Читать книгу Das unglaublich unglaubwürdige Leben des Hannemann - Hans-Dieter Heun - Страница 9

Der Zauberer probte sein Jagdhorn, doch Gott nahm Peitsche und Zügel, hielt die Meute zurück.

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Das Wertvollste an der Zeit, unfassbare Dimension, ist der ständige Gewinn von Vergangenheit, der Anteil am Schatz der Erfahrung wächst. Niemand kann von einem Niemand um seine Erinnerungen – Alzheimer sei vor – betrogen werden. Ein unschätzbarer Vorteil, selbst wenn niemand niemanden niemals und manchmal auch leider nicht von seinen quälenden Rückblicken befreien kann. Von Drogen und zuverlässigen Handfeuerwaffen einmal abgesehen. Zeit ist folglich kostbar. Dennoch sind die Menschen nicht glücklich über den täglich realen Zuwachs, sondern richten, meist ohne Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, ihre Planungen und Wünsche in eine unwägbare Zukunft. Die wenigsten verstehen es, ihren durch die Zeit wachsenden Reichtum zu schätzen, klammern sich voller Hoffnung an das Erst-Werden, als ob die Zukunft nur aus goldenen Tellern mit goldenen Löffeln bestehen würde. Hoffnung lässt eben hoffen.

Die flüchtige Schwelle zwischen der Zukunft und der Vergangenheit, zwischen dem absoluten Nichtwissen und dem eingetretenen Sein, ist die Gegenwart, und es machte Hannemann immer wieder viel Freude, besondere Zeugen der unvollkommenen Bemühungen um die Messbarkeit des Präsens zu sammeln. Nämlich gute alte mechanische Taschenuhren.

Seit geraumer Zeit – diese geraume Zeitspanne in annähernder, nicht exakter Größe gemessen – gibt es nur noch wenige gute Uhren, die ihrer Bestimmung mit mechanischer Treue nachkommen. Im gerade herrschenden Augenblick – sprich: momentane Zeitspanne von unbestimmbarer Dauer – versuchen dennoch Quarz-Atom-Digital-Zeitmessgeräte genau diesen unbestimmten Augenblick zu messen, als ob das besonders wichtig wäre. Er, der Augenblick, vergeht, wie alles vergeht.

Moment einmal, kann man denn jenen Moment des Augenblicks überhaupt genau bestimmen?

Umso mehr begeisterten Hannemann seine in liebevoller Handarbeit gefertigten Kostbarkeiten, und er ließ sie oft miteinander streiten. Es machte Spaß zu beobachten, wenn ein simpler Junghans, Jahrgang 1912, mit einem ehrwürdigen Vacheron, immerhin sechzig Lenze älter, zwölf Stunden lang Erbsen zählte und sie nie zu einem gemeinsamen Ergebnis kamen. Noch viel eindrucksvoller war das Resultat, wenn er alle zweiunddreißig Wunderwerke gleichzeitig aufzog. Da wurden den Kranken die Minuten lang und den Erfolgreichen die Stunden zu wenig, obwohl alle Taschenuhren mit viel emsigem Ticken in einem Chor sangen.

Hannemann jedenfalls liebte seine Vergangenheit, zumal er mehrere zur Verfügung hatte. Und er lebte oft genug in ihnen. Doch ihm war ebenfalls mulmig bewusst, dass er in der unweigerlich kommenden Zukunft die Anderen mit deren eigener Erfahrung nicht überlisten konnte, sondern allenfalls mit dem Chor der Verwirrung, den er für sie singen wollte.


Der Sünder zappelte, weinte und schrie, aber diese Mutter kannte keine Gnade. Hannemann suchte, fand sogar vermeintliche Ausreden: „Ich kann die Schule nicht mehr ertragen! Und ich will auch nicht mehr Missionar werden, ich will Koch lernen!" Doch nichts, alles umsonst. Die unbarmherzige Mutter ließ sich nicht erweichen, er wurde in ein strenges Internat gesteckt. Dabei fühlte er durchaus die höheren Weihen für absolute Kreativität in sich, eine ruhige Kraft, um große Dinge zu leisten. Kurz, er fühlte sich wahrhaft zum Koch berufen. Er wollte es und er wurde es, allerdings auf Umwegen.

In diesen tollen Zeiten eines blühenden Wirtschaftswunders – Geld verdienen mit welchem Mist auch immer – war der Koch nach Meinung einer fetten Oberschicht ungefähr zwischen Hund und Mensch angesiedelt. Mehr Sklave denn mündiges Mitglied der Gesellschaft. Selbst nach Jahren, als Hannemann mit höchster Konzentration ein weithin berühmtes Feinschmeckerlokal betrieb, erschütterte ihn noch die Frage eines anteilnehmenden Gastes: „Was machen Sie eigentlich hauptberuflich?"

Mit der von einer gütigen Natur geschaffenen Voraussetzung einer begnadeten Zunge und mit dem ihm irgendwie zugänglichen Wissen um die schmackhaften Zusammenhänge zwischen den Früchten der Gärten, Felder und Wälder, dem Reichtum der Bäche, Flüsse und Meere und den leckeren Leichen aus Stallungen und freier Wildbahn fühlte er sich wahrhaft aufgefordert, die verkümmerten Geschmacksknospen seiner Mitmenschen erblühen zu lassen. Doch diese Eltern sahen das anders. Mit der Autorität der vermeintlichen Erzeuger suchten sie ein privates Schulheim für ihn, denn er sollte unbedingt etwas Besseres werden. – Was jedoch ist besser als ein guter Koch?

Der Koch begleitet die Menschen von der Wiege bis zur Bahre. Er sorgt durch Ausgewogenheit für ihre Gesundheit und das Wohlbefinden, fördert gar die Triebe mit kitzelnden Gewürzen. Letztendlich verschafft er ebenso der Person, die den Koch zu nutzen weiß, rückspiegelndes Lob und Anerkennung.

Obwohl die Eltern seit einiger Zeit selbst ein Restaurant betrieben, konnte Hannemann sie nicht von seinem Berufswunsch überzeugen. Und was hätte Auflehnung damals wohl bewirkt? Nichts. Ein einmal gestecktes Ziel ist aber ebenso auf Umwegen zu erreichen. Und diese Um-, Irr-, Auswege vermögen oft äußerst lehrreich zu sein. Außerdem lernte er im Internat einen Freund kennen, einen Tröster in seiner Einsamkeit, die Droge A.

Andere Schüler – nicht sonderlich wichtige – brachten ihm die Droge in einer auf Schülerwünsche geeichten Kneipe nahe: heimliches schnelles Abfüllen mit Bier und Schnaps, oft über das noch nicht trainierte Fassungsvermögen hinaus, und, wenn das Taschengeld reichte, ebenso schnelles Abwichsen durch die vollbusige Bedienung im Hinterzimmer. Hannemann erkannte rasch, dass die Droge A zu helfen vermochte. Die Vollbusige weniger.

Vierundzwanzig Stunden am Tag – lange tausendvierhundertvierzig Minuten oder sechsundachtzigtausendvierhundert Sekunden – dachte er damals an Ingrid und wie er sie durch die schnöde Lust mit Tante Ute verloren hatte. Allein die Droge A schaffte es, ihn kurzfristig vergessen zu lassen – ja, färbte die Erinnerungen an seine Liebe sogar himmlisch rosa. Mit Ingrid würde er nach der Schule so rasch wie möglich vor den Traualtar treten, um den Bund mit der Unvergleichlichen zu besiegeln. Da war sich Hannemann absolut sicher. Ebenso, dass er zuvor noch mit anderen vollbusigen Weibern für das Eheleben zu üben hatte. Eine Aufgabe, so wichtig, dass er schlichtweg keine Zeit fand, seiner einzigen Liebe auch nur einen einzigen Brief zu schreiben. Sie würde, nein, musste das verstehen. Sa war er sich ebenfalls sicher.

Altar, alter ater, das andere Schwarz, schwarz wie traurig oder grauenvoll. Zu den Zeiten der alten Götter war der Altar ein Opfertisch oder Opferherd. Früchte, Tiere und Menschen wurden ihren Kreisläufen entnommen, zur Schau gestellt und auf dem Altar zubereitet. Geopfert, gekocht. Wenn man das Kochen als notwendige Veränderung von Nahrungsmitteln unter Zuhilfenahme geheimnisvollen Brimboriums zu einer genießbaren Speise begreift, als heilige Wandlung definiert, dann waren die Priester der Vorzeit nichts anderes als Köche, die um den Wert der lebenserhaltenden Aufgabe des Opfergutes wussten. Einmal davon abgesehen – schwarz, traurig, grauenvoll –, dass es diesem Gut an den Kragen ging.

„Schart euch zusammen und kommt herbei! Von überall her versammelt euch zu meinem Opfermahl, das ich für euch schlachte, ein großes Opfermahl auf den Bergen Israels! Fresst Fleisch und trinkt Blut! Das Fleisch von Helden sollt ihr fressen und das Blut von Feinden der Erde sollt ihr trinken – Fett sollt ihr fressen bis zur Sättigung und Blut trinken bis zur Berauschung von meinem Opfermahl, das ich für euch schlachte. An meinem Tische sollt ihr euch sättigen, an Rossen und Reitern, an Helden und Kriegsleuten aller Art!" Ezechiel 39, Spruch des Gebieters und Herrn. – Des Herrn?

Im dritten, vierten Jahrhundert entwickelten die Christen aus der Agape, dem Liebesmahl zwischen arm und reich, den neuen Altar, den Tisch der zu verteilenden Gaben. Bald schon verwandelte der Eifer der Schmücker – Bildhauer, Holzschnitzer, Steinmetze, Goldschmiede und Juwelenschleifer – den Tisch, den Herd, in ein eigenständig sakrales „Auf deine Knie, niedriger Gläubiger, und rühr mich ja nicht an!“

Das Kunstwerk wurde für die Zeremonien zu Ehren des Geweihten ebenfalls geweiht und bildete darüber hinaus einen abweisenden Schutz für die Hostie gegen die Scharen gewöhnlichen Volks. Ehemals blutfrisches Schlachttier war nach der Verwandlung des Tisches allein noch eine fade Oblate aus ungesäuertem Weizenmehlteig. Verschwunden waren das Lamm, der Wein blieb den mit Talaren geschmückten Priestern vorbehalten, und die Oblaten, pah, stellten untaugliche Objekte für jegliche Mühe des Kochens dar.

Ingrid, die schmerzhaft erfuhr, dass Hannemann ein Koch geworden war, nahm sich vor, einen Altar zu blasen, der seine ursprüngliche Aufgabe erfüllte, der Tisch und Herd zugleich war. Und sie selbst wollte auf diesem Herd der Liebe Frucht, Tier oder Opferweib sein, wann immer es ihrem Geliebten belieben würde zu erscheinen: Als Schüler, als Mann, als Auferstandener oder auch nur als Traum. Ingrid wollte, würde Glasbläserin werden, und er hatte sie dazu gebracht. An ihrem letzten gemeinsamen Abend, als Hannemann sie an sich zum Tanzen abholen wollte, brachte er ihr diesen ganz besonderen Briefbeschwerer mit.

„Es ist ein gläserner Schmetterling von meiner Oma aus ihrem Wohnzimmerschrank. Ich habe ihn geerbt.“ Oder geklaut, wie er manchmal schöne Dinge klaute, dachte sie. „Dieser Schmetterling hat eine besondere Geschichte, meine Geschichte, und ich werde sie dir bestimmt einmal erzählen. Fasse ihn an, nein, nimm ihn in deine linke Hand und sage mir, was du fühlst.“

Ingrid nahm den Briefbeschwerer, zögerte jedoch mit ihrer Antwort: „Ich weiß nicht, es ... Es ist irgendwie angenehm, mehr aber nicht. Doch, jetzt fühle ich etwas, Wärme, die Kugel ist voller Frieden. Wie warmer Sommer auf einer Wiese.“

Hannemann sah sie lange an. „Ich glaube es dir und ich schenke dir den Schmetterling, weil ich nur verschenke, was mir selbst lieb und teuer ist. Doch irgendwann werden wir zusammenleben, das verspreche ich dir, und dann bekomme ich den Briefbeschwerer mit dir zusammen zurück.“

In diesem strahlenden Moment allerreinster Liebe erschien ihr Vater und bat Hannemann mit dem Hinweis, seine Tochter müsse sich ja wohl noch hübsch machen – als ob sie nicht schon den ganzen Nachmittag vor dem Spiegel verbracht hätte –, auf einen Cognac in sein Büro.

„Sie kennen meine Tochter schon lange?"

„Seitdem wir hier in diesem ehrenwerten Wohnblock einziehen durften, Herr Ingrid-Vater!" Das war höflich repliziert, anständig und angemessen. Dennoch fühlte Hannemann sich ziemlich unbehaglich.

„Ach ja, Sie wohnen hier? Seltsam, Sie sind mir noch nie richtig aufgefallen." Der Vater nahm sein Glas. „Auf ihr Wohl, junger Mann." Braun-goldene Flüssigkeit wärmte angenehm den Mut. „Und heute Abend wollen Sie also mit Ingrid zum Tanzen gehen? Nun gut, ist ja nicht ungewöhnlich für die Jugend von heute. Aber Sie besuchen wohl noch die Schule, wenn mich Ingrid richtig unterrichtet hat?"

„Ich bin in einem Internat und bereite mich dort auf mein Abitur vor." Gut gebrüllt, Löwenkrieger, Abitur macht immer Eindruck. „Heute ist mein Heimfahrtwochenende."

„Heimwochenende? Ich denke, Sie wollen mit meiner Tochter ausgehen? So hat sie es mir zumindest gesagt."

„Entschuldigung, Herr Ingrid-Vater, wir dürfen alle vier Wochen für zwei Tage vom Internat nach Hause fahren, und heute Abend würde ich wirklich sehr gerne mit Ingrid zum Tanzen gehen!"

„Alle vier Wochen nur? Ist das nicht ein bisschen wenig? Aber Sie haben ja nichts mehr zu trinken, kommen Sie, ich schenke Ihnen nach. Alle vier Wochen? Da ist man ganz schön ausgehungert, nicht wahr?"

„Ich bin in einem gemischten Internat, Herr Ingrid-Vater." Aua, verdammter Mist, der Cognac. Reingefallen.

Der Vater, Vorfreude Luzifers, hob die Augenbrauen: „Sie betrachten meine Tochter doch nicht etwa als Ihre Vier-Wochen-Freundin?"

Lückenfüller oder Heimatliebchen, in jedem Hafen eine andere Braut, so dachte der gestrenge Herr Vater. Hannemann war sich da sicher. Was also sollte er erwidern? Die Frage und der Branntwein drückten den Schweiß in sein frisches Hemd. Wie sollte er erklären, dass er Ingrid liebte, wenn auch auf eine eigene, körperlose Art? Dass er sie auf ein Podest stellte, erhaben über nackte Sinnlichkeit. Das würde der alte Trottel doch nie kapieren. Hannemann schwitzte in der Klemme. Es war einfach gemein, nein, zum Davonlaufen.

„Kommen Sie, schauen Sie nicht so verschreckt. Ich wollte Ihre Gefühle wirklich nicht verletzen. Trinken wir noch einen guten Schluck." Der Ingrid-Vater nahm die Spannung aus dem Raum. „Was machen eigentlich Ihre Eltern? Besitzen sie nicht diesen auffälligen Sportwagen mit den roten Ledersitzen?"

Aha, der alte Knabe hatte sich erkundigt. Jetzt hieß es vorsichtig sein. Noch so einen Lapsus durfte er sich nicht mehr erlauben. Hannemann schlug das rechte Bein über das linke Bein, gab so ein Zeichen ruhiger Gelassenheit, nahm einen Schluck des heißen Feuers und antwortete in beeindruckenden Wir-Sätzen: „Wir sind in der Gastronomie engagiert. Es geht uns wirtschaftlich sehr gut, und dieser Sportwagen ist ein Mercedes 190 SL. Er steht vor der Tür." Gedrechselte Worte, die Zunge hölzern und irgendwie pelzig. Doch der alte Knacker sah überhaupt nicht beeindruckt aus.

„So, Gastronomie? Nun, wir gehen selten aus, kennen das Metier nicht so sehr. Aber Sie wollen doch bestimmt in die Fußstapfen Ihrer Eltern treten? Koch oder Kellner werden. Koch mit Abitur, geht denn das? Meine Tochter wird jedenfalls einmal Ärztin."

Vorsicht, nimm deine Finger weg! Koch, Küchenleichenverarbeiter oder Gemüsekiller, den Gästen unterwürfig gegen Bezahlung Zucker in den Hintern Pustender, das hatte der Herr Ingrid-Vater wohl damit gemeint. Gastronomie, Dienstleistung, ähnlich der Prostitution. Pah! Hannemann spürte es genau, nahm einen weiteren Schluck. Er schmeckte bitter.

Ingrid-Vater besaß plötzlich vier kreisende Augen und sein Mund sabberte. Aber Hannemann würde es ihm zeigen: „Dasch Schöne, Enschuldigung, das Schöne an einer Wirtschaft ist, dasch ein Koch", verfluchte S-Laute, "mit dem Arscht durschaus verwandt ischt. Der Koch beugt vor, er erhält, er heilt ebenfalls."

„Junger Mann!"

Scheiße auf das „Junger Mann!"

„Ich wollte Sie nicht beleidigen. Kann ohne weiteres sein, dass Koch ein ehrenwerter Beruf ist. Kommen Sie, trinken wir aus, ich schenke noch einmal ein."

„Kommen Sie? Kann sein? Kann sein, dass es ein ehrenwerter Beruf ist? Der Koch ist nach Gott das Ehrenhafteste überhaupt!" Jähe Gedanken schenkten cognacglühende Klarheit und kräftige Worte. Der überhebliche Einbildling in dem Sessel gegenüber hatte wieder zwei, aber dafür böse lauernde Augen. „Und ein Koch hat schon längst in die Suppe gespuckt, bevor so ein kleines Doktorlein wie Sie diese überhaupt auf den Tisch bekommt!" Hannemann wollte aufstehen, im Zorn einen großartigen Abschied hinlegen. Hannemann wollte, seine Beine wollten nicht. Er kam halb hoch, dann sackte er wieder in seinem Sessel zusammen. Verdutzter Gesichtsausdruck, absolute Peinlichkeit.

Herr Ingrid-Vater schaute wie ein Kater beim Spiel mit der Maus. Hannemann wurde schlecht. Der ungewohnte Cognac drängte mit Macht zurück ans Licht. Kreise flogen links herum. Der Schreibtisch, Herr Ingrid-Vater fuhren links herum. Hannemann kotzte. Teurer Teppich. Es wurde kalt, die Beine zitterten, doch die Scham befahl den Abgang. Hannemann flüchtete und kam nie wieder, dafür lernte er irgendwann die Blonde kennen.

„Verzeiht, mein Gott, aber wie lernt ein Mann eine Blonde kennen?“

„Eine intelligente Frage, Eurer durchaus würdig.“ Gott schien sich zu amüsieren, selten genug für Sie in diesen turbulenten Zeiten. „Am sichersten lernt der Mann eine Blonde an Orten kennen, wo die höhere Intelligenz zuhause ist. Universitäten, Bibliotheken, Galerien und Museen etwa. Aber auch beim Sport, der für Blondinen angemessen ist. Beim rhythmischen Wasserballett oder beim Skifahren etwa. Ja, genau dort verkehren die Blonden.“

„Ach, so ist das. Folglich vermag ein Mann, wenn er ebenfalls die Orte der höheren Intelligenz oder eine Schwimmhalle besucht, dort sogleich mit einer Blonden zu verkehren? Toll und irgendwie praktisch eingerichtet.“ Manchmal war der Zauberer geradezu bezaubernd naiv.

Ingrid legte sich den Schmetterling zwischen die Beine. Sie hatte das Gespräch, das Verhör und die verächtliche Beleidigung ihres Vaters Hannemann gegenüber mit dem Stethoskop von der Wand ihres Zimmers abgelauscht. Allerdings bereits zuvor geahnt, ihr Liebling würde in eine gemeine Falle taumeln. Sie weinte, weil sie ihm nicht helfen konnte und weigerte sich, ihre Höhle zu verlassen, nachdem Hannemann aus der elterlichen Wohnung geflohen war. Die Jungfrau vergrub sich in ihrem Bett, schluchzte die Enttäuschung in die Kissen.

Irgendwann knipste sie die Nachttischlampe an, nahm den Briefbeschwerer in die Hände und betrachtete den Falter genauer. Feine rote Fühler, wachsam am braunen Walzenkörper. Gelbe Flatterflügel, bunt getupft mit Feenaugen, breiteten sich wie ein Schirm über einen Stein, einen Edelstein, dessen Facetten den Sommer spiegelten.

„Er hat eine Geschichte." Ingrid sah die Geschichte. Sie sah die Wiese am Bach, den Wind, der die Halme bog, sie schaute das Gaukeln von Faltern in sonnenwarmer Zeit. Sie entdeckte den Stein, merkwürdig verloren auf dem feuchten Wiesengrund, und sie sah Hannemann, den Schmetterling, der zitternd seine Schwingen breitete, um den Brillanten vor Entdeckung zu schützen. Sie fühlte das Vibrieren seines Körpers in der Anstrengung unsinniger Wache, das Beben seiner Flügel in der Ewigkeit des Glases. Sie verstand und wollte noch mehr verstehen. Sie fühlte, wollte noch mehr fühlen und darum legte sie den Schmetterling zwischen ihre nackten Schenkel.

Er, der Flatterich, war verdutzt. Ganz, ganz vorsichtig streckte er seine roten Fühler in eine neue Wärme. Dankbares Wallen, Heben und Senken begrüßten den Mut. Er tastete, er roch, er kostete. – Ein Schmetterling besitzt einen Saugrüssel. Und was für einen Saugrüssel er hat. Mit einem gut entwickelten Saugrüssel kann der richtige Falter wundervolle Wirkung erzielen. Ingrid jippte, seufzte und keuchte. Dann machte sie den Schmetterling nass.

„Ich werde keine Ärztin sein! Gott verdammt noch mal, ich will keine Ärztin werden! Ich, ich will diese herrlichen Dinge machen. Ich will gläserne Briefbeschwerer blasen, irrsinnig geile Kristallkugeln mit Schmetterlingen. Schmetterlinge im Bauch der Kugeln. Schmetterlinge an den Lippen, an der Blüte zwischen den Schenkeln einer Frau. Oh mein Gott, sind Schmetterlinge guuut!" Sie brauchte eine Pause.

„Ingrid, auch wenn du meinst, dich in deinem Bett verkriechen zu müssen, das war kein Umgang für dich. Der junge Mann will Koch werden. Hast du das gehört? Koch! Außerdem habe ich da einen Kollegen auf meiner Station, den ich an die Familie binden möchte. Äußerst begabt und vielversprechend. Er kommt morgen am Nachmittag zum Kaffee, und ich will, dass du sehr nett zu ihm bist. Hast du mich verstanden?"

„Ja, Papa!"










Das unglaublich unglaubwürdige Leben des Hannemann

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