmütig zusah. Die Wohnung lag, von der lebhaften Elberfelder-Strasse abgeschirmt, am ruhigen Humboldplatz, wo wir Kinder mit den Nachbarskindern ungestört spielen konnten. Die begrüßten uns auch freudig, und dieses Mal konnte ich ihnen etwas Neues bieten: ich zeigte ihnen, auf dem Bauch auf dem Bürgersteig liegend, meine Schwimmkünste, die sie dann nachahmten. Danach mussten die Sommerkleidchen in die Wäsche! In der Mitte des Platzes stand eine dreiarmige eiserne Laterne, die ich zur Mutprobe als Klettergerüst auswählte. Auch das war keine gute Idee.

Und so kam Oma zu dem Entschluss, dass Opa mit uns etwas unternehmen müsse. Auf diese Weise kamen wir mitsamt unserer Nachbarskindern mit Opa in die „Deschenhöhle“, die voll ist von Stalaktiten und Stalakmiten. Es waren außerdem eine Bahnfahrt, eine Wanderung und ein Picknick damit verbunden, sodass alle glücklich waren. Jetzt war Oma an der Reihe. Da sie nicht wanderte, setzte sie sich mit uns in die Straßenbahn und wir fuhren zusammen durch ganz Hagen bis zur Endstation, wo es ein Waldcafé gab, das uns mit Kakao und Mohrenköpfen verwöhnte. Mohrenköpfe waren ein Gebäck so zwischen sahnegefüllten Windbeuteln und Negerküssen. Oma hoffte, dass ich damit etwas an Gewicht zunähme. Opa sagte nur:“Wie die Backen, so die Hacken.“ Er meinte damit, wer tüchtig isst, der arbeitet auch gut.

Nun wohnte in der unteren Etage des Hauses eine liebe, alte Frau, die uns einlud, in ihre Wohnung zu kommen, wo wir mit Zuckerglasur überzogene Zwiebäcke bekamen, die wir noch nicht kannten, die uns aber gut schmeckten. Oma sagte, das sei eine arme Frau, und wir sollten sie nicht besuchen. In Gerolstein gab es auch eine arme Frau, die Mutti gerade deshalb oft mit uns besuchte; also blieben wir dabei und merkten, dass wir der alten Dame Freude machten.

Dann kam Mutti, um mit uns weiterzufahren an die See; aber sie musste im Schnellverfahren unsere Kleider waschen, bevor wir starten konnten. Die Fahrt verlief ganz angenehm, bis der Zug von Hamburg nach Lübeck Verspätung hatte und Mutti befürchtete, dass wir den Zug nach Travemünde versäumen würden; aber als wir auf den Bahnsteig kamen, stand der Zug noch da, und der Schaffner wollte gerade das Zeichen zur Abfahrt geben, als er Mutti mit dem Koffer und den Kindern sah. Er riss schnell noch eine Tür auf und reichte Mutti den kleinen Hans nach. Dann fuhr der Zug davon. Als er sich umdrehte, stand da noch ein kleines Mädchen und sah tränenüberströmt dem Zug nach. Nun hatte der Schaffner ein schlechtes Gewissen und ein gutes Herz. Er nahm mich also mit in sein Schalterhäuschen und tröstete mich: gleich käme noch ein Zug nach Travemünde, und er würde dort anrufen, dass ich damit käme. Er vertraute mich dann zwei netten Damen an, die mich mit Schokolade und Zureden beruhigten. Mutti nahm mich dankbar in Empfang und die erste Seereise unseres Lebens führte uns nach Dahme.

Wir staunten über die lange Landebrücke, auf der wir später viel spazieren gingen und vom Brückenkopf ins Wasser sprangen. Am Ende der Brücke, wo sie auf den Sandstrand traf, saßen viele sonnengebräunte Urlauber, die einen Sprechchor anstimmten, als sie die ersten Neuankömmlinge erblickten:

„Die Sonne scheint uns auf den Bauch,

soll sie auch, soll sie auch!

Oh, wie blaaaaaß.....“

Wir fanden, dass dies kein schöner Willkommensgruß sei. Aber wie oft haben wir später mit allem Übermut daran mitgewirkt! Auf der Promenade erwarteten die Dienstmänner mit ihren Transportwägelchen die Reisenden. Bei unserm stand auf dem Mützenrand: „Hotel Reshöved“. Wir hatten noch einen ziemlich weiten Weg bis zu unserem Hotel, das ganz am Ende der Promenade hinter dem Deich lag. Es war ein 3-Sterne-Hotel, das sicher unsere Großeltern bezahlt hatten, weil die Apotheke zu diesem Zeitpunkt noch nicht viel einbrachte. In den nächsten Tagen erkundeten wir den Strand und die Wiesen hinter dem Deich, wo überall Sport getrieben wurde, aber immer freuten wir uns auf den Abend, wenn wir mit den andern Kindern aus unserer Pension draußen spielen konnten.

Es dauerte auch nicht lange, bis ich meinen ersten, richtigen Freund hatte: es war ein Blondschopf im roten Trainingsanzug, Hänschen Seifert aus Essen, der mich seinerseits ins Herz geschlossen hatte. Wir waren bald unzertrennlich und er nannte mich sein „kleines Schokoladenmännchen“; in dem Alter spielt offenbar das Geschlecht noch keine Rolle. Meistens spielten wir mit dem Ball, aber manchmal schauten wir auch dem Hausmeister zu, der Gemüse und anderes für den nächsten Tag vorbereitete. So waren wir an einem Abend ganz entsetzt, als ein Huhn ohne Kopf an uns vorbeiflatterte. Der Grund war, dass die Hühner für den andern Tag getötet und gerupft wurden. Der Mann erklärte uns, dass die Hühner nichts mehr merkten, aber die Reflexe oft noch arbeiteten. Unsere Mütter sorgten aber dafür, dass solche Aktionen nicht mehr stattfanden.

Eines Abends kamen wir, müde vom Spielen, in den Vorraum zum Speisesaal und sahen zu unserm Erstaunen einen Seemann, der in aller Ruhe dort sein Abendessen einnahm. Neugierig, wie Kinder sind, pirschten wir uns an den Fremden heran, der uns seinerseits freundlich beobachtete. Dann fragte er uns lächelnd, ob wir ihm Gesellschaft leisten wollten. Sofort krabbelten wir rechts und links auf die Stühle und, nachdem wir uns alle bekannt gemacht hatten, ging er auf unsere Fragen ein. Er erzählte uns, sein Minensuchboot läge am Brückenkopf vor Anker und er sei gerade von einer Weltumseglung mit der „Gorch Fock“ zurückgekehrt. Ich fragte: „Um die ganze Welt? Um Amerika und Afrika und Indien?“ „Ja“, sagte er, „und wir haben ein Jahr dafür gebraucht.“ Als wir fragten, wo es denn am schönsten gewesen sei, meinte er: „Indien“. Und dann erzählte er von Indien, von den Palästen der Maharadschas, von den Elefanten, die reich geschmückt über die Straße zogen, von den Frauen in ihren bunten Gewändern und den Fakiren, vor deren Flöte Schlangen tanzten. Wir hörten mit roten Wangen und strahlenden Augen zu und wollten lange nicht ins Bett gehen. Auch später haben mich selbsterlebte Geschichten immer am meisten fasziniert. Wir sahen am andern Morgen das Meer mit ganz andern Augen, die verheißungsvolle Weite, hinter der irgendwo Indien lag, und ganz tief drinnen war schon die Sehnsucht nach der Ferne geweckt.

In den nächsten Jahren wechselten unsere Quartiere, aber die Hauptsache: der Strand mit unserm Strandkorb und unserer Burg, blieben dieselben. Wir lernten es lieben: das Rauschen der Wellen, den warmen Sand unter unsern Füßen, den Geruch von Salzwasser und Tang und natürlich das Schweben im bewegten Wasser. Bald durften wir an Segeltörns teilhaben und auch selber im kleinen Boot rudern. Die Welt am Wasser wurde uns vertraut und ein Teil unseres Lebens.

Am 30. März 1930 wurde unsere kleine Schwester Renate geboren. Ich war schon neun Jahre, Hans sieben und unsere Mutti 39 Jahre alt. Wir freuten uns natürlich über das niedliche kleine Wesen, das auch weiterhin recht pflegeleicht war. Nur, nach Dahme konnten wir in diesem Sommer nicht und verlegten daher unsere Ferienaktivitäten auf die Munterley. Zusammen mit meiner Freundin Maria und ihrer Schwester Gertrud zogen wir jeden Morgen an den „Möllenborn“, der hinter der Papenkaule entspringt. Immer dabei war eine 3 - Liter-Kanne, die Weyands mit geweihtem Wasser von Lourdes mitgebracht hatten, und die mit entsprechenden Bildern geschmückt war. Wir versuchten auf einfache Art, mit Blätterbetten und offenem Feuer, wie Höhlenmenschen zum Beispiel im „Buchenloch“ zu leben, das ganz in der Nähe lag. Unser Vater war in seiner Freizeit mit Ausgrabungsarbeiten am Caivatempel beschäftigt, und wir halfen manchmal dabei. Der Tempelbezirk wurde 124 AD von einem ansässigen Römer namens Marcus Victorius Polentinus zu Ehren der gallischen Göttin Caiva gespendet. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wieviele Weihfigurinen der Göttin mein Vater dort fand und an das Trierer Römisch-Germanische Museum weitergab.

An die See kamen wir erst wieder im übernächsten Jahr, im Sommer 32, als wir „Großen“ den Keuchhusten gerade überstanden hatten, die kleine Renate sich aber angesteckt hatte. Mutti hoffte, dass der Klimawechsel die Krankheit verkürzen würde. Nun wollten uns die „Dahmer“ nicht gerne aufnehmen wegen der Ansteckungsgefahr. Die Bedingung war schließlich, dass wir eine Wohnung in einem abgesonderten Haus mieten sollten, und dass der Strandkorb am Fischerstrand etabliert würde. Mutti erklärte sich zu allem bereit und nahm dann noch Tante Hilde zur Hilfe mit. Wir schliefen alle in demselben Zimmer, außer Tante Hilde natürlich, und konnten zusehen, wie Mutti bei jedem Hustenanfall Renate hochnahm und ihr half. Das Kinderbettchen stand gleich neben ihr am Fenster. Erst nach einer Woche ging es etwas besser, und nach drei Wochen konnten wir aus der Isolation wieder unter andere Menschen, woran Hans und ich uns erst wieder gewöhnen mussten; denn wir waren in den drei Wochen ganz zufrieden gewesen, aber richtig verwildert. Da wir ja nur im Familienkreis aßen, brauchten wir uns kaum zum Essen umzuziehen und liefen nur im Badeanzug herum, bis eine Dame mir auf dem Heimweg voller Abscheu sagte: „Igittigittt, kannst du dich denn nicht wenigstens am Sonntag anständig anziehen?“ Hans und ich hatten keine Probleme mit der Isolation: das Gelände am Meer mit den hohen Steilwänden bot vielen Vögeln Unterschlupf. Im Wasser gab es Seesterne und Krebse, im Tang lagen viele schöne Muscheln – wir hatten immer zu tun.

In früheren Jahren hatte ich alle „Nesthäkchen-Bücher“ gelesen. Jetzt waren wir bei Karl May angekommen. Onkel Rudi, der mich ein paar Tage mit nach Hamburg nahm, hatte das gesehen und gab mir nun „Winnetou“ zu lesen. Das war ja nun das Größte, und als mich Mutti mit dem Taxi und zwei seekranken Kindern abholen wollte, rief ich zum Fenster hinaus: “Ich kann noch nicht kommen, Winnetou stirbt gerade!“ Onkel Rudi trennte mich kurz entschlossen von „Winnetou“ und wir konnten mit der ganzen Familie in Hamburg den Ferienzug nach Hause erreichen.. Dieser Zug war eine neue Einrichtung bei der Bahn und ersparte uns das Umsteigen. Dafür waren die Plätze numeriert, und die Züge fuhren meistens nachts. Auch jetzt ging es in den Abend, und wir halfen uns, indem wir Renate im Gepäcknetz schlafen legten und den Koffer herunternahmen, um darauf Karten zu spielen. Vati war froh, uns gesund wieder zu Hause zu haben – und für Mutti begann wieder der arbeitsreiche Alltag.

Als wir älter wurden, freuten wir uns jeden Sommer auf die Ferien in Dahme, umso mehr, weil wir viele liebe Bekannte dort trafen. Im Sommer 1935 kamen sogar noch Freundinnen unserer Mutti mit, sodass es auch für sie viel Abwechslung gab. Ich fühlte mich mit meinen 14 Jahren stark und unternehmungslustig – ich hatte sogar meine Hohner-Ziehharmonika mitgebracht, um zu üben und zu musizieren. Da wir durch den allgemeinen Aufschwung und die Westwallarbeiten mehr Geld in der Apotheke hatten, wurde ich von Mutti eingekleidet: ich bekam einen Strandanzug mit weiter roter Hose und einem Jäckchen mit Matrosenkragen, was sehr dekorativ aussah. Auch mein dunkelblau-weiß gestreifter Badeanzug, mit roter Kordel und schulterfrei, sah sehr gut aus.

Hans und ich liebten jetzt besonders die Segelpartie mit „Onkel Julius“, einem echten Seemann, der aber typischerweise nicht schwimmen konnte. Ich saß gewöhnlich vorn auf dem Bug, hoch über Wellentälern und Wogen und ließ mir den Wind um die Nase wehen. Manchmal durfte ich das Boot auch steuern, was den Dutzend Mitfahrenden manchmal zu abenteuerlich vorkam. Wenn dann die Wellen zu hoch wurden, nahm „Onkel Julius“ Hans und mich mit zur Schleuse, wo wir ihm beim Segeleinholen halfen. Wir nahmen jede Gelegenheit wahr, uns seemännisch zu betätigen. Als wir mit Mutti und unsern Freunden Sietas mit dem Motorboot nach Burg auf Fehmarn fuhren, wechselten wir uns am Steuer ab. Es war etwas anderes, mit einem Steuerrad nach dem Kompass zu steuern, als den Steuerknüppel beim Segeln festzuhalten. Damals war Burg noch ein Städtchen mit Fachwerkhäusern, Kopfsteinpflaster und einer alten, verträumten Kirche. Der Strand war schmal, aber das Seewasser deutlich wärmer als in Dahme, wegen der günstigen Südlage. Von den drei Türmen der Hotelbauten, die wir Jahre später als Silhouette von Dahme aus am Horizont sehen konnten, war noch keine Spur. So wanderten wir ein bisschen durch den Ort, aßen Eis, besichtigten die Kirche und fuhren wieder nach Dahme zurück.

Renate, die ja nun schon fünf Jahre alt war, war am Strand geblieben, weil sie leicht seekrank wurde. Wir waren aber jetzt viel mit ihr zusammen, wir brachten ihr das Schwimmen bei, indem wir sie vom Bootssteg aus an der Leine hielten, wobei sie noch ziemlich viel Wasser schluckte; aber ein Meer ohne Wellen gibt es nun mal nicht. Wir zeigten ihr auch, wie man rudert, und bald kurvte sie allein im Boot um die Stege. Dann war noch Sport angesagt: wir sprangen dann von der Promenade mit Anlauf in den Sand.

Als dann unsere Dortmunder Freunde mit ihren Müttern ankamen, hatten wir wieder weniger Zeit für sie. Günter, genannt „Sonny“ (sein Nachname war „Sohn“),war in Dortmund bei der Marine H.J. und er hatte dort das Morse-Alphabet sowie die Flaggensprache gelernt. Wir zogen uns dann auf den alten Fischerstrand zurück, wo wir vor allem das Flaggenalphabet mit je zwei kurzen Fahnen auf Entfernung üben konnten. Zum Morsen mussten wir den Abend abwarten, weil man die Morsezeichen dann auf das Blinken von Taschenlampen übertragen konnte. Schön war es auch, abends auf der Deichmauer zu sitzen, Ziehharmonika zu spielen und zu singen, während der Mond sein Licht auf die Wellen warf. Wir haben dort alles erlebt, die romantische Weite des Meeres, aber auch das stürmische, dunkle Brausen der Wogen, ganze Nächte lang

Als wir eines Morgens, im noch dunstigen Frühnebel, an den Strand kamen, lag in fast greifbarer Nähe, wie uns schien, ein großes Schlachtschiff der Kriegsmarine. Für mich war es das erste Mal, dass ich so etwas sah, und ich empfand es in erster Linie als Bedrohung. Günter aber war ganz begeistert und machte Hans und mir den Vorschlag, zu dem Schiff zu schwimmen. Wir beide waren noch etwas skeptisch, ob die Entfernung nicht vielleicht zu groß sei; aber Günter meinte, dann würde uns ein Beiboot sicher wieder zurückbringen. Wir ließen uns überreden, und als die Sonne etwas höher stand, schwammen wir von der Landungsbrücke aus los und sagten nur Günters Freund Willi etwas von unserm Vorhaben. Wir hatten bald mit den Wellen zu kämpfen, kamen dem Schiff aber immer näher und erreichten schließlich das Fallreep, das zum Glück schon ausgelegt war. Uber uns stieg die eiserne Wand des Kriegsschiffes hoch, zu sehen war kein Mensch, und wir waren schon sehr angestrengt. Als uns schließlich ein Wachhabender entdeckte, sagte er uns, dass noch kein Boot zur Küste bereitstünde. Wir mussten also wieder zurückschwimmen.

Wir wählten dazu die etwas näher liegende Küste, die wir mit schweren Beinen schließlich auch erreichten. Ich hatte mich total verausgabt; Hans und Günter mussten mich stützen bei dem Weg, der noch bis zum Strand vor uns lag. Erst mit einem Rumtee in der „Strandterrasse“ bekam ich langsam wieder Boden unter die Füße. Die folgenden Tage verbrachte ich dann lieber mit Mutti und Renate. Wir konnten am nächsten Tag auch das Schiff besichtigen, und Mutti bekam sogar noch eine Sonderführung von einem Bordoffizier. An Land gab es sportliche Wettkämpfe mit der Marine und abends Tanz – aber daran konnte ich erst im nächsten Jahr teilnehmen.

1936 war ein glückliches Jahr für Deutschland, das die olympischen Spiele veranstaltete. Dabei wollte sich der Nationalsozialismus dem Ausland gegenüber von seiner besten Seite zeigen ,wozu die gute Organisation der Spiele, aber auch die allgemeine Begeisterung gehörte. Politisch wichtig war auch das Fehlen von Arbeitslosigkeit und eine fundierte Währung. Die Gäste aus dem Ausland wurden mit natürlicher Freundlichkeit empfangen und untergebracht und dann war der Einmarsch der Nationen in die Arena ein wahres Fest mit begeisterten Sportlern aus aller Herren Länder. Wir konnten im Kino bei „Fox tönender Wochenschau“ vieles mitverfolgen. Deshalb beschlossen wir auch, unsere Fahrräder mit an die See zu nehmen, um von Dahme aus zur Segelregatta nach Kiel fahren zu können.

Als wir ankamen, hatten wir noch eine gute Woche Zeit, die wir wie immer mit Burgenbau um unsern Strandkorb, Schwimmen und Faulenzen verbrachten. Dabei fiel uns ein niedliches kleines Mädchen auf, das mit einer großen Bademütze als einziges Kleidungsstück am Wasser spielte. Als es sah, dass wir unsern Sandwall mit Wasser festigten, kam es mit seinem Eimerchen und half uns. Bald waren wir die besten Freunde. Nach einiger Zeit erschien die Mutti der kleinen Karin, um zu sehen, ob sie uns auch nicht störte. Wir erfuhren, dass die Familie aus Kiel kam und mit ihrem Vater, der U-Boot-Kapitän war, und einem Baby von einem halben Jahr genau wie wir hier den Urlaub verbrachten. Es machte mir Freude, mich mit der kleinen Karin zu beschäftigen und so war ich für einige Tage eine Art Babysitter. Nur einmal gab es fast ein Unglück, als ich sie vom Steinwall aus hoch auf der darauf gebauten Abschlussmauer spazieren ließ. Sie ließ auf einmal meine Hand los, drehte sich um und sprang auf mich hinunter. Ich konnte sie gerade noch auffangen und uns beide vom Absturz bewahren; aber die Knie zitterten mir . Ich habe diesen Vorfall lieber niemandem erzählt.

Die Eltern hatten, als Strandkorbnachbarn, von uns gehört, dass wir einige Tage nach Kiel fahren wollten und boten uns spontan ihre Wohnung an. Als wir einwandten, dass wir mit Günter und seinem Freund Willi vier Personen sein würden, meinten sie, dann könnten ja zwei im Wohnzimmer auf der Coach schlafen. Nun, besser konnten wir es garnicht haben, und so fuhren wir am übernächsten Tag ab.

Wir kannten das Hinterland mit den großen Einzelhöfen, die meist noch mit roten Steinen und Fachwerk erbaut waren und am First gekreuzte Pferdeköpfe als Schmuck hatten, von kleineren Fahrten mit dem Fahrrad schon. Es war schön, zwischen den Kornfeldern eben einherzufahren, die zum Teil auch schon abgeerntet waren. Nur Oldenburg hielt uns etwas auf, weil wir wegen des alten Kopfsteinpflasters nicht im Sattel bleiben konnten. Dann aber ging die Straße schnurstracks bis Kiel.

Die Wohnung unserer Freunde lag nicht weit vom Hindenburgkai entfernt, der gleich an der inneren Förde liegt, wo sich der meiste Betrieb abspielt. Hier liegen die vielen kleinen Jollen vor Anker, die, bis über die Toppen geschmückt mit bunten Flaggen, ihre Besitzer zur Olympiade gebracht hatten, aber auch die großen „Windjammer“, wie das Schulschiff „Gorch Fock“ Nun aber ankerten hier große Dreimaster aus dem Ausland: wir sahen gleich am Kai ein Segelschiff aus Polen und Günter fragte den wachhabenden Offizier, ob wir an Bord kommen dürften. Die Besatzung freute sich offenbar über die Abwechslung und zeigte uns alles Wissenswerte von der Kombüse bis zu den Schlafkojen, den Motor und die Takelagen. Als wir uns aber erkundigten, wo die Olympia-Regatta stattfinden sollte, wurde uns gesagt, dass alles weit draußen auf der Außenförde gestartet würde und die Aussichtsschiffe alle ausgebucht seien. Wir mussten uns also mit dem „Flair“ und der Stadt Kiel begnügen.

Für die Beseitigung des Hungers war gesorgt; denn überall gab es Buden mit Würstchen, Kuchen oder Eis, und obwohl bei Sonne und Seewind fast alle Menschen indianische Bräune zeigten, war die Vielfalt der Rassen und Bekleidungen deutlich zu sehen. Es war gut, dass wir kein Hotel brauchten, sondern unsere Unterkunft hatten, in die wir am Abend dankbar zurückkehrten. Meine „drei Männer“ spielten am Küchentisch Skat, während ich mich um das leibliche Wohl kümmerte und auch einige Karten schrieb. Als sie ihr Spiel beendet hatten, grinsten sie mich vielsagend an: sie hätten beschlossen, dass der Sieger einen Kuss von mir bekäme, ich löste diese Übereinkunft, indem ich den Sieger: Günters Freund, ostentativ auf die Wange küsste.

Am nächsten Tag nahmen wir die Fähre und setzten nach Laboe über, um uns das Marine-Denkmal, einen 72 Meter hohen Turm in Form eines Schiffsbugs, anzusehen. Es liegt sehr dekorativ am Ausgang der Förde und hat im Innern noch eine große Gedächtnishalle. Es gibt da draußen auch einen Sandstrand, sodass wir uns beim Schwimmen noch erholen konnten. So hatten wir drei schöne Tage in Kiel, wenn wir auch von der Segel-Regatta nichts mitbekommen hatten.

Eigentlich waren wir wieder froh, in unserm gewohnten Ferienmilieu in Dahme zu sein. Für unsere Kieler Gastgeber war der Urlaub zu Ende, und wir bekamen einen neuen Nachbarn. Es war ein Junggeselle, der sich offenbar für unsere Familie interessierte, denn er versuchte, mit Hans und mir ins Gespräch zu kommen. Er hatte einen besonderen Namen: „Bahne Bahnson“, der uns gefiel. Über eine gewisse Ahnenforschung suchte er denn auch den Kontakt. Wir lagen nebeneinander im Sand und plauderten über Gott und die Welt, bis Mutti mir eines Abends eröffnete, Bahne Bahnson hätte bei ihr um meine Hand angehalten. Ich sagte:“Du hast doch hoffentlich abgelehnt!“, aber Mutti hatte ihm zu verstehen gegeben, dass er sich in erster Linie an mich wenden müsse. Sie vertraute ganz darauf, dass ich die richtige Antwort fände. So sagte ich ihm am Abend, dass ich noch lange nicht an eine Bindung dächte, da ich erst Abitur machen wolle und dann studieren. Er verstand das und zog sich zurück Ich würde meine Freiheit sobald nicht aufgeben!

Mir genügte der freundschaftliche Umgang mit den gleichaltrigen Jungen, der aber für zwei Tage wieder unterbrochen wurde, und das war die Marine schuld: als wir am Morgen, wie immer, zum Strand kamen, bot sich uns ein ungewohntes Bild; draußen lag ein Schiff vor Anker, wie wir noch keines gesehen hatten: ein großes Kriegsschiff, aber schön und schnittig in der Form, ganz weiß vor dem blauen Himmel und der dunkleren Farbe des Meeres. Günter sagte sofort: „Das ist die Bismarck, das Flaggschiff seiner Art. Da müssen wir unbedingt an Bord!“

Am Nachmittag fuhren wir mit einer der ersten Barkassen hinaus, auch Mutti und Renate und auch Sietas. Es war das größte Ereignis dieses Sommers. Wir hatten Glück: als wir zu den großen Scheinwerfern am Heck kamen, nahm sich ein netter Maat unser an und machte eine richtige Führung mit uns durch das ganze Schiff. Er selber war für die Scheinwerfer zuständig- aber davon später. Wir bewunderten die militärische Ausrüstung des Schiffes, die Reichweite der Geschütze mit jeweils vier Rohren, die Lenkbarkeit und Panzerung. Dabei waren uns Gedanken an einen Kriegseinsatz völlig fremd. Unser Maat erkundigte sich, ob ich am Abend zum Tanz ins Casino käme, und wir verabredeten uns dort.

Herr Sietas, unser langjähriger Ferienbekannter, hatte schon einen Tisch bestellt und fühlte sich als Vizepapa. Am Nachmittag erschien dann noch Onkel Hugo, der in Lauenburg eine Zündholzfabrik besaß und uns alle Jahre in Dahme besuchte, mit einer Riesenpackung Pralinen und Rosen für unsere Mutti. Es war ein Bruder von Muttis Schwager Paul in Kassel, aber lustiger, unkonventioneller und kugelrund. Er tanzte gut und gern; weil er aber klein war, konnte ich immer ein bisschen über ihn hinweg blicken. Wir hatten also eine fröhliche Runde, und dann kam auch unser Maat vom Nachmittag und setzte sich gleich zu uns. Es wurde ein schöner Abend, und es wurde viel getanzt und viel gelacht.

Als der Abend zu Ende ging, fragte er Mutti, ob er mich zu unserm Haus begleiten dürfe, was für sie kein Problem war und sie gleich erlaubte. Sie hatte immer volles Vertrauen zu mir und freute sich, wenn ich vor dem Schlafengehen noch auf die Bettkante kam und vom allem berichtete. Der Heimweg über die Promenade unter dem funkelnden Nachthimmel war richtig romantisch. Ich war vollkommen glücklich. Es störte mich auch nicht, dass mein Begleiter nicht von fernen Ländern erzählte oder dem Alltag auf See – nein, der friedliche Augustabend erinnerte ihn an seine Heimat und sein Traum war, nach Ende seiner Dienstzeit bei der Marine zu Hause im Taunus ein Haus mit Garten zu besitzen und eine Familie zu gründen. Ich versuchte, mir eine Rolle in seinem Leben vorzustellen, was allerdings schwer war. Beim Abschied versprach er mir ein besonderes Schauspiel, nur für mich, wenn sein Schiff am nächsten Abend die Anker lichtete. Und wirklich tauchte er unser kleines Haus in strahlendes Scheinwerferlicht, was natürlich bei allen Freunden und Bekannten Aufsehen erregte. Ich wechselte mit meinem Seemann noch eine Weile Briefe, die bei ihm aus immer weiter entfernten Ländern kamen – bis am Ende nur noch das Mützenband der „Bismark“ als Erinnerung blieb. Der Kreutzer war in den ersten Jahren des Krieges gegen englische Convoys erfolgreich im Einsatz und wurde schließlich von einem englischen Torpedo versenkt.

Ein paar Tage später schlug die Abschiedsstunde, und diesmal fiel sie mir besonders schwer. Als wir in unserm Ferienzug nach Hause saßen, wartete ich, bis alle im Halbschlaf dösten; dann verließ ich das Abteil und ging durch alle Wagen bis zum letzten des Zuges, um an seinem Ende zurückzublicken auf die Schienen und die Landschaft, die in der Dämmerung verschwanden; und ich vermisste jetzt schon das Rauschen des Meeres – und mein Herz tat weh!

Helle und dunkle Tage

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